Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Alexandra Staub
Pennsylvania
  Offenheit und der private Raum.
Das westdeutsche Einfamilienhaus im 20. Jahrhundert

 

    Das Öffnen und Schließen von Raum und die damit ermöglichten Handlungsräume sind ein Thema, das seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum an Aktualität verloren hat. Öffnen und Schließen heißt Zugang ermöglichen oder verweigern, entweder im physikalischen Sinn oder in der Wahrnehmung. Dieser Beitrag behandelt die Schnittstelle zwischen dem öffentlichen Stadt- und dem privaten Wohnraum, oder genauer, zwischen der Straße und dem sich darin befindenden Einfamilienhaus. Die Ausformulierung dieser Grenze und die Erschaffung der dazugehörigen Handlungsräume tragen nicht unwesentlich zur Einordnung des Einzelnen in die allgemeine Gesellschaft bei.



Historischer Kontext

Schon ab dem 19. Jahrhundert, also mit der Industrialisierung, wurde der private Wohnraum als Refugium betrachtet, eine in den oberen Schichten verbreitete Ansicht einer Trennung zwischen der Rauheit der Arbeitswelt und der Unantastbarkeit des Familienlebens
[1]. Diese Ansicht war nicht auf Deutschland beschränkt, sie drückte vielmehr die Unsicherheiten aus, die mit dem strukturellen Wandel der Städte im Frühkapitalismus, mit den darauf folgenden demographischen Änderungen und mit einer Polarisierung der Geschlechterrollen einhergingen[2]. In Deutschland führten die neuen Umstände zu teils radikalen Verbesserungsvorschlägen; so plädierten manche Reformer dafür, zum mittelalterlichen Dielenhaus als räumlichem Ausdruck einer noch intakten Gesellschaft zurückzukehren[3].

Diese Ideen setzten sich nicht durch, stattdessen aber die Vorstellung, einzelne Kleinfamilien trennen zu müssen und für sie einen Privatraum zu schaffen[4]. Die reale Wohnungssituation im ausgehenden 19. Jahrhundert verlangte von vielen Familien, ihren Wohnraum mit Familienfremden zu teilen. Diese Situation traf die ärmeren Schichten am häufigsten, so waren in Berlin bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 63% der Kleinwohnungen (mit weniger als drei Zimmern) „offene“ Wohnungen, d. h. von mehr als einer Familie oder von einer Familie und Schlafgängern bewohnt[5]. In Großstädten begünstigten die Wohnungsnot sowie die Grundrisse der Mietskasernenwohnungen solche Zustände, da Wohneinheiten immer wieder unterteilt wurden, um Mieter zum höchstmöglichen Preis aufnehmen zu können[6]. Das daraus resultierende Elend bewegte Reformer unterschiedlicher Couleur dazu, nach Lösungen zu suchen, um die Wohnsituation der Arbeiterschicht zu verbessern. Diese wurde trotz ihrer relativen Armut dazu ermuntert, die moralischen Werte des Bürgertums anzunehmen, indem sie z. B. auf Untermieter verzichtete und die Unterkunft auf Familienmitglieder beschränkte[7]. Die richtige Wohnform sollte dafür sorgen, so der Reformer Carl Hoffmann, dass Keiner...dem anderen zu nahe [kommt], ein jeder...sich von den anderen zurück [zieht] und...sich ruhig in seiner Wohnung [verhält], damit sich Niemand beklagen kann und Einer vom Anderen nichts erfährt.[8]

Obwohl die Bemühungen sich hier oftmals im Rahmen des Wohnungsbaus bewegten, war das freistehende Einfamilienhaus das eigentliche Idealbild dieser Reformer, stellte es doch die vollständige Trennung der Wohnpartien untereinander dar. Bemühungen, der Arbeiterschicht solchen Wohnraum zu ermöglichen, wurden schon früh unternommen, z. B. in Form der Betriebswohnungen der Saline Königsborn bei Unna von 1780[9]. Es folgten weitere solche Projekte, bis hin zu den weit reichenden Siedlungsprogrammen der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“[10].

Hans Issel beschreibt in seinem 1898 erschienenen und 1904 und 1910 erweiterten Buch Die Wohnungs-Baukunde Einfamilienhäuser verschiedener Größen und Ausstattungen und liefert somit einen Überblick der gängigen Hausformen. Neben den Kleinst- und Kleinhäusern der Arbeiterschicht sind hier auch Häuser des Mittelstandes und großbürgerliche Villen dargestellt[11]. Anhand der abgebildeten Pläne kann schon geprüft werden, inwieweit sich die Idee der abgeschlossenen Familie zu diesem Zeitpunkt durchgesetzt hatte.

Kleinsthäuser sind vertreten durch Häuser wie die der Arbeiterkolonie der Höchster Farbwerke[12], Doppelhäuser der Firma Krupp in den Kolonien Alfredshof und Altenhof bei Essen[13] und die preistragenden Entwürfe eines Wettbewerbs für Arbeiterhäuser, von der Stadt Düsseldorf im späten 19. Jahrhundert ausgelobt[14]. Trotz der bescheidenen Größe der Häuser gehörten eine Eingangsveranda und ein Eingangsflur standardmäßig zum Programm, um einen Übergang zwischen Strasse und Wohnzimmer zu bieten und die Privatheit der Wohnräume zu erhalten. Vom Flur aus führten Türen in die Küche und das Wohnzimmer; eine Treppe erlaubte den Zugang zu den Schlafkammern im oberen Geschoss. Doppelhäuser der Firma Krupp in den Kolonien Alfredshof und Altenhof bei Essen waren ähnlich groß. Handelte es sich um ein Doppelhaus, so befanden sich die Eingänge der zwei Wohneinheiten auf den gegenüberliegenden Seiten des Gebäudes, um die Abgeschiedenheit der einzelnen Wohnungen zu erhöhen.

Mittelständische Häuser wiesen komplexere, aber dennoch ähnliche Erschließungsmerkmale auf. Die vorne liegenden Wohnräume waren Teil einer repräsentativen Flucht, und die Anzahl der Schwellen, die der Besucher überschreiten musste, um sie zu betreten, war erhöht. So führte die Eingangstür in einen Windfang hinein, von dem aus man einen größeren Eingangsflur betrat, von dem aus eine Reihe von Türen in die eigentlichen Wohnräume führten[15]. In bürgerlichen Villen wurde der zweite Eingangsraum als eine Art Wohnraum ausgestattet und somit zur Diele. Die Rolle dieses Raums als Erschließungskern – die Treppe in das Obergeschoss befand sich hier wie auch Türen zu den Wohnräumen und zum Serviceflur – machte ihn zum öffentlichsten der Wohnzimmer, den man als Empfangs- und Warteraum nutzen konnte.

Obwohl in den von Issel vorgestellten Zeichnungen nicht dargestellt, sieht man anhand von vorhandenen Beispielen, dass die bürgerliche Villa von einem Garten umgeben war. Ein Zaun mit Tor markierte die Grenze zur Straße und stellte eine klare Schranke für diejenigen dar, die nicht zum Hausstand gehörten. Somit begann die Eingangssequenz, bestehend aus Tor am Rande des Gehwegs, Gartenweg, Eingangsveranda, Windfang, Diele, und dann endlich Wohn- oder Arbeitszimmer,  lange vor der eigentlichen Eingangstür.

Um die Jahrhundertwende hatten die Wohnungsreformbemühungen soweit  gefruchtet, dass ein neuer Wohnungstypus für die Arbeiterschicht definiert schien; eine abgeschlossene Wohnform, mit einer an die Häuser der Oberschichten angelehnten Grundrissorganisation. Dabei wiesen größere Häuser eine Reihe spezialisierter Zimmer auf, die hierarchisch und nach Geschlecht, Generation und Zugehörigkeit zur Familie als Mitglied, Bediensteter oder Besucher geordnet waren. Arbeiterhäuser konnten ihrer knappen Größe wegen solche spezialisierten Bereiche nicht bieten, doch auch hier verschafften getrennte Eingänge sowie ein Vorraum die Möglichkeit, das Familienleben von der Öffentlichkeit abzuschirmen.

In den Jahren zwischen den Kriegen vollzog sich dann mit dem Aufkommen der Moderne eine Trennung, wobei konservativere Architekten weiterhin Häuser mit dem oben beschriebenen Grundrisstypus planten, während die Vertreter einer neuen Avantgarde sich u. a. durch die Trennung von tragenden und nicht-tragenden Elementen, Häuser mit einem betont "offenen" Grundriss auf die Fahne schrieben[16]. Trotz der großen Unterschiede im äußeren Erscheinungsbild hatten beide Haustypen Ähnlichkeiten in der räumlichen Organisation, mit der Küche nun zur Strasse hin, während das Wohnzimmer in der hinteren Fassade lag, mit direktem Zugang zum Garten. Dieser wurde somit zum erweiterten Wohnraum, während der Vordergarten, sofern er vorhanden war, dekorativ blieb. Bei kleineren Grundstücken vergrößerte der Architekt nicht selten den Hintergarten, indem er das Haus bis fast an den Straßenrand rückte, oft mit einem Streifen Abstandsgrün, dessen Name die Funktion ausreichend erklärt.

Es gab natürlich Ausnahmen. Projekte, die egalitär geplant wurden, betonten die Kameraderie der Mitglieder, indem sie z. B. Eingangstüren nebeneinander oder gemeinsame Freiräume innerhalb eines Blocks legten. Dies ist zu beobachten bei konservativen Siedlungen wie der Gartenstadt Hellerau, 1908 erbaut[17], oder der 1937-1939 erstellten SS-Kameradschaftssiedlung Zehlendorf[18]. Ersteres Beispiel war ein Projekt nahe Dresden, dessen Eingang durch ein Tor markiert wird, während man im zweiten Beispiel Zugang zu einem der Häuser haben musste, um zu dem gemeinschaftlichen Bereich im Blockinneren zu gelangen. Zwar gab es Barrieren, um Fremden Zutritt zu den Grundstücken zu verwehren, doch einmal zugelassen, wurde man Teil einer geschlossenen Gemeinschaft.

Die Trennung zwischen Wohnparteien untereinander war somit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allen Schichten etabliert. Mit diesem Schritt war die Kontrolle über den Privatraum größer geworden, so dass auch eine Trennung zwischen dem öffentlichen Raum der Straße und dem rechtlich-privaten des Hauses samt Grundstück stattfinden konnte.

Im folgenden Abschnitt möchte ich die weitere Entwicklung des Hauses und seine Beziehung zum öffentlichen Raum erkunden. Dazu nutze ich zwei Arten von Quellen: zum einen Plan- und Fotosammlungen von Häusern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts[19]; zum anderen zeitgenössische bewegte Bilder[20], die eine Verbindung zwischen architektonischen Elementen und den darin stattfindenden Handlungen analysieren lassen. Die beiden Quellensorten zusammen erlauben eine Definition der Räume sowie ihre Analyse als Handlungsrahmen und überprüfen, welche Bedeutung der architektonische Rahmen für die kulturelle Ausformung von Begegnungen aufweist.



Die Grenze zur Öffentlichkeit in der frühen Nachkriegszeit
 
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Abbildung 1
Bruckmann, Planbeispiel

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Abbildung 2
Bruckmann, Hinterfassade

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Abbildung 3
Schwab, Haus in Düsseldorf, Straßenfront

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Abbildung 4
Schwab, Haus in Düsseldorf, Eingangsseite

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Abbildung 5
Vergiß die Liebe nicht

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Abbildung 6
Witwer mit fünf Töchtern

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Abbildung 7
Mutter sein dagegen sehr

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Abbildung 8
Witwer mit fünf Töchtern

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Abbildung 9
Nachts auf den Straßen
 
  Ein von Bruckmann 1954 veröffentlichtes Buch stellt das Haus als Ausdruck der sozialen Schicht des Bewohners „und seiner Familie“ dar, mit einer Liste von erforderlichen Zimmern für jede Sozialgruppe[21]. Der Oberschicht war ein Haus zum Repräsentieren zugedacht. Höhere Beamte und Freischaffende benötigten Räume für kulturelle Aktivitäten. Ein Arzt benötigte Räume für seine Praxis. Geschäftsmänner benötigten Räume, in denen sie Kunden bewirtschaften konnten, ohne dabei durch die Kinder gestört zu werden. Niedrigere Beamte und Angestellte brauchten Räume, in denen sie sich nach der Arbeit erholen konnten, hier auch ohne durch die Kinder beeinträchtigt zu werden. Handwerker und Meister zählten schon zur Arbeiterschicht; hier empfahl der Autor eine Wohnküche statt des Wohnzimmers. Die Auflistung verdeutlicht, dass Trennung, besonders von Erwachsenen und Kindern, ein Ziel der Planung war. Die Ausnahme war in der Arbeiterschicht zu finden, wo die kleinere Wohneinheit nur Platz für einen multifunktionalen Raum bot.

Bruckmanns Sammlung war an einen besser verdienenden Bauherrn gerichtet, der sich ein traditionelles Haus mit Steildach, tragenden Außenwänden, kleine Fenster und ggf. Klappläden wünschte. Die Pläne waren denen der konservativen Zwischenkriegshäuser sehr ähnlich, mit einem rückwärts liegenden Wohnzimmer, das durch Windfang und einen weiteren Flur vom Eingang gesondert blieb. Die Räume lagen durch massive Wände voneinander getrennt und konnten so separat genutzt werden.

Durch Fotos und einige Lagepläne ist das Umfeld der Häuser zu erkennen, wobei bezeichnenderweise die Fotos immer von der einladenderen Rückfassade und vom Garten sind, der als erweiterter Wohnraum diente. Wo ein Lageplan dargestellt ist, benutzen fast alle Häuser Elemente, die als Barriere zwischen Straße und Vordergarten dienen, so z. B. Zäune, Büsche oder eine Mauer.
(Abbildungen 1 und 2)

Nicht alle Nachkriegs-Plansammlungen bedienten sich jedoch traditioneller deutscher Häuser als Vorbild. Autoren wie Schwab (1962) zeigten Häuser, die der Zwischenkriegsmoderne entliehen waren. Die Anordnung der Räume glich der konservativer Häuser, mit der Küche zur Straßenseite und dem Wohnzimmer mit angrenzendem Garten in der Rückfassade, doch folgten die Häuser einer eher modernen Ästhetik, mit schlichten Formen, flachem oder leicht geneigtem Dach und einem fließenden Grundriss mit viel Transparenz[22]. Trotz der betonten Offenheit wurden Blickmöglichkeiten sorgfältig bestimmt. Statt des geschlossenen Eingangsbereiches wurden Richtungswechsel, piano-nobile, oder eine Etagenanordnungen eingesetzt, um Offenheit zu suggerieren, ohne den Blick auf den Wohnbereich freizugeben. Der geöffnete Grundriss erlaubte den Kindern der Familie mehr Freiheiten, hatten sie doch nun erleichterten Zugang zu den Wohnräumen des Hauses, gestattete aber keinesfalls dem Fremden freieren Zutritt zum Bereich der Familie. Die Vorderfassade war oft so geschlossen wie in den traditionellen Häusern. So markierten auch hier Tore, Zäune, hohe Mauern oder geschlossene Wände eine deutliche Grenze zwischen dem öffentlichen Straßenraum und dem privaten Hausbereich.
(Abbildungen 3 und 4)

Die Grenzelemente der konservativen wie auch der modernen Häusertypen der frühen Nachkriegszeit machten deutlich, dass der Vordergarten – der ja oft einsehbar blieb – schon zur privaten Zone gehörte, die nur unter bestimmten Umständen zu betreten war. Die Handhabung dieser Reglungen wird im Film deutlich.

Bedienstete, in diesem Sinne Boten oder Lieferanten, durften unaufgefordert an das Haus herantreten, wie in einer Frühmorgenszene aus dem Film Vergiß die Liebe nicht (1953), in dem ein Lieferant Brötchen an die Tür hängt. Auch beim modern gestalteten Haus des Films Mein Vater der Schauspieler (1956) wird gezeigt, wie ein Mann selbstständig das Tor passiert, um den Gaszähler abzulesen. Dagegen durften bei einem geschlossenen Tor Bekannte, die nicht zum Hausstand gehörten oder Freunde der Kinder die Grenze zwischen Straße und Vordergarten nicht unaufgefordert passieren, besonders wenn sich eine Klingel am Gartentor befand. Dies macht eine Szene aus Witwer mit fünf Töchtern (1957) deutlich, wo die Freunde der halbwüchsigen Töchter auf dem Gehweg warten, bis die Mädchen zu einer Verabredung aus dem Haus gerannt kommen. Da in diesem Fall am Tor keine Klingel angebracht ist (man also vermuten kann, dass das Tor nicht abgeschlossen ist) müssen die Jungen laut pfeifen, um sich anzukündigen. Im Film Mutter sein dagegen sehr (1951) gibt es eine solche Klingel, womit hingewiesen wird, dass Besucher zunächst im öffentlichen Straßenraum zu warten haben. Ein unbeugsamer Verehrer der Protagonistin verletzt bewusst alle Regeln des guten Benehmens, indem er mit einem Satz über den Zaun springt, um seiner Geliebten den Hof zu machen (wobei er als Architekt, also Künstler, offenbar so etwas wie Narrenfreiheit genießt, denn am Schluss des Filmes wird geheiratet).

Nicht nur beim Betreten, sondern auch beim Verlassen des Hauses wird das Gartentor als Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum definiert. Besonders geschätzte Besucher werden in den traditionellen Häusern nicht nur bis an die Haustür, sondern oftmals bis an das Tor gebracht, wie es im Film Witwer mit fünf Töchtern mehrmals geschieht. (Dagegen werden sie bei den modernen Häusern, die ohnehin mit ihrer Fassade näher zur Strasse stehen, nur bis an die Haustür gebracht.) Auch als Ort der Begegnung dient das Gartentor. Hier hält im Film Nachts auf den Straßen (1952) die Frau einen Plausch mit dem Postboten, wobei jeder der Teilnehmer in seinem Bereich bleibt – sie innen, er außen.
(Abbildungen 5, 6, 7, 8, 9)
 
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Abbildung 10
Mein Vater der Schauspieler

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Abbildung 11
Nachts auf den Straßen
 
  Die Vorderfassaden der Häuser haben zwar Fenster, doch wird hier nie Kontakt mit einer Person vor dem Haus hergestellt, z. B. indem man das Fenster öffnet und hinausruft. Bei den modernen Häusern gibt es in der Vorderfront sowieso kaum Fenster; hier orientiert sich alles zum Garten hin.
(Abbildung 10)

Die Fenster in den traditionellen Häusern dienen höchstens dazu, festzustellen, was in der Strasse passiert. So sieht der Ehemann in Vergiß die Liebe nicht, dass ein Verehrer seiner Frau gerade auf das Haus zukommt, und nimmt dies zum Anlass, aus dem Haus zu schlüpfen, um einer möglichen Begegnung zu entgehen. Dazu benutzt er die rückwärts liegende Terrassentür, um in den Garten zu gelangen, was deutlich macht, dass diese Fassade, im Gegensatz zur Vorderfassade, durchlässig ist. Im Kontrast zum Vordergarten wird der hintere Gartenbereich in solchen Häusern für Freizeitaktivitäten genutzt. So spielen die Kinder in Witwer in diesem Bereich, während er in Nachts auf den Straßen für ein großes Fest genutzt wird.
(Abbildung 11)


 
    Der Wandel der 70er Jahre

Die 1970er Jahre waren von gesellschaftlichen Umwandlungen gekennzeichnet, von denen einige ihren Ausdruck im Hausdesign wiederfanden. Eine Betrachtung von Planbüchern und Fertigbau-Hauskatalogen zeigt, dass der Kinderbereich wuchs, von den 5-8 m
2, die 1957 von Mittag empfohlen wurden (im Gegensatz dazu sah er 12-20 m2 für das Elternschlafzimmer vor) [23] zu den viel größeren Bereichen der 1970er und 1980er Jahren. Im Kinderbereich wurden weniger Mehrbettzimmer dargestellt, und Spielzimmer oder -flure wurden häufiger. Auch andere Anzeichen deuteten auf ein neues Verhältnis zum Thema Familienleben. Während Autoren wie Bruckmann (1954) Kinder als potentiell störend schilderten und eine räumliche Trennung von Erwachsenen- und Kinderbereichen befürworteten, drückten ab den 1970er Jahren der größere Spielbereich und das von anderen Teilen des Hauses zugänglichere Wohnzimmer eine neue familiäre Parität aus. Räume wie die Essdiele erlebten eine neue Beliebtheit, als Ort der Gemütlichkeit und des geselligen Familienzusammenseins.
 
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Abbildung 12
Mutter sein dagegen sehr

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Abbildung 13
Fruchtzwerge-Werbung
 
  So zeichnen zwei Filmszenen den Wandel auf. In Mutter sein dagegen sehr (1951), in dem immerhin die Kinder eine Hauptrolle spielen, trinken die drei Adoptivkinder, neu in die Familie eingeführt, am Esstisch einen warmen Kakao. Der Tisch ist vornehm mit einer weißen Tischdecke gedeckt, das Service ist aus Porzellan. Die Kinder sind gezwungen, sich wie kleine Erwachsene am Tisch zu benehmen, weshalb die Furcht eines der Mädchen groß ist, als sie ihren Kakao auf die Tischdecke verschüttet. Obwohl die Erwachsenen (bis auf das Dienstmädchen) auf dieses Malheur freundlich reagieren, bleibt die Tatsache, dass das Wohn/Esszimmer hier als deutlicher Erwachsenenbereich definiert ist, in dem die Kinder zu Gast sind. Dagegen zeigt eine Fernsehwerbung für „Fruchtzwerge“-Joghurts aus dem Jahre 1984 eine Familie im Wohn/Esszimmer. Die Möbel sind schick, doch kindgerecht abwaschbar. Die Eltern spielen Schach, während die Kinder zuschauen; dabei isst der Junge der Familie, trotz Kleckergefahr in der modischen Einrichtung, einen Joghurt. Die lockere und ausgelassene Familienatmosphäre definiert das Wohnzimmer als Ort des informellen und herzlichen Beisammenseins, zu der die Kinder wie selbstverständlich gehören.
(Abbildungen 12 und 13)

Der „offene Grundriss“ als Ausdruck eines legereren Lebensstils war in den siebziger Jahren zur Mode geworden, wobei Bücher wie Offene Wohnformen der Deutschen Bauzeitschrift den Trend dokumentierten[24]. Offenheit bedeutete vor allem, Verbindungen zwischen den Hauptwohnräumen zu schaffen und gewählte Durchblickmöglichkeiten zu inszenieren, innerhalb des Gebäudes wie auch zwischen Innen und Außen. Somit wurden licht- und luftdurchflutete Bereiche geschaffen, die eine großzügige Räumlichkeit suggerierten – eine neue Art Luxus im zeitgenössischen Wohnungsbau.

Die fließenden Räume im Inneren des Hauses boten ein Gegensatz zur Geschlossenheit der Fassade zwischen Familienheim und der öffentlichen Straße. Eine Verbindung der Räume zwischen Innen und Außen fand nur statt, wo der Außenraum eine Verlängerung des Privatbereichs war. Die Fassaden zwischen Straße und Haus blieben dagegen fast übertrieben geschlossen, um die Abgeschiedenheit und Privatheit des Familienlebens zu verdeutlichen.
 
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Abbildung 14
Papenburg, Plan

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Abbildung 15
Papenburg, Eingangsseite
 
  Einige stellvertretende Beispiele aus dem Band Offene Wohnformen  demonstrieren die Tendenz. So zeigt ein Haus in Papenburg bei Münster[25] eine strenge Ziegelfassade im Eingangsbereich, der Eingang selbst ist dabei tief zwischen einem Schlafzimmer und einer Gartenmauer zurückgesetzt. Die raumhohe Mauer, die das Grundstück einfriedet, wirkt in ihrer Massivität wie ein Schutzwall, während die gestaffelten rechteckigen Volumen, die den Übergang zwischen Straßenraum und Eingang begleiten – es handelt sich um Blumenbeete und eine Mauer um einen Außenbereich – , durch ihre Verspieltheit die Aufmerksamkeit vom Eingang weg lenken und von den paar Fenstern, die in dieser Fassade liegen. Die einzigen größeren Fenster des Hauses liegen zum Garten hin in der hinteren Fassade; hier sind die Öffnungen fast raumhoch. Im Gegensatz zu diesem äußeren Erscheinungsbild wirkt der Innenraum fast gelöst. Die Betonrahmenkonstruktion wird zwar durch massives Mauerwerk ausgefacht, doch bleibt durch die großzügigen Öffnungen ein fließender Raumeindruck bestehen.
(Abbildungen 14 und 15)
 
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Abbildung 16
Senne, Plan

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Abbildung 17
Senne, Gartenfassade
 
  Ein Mies'sches Einfamilienhaus mit Flachdach in Senne[26] zeigt ebenfalls große Glasflächen im hinteren Bereich. Die Blickmöglichkeiten vom Wohnzimmer aus sind auf das eigene Grundstück begrenzt, während die Straßenseite des Hauses fensterlos bleibt. Somit ist das Vorbild eines nach allen Seiten offenen Glaspavillons, wie es Mies van der Rohe u. a. im Farnsworth Haus entwickelte, nur halb verwirklicht; vielmehr entfaltet sich der Eindruck einer schwebenden Dachplatte über einen nach außen fließenden Raum nur von hinten, während das Gebäude von vorne eher verschlossen wirkt.
(Abbildungen 16 und 17)
 
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Abbildung 18
Münster, Plan

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Abbildung 19
Münster, Hauseingang
 
  Ein Haus in Münster[27] erhält eine belebte Eingangsfassade durch ein Spiel mit versetzten Volumen, doch auch hier gibt es keine Fensteröffnungen, und die Eingangstür hat ein strukturiertes Glasfeld, um Blicke abzuschirmen. Auch hier ist die Gartenseite völlig in raumhohe Fensterelemente aufgelöst, während massive Mauern das Haus von der Straße trennen.
(Abbildungen 18 und 19)
 
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Abbildung 20
Düsseldorf, Plan

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Abbildung 21
Düsseldorf, Straßenansicht

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Abbildung 22
Düsseldorf, Blick aus dem Wohnzimmer zur Grillecke

 
  Und ein Haus in Düsseldorf[28] zeigt eine geschlossene Fassade zur Straße hin, mit einer Gartenmauer am Grundstücksrand. Der Innenbereich besteht aus einer Serie offenerer, ineinander geschobener Volumen, die auch Außenbereiche wie die Grillecke einbeziehen. Mit dem Weglassen vieler Zwischenwände entsteht im Haus ein großzügiger Raumeindruck, doch sind die Blickmöglichkeiten vorsichtig geplant, so dass ein Eindruck der Weite entsteht, ohne dass man auf einen öffentlichen Raum schauen muss. Es ist hier nicht nur unmöglich, von der Straße aus in das Haus zu schauen, sondern auch in umgekehrter Richtung, womit die Erfahrungswelt völlig im Privatraum bleibt. In dieser Weise wird das Haus zum Kokon.
(Abbildungen 20, 21, 22)
 
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Abbildung 23
Die Verlorene Ehre
der Katharina Blum


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Abbildung 24
Die verlorene Ehre
der Katharina Blum

 
  Im Film Die Verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) zeigt das zeitgenössische Haus des Anwalt/Architektenpaares Blorna den Kontrast zwischen Innen und Außen deutlich auf. Das im brutalistischen Stil errichtete Haus hat einen mittleren Sichtbetonteil mit einem herausragenden fensterlosen Ziegelkern. Der Seitenflügel ist ebenfalls aus Ziegel, hier auch nach vorne ohne Fenster. Vor dem Haus befinden sich eine bepflasterte Einfahrt und ein schmaler Streifen Rasen; Gartenleuchten in Balkenform wirken wie ein Zaun. Zwar gibt es im Erdgeschoss ein Fensterband, doch sind die Fenster in der Außenwand weit zurückgesetzt, so dass sie wie dunkle Löcher wirken.

Wirkt das Äußere wehrhaft und abweisend, so ist das Innere aufgelockert und weitläufig, mit überraschenden Lichteinfällen. Die Küche, die neben dem Eingang liegt, hat eine Tür zur Diele und ist vom Wohnteil völlig abgetrennt. Die Anordnung der Küche erlaubt es dem Dienstpersonal (in diesem Fall Katharina), von der Küche aus die Ankunft eines Besuchers wahrzunehmen und diesen hereinzulassen. Im Film kehren die Hausherren von einem Urlaub zurück und trinken in der Küche Kaffee, als ein Familienfreund vorfährt. Der Mann lässt den Besuch herein, aber kehrt dann nicht in die Küche zurück. Als Serviceraum soll er verborgen bleiben.

Die weiteren Handlungen finden im repräsentativen Wohnzimmer statt. Der Besuch wird hier hereingeführt, und die Tür zur Diele wird vom Hausherrn geschlossen. Vom Wohnzimmer aus ist der Blick auf den Swimmingpool und den begrünten Hintergarten frei.

Die Handlungen zeigen, was das Äußere des Hauses schon vermuten lässt: der vordere Bereich, zur Straße hin, ist zu einer Dienstzone geworden, die man schnell zu passieren hat, um zum angenehmeren Wohnteil zu gelangen. Die Beziehungen zwischen Innen und Außen finden in diesem hinteren Bereich statt. Das Haus dreht quasi den Rücken zur Straße und nimmt nur Bezug auf zum eigenen, privaten Raum.
(Abbildungen 23 und 24)
 
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Abbildung 25
Wenn süß das Mondlicht
auf den Hügeln schläft


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Abbildung 26
Wenn süß das Mondlicht
auf den Hügeln schläft

 
  Auch der Rückzug aufs Land, fernab der Großstadthektik, wurde im Laufe der 1970er Jahre wieder aktuell, oftmals als Teil eines „natürlichen“ Lebensstils[29]. Das Bild des zurückgezogenen Landlebens drückte sich aus in umgebauten Landhäusern, oder den Neubauten, die ländlichen Typen entsprachen. Beispiele sind davon in den Fachzeitschriften oder in Büchern mit Plansammlungen zu finden, z. B. im Band Einfamilienhäuser von 1982[30], wo ein Haus im Dorf Hallau[31], von einem Architekten geplant und in seinem Raumaufbau zeitgemäß, dennoch Elemente wie Schopf und Vorraum aufweist, um es seiner Umgebung anzupassen.

Im Film wird deutlich, welche Abgesondertheit bei gleichzeitig weitläufigem Platzangebot das Landleben bot. In Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft (1969) bewohnt eine Familie aus der Stadt ein umgebautes Fachwerkbauernhaus. Das Anwesen umfasst mehrere Bauten, die völlig abgeschieden liegen, und wird dennoch durch ein Tor von der Außenwelt getrennt. Die Handlungen verlaufen sich in der Weite des Geländes, was dazu führt, dass der Auftritt einer anderen Person im Raum immer etwas Überraschendes oder Irritierendes an sich hat – die Zufallsbegegnung bekommt den Charakter eines Ereignisses.
(Abbildungen 25 und 26)


 
   

Der Wohnraum als Privatraum

Der private Wohnraum hat im 20. Jahrhundert endgültig die Stellung des Refugiums erlangt, das Reformer im 19. Jahrhundert mit der Trennung von Arbeitswelt und Familienleben erstrebt hatten. Doch wurden im ausgehenden 20. Jahrhundert diese zwei Lebensbereiche – Arbeiten und Erholen – mit Hilfe des Heimbüros zunehmend integriert. Da das Haus nun keinen Zufluchtsort vor der Arbeitswelt mehr darstellte, blieb die Frage, was die geschlossenen Vorderfassaden und hohen Mauern ausgrenzen sollen.

In einer Sammlung, die traditionelle Hausformen und -materialen, wie Holz, mit modernen Raumideen verbindet, stellte Hannelore Hafer 1990 Häuser vor, die wieder einmal eine kontrollierte Offenheit darstellten[32]. Ein Haus in Uslar-Allershausen[33] hatte im Untergeschoss zusammen mit den Wirtschaftsräumen und einem Gästebereich seinen Eingang, während die im ersten Geschoss gelegenen offenen Wohnräume über eine Treppe zu erreichen waren. Das Ziel, Licht, aber nicht Blicke, hereinzulassen wird durch den Text verdeutlicht:

Pflanzen innen und außen und kleinteilige Fenstergliederung bieten Transparenz und gleichzeitig reduzierte Einblicksmöglichkeiten[34].“

Wichtig in diesem Haus sind … der direkte Blick durch die Innenverglasung vom Windfang (aber erst nachdem der Besucher eingetreten ist) bis in den Garten[35].“

Die räumlichen Elemente, mit denen man die Privatheit des Hauses gewährte, waren nun etabliert:

        Zäune, Hecken oder Mauern zwischen der öffentlichen Strasse und dem Grundstück,

        Vorderfassaden, die geschlossen wurden und entweder keine Fenster aufwiesen oder Fenster nur bei Nebenräumen wie dem Gäste-WC, oder Fenster, die durch so genannte Ziergitter verbarrikadiert wurden,

        Nicht-Wohnräume in der Vorderfassade, wie Garagen, Küchen, Wirtschaftsräume oder Kinderzimmer,

        Eingänge, die nicht auf der Hauptebene des Hauses lagen,

        Eingänge, die einen Richtungswechsel erforderten und somit den Blick ins Innere erst freigaben, wenn der Besucher schon im Haus war.

Somit wurden ganze Züge Einfamilienhäuser zu abgeschlossenen Wohnwelten, in deren Umfeld ein gemeinschaftliches öffentliches Leben nur noch schwer möglich war.
 

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Abbildung 27
Männer

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Abbildung 28
Männer

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Abbildung 29
Männer
 
  Filmausschnitte aus dem Film Männer (1985) verdeutlichen, wie das Haus im Inneren spannende Raumeindrücke birgt, während die Fassade und der Straßenraum, die zusammen genommen den öffentlichen Raum bestimmen, sich stark zurücknehmen. Gleichzeitig zeigt der Film, wie Handlungskonventionen sich im Laufe der Zeit verändert haben, besonders was die Rolle der Kinder betrifft.

Das Haus der Familie Armbrust wirkt von vorne unentschieden und fast gesichtslos. Bogenförmige Stufen, ein Paar rahmende Blumenkästen und die mit einem Bogen gekrönte Türöffnung markieren den Eingang, doch verbergen sich die Fenster hinter so genannte „Ziergitter“, die eine eher abwehrende Wirkung haben. Ein Bretterzaun markiert die Grundstücksgrenze, doch gibt es kein Tor, und das Haus selbst liegt fast am Straßenrand. Das Haus verhält sich architektonisch zwiespältig: einerseits laden die aufwändige Eingangssituation, die Nähe zur Straße und das fehlende Gartentor dazu ein, das Haus zu betreten, anderseits ist die Vorderfassade so einfallslos gestaltet, dass kaum Neugier aufkommt, gerade dies zu tun.

Der Raum vor dem Haus wirkt öde: keine Gehwege, hohe Gartenmauern vor den Häusern und Autos, die dicht an den Mauern geparkt sind. Ohne Gedanken an den Fußgänger dient die Straße als Verkehrsweg und Abstellplatz für die Autos, statt als Aufenthaltsort für die Menschen.

Im Gegensatz dazu birgt das Haus eine Fülle an räumlichen Erlebnissen. Das Innere ist zeitgenössisch mondän; eine Galerie säumt das zweigeschossige Wohnzimmer und sorgt für ein großzügiges Raumgefühl. Details, wie der nach Lehmbau anmutende Kamin, wecken Assoziationen an den amerikanischen Südwesten, was eine gewisse Weltlichkeit der Bewohner suggeriert.

Herr Armbrust versteckt sich abends im hinteren Gartenbereich, von wo aus er durch die großen Glastüren des Wohnzimmers seine Frau mit ihrem Liebhaber beobachtet. Von hier aus entfaltet sich der architektonische Eindruck des Hauses, während von innen die Verbindung zum Außenraum gegeben ist. Um zurück zur Straße zu gelangen, geht Herr Armbrust hinter dem Haus entlang, durch einen Geräteraum und die Garage.

Eine weitere Szene zeigt, wie dieser hintere Zugang zum Haus von Familienfremden genutzt wird. Im Wohnzimmer warten die Kinder der Familie darauf, von ihrer Pfadfindergruppe abgeholt zu werden. Die Eltern sitzen noch am Frühstückstisch, als die Terrassentür aufgeht und ein Pulk uniformierter Kinder hereinstürmt. Hier wird deutlich, dass der Zugang zum Haus, gerade für die Kinder, weit weniger reglementiert ist als in der frühen Nachkriegszeit, denn offensichtlich kennen und nutzen die Kinder den Weg durch die Garage zur Terrassentür. Wo die Freunde der Kinder in Witwer mit fünf Töchtern noch vor dem Haus auf dem Gehweg warten mussten, haben sich die Sitten dreißig Jahre später so weit gelockert, dass die Kinder, ohne auf Formalitäten zu achten, sich selbstständig über einen Schleichweg dem Haus nähern und es betreten. Somit drückt das Haus durch Abgrenzungen weiterhin eine Trennung zwischen Familie und Fremden aus, doch ist das Familienleben offener und demokratischer geworden, und die Kinder genießen Rechte, die sie früher nicht hatten.
(Abbildungen 27, 28, 29)
 
   

Die fehlende Kommunikation zwischen dem privaten Inneren des Hauses und dem öffentlichen Straßenraum aber bleibt und geht mit zwei anderen Tendenzen einher: der zunehmenden Kontrolle des noch verbleibenden öffentlichen Raumes, und der Verbreitung virtueller Räume aller Arten.

Ersteres ist am besten durch die seit den 1990er Jahren  zunehmenden städtischen Einkaufszentren illustriert. Hier, in einer Umkehr der früheren Einkaufsstraße, wird in der Mitte ein klimatisierter bewachter Erschließungskern geschaffen, um den herum die Läden eine klare Grenze zum Außenraum bilden. Die Besitzansprüche sind klar: war die Einkaufsstraße im öffentlichem Besitz, so ist die Einkaufshalle in Privathand und wird vom Betreiber kontrolliert (siehe dazu den Beitrag von Walter Siebel in diesem Heft). Sei es die Zeil-Galerie in Frankfurt, die Spree-Galerie in Cottbus oder die zahlreichen "Centers" in und um Berlin, das Konzept ist eines der Erlebniskontinuität, analog derjenigen in Siegfried Kracauers Hotelhalle:

Sie ist der Schauplatz derer, die den stetig Gesuchten nicht suchen noch finden, und darum gleichsam im Raume an sich zu Gaste sind, im Raume, der sie umfängt und diesem Umfangen allein zugeeignet ist.
[36]

Im Einkaufscenter kann man sich aufhalten, auch ohne dass man etwas Bestimmtes erwerben will. Es bleiben Wetter und Temperatur konstant, die Läden heißen mit ihren großen offenen Portalen willkommen, es gibt kleine Cafés oder Imbisse, wo man sich ausruhen und anderen Leuten zuschauen kann, und unerwünschte Personen, wie Bettler oder Straßenmusikanten, werden von den Sicherheitskräften einfach aufgefordert zu gehen.

Virtuelle Räume auf der „Datenautobahn“ haben ebenfalls ihren Beitrag dazu geleistet, wirkliche Kontakte im Straßenraum zu ersetzen. Joshua Meyrowitz analysiert in einem 1985 erschienenen Buch, wie die Technologie – insbesondere Telefon, Radio und Fernsehen – Wände aufgelöst hat, so dass wir mit anderen kommunizieren können, obwohl wir, physikalisch gesehen, alleine sind
[37]. Internet-Foren und Chatrooms setzen diesen Trend fort. Hier wird ein Nicht-Raum geboten, in dem Leute sich anonym – oder auch nicht – begegnen und ihre innersten Geheimnisse lüften können – wirkliche oder gefälschte.

Weit verbreiteter ist dennoch die imaginäre Welt des Fernsehens. Dass Menschen eingebildete Beziehungen mit Stars oder ihre Rollen unterhalten, ist durch Marktforscher längst bewiesen
[38]. Fernsehen bietet uns einen Ort, in dem wir die intimsten Dinge anderer Menschen erleben können: ihre Meinungen und Gedanken, ihre Sehnsüchte, ihre Gesundheitsschäden und Eheprobleme und vieles mehr, über das wir so neugierig sind, während wir um uns herum Mauern errichten, um die Neugier anderer fern zu halten.

Die kontrollierte und kontrollierbare Umgebung hat in unserem Leben eine immer wichtigere Bedeutung eingenommen. Das Einfamilienhaus kehrt den Rücken zum gemeinschaftlich-öffentlichen Raum und bezieht sich auf den rechtlich-privaten Raum, den es umschließt. Auch die größere Demokratie innerhalb des Hauses kann über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass der Familienfremde es nicht immer leicht hat, den spontanen Kontakt zu den Hausbewohnern zu finden. Daneben finden unsere Ausflüge in die Außenwelt zunehmend zu Orten mit einer kontrollierten Umgebung statt, oder wir wählen, mit Hilfe der Fernbedienung, in welche Welten wir eintauchen. Die leblosen Straßen vor unseren Häusern sind die logische Konsequenz dieser Entscheidungen. Sie enthalten eine Frage gleichermaßen an diejenigen, die solche Räume planen, und an die Gesellschaft, die sie benutzt.


Literaturverzeichnis:

Alperstein, Neil M.: Imaginary social relationships with celebrities appearing in television commercials, in Journal of Broadcasting and Electronic Media, Bd. 35(1) (1991), Seite 43-58.

Brönner, Wolfgang: Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830-1890 unter besonderer Berücksichtigung des Rheinlandes, Düsseldorf 1987.

Bruckmann, Alfred (Hg.): Bruckmanns 150 Eigenheime. München 1954.

Clark, Clifford Edward, Jr.: The American Family Home 1800-1960. Chapel Hill 1986.

Fehl, Gerhard: „Der Kleinwohnungsbau, die Grundlage des Städtebaus?“ Von „offenen Kleinwohnungen“ in Berlin und vom unbeirrt seit 1847 verfolgten Reformprojekt der „abgeschlossenen Kleinwohnung“, in: Die Kleinwohnungsfrage:  Zu den Ursprüngen des sozialen Wohnungsbaus in Europa, hg. von Juan Rodriguez-Lores und Gerhard Fehl,  Hamburg 1987, Seite 95-134.

Führ, Eduard (Hg.): Worin noch niemand war. Heimat. Eine Auseinandersetzung mit einem strapazierten Begriff Historisch – philosophisch – architektonisch, Wiesbaden/Berlin 1985.

Führ, Eduard und Stemmrich, Daniel: Nach gethaner Arbeit verbleibt im Kreise der Eurigen.  Arbeiterwohnen im 19. Jahrhundert, Wuppertal 1985.

Hafer, Hannelore: Wohnhäuser. Formen, Räume, Architekten, Köln 1990.

Harlander, Tilman und Fehl, Gerhard (Hg.): Hitlers Sozialer Wohnungsbau 1940-1945. Wohnungspolitik, Baugestaltung und Siedlungsplanung, Hamburg 1986.

Harlander, Tilman; Hater, Katrin und Meters, Franz: Siedeln in der Not. Umbruch von Wohnungspolitik und Siedlungsbau am Ende der Weimarer Republik, Hamburg 1988.

Hoffmann, Carl Friedrich: Die Wohnungen der Arbeiter und Armen, 1. Heft, Berlin 1852.

Issel, Hans: Die Wohnungs-Baukunde (Bürgerliche Baukunde), 3. erweiterte Auflage, Leipzig 1910. Faksimile Nachdruck, Augsburg 1998.

Kracauer, Siegfried: Die Hotelhalle, in: Das Ornament der Masse, Frankfurt 1963.

Meyrowitz, Joshua: No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behavior, Oxford und New York 1985.

Mittag, Martin: Kleine Eigenheime. Planen und Einrichten, Bielefeld 1957.

Nagel, S. and Linke, S. (Hg.): Offene Wohnformen. Ein- und Zweifamilienhäuser, Ferienhäuser, Bielefeld 1976.

Peters, Paulhans und Henn, Ursula: Einfamilienhäuser, München 1982.

Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt 1985.

Rowe, Colin; Slutzky, Robert und Hoesli, Bernhard: Transparenz, Basel 1968.

Saldern, Adelheid von: Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignung, in: Geschichte des Wohnens Bd. 3. 1800-1918 Das bürgerliche Zeitalter, hg. von Jürgen Reulecke, Stuttgart 1997, Seite 145-332.

Schwab, Gerhard (Hg.): Einfamilienhäuser 1-50, Stuttgart 1962.

Weber-Kellermann, Ingeborg: The German Family between Private Life and Politics, in: A History of Private Life. Riddles of Identity in Modern Times, hg. von Anoine Prost und Gérard Vincent, Cambridge, MA 1991, Seite 503-538.
 


Besprochene Filme:

1951:

Mutter sein dagegen sehr, Regie Viktor Tourjansky

1952:

Nachts auf den Straßen, Regie Rudolf Jugert

1953:

Vergiß die Liebe nicht, Regie Paul Verhoeven

1956:

Mein Vater der Schauspieler, Regie Robert Siodmak

1957:

Witwer mit fünf Töchtern, Regie Erich Engels

1969:

Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft, Regie Wolfgang Liebeneiner

1975:

Die Verlorene Ehre der Katharina Blum, Regie Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta

1985:

Männer, Regie Doris Dörrie


 

Anmerkungen:

[1] Siehe Saldern (1997), 145-332. Die Trennung  in einen öffentlichen und einen privaten ‚Familienraum’ geht in Deutschland einher mit einer zwiespältigen Haltung zum Urbanisierungsprozess überhaupt, siehe hierzu Reulecke (1985), 139ff.

[2] In den USA z. B. wurde das gesellschaftliche Leben des viktorianischen 19. Jahrhunderts strengen Regeln ausgesetzt, die sich im Haus als Ausdruck des privaten Familienlebens widerspiegelten. Siehe Clark (1986), 72-130.

[3] Brönner (1987), 29.

[4] Hierzu siehe Fehl (1987).

[5] Schlafgänger oder Untermieter, die nur ein Bett mieteten. Fehl (1987) 127, Endnote 4.

[6] Fehl (1987), 98.

[7] Fehl (1987), 106-111.

[8] Hoffmann (1852), zitiert in Fehl (1987), 110.

[9] Führ/Stemmrich (1985), 67.

[10] Siehe hierzu Harlander et al. (1988) und Harlander/Fehl (1986).

[11] Issel, (1910).

[12] Architekt H. Kutt; Issel (1910), 5.

[13] Issel (1910) Tafel 1 und S. 9.

[14] Issel (1910), 12.

[15] Issel (1910), 30.

[16] Es ist nicht Zweck dieses Aufsatzes, den Begriff "Offenheit" in der Architektur zu untersuchen; vielmehr wird der Begriff so verwendet, wie in der Architektensprache üblich, und kann hier ungefähr mit „fließendem“ oder „transparentem“ Raum gleichgesetzt werden. Für eine weitere Diskussion siehe Rowe et al. (1968).

[17] Dokumentiert in Führ (1985), 136-137.

[18] Dokumentiert in Führ (1985), 154-155.

[19] Solche Bände sind für den Ideen suchenden Architekten sowie den interessierten Laien gedacht. Die wenigsten von ihnen zeigen Werke von berühmten Architekten, sondern stellen eine Art solide "Durchschnittsarchitektur" dar. Es wurden sechzehn solche Monographien der Jahre 1950-1990 untersucht, mit insgesamt über 800 Häusern.

[20] Hierfür wurden über 50 westdeutsche Spielfilme der Jahre 1950-1989 untersucht, die im Einfamilienhaus spielen.

[21] Die Einführung (ohne Seitenangaben) wurde von Guido Harbers verfasst. Bruckmann (1954).

[22] Das Wort Transparenz benutze ich hier im Sinne von Rowe et al. (1968).

[23] Mittag (1957), 8.

[24] Nagel / Linke (1976).

[25] Architekten Detmar Buckebrede und A. Pohl, Münster; ohne Jahresangabe.

[26] Architekt Gregor Wannenmacher, Bielefeld; ohne Jahresangabe.

[27] Architekt Harald Deilmann, Münster; ohne Jahresangabe.

[28] Architekt H. Kalenborn, Düsseldorf, ohne Jahresangabe.

[29] Siehe Weber-Kellermann (1991), 533.

[30] Peters/Henn (1982).

[31] Architekt Peter Bänziger, Hallau; ohne Jahresangabe.

[32] Hafer, (1990).

[33] Architektin Christa Lotze, 1989.

[34] Hafer (1990), 23.

[35] Hafer (1990), 29.

[36] Kracauer (1963), 160.

[37] Meyrowitz (1985).

[38] Alperstein (1991) 43-58.

 

     

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9. Jg., Heft 1
November 2004