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Was ist ‚Architekturtheorie’?
Auf den Podiumsdiskussionen der letzten Zeit hört man immer wieder die
Kritik, dass es keinen internationalen Architekturdiskurs mehr gibt.
Dieses
Mangelempfinden bringt ein Verständnis ins Licht, das Architekturtheorie und
Architekturdiskurs offensichtlich als Arbeit und Streit um die Etablierung
von für einen gewissen Zeitraum allgemein verbindlichen Codes, ästhetischen
Normen und Architekturdefinitionen versteht. Es geht darum, den Raum über
den Zeichentischen der Architekten und den Schreibtischen der Bauherren zu
erobern. Architekturtheorie in diesem Sinne ist Marketing, Branding,
Architekturpolitik. Sie muss schnell sein, sich permanent selbst überholen,
weil es immer darum geht, neu und wichtig zu sein. Es geht nicht – es kann
auch gar nicht – um Wahrheit gehen. Architekturtheorie ist das Feld, in dem
Architekturmoden gemacht werden.
Als Architekturtheorie wird aber auch bezeichnet, was von Architekten zu
ihren Werken geäußert wird. Das hat natürlich große Tradition, ist teilweise
ganz spannend (s. u.), kommt aber heute oft sowohl als Pseudophilosophie
daher, von der man meint, dass ihre Tiefe in der Unverstehbarkeit liege, als
auch als Legitimations- und Marketinggeschwätz, bei dem jeder Mist durch
eine Reihe beliebiger, aber sprachgewichtiger Satzmodule übertüncht wird.
‚Gut’, wird man sagen, es gibt aber doch auch eine große Anzahl ernsthafter
Architekten, Architektinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in
diesem Feld. Die Frage ist allerdings wissenschaftstheoretisch, wen man
jeweils dazu zählen soll, wobei dies auch die Frage impliziert, was denn
Architekturtheorie ist.
Man könnte es sich einfach machen und den Kreis der Hochschullehrer und
Hochschullehrerinnen nehmen, die die ‚venia’ ‚Architekturtheorie’ haben. Man
wird dabei sehen, dass man im Moment eine sehr große Gruppe zusammenbringen
könnte. Zugleich weiß man, dass dies vor 20 Jahren nicht möglich gewesen
wäre, und dass es wahrscheinlich in 20 Jahren nicht mehr gelingen dürfte, da
im gegenwärtigen Fordismus der Hochschulpolitik viele der heutigen Stellen
wegfallen dürften.
Die Frage ist hier wiederum, ob dies nicht auch eine Einschränkung ist, denn
oft – besonders an Universitäten – wird die Architekturtheorie von der
Baugeschichte gemacht, oft auch – eher an den Fachhochschulen – von einem
Entwerfer.
Ist Architekturtheorie als eigene Disziplin selbst eine Mode?
Die oben geäußerten Überlegungen und Fragestellungen scheinen auf eine Art
Wissenschaftsempirie oder Wissenssoziologie hinauszulaufen. Das macht Sinn,
bindet sich aber an die heutige Situation.
Wir könnten dies durch philologisch-kritische Wissenschaftsgeschichte
ergänzen. Sehr schnell aber müssen wir feststellen, dass diese auch aus
unserer Zeit stammen, dass sie ein spezifisches Verständnis von Architektur
und von Theorie propagieren, dass sie sich sowohl historisch wie
kulturtopographisch einschränken und dass so die Möglichkeiten des
Verständnisses unseres wissenschaftlichen Gegenstandes eingeschränkt werden.
Sie binden uns zudem an spezifische Geschichtsverständnisse.
Aber was gibt es für Alternativen zur Bestimmung?
Wir könnten an den Anfang zurückgehen.
Aber an welchen?
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So könnte man, wie üblich geworden ist, die Wissenschaftsgeschichte
der Architektur auf die Gründung der Polytechnischen Hochschulen und damit
auf die Verwissenschaftlichung der Militärtechnik, des Festungsbaus und des
Infrastrukturausbaus zurückführen. Die Linie könnte man dann weiterschreiben
über eine Verwissenschaftlichung und Mathematisierung der Technik bis in die
heutige Realität des Bauingenieurwesens.
Aber hier wird ein bestimmter Architekturbegriff unterstellt, Architektur
ist Bau(ingenieur)wesen.
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Man könnte die Verwissenschaftlichung der Architektur auch mit den
medizinischen Untersuchungen im 18. Jahrhundert zum Wohnungswesen und zur
Stadthygiene beginnen lassen, dann aber würde man Architektur implizit als
Wohnen und Mittel zur Durchführung des Lebensalltags verstehen.
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Man könnte ebenfalls die Verwissenschaftlichung der Architektur 1671
mit der Gründung der Architekturakademie in Frankreich, mit den Schriften
von Claude Perrault sowie mit dem Diskurs der Alten und Modernen beginnen
lassen, dann verstünde man Architektur als Baukunst.
Ein Anfang impliziert
immer auch ein Verständnis des Gegenstandes.
Wir scheinen stets
in hermeneutischen Zirkeln gefangen. Was bleibt also zu tun?
Steigen wir also doch in den Zirkel ein. Aber wo?
Was ist mit Vitruv?
Wobei wir
natürlich wissen, dass auch Vitruv am Anfang einer Architekturtheorie nur
steht, wenn wir gezielt zurückblicken.
Und er steht nur für die ‚Erste’ Welt.
Und bei genauerem Hinblicken nicht einmal hier am Anfang und auch nicht
allein.
Und handelt es
sich bei ihm tatsächlich um Architektur (so wie wir es heute verstehen),
wenn er über ‚architectura’ spricht?
Was tun?
Also doch Vitruv. Zumindest aus Not und versuchsweise.
Vitruv
Vitruvs de architectura libri decem sind nicht einfach ein paar
Bücher über das Bauen. architectura meint bei Vitruv ein im Bauwesen,
im Maschinenbau, in der Uhrmacherkunst und in Astronomie und Astrologie
existierendes bzw. zu verwirklichendes Ordnungssystem. ‚architectura’ ist
zudem nicht nur eine Ordnung von Gegenständen, sondern auch eine Ordnung des
Handelns, wie die Beispiele beim Maschinenbau, wo es zwar bevorzugt um
Angriffsgeräte, aber eben auch um Verteidigungsstrategien geht, zeigen.
Die Entstehung von ‚architectura’
Gestatten Sie mir – zur Rückversicherung und gegen die Übersetzung von
Fensterbusch – die Argumentation kurz zu skizzieren:
Zunächst einmal – und das heißt für Vitruv temporal und strukturell zugleich
– gibt es die aedificatio, was ich als Bauwesen übersetzen werde, und
für ihn ein herstellendes Handwerk (fabrica) ist (fabrica
meint eher Herstellung, denn Handwerk im eigentlichen Sinne der deutschen
Sprache). Sie erzeugt Hütten (casa). Sie ist Resultat bereits einer
durch Sprache verursachten kulturellen Entwicklung der Menschen.
Sie geht zurück auf eine animalische Weise des Bewohnens der Natur und
Nutzung der in dieser bestehenden und als angenehm empfundenen Möglichkeiten
(Höhlen, Blätterdächer). Zur Architektur (aedificio) werden aber die
Möglichkeiten der Natur erst, indem die Menschen die Natur beobachten (observare)
und nachdenken (cogitare) und aus diesem Nachdenken die Möglichkeiten
der Natur verbessern. Dabei sieht Vitruv zwei Stufen: das einfachere
Nachdenken erzeugt Hütten (casa), ein umfassenderes Nachdenken, in
dem die unsicheren (incerto) und umherschweifenden, vagen (vaganto)
Urteile abgelöst werden durch die Eindeutigkeit (certo) symmetrischer
Rationalität (ad certas symmetriarium perduxerunt rationes), die
eigentliche Architektur (domus).
Architektur ist zudem grundlegend für die Entwicklung der Gesamtzivilisation
der Menschen, denn die Menschen schritten – wie Vitruv sagt –, nachdem die
Architektur entwickelt war, dann auch zu den übrigen Künsten und erzielten
so die Humanität der Menschen (2. Buch, 1. Kap., 6. Abschnitt; Fensterbusch
S. 82)
‚architectura’ als Ordnung und
Wahrheit
Andererseits, wenn denn die architectura theoretisch (im modernen
Sprachgebrauch) bleibt, es der ratiocinatio also an fabrica
fehlt, so kommt es nicht zu realen Dingen, sondern nur zu ihren
Schatten.
Die praktisch seiende Rationalität der architectura entsteht vor
allem durch das Studium der historia und durch Anhörung der Philosophen,
aber auch etwa durch Medizin (siehe Vitruv I,1). Man solle den Philosophen
zuhören, so Vitruv, nicht weil es so zur Erkenntnis absoluter oder
metaphysischer Wahrheiten, sondern zur Persönlichkeitsbildung und zum
grundlegenden Verständnis der Dinge (φυσιολογια, physiologia) komme.
historia, Persönlichkeitspsychologie und φυσιολογια führen für Vitruv
zu einem Wissen des Konkreten, zum praktischen System der Ordnung.
Nur wenn man durch die Aneignung (nutriti) aller entsprechenden
wissenschaftlichen Disziplinen, Studien und Künste (literarum et artium)
zu einem umfassenden strukturierten Wissensgebilde (templum architecturae)
(I, 11) gekommen sei, sei man architectus und könne architectura
betreiben.
architectura – so meine ich gegen Fensterbusch – ist also bei Vitruv
nicht der Gegenstand, das Gebäude, sondern ein wahrheitssichtendes (d. h.
theoretisches) praktisch werdendes System von Ordnung. Die architecti
sind keine Baumeister (wie Fensterbusch übersetzt; Überschrift Buch I, 1.1.,
Fensterbusch 1964 S. 23), sondern Theoretiker.
Wenn man dann – so Vitruv – darüber hinaus noch Geometrie, Astronomie und
Musik beherrsche, übersteige man die architectura und kommt zur
Mathematik. Man gelange dann von der praktisch seienden Rationalität (ratiocinatio)
zur reinen Wissenschaft.
Wobei Vitruv Wert darauf legt nachzuweisen, dass er alle drei Bereiche
beherrscht und also zunächst aedificator, zudem architectus
und dann auch mathematicus (dies vor allem im 9. Buch) sei.
Um noch einmal abzugrenzen, in der Mathematik handelt es sich um reine
Ordnung, in der architectura um praktisch seiende Ordnung. Ob rein
oder praktisch, Ordnung meint System der Zahlen, wobei System hier meint
ordinatio, dispositio, eurythmia, symmetria,
decorum und distributio, wie im 2. Kapitel des Ersten Buches
aufgeführt. Zahlen sind im Sinne der Antike verstanden, d. h. sie haben
jeweilig eine Identität, die Zahlen ‚6’ und ‚10’ stünden für Vollkommenheit.
Dies macht noch einmal deutlich, dass die antiken Zahlensysteme nicht
ästhetisch gemeint sind; sie präsentierten die das Sein alles Seienden
ausmachende kosmologische Ordnung. Sie waren theoria, Anschauung
universaler Wahrheit, Wissenschaft.
Baukunst – wie Fensterbusch architectura übersetzt und damit auf den
modernen Kunstbegriff anspielt – gab es in der Antike nicht. Das Bauen war
zwar eine Kunst, allerdings war dabei die ars / techné der fabrica
gemeint. Kunst, also ars oder techné, ist in der Antike nicht
als spezifisches ästhetisches Medium oder als spezifische kognitive oder
spirituelle oder ontologische Qualität – oder wie auch immer man Kunst heute
denkt – verstanden, sondern als spezifisches Vermögen zum Herstellen von
etwas. Das Vermögen herzustellen gibt es bei Vitruv nur in der fabrica,
d. h. auf der untersten Ebene der Bautätigkeiten; sie bringt Bauten (casa)
hervor.
Architectura hingegen ist scientia, Wissenschaft.
Vitruv macht – wie wir wissen – deutlich, dass architectura aus
ordinatio, dispositio, eurythmia, symmetria,
decorum und distributio hervorgeht, undifferenziert
zusammengefasst also Ordnung ist.
Der Unterschied von Wissen und
Wissenschaft bei Vitruv
Vitruv hat in seinem Architekturbuch seine Gedanken über aedificatio,
architectura und mathematica nicht einfach so irgendwie
zusammengeschrieben. Seine libri decem sind selbst architectura.
Denn wie ein Gebäude, das erst durch die architectura vom casa
zum domus wird, werden Erkenntnisse und Einzelwissen durch Anwendung
der architectura zur Wissenschaft.
Dies geschieht bei Vitruv in zwei Weisen.
Zum einen hebt Vitruv in der Vorrede zu seinem 5. Buch in Bezug auf
Pythagoras hervor, dass Wissenschaft nicht nur die universalen
mathematischen Ordnungen darstellen müsse, sondern in dieser Darstellung
selbst ebenfalls dieser universalen mathematischen Ordnung zu folgen habe.
Mit Pythagoras hält Vitruv es für notwendig, die Bücher in kubischen
Verhältnissen zu schreiben (wie es Fensterbusch übersetzt) (placuit
cybicis rationibus praecepta in voluminibus scribere). Jeder Kubus solle
216 Zeilen haben, weil dies zu besonderer Beharrlichkeit führe. Wie ein
Spielwürfel fest liege und sich erst durch die Aktionen eines Spielers
bewege, so setze sich ein kubisch geschriebenes Buch besonders gut im
menschlichen Geist fest (Buch V, Vorrede; Fensterbusch 1964, S. 204/205).
Das hört sich mysteriös und abstrus an. Jedenfalls so lange, bis man
entdeckt, dass 216 die dritte Potenz von 6, eine der beiden von Vitruv
angesprochenen perfekten Zahlen, ist. Wissenschaft als Systematisierung zum
Vollkommenen muss sich in sich selbst vollkommen präsentieren. Das ist der
Grund, warum ein Buch 216 Zeilen haben muss, sie muss 6 mal 6 mal 6 haben,
oder anders gesagt: Vollkommenheit in Perfektion. Durch die Kubiksumme, also
die dritte Potenz von 6, wird ein Buch dreifach vollkommen, wird
architectura.
Die höhere Wahrheit besteht zudem auch darin, dass er seinen Text zu 10
Büchern geformt hat. Da die ‚10’ für ihn die zweite vollkommene Zahl ist,
wurde durch die Verfassung von 10 Büchern aus einem einfachen Schriftstück
ein Buchwerk; womit es sich nun nicht mehr um eine arbiträre Kompilation von
Einzelwissen handelt, sondern um eine systemische Wissenschaft.
architectura ist also als Architekturwissenschaft verstandene
Architekturtheorie.
Es ist Theorie, die nicht im Nachgang zum Werk entwickelt wird, als solche
nicht einmal außerhalb des Werkes existent ist, sondern eine intrinsische
Qualität.
architectura ist für Vitruv eine das Wahre anschauende, sie
veranschaulichende und materialisierende Wissenschaft. aedificatio
wird dann zur architectura, wenn sie theoretisch-wissenschaftlich
betrieben wird.
‚de architectura libri decem’ sind ‚10 Bücher über die Wissenschaft’; sie
konzipieren eine wissenschaftliche Theorie der Wissenschaftlichkeit einer
herzustellenden materialen Welt.
Modernisierung des Vitruvschen Wissenschaftsbegriffes
Das – mehr oder weniger – arbiträre Einsteigen in einen hermeneutischen
Zirkel hat nicht die befürchtete Affirmation gebracht, sondern im
philologischen Herangehen (soweit das in der Kürze dieses Thesenpapiers
möglich war) und aus der (Eigen- und Wider-)Ständigkeit des Textes ein
lange perpetuiertes Verständnis von Vitruvs Architekturtheorie revidiert und
einem heutigen Verständnis von Architektur eine unerwartete Alternative
gegeben.
Architekturtheorie scheint mir zuerst einmal Wissenschaftstheorie sein zu
müssen.
Man muss den Anspruch Vitruvs, dass architectura Wissenschaft
sei, ernst nehmen.
Allerdings stimmt Vitruvs Vorstellung von Wissenschaftlichkeit (216 Zeilen
und 10 Bücher) nicht mehr mit dem heutigen Verständnis überein.
Man kann nun in zweierlei Weise mit ihm umgehen: man kann sein
Wissenschaftsverständnis dem inhaltlichen Verständnis nach beibehalten und
es in eine Ästhetik umwandeln, also seine wissenschaftlich gemeinte und
Wahrheit abbildende Numerik zu ästhetisch gemeinter Harmonie und Proportion
umdeuten, oder man kann die für das Wissenschaftsverständnis der Antike
spezifischen, numerischen Inhalte aufgeben, die Suche nach Wahrheit und
Wissenschaftlichkeit dem Anspruch nach aber beibehalten.
Schon Vitruv hatte hervorgehoben, dass das Erkenntnisgewinnen, Reflektieren,
Abstrahieren ein theoretisches und wissenschaftliches Vorgehen und Handeln
ist, das dem Bauen vorhergehen muss und nicht allein in einer hoch
formalisierten Weise, nicht allein wissenschaftshistorisch eingebunden und
nicht allein in wissenschaftstheoretischer Bewusstheit durchgeführt wird,
sondern konkret von Menschen im alltäglichen Bewohnen der materialen Umwelt
gemacht wird. Dieser Ansatz ist heute weitgehend verloren, wir denken, nur
die Produzenten und erwählte Theoretiker machen Architekturtheorie. Neben
beiden aber stehen die Nutzer, nach Vitruv stehen sie sogar vor den
Produzenten und den Theoretikern.
Bei genauerem Betrachten sind dies aber nicht drei Personen, sondern drei
Aspekte in einer Person: Wohnen, Denken, Bauen. Architekten bauen, wohnen
und denken, Theoretiker und Nutzer denken und wohnen, und sie bauen zu Ende,
was die Architekten als Halbfabrikate in die Welt gestellt haben; Wohnen
ohne eingreifendes und aneignendes Ändern, also ohne Bauen, ist zwar ein
Traum der Moderne (Hilberseimers Vorstellung vom Umzug nur mit 1 Koffer),
führt aber nicht zu wahrem Wohnen.
Über das
Machen von Wissenschaft
Wie aber machen Menschen nun diese konkrete Wissenschaft?
Sie machen sie im Denken, d. h. im Schreiben, Lesen, Reden und Reflektieren.
Dem will ich nun abschließend noch nachgehen.
Historisch gesehen hat sich im Abendland ein spezifisches Verfahren
herausgebildet, wie man Wissenschaft generiert, eine Kunst der Wissenschaft.
Sie hat mehrere Stufen.
Die erste Stufe ist die Gewinnung von Erfahrung im Handeln mit den Dingen.
Erfahrung ist dabei keine banale und tautologische Abbildung einer äußeren
Realität, sondern erst möglich auf der Basis einer subjektiv entworfenen
Welt, der Generierung eines Wollens, der Initiation einer Handlung und
daraus impliziter subjektiver Erwartungen. Die gemachte Erfahrung ist
einerseits Erkenntnis der Wirklichkeit und andererseits hergestellte
Erfahrung, also Entwurf und Kunst (poiesis). Gemachte Erfahrung
modifiziert die Eigenwelt, moduliert die Handlungskompetenz und wirkt als
Erwartung in die Zukunft.
Eine weitere Stufe wäre eine dezidierte Verbalisierung des zu erkennenden
Gegenstandes. Sie ist ein Verfahren, die Dinge selbst ins Hirn zu bringen.
In der Architektur (und anderen Wissenschaften) hatte die Verbalisierung als
Beschreibung auch praktische Gründe (fehlende Abbildungstechniken, fehlende
dementsprechend geeignete Druckverfahren). Sie ist eine Methode der
Einvergeistung materialer Objekte (Condillac).
Die Versprachlichung fasst den Gegenstand und
präzisiert ihn zugleich, auch dessen visuelle Wahrnehmung, und verändert ihn
im gleichen. Nur ein anhaltendes Zurückbinden des Versprachlichten an das
Phänomen und eine permanente Arbeit an der Adäquatheit des Begriffs
legitimiert das Versprachlichte.
Wenn ich ein Gebäude beschreibe, verbalisiere ich, was ich sehe und
was ich im Gebrauch erfahren habe oder erfahren würde. Wenn ich das nicht
verbalisiert hätte, hätte ich die Erfahrungen in dieser Tiefe nicht gemacht.
Die Tiefe der Erfahrung entsteht erst in der Verbalisierung.
Verbalisierung ist stets soziale Interaktion. Beim Verbalisieren werden die
Sachen zu Wörtern und Satzinhalten formuliert.
Ich kann den direkten Umgang mit den Sachen durch indirekte kognitive
Operationen ersetzen; ich kann Sachen kognitiv aufeinander beziehen,
miteinander vergleichen, ineinander verbinden, ohne dass sie tatsächlich
Raum und Zeit miteinander teilen.
Sie werden damit kognitive Items und – wenn ich entsprechende Konventionen
mit anderen habe, also eine gemeinsame Sprache pflege – auch kommunizierbar.
Ich kann die kognitiven Inhalte und die Ergebnisse des mit ihnen Gedachten
an Zeitgenossen und an Nachfahren weitergeben.
Eine klassifizierende Beschreibung ist über eine
Verbalisierung der sinnlichen Gegebenheiten hinaus ein Mittel, von der
konkreten Materialität und von der Individualität der Einzeldinge abzusehen.
Sie werden verallgemeinert, damit intellektualisiert, um dann auch mit ihnen
verallgemeinert operieren zu können. Zugleich verankert eine Klassifizierung
das Phänomen in einem Wissensraum.
Damit ist die klassifizierende Beschreibung allerdings auch in die
vorgegebenen Klassen und ihre vorgegebene Ordnung eingebunden.
Auch hier entsteht die Pflicht der permanenten Arbeit an der Rückbindung der
vorgegebenen Wissenschaft an das Phänomen; Wissenschaft generiert den
Gegenstand als wissenschaftlichen, der Gegenstand muss zugleich aber auch
die Wissenschaft generieren.
Wir wissen heute, dass das Sehen bereits ein Vorgang der interpretativen
Generierung einer visuellen Welt ist. Insofern ist das Sehen bereits, was
erst das Verbalisieren leisten soll, eine mimetische Einvergeistung der
äußeren Welt. Welt ist dabei Text, wenn man unter Text die materiale Vorgabe
eines strukturierten Sinnes versteht.
Jedes Sehen ähnelt in dieser Hinsicht dem Lesen. Wenn man unter Lesen den
rezeptiven Vorgang der Erarbeitung eines vorgegebenen Textes oder einer
ästhetischen Konfiguration versteht.
Man meint, Schreiben sei Produktion (poiesis) eines Buches, Lesen
dessen Rezeption. Der Autor schreibt, der Leser liest.
Aber stimmt das?
Ist nicht der Schreiber ein Leser, der ohne je gelesen zu haben, auch nicht
schreiben würde, der im ständigen Lesen des Geschriebenen, in der Korrektur
des Geschriebenen aufgrund des Gelesenen den Buchtext entwirft?
Also: Ist nicht jedes Entwerfen von Architektur eng in das Lesen des
Hingezeichneten eingebunden?
Und andererseits:
Im Lesen nimmt man den Sinn nicht nur hin, man muss ihn aufgrund des
vorgegebenen Materials aufsuchen, d. h. suchen, d. h. generieren. Das Lesen
ist immer auch poiesis, herstellendes Handeln, an dessen Ende der
Text als Produkt steht.
Schreibt nicht jeder Leser im Lesen den Text virtuell jeweils erneut?
Entwirft nicht jeder Bewohner oder Nutzer seine Architektur im Vorgang des
Gebrauchens?
Einen Diskurs zu führen, ist in ein inneres oder äußeres Reden gebunden. Das
Reden macht offensichtlich Sinn, um eine Sache voranzutreiben.
Im Gegensatz zum Schreiben ist im Reden immer das redende Subjekt präsent.
Es gibt mehrere Weisen des Redens, man kann still in sich, still mit sich
selbst reden, und man kann mit anderen sprechen.
Explizites Denken geht nicht ohne stilles Reden. Wenn ich still redend
denke, formalisiere ich mein Denken. Ich vollführe es im sprachlich
strukturierten Denkraum.
Im Formalisieren und Still-Reden stellt das Denken sich zugleich in seiner
Angemessenheit zum Gegenstand des Gedachten infrage.
Beim Argumentieren versuche ich, das Problem klarer zu fassen und mögliche
Lösungen zu formulieren, die ich aber stets auch immer kritisch befrage, ob
sie die richtigen Lösungen sind, ob es gute Lösungen sind, und ob es
vielleicht noch andere Lösungen gibt. Argumente sind gute Gründe, Belege,
Erfahrungen, ohne dass sie alle bereits Beweise oder logische Ableitungen
wären.
Beim Argumentieren mit mir selbst versuche ich von mir selbst eine
Zustimmung darüber zu erlangen, dass dieses Argument tatsächlich zieht.
Letztlich gibt es nach wechselseitiger Abwägung der Argumente entweder einen
Konsens über die Durchführung der einen oder der anderen Position,
vielleicht auch das gemeinsame Finden einer dritten Position, vielleicht nur
eine quantitative Auszählung der jeweiligen von beiden anerkannten Argumente
und eine Entscheidung aufgrund eines quantitativen Übergewichtes, vielleicht
auch beende ich das Argumentieren und tue dezisionistisch einfach
irgendetwas.
So wie ich mit mir selbst rede, so auch mit anderen; teilweise um mir Rat in
einer eigenen Angelegenheit zu holen, teilweise um eine gemeinsame
Entscheidung zum Handeln in einer gegebenen Situationen zu finden. Ich mache
den anderen zum Richter über die Gültigkeit meiner Argumente.
Meine Absicht ist es dabei, meine Argumente vorzustellen und sie in einer
möglichen Bestätigung durch den anderen gültig zu machen. Die Qualität eines
so bestätigten Argumentes hängt von dem Feld des Argumentierens und von der
Erfahrung und Kompetenz des anderen ab.
Ich habe bisher offen gelassen, ob ich mit Argument immer ein verbales
Argument meine und mit Reden immer ein sprachliches Reden. Wenn man sagt,
der Entwurf des Gebäudes überzeugt, so ist damit ebenfalls eine
Argumentation gemeint.
Was ist der Unterschied für den Zuhörer bzw. Leser, wenn ihm einmal eine
Wahrheit schriftlich mitgeteilt und ein anderes Mal eine Wahrheit in einem
Vortrag gesagt wird?
Beim Reden steht die auctoritats und damit die Autorität der
anwesenden Person in den Thesen und der Wahrheit.
Im Reden ist Wahrheit ein gemeinsamer Prozess, deshalb präsent und
identifizierend.
Das Reden bleibt – idealerweise – im Kontakt zum Zuhörer, es ist auf ein
konkretes anwesendes Publikum bezogen und somit dialogisch.
Theoretisieren, d. h. Reflektieren, Denken und Nachdenken über das, was man
generell und über das, was man da gerade tut, ist für mich ein notwendiger
Teil architektonischen Entwerfens und Nutzens, ein zentrales Element des
Wohnens.
Reflexion beginnt mit der Reflexion über die Aufgabe und bei der
Hinzuziehung von erforderlichen Informationen; es setzt sich in anderer
Weise fort im Entwurfsvorgang mit der ständigen Reflexion des Entworfenen,
mit dem Hinzuziehen von alternativen Lösungen des Entwurfsproblems, wenn es
in seiner rudimentären Art auch nicht unbedingt sprachlich geschieht,
sondern als ästhetischer Vergleich und als Seharbeit.
Spätestens aber bei Entwurfs- und Planungskooperationen sowie bei
Entwurfspräsentationen wird Reflexion dezidiert sprachlich.
Reflektieren, Denken, Nachdenken und Wahrnehmen sind niemals isolierte
Einzelvorgänge, sondern stehen in einer Handlungs-, Erfahrungs- und
Wissenswelt.
Indem jedes Denken und Reflektieren in der Abhängigkeit von kognitiven
Items, von kognitivierten Strukturen und jedes Sprechen in der Abhängigkeit
von der Sprache und damit in größeren theoretischen Zusammenhängen steht,
ist es stets schon theoretisch. Wahrnehmung, die in den unterschiedlichen
ins Hirn gelangenden elektrischen Nervenimpulsen einen Gegenstand und einen
Raum erkennt, ist stets theoretisch, da die Wahrnehmungsinhalte abhängen vom
kognitiven Konzept von Welt.
Theorie ist mehr als das Theoretische. Als Theorie versucht man, das
Theoretische in konsistenten Verknüpfungen, systematischen Strukturen, in
Schlüssigkeit und mit Wahrheitsanspruch zu realisieren.
Architekturtheorie als Theoretisieren von Architekten und als Bildung einer
Theorie ist unabdingbar für das entwerfende und planende Handeln von
Architekten; Architekturtheorie ist ein Teil des Bauens.
Allerdings wird die Rückschleife der Theorie zur Architektur oft gekappt;
Architekturtheorien werden oft nicht mehr überarbeitet und oft nicht mehr
auf die Erfahrung des Architekten und anderer zurückgebunden.
Theorie kann sich von der Architektur lösen, ist dann bestenfalls Text.
Womit sie eigentlich eher in die Literaturwissenschaft gehörte.
In unseren traditionellen Vorstellungen gibt es Orte für das Wohnen und Orte
für das Denken. Wohnen vollzieht sich in der alltäglichen Umwelt, das Denken
am heimatlichen oder akademischen Schreibtisch. Unsere Vorstellungen trennen
dieses Tun in zwei Welten, in die alltägliche, banale kognitionsfreie Welt
des Wohnens und in die vom Sein distanzierte, intellektuelle Welt des
Denkens.
Das scheint mir falsch. Denn das Wohnen (und hier ist der Begriff eher in
Heideggers Sinn gemeint) stattet mein Denken mit Inhalten, mit Substanz, mit
Unbegriffenem und Ungedachtem aus. Es konkretisiert, versinnlicht mein
Denken und bietet ihm einen Widerstand. Das Wohnen bringt dem Denken Bilder.
Aber auch umgedreht: Das Denken kann dem Wohnen einen Widerstand bieten, im
Versuch, die Welt zu verstehen, zeigt sich die Welt in ihrer
Mangelhaftigkeit und Widersprüchlichkeit. Erst im Denken gelingt die Kritik
der Realität.
Schlusswort
Wenn man das von Vitruv im Begriff der architectura vorgegebene
Verständnis der Integration von Architektur und Theorie also einerseits im
Wissenschaftsverständnis modernisiert, so muss man einer weiten Definition
einer Theorie der Architektur Recht geben, wobei darin auch der Unterschied
zwischen der Architekturtheorie und einer Theorie der Architektur liegt.
Das Fach ‚Architekturtheorie’ hat dies aufzunehmen und sich zu einem Fach
der Alltags- und vielen Fachwissenschaften des Wohnens, Bauens und Denkens
der Umwelt zu entwickeln. Dieses Fach hat darüber hinaus besonders die
wissenschaftstheoretischen Grundlagen dafür zu diskutieren und zu entwickeln
und die vereinzelten theoretischen Ansätze und Erkenntnisse kritisch zu
reflektieren, zusammenzuführen und zu systematisieren.
Anmerkungen:
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