Rundgespräch zur Architekturtheorie

9. Jg., Heft 2
März 2005
   

 

___Eduard Führ
Cottbus
  Zur Theorie der Architektur
als Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis

 

   


Was ist ‚Architekturtheorie’?


Auf den Podiumsdiskussionen der letzten Zeit hört man immer wieder die Kritik, dass es keinen internationalen Architekturdiskurs mehr gibt.
Dieses Mangelempfinden bringt ein Verständnis ins Licht, das Architekturtheorie und Architekturdiskurs offensichtlich als Arbeit und Streit um die Etablierung von für einen gewissen Zeitraum allgemein verbindlichen Codes, ästhetischen Normen und Architekturdefinitionen versteht. Es geht darum, den Raum über den Zeichentischen der Architekten und den Schreibtischen der Bauherren zu erobern. Architekturtheorie in diesem Sinne ist Marketing, Branding, Architekturpolitik. Sie muss schnell sein, sich permanent selbst überholen, weil es immer darum geht, neu und wichtig zu sein. Es geht nicht – es kann auch gar nicht – um Wahrheit gehen. Architekturtheorie ist das Feld, in dem Architekturmoden gemacht werden.

Als Architekturtheorie wird aber auch bezeichnet, was von Architekten zu ihren Werken geäußert wird. Das hat natürlich große Tradition, ist teilweise ganz spannend (s. u.), kommt aber heute oft sowohl als Pseudophilosophie daher, von der man meint, dass ihre Tiefe in der Unverstehbarkeit liege, als auch als Legitimations- und Marketinggeschwätz, bei dem jeder Mist durch eine Reihe beliebiger, aber sprachgewichtiger Satzmodule übertüncht wird.

‚Gut’, wird man sagen, es gibt aber doch auch eine große Anzahl ernsthafter Architekten, Architektinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in diesem Feld. Die Frage ist allerdings wissenschaftstheoretisch, wen man jeweils dazu zählen soll, wobei dies auch die Frage impliziert, was denn Architekturtheorie ist.
Man könnte es sich einfach machen und den Kreis der Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen nehmen, die die ‚venia’ ‚Architekturtheorie’ haben. Man wird dabei sehen, dass man im Moment eine sehr große Gruppe zusammenbringen könnte. Zugleich weiß man, dass dies vor 20 Jahren nicht möglich gewesen wäre, und dass es wahrscheinlich in 20 Jahren nicht mehr gelingen dürfte, da im gegenwärtigen Fordismus der Hochschulpolitik viele der heutigen Stellen wegfallen dürften.
Die Frage ist hier wiederum, ob dies nicht auch eine Einschränkung ist, denn oft – besonders an Universitäten – wird die Architekturtheorie von der Baugeschichte gemacht, oft auch – eher an den Fachhochschulen – von einem Entwerfer.
Ist Architekturtheorie als eigene Disziplin selbst eine Mode?

Die oben geäußerten Überlegungen und Fragestellungen scheinen auf eine Art Wissenschaftsempirie oder Wissenssoziologie hinauszulaufen. Das macht Sinn, bindet sich aber an die heutige Situation.
Wir könnten dies durch philologisch-kritische Wissenschaftsgeschichte ergänzen. Sehr schnell aber müssen wir feststellen, dass diese auch aus unserer Zeit stammen, dass sie ein spezifisches Verständnis von Architektur und von Theorie propagieren, dass sie sich sowohl historisch wie kulturtopographisch einschränken und dass so die Möglichkeiten des Verständnisses unseres wissenschaftlichen Gegenstandes eingeschränkt werden. Sie binden uns zudem an spezifische Geschichtsverständnisse.

Aber was gibt es für Alternativen zur Bestimmung?

Wir könnten an den Anfang zurückgehen.
Aber an welchen?

-          So könnte man, wie üblich geworden ist, die Wissenschaftsgeschichte der Architektur auf die Gründung der Polytechnischen Hochschulen und damit auf die Verwissenschaftlichung der Militärtechnik, des Festungsbaus und des Infrastrukturausbaus zurückführen. Die Linie könnte man dann weiterschreiben über eine Verwissenschaftlichung und Mathematisierung der Technik bis in die heutige Realität des Bauingenieurwesens.
Aber hier wird ein bestimmter Architekturbegriff unterstellt, Architektur ist Bau(ingenieur)wesen.

-          Man könnte die Verwissenschaftlichung der Architektur auch mit den medizinischen Untersuchungen im 18. Jahrhundert zum Wohnungswesen und zur Stadthygiene beginnen lassen, dann aber würde man Architektur implizit als Wohnen und Mittel zur Durchführung des Lebensalltags verstehen.

-          Man könnte ebenfalls die Verwissenschaftlichung der Architektur 1671 mit der Gründung der Architekturakademie in Frankreich, mit den Schriften von Claude Perrault sowie mit dem Diskurs der Alten und Modernen beginnen lassen, dann verstünde man Architektur als Baukunst.


Ein Anfang impliziert immer auch ein Verständnis des Gegenstandes.

Wir scheinen stets in hermeneutischen Zirkeln gefangen. Was bleibt also zu tun?
Steigen wir also doch in den Zirkel ein. Aber wo?

Was ist mit Vitruv?
Wobei wir natürlich wissen, dass auch Vitruv am Anfang einer Architekturtheorie nur steht, wenn wir gezielt zurückblicken.
Und er steht nur für die ‚Erste’ Welt.
Und bei genauerem Hinblicken nicht einmal hier am Anfang und auch nicht allein.
Und handelt es sich bei ihm tatsächlich um Architektur (so wie wir es heute verstehen), wenn er über ‚architectura’ spricht?

Was tun?
Also doch Vitruv. Zumindest aus Not und versuchsweise.


 

Vitruv[1]


Vitruvs de architectura libri decem sind nicht einfach ein paar Bücher über das Bauen. architectura meint bei Vitruv ein im Bauwesen, im Maschinenbau, in der Uhrmacherkunst und in Astronomie und Astrologie existierendes bzw. zu verwirklichendes Ordnungssystem. ‚architectura’ ist zudem nicht nur eine Ordnung von Gegenständen, sondern auch eine Ordnung des Handelns, wie die Beispiele beim Maschinenbau, wo es zwar bevorzugt um Angriffsgeräte, aber eben auch um Verteidigungsstrategien geht, zeigen.


Die Entstehung von ‚architectura’
Gestatten Sie mir – zur Rückversicherung und gegen die Übersetzung von Fensterbusch – die Argumentation kurz zu skizzieren:
Zunächst einmal – und das heißt für Vitruv temporal und strukturell zugleich – gibt es die aedificatio, was ich als Bauwesen übersetzen werde, und für ihn ein herstellendes Handwerk (fabrica) ist (fabrica meint eher Herstellung, denn Handwerk im eigentlichen Sinne der deutschen Sprache). Sie erzeugt Hütten (casa). Sie ist Resultat bereits einer durch Sprache verursachten kulturellen Entwicklung der Menschen.
Sie geht zurück auf eine animalische Weise des Bewohnens der Natur und Nutzung der in dieser bestehenden und als angenehm empfundenen Möglichkeiten (Höhlen, Blätterdächer). Zur Architektur (aedificio) werden aber die Möglichkeiten der Natur erst, indem die Menschen die Natur beobachten (observare) und nachdenken (cogitare) und aus diesem Nachdenken die Möglichkeiten der Natur verbessern. Dabei sieht Vitruv zwei Stufen: das einfachere Nachdenken erzeugt Hütten (casa), ein umfassenderes Nachdenken, in dem die unsicheren (incerto) und umherschweifenden, vagen (vaganto) Urteile abgelöst werden durch die Eindeutigkeit (certo) symmetrischer Rationalität (ad certas symmetriarium perduxerunt rationes), die eigentliche Architektur (domus).

Architektur ist zudem grundlegend für die Entwicklung der Gesamtzivilisation der Menschen, denn die Menschen schritten – wie Vitruv sagt –, nachdem die Architektur entwickelt war, dann auch zu den übrigen Künsten und erzielten so die Humanität der Menschen (2. Buch, 1. Kap., 6. Abschnitt; Fensterbusch S. 82)


‚architectura’ als Ordnung und Wahrheit
Andererseits, wenn denn die architectura theoretisch (im modernen Sprachgebrauch) bleibt, es der ratiocinatio also an fabrica fehlt, so kommt es nicht zu realen Dingen, sondern nur zu ihren Schatten.
Die praktisch seiende Rationalität der architectura entsteht vor allem durch das Studium der historia und durch Anhörung der Philosophen, aber auch etwa durch Medizin (siehe Vitruv I,1). Man solle den Philosophen zuhören, so Vitruv, nicht weil es so zur Erkenntnis absoluter oder metaphysischer Wahrheiten, sondern zur Persönlichkeitsbildung und zum grundlegenden Verständnis der Dinge (φυσιολογια, physiologia) komme. historia, Persönlichkeitspsychologie und φυσιολογια führen für Vitruv zu einem Wissen des Konkreten, zum praktischen System der Ordnung.

Nur wenn man durch die Aneignung (nutriti) aller entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen, Studien und Künste (literarum et artium) zu einem umfassenden strukturierten Wissensgebilde (
templum architecturae) (I, 11) gekommen sei,  sei man architectus und könne architectura betreiben.
architectura – so meine ich gegen Fensterbusch – ist also bei Vitruv nicht der Gegenstand, das Gebäude, sondern ein wahrheits­sichtendes (d. h. theoretisches) praktisch werdendes System von Ordnung. Die architecti sind keine Baumeister (wie Fensterbusch übersetzt; Überschrift Buch I, 1.1., Fensterbusch 1964 S. 23), sondern Theoretiker.

Wenn man dann – so Vitruv – darüber hinaus noch Geometrie, Astronomie und Musik beherrsche, übersteige man die architectura und kommt zur Mathematik. Man gelange dann von der praktisch seienden Rationalität (ratiocinatio) zur reinen Wissenschaft.
Wobei Vitruv Wert darauf legt nachzuweisen, dass er alle drei Bereiche beherrscht und also zunächst aedificator, zudem architectus und dann auch mathematicus (dies vor allem im 9. Buch) sei.

Um noch einmal abzugrenzen, in der Mathematik handelt es sich um reine Ordnung, in der architectura um praktisch seiende Ordnung. Ob rein oder praktisch, Ordnung meint System der Zahlen, wobei System hier meint ordinatio, dispositio, eurythmia, symmetria, decorum und distributio, wie im 2. Kapitel des Ersten Buches aufgeführt. Zahlen sind im Sinne der Antike verstanden, d. h. sie haben jeweilig eine Identität, die Zahlen ‚6’ und ‚10’ stünden für Vollkommenheit.
Dies macht noch einmal deutlich, dass die antiken Zahlensysteme nicht ästhetisch gemeint sind; sie präsentierten die das Sein alles Seienden ausmachende kosmologische Ordnung. Sie waren theoria, Anschauung universaler Wahrheit, Wissenschaft.

Baukunst – wie Fensterbusch architectura übersetzt und damit auf den modernen Kunstbegriff anspielt – gab es in der Antike nicht. Das Bauen war zwar eine Kunst, allerdings war dabei die ars / techné der fabrica gemeint. Kunst, also ars oder techné, ist in der Antike nicht als spezifisches ästhetisches Medium oder als spezifische kognitive oder spirituelle oder ontologische Qualität – oder wie auch immer man Kunst heute denkt – verstanden, sondern als spezifisches Vermögen zum Herstellen von etwas. Das Vermögen herzustellen gibt es bei Vitruv nur in der fabrica, d. h. auf der untersten Ebene der Bautätigkeiten; sie bringt Bauten (casa) hervor.
Architectura hingegen ist scientia, Wissenschaft.

Vitruv macht – wie wir wissen – deutlich, dass architectura aus ordinatio, dispositio, eurythmia, symmetria, decorum und distributio hervorgeht, undifferenziert zusammengefasst also Ordnung ist.


Der Unterschied von Wissen und Wissenschaft bei Vitruv
Vitruv hat in seinem Architekturbuch seine Gedanken über aedificatio, architectura und mathematica nicht einfach so irgendwie zusammengeschrieben. Seine libri decem sind selbst architectura. Denn wie ein Gebäude, das erst durch die architectura vom casa zum domus wird, werden Erkenntnisse und Einzelwissen durch Anwendung der architectura zur Wissenschaft.

Dies geschieht bei Vitruv in zwei Weisen.
Zum einen hebt Vitruv in der Vorrede zu seinem 5. Buch in Bezug auf Pythagoras hervor, dass Wissenschaft nicht nur die universalen mathematischen Ordnungen darstellen müsse, sondern in dieser Darstellung selbst ebenfalls dieser universalen mathematischen Ordnung zu folgen habe. Mit Pythagoras hält Vitruv es für notwendig, die Bücher in kubischen Verhältnissen zu schreiben (wie es Fensterbusch übersetzt) (placuit cybicis rationibus praecepta in voluminibus scribere). Jeder Kubus solle 216 Zeilen haben, weil dies zu besonderer Beharrlichkeit führe. Wie ein Spielwürfel fest liege und sich erst durch die Aktionen eines Spielers bewege, so setze sich ein kubisch geschriebenes Buch besonders gut im menschlichen Geist fest (Buch V, Vorrede; Fensterbusch 1964, S. 204/205).
Das hört sich mysteriös und abstrus an. Jedenfalls so lange, bis man entdeckt, dass 216 die dritte Potenz von 6, eine der beiden von Vitruv angesprochenen perfekten Zahlen, ist. Wissenschaft als Systematisierung zum Vollkommenen muss sich in sich selbst vollkommen präsentieren. Das ist der Grund, warum ein Buch 216 Zeilen haben muss, sie muss 6 mal 6 mal 6 haben, oder anders gesagt: Vollkommenheit in Perfektion. Durch die Kubiksumme, also die dritte Potenz von 6, wird ein Buch dreifach vollkommen, wird architectura.

Die höhere Wahrheit besteht zudem auch darin, dass er seinen Text zu 10 Büchern geformt hat. Da die ‚10’ für ihn die zweite vollkommene Zahl ist, wurde durch die Verfassung von 10 Büchern aus einem einfachen Schriftstück ein Buchwerk; womit es sich nun nicht mehr um eine arbiträre Kompilation von Einzelwissen handelt, sondern um eine systemische Wissenschaft.
architectura ist also als Architekturwissenschaft verstandene Architekturtheorie.
Es ist Theorie, die nicht im Nachgang zum Werk entwickelt wird, als solche nicht einmal außerhalb des Werkes existent ist, sondern eine intrinsische Qualität.

architectura ist für Vitruv eine das Wahre anschauende, sie veranschaulichende und materialisierende Wissenschaft. aedificatio wird dann zur architectura, wenn sie theoretisch-wissenschaftlich betrieben wird.
‚de architectura libri decem’ sind ‚10 Bücher über die Wissenschaft’; sie konzipieren eine wissenschaftliche Theorie der Wissenschaftlichkeit einer herzustellenden materialen Welt.


 

Modernisierung des Vitruvschen Wissenschaftsbegriffes


Das – mehr oder weniger – arbiträre Einsteigen in einen hermeneutischen Zirkel hat nicht die befürchtete Affirmation gebracht, sondern im philologischen Herangehen (soweit das in der Kürze dieses Thesenpapiers möglich war) und aus der (Eigen-  und Wider-)Ständigkeit des Textes ein lange perpetuiertes Verständnis von Vitruvs Architekturtheorie revidiert und einem heutigen Verständnis von Architektur eine unerwartete Alternative gegeben.
Architekturtheorie scheint mir zuerst einmal Wissenschaftstheorie sein zu müssen.

Man muss den Anspruch Vitruvs, dass architectura Wissenschaft sei, ernst nehmen.
Allerdings stimmt Vitruvs Vorstellung von Wissenschaftlichkeit (216 Zeilen und 10 Bücher) nicht mehr mit dem heutigen Verständnis überein.
Man kann nun in zweierlei Weise mit ihm umgehen: man kann sein Wissenschaftsverständnis dem inhaltlichen Verständnis nach beibehalten und es in eine Ästhetik umwandeln, also seine wissenschaftlich gemeinte und Wahrheit abbildende Numerik zu ästhetisch gemeinter Harmonie und Proportion umdeuten, oder man kann die für das Wissenschaftsverständnis der Antike spezifischen, numerischen Inhalte aufgeben, die Suche nach Wahrheit und Wissenschaftlichkeit dem Anspruch nach aber beibehalten.[2]

Schon Vitruv hatte hervorgehoben, dass das Erkenntnisgewinnen, Reflektieren, Abstrahieren ein theoretisches und wissenschaftliches Vorgehen und Handeln ist, das dem Bauen vorhergehen muss und nicht allein in einer hoch formalisierten Weise, nicht allein wissenschaftshistorisch eingebunden und nicht allein in wissenschaftstheoretischer Bewusstheit durchgeführt wird, sondern konkret von Menschen im alltäglichen Bewohnen der materialen Umwelt gemacht wird. Dieser Ansatz ist heute weitgehend verloren, wir denken, nur die Produzenten und erwählte Theoretiker machen Architekturtheorie. Neben beiden aber stehen die Nutzer, nach Vitruv stehen sie sogar vor den Produzenten und den Theoretikern.
Bei genauerem Betrachten sind dies aber nicht drei Personen, sondern drei Aspekte in einer Person: Wohnen, Denken, Bauen. Architekten bauen, wohnen und denken, Theoretiker und Nutzer denken und wohnen, und sie bauen zu Ende, was die Architekten als Halbfabrikate in die Welt gestellt haben; Wohnen ohne eingreifendes und aneignendes Ändern, also ohne Bauen, ist zwar ein Traum der Moderne (Hilberseimers Vorstellung vom Umzug nur mit 1 Koffer), führt aber nicht zu wahrem Wohnen.


 

Über das Machen von Wissenschaft


Wie aber machen Menschen nun diese konkrete Wissenschaft?
Sie machen sie im Denken, d. h. im Schreiben, Lesen, Reden und Reflektieren. Dem will ich nun abschließend noch nachgehen.

Historisch gesehen hat sich im Abendland ein spezifisches Verfahren herausgebildet, wie man Wissenschaft generiert, eine Kunst der Wissenschaft. Sie hat mehrere Stufen.

Die erste Stufe ist die Gewinnung von Erfahrung im Handeln mit den Dingen.
Erfahrung ist dabei keine banale und tautologische Abbildung einer äußeren Realität, sondern erst möglich auf der Basis einer subjektiv entworfenen Welt, der Generierung eines Wollens, der Initiation einer Handlung und daraus impliziter subjektiver Erwartungen. Die gemachte Erfahrung ist einerseits Erkenntnis der Wirklichkeit und andererseits hergestellte Erfahrung, also Entwurf und Kunst (poiesis). Gemachte Erfahrung modifiziert die Eigenwelt, moduliert die Handlungskompetenz und wirkt als Erwartung in die Zukunft.

Eine weitere Stufe wäre eine dezidierte Verbalisierung des zu erkennenden Gegenstandes. Sie ist ein Verfahren, die Dinge selbst ins Hirn zu bringen. In der Architektur (und anderen Wissenschaften) hatte die Verbalisierung als Beschreibung auch praktische Gründe (fehlende Abbildungstechniken, fehlende dementsprechend geeignete Druckverfahren). Sie ist eine Methode der Einvergeistung materialer Objekte (Condillac).

Die Versprachlichung fasst den Gegenstand und präzisiert ihn zugleich, auch dessen visuelle Wahrnehmung, und verändert ihn im gleichen. Nur ein anhaltendes Zurückbinden des Versprachlichten an das Phänomen und eine permanente Arbeit an der Adäquatheit des Begriffs legitimiert das Versprachlichte.
Wenn ich ein Gebäude beschreibe, verbalisiere ich, was ich sehe und was ich im Gebrauch erfahren habe oder erfahren würde. Wenn ich das nicht verbalisiert hätte, hätte ich die Erfahrungen in dieser Tiefe nicht gemacht. Die Tiefe der Erfahrung entsteht erst in der Verbalisierung.
Verbalisierung ist stets soziale Interaktion. Beim Verbalisieren werden die Sachen zu Wörtern und Satzinhalten formuliert.
Ich kann den direkten Umgang mit den Sachen durch indirekte kognitive Operationen ersetzen; ich kann Sachen kognitiv aufeinander beziehen, miteinander vergleichen, ineinander verbinden, ohne dass sie tatsächlich Raum und Zeit miteinander teilen.
Sie werden damit kognitive Items und – wenn ich entsprechende Konventionen mit anderen habe, also eine gemeinsame Sprache pflege – auch kommunizierbar. Ich kann die kognitiven Inhalte und die Ergebnisse des mit ihnen Gedachten an Zeitgenossen und an Nachfahren weitergeben.

Eine klassifizierende Beschreibung ist über eine Verbalisierung der sinnlichen Gegebenheiten hinaus ein Mittel, von der konkreten Materialität und von der Individualität der Einzeldinge abzusehen. Sie werden verallgemeinert, damit intellektualisiert, um dann auch mit ihnen verallgemeinert operieren zu können. Zugleich verankert eine Klassifizierung das Phänomen in einem Wissensraum.
Damit ist die klassifizierende Beschreibung allerdings auch in die vorgegebenen Klassen und ihre vorgegebene Ordnung eingebunden.
Auch hier entsteht die Pflicht der permanenten Arbeit an der Rückbindung der vorgegebenen Wissenschaft an das Phänomen; Wissenschaft generiert den Gegenstand als wissenschaftlichen, der Gegenstand muss zugleich aber auch die Wissenschaft generieren.

Wir wissen heute, dass das Sehen bereits ein Vorgang der interpretativen Generierung einer visuellen Welt ist. Insofern ist das Sehen bereits, was erst das Verbalisieren leisten soll, eine mimetische Einvergeistung der äußeren Welt. Welt ist dabei Text, wenn man unter Text die materiale Vorgabe eines strukturierten Sinnes versteht.
Jedes Sehen ähnelt in dieser Hinsicht dem Lesen. Wenn man unter Lesen den rezeptiven Vorgang der Erarbeitung eines vorgegebenen Textes oder einer ästhetischen Konfiguration versteht.

Man meint, Schreiben sei Produktion (poiesis) eines Buches, Lesen dessen Rezeption. Der Autor schreibt, der Leser liest.
Aber stimmt das?
Ist nicht der Schreiber ein Leser, der ohne je gelesen zu haben, auch nicht schreiben würde, der im ständigen Lesen des Geschriebenen, in der Korrektur des Geschriebenen aufgrund des Gelesenen den Buchtext entwirft?
Also: Ist nicht jedes Entwerfen von Architektur eng in das Lesen des Hingezeichneten eingebunden?
Und andererseits:
Im Lesen nimmt man den Sinn nicht nur hin, man muss ihn aufgrund des vorgegebenen Materials aufsuchen, d. h. suchen, d. h. generieren. Das Lesen ist immer auch poiesis, herstellendes Handeln, an dessen Ende der Text als Produkt steht.
Schreibt nicht jeder Leser im Lesen den Text virtuell jeweils erneut? Entwirft nicht jeder Bewohner oder Nutzer seine Architektur im Vorgang des Gebrauchens?

Einen Diskurs zu führen, ist in ein inneres oder äußeres Reden gebunden. Das Reden macht offensichtlich Sinn, um eine Sache voranzutreiben.
Im Gegensatz zum Schreiben ist im Reden immer das redende Subjekt präsent.
Es gibt mehrere Weisen des Redens, man kann still in sich, still mit sich selbst reden, und man kann mit anderen sprechen.
Explizites Denken geht nicht ohne stilles Reden. Wenn ich still redend denke, formalisiere ich mein Denken. Ich vollführe es im sprachlich strukturierten Denkraum.
Im Formalisieren und Still-Reden stellt das Denken sich zugleich in seiner Angemessenheit zum Gegenstand des Gedachten infrage.

Beim Argumentieren versuche ich, das Problem klarer zu fassen und mögliche Lösungen zu formulieren, die ich aber stets auch immer kritisch befrage, ob sie die richtigen Lösungen sind, ob es gute Lösungen sind, und ob es vielleicht noch andere Lösungen gibt. Argumente sind gute Gründe, Belege, Erfahrungen, ohne dass sie alle bereits Beweise oder logische Ableitungen wären.
Beim Argumentieren mit mir selbst versuche ich von mir selbst eine Zustimmung darüber zu erlangen, dass dieses Argument tatsächlich zieht. Letztlich gibt es nach wechselseitiger Abwägung der Argumente entweder einen Konsens über die Durchführung der einen oder der anderen Position, vielleicht auch das gemeinsame Finden einer dritten Position, vielleicht nur eine quantitative Auszählung der jeweiligen von beiden anerkannten Argumente und eine Entscheidung aufgrund eines quantitativen Übergewichtes, vielleicht auch beende ich das Argumentieren und tue dezisionistisch einfach irgendetwas.

So wie ich mit mir selbst rede, so auch mit anderen; teilweise um mir Rat in einer eigenen Angelegenheit zu holen, teilweise um eine gemeinsame Entscheidung zum Handeln in einer gegebenen Situationen zu finden. Ich mache den anderen zum Richter über die Gültigkeit meiner Argumente.

Meine Absicht ist es dabei, meine Argumente vorzustellen und sie in einer möglichen Bestätigung durch den anderen gültig zu machen. Die Qualität eines so bestätigten Argumentes hängt von dem Feld des Argumentierens und von der Erfahrung und Kompetenz des anderen ab.

Ich habe bisher offen gelassen, ob ich mit Argument immer ein verbales Argument meine und mit Reden immer ein sprachliches Reden. Wenn man sagt, der Entwurf des Gebäudes überzeugt, so ist damit ebenfalls eine Argumentation gemeint.
Was ist der Unterschied für den Zuhörer bzw. Leser, wenn ihm einmal eine Wahrheit schriftlich mitgeteilt und ein anderes Mal eine Wahrheit in einem Vortrag gesagt wird?
Beim Reden steht die auctoritats und damit die Autorität der anwesenden Person in den Thesen und der Wahrheit.
Im Reden ist Wahrheit ein gemeinsamer Prozess, deshalb präsent und identifizierend.
Das Reden bleibt – idealerweise – im Kontakt zum Zuhörer, es ist auf ein konkretes anwesendes Publikum bezogen und somit dialogisch.

Theoretisieren, d. h. Reflektieren, Denken und Nachdenken über das, was man generell und über das, was man da gerade tut, ist für mich ein notwendiger Teil architektonischen Entwerfens und Nutzens, ein zentrales Element des Wohnens.
Reflexion beginnt mit der Reflexion über die Aufgabe und bei der Hinzuziehung von erforderlichen Informationen; es setzt sich in anderer Weise fort im Entwurfsvorgang mit der ständigen Reflexion des Entworfenen, mit dem Hinzuziehen von alternativen Lösungen des Entwurfsproblems, wenn es in seiner rudimentären Art auch nicht unbedingt sprachlich geschieht, sondern als ästhetischer Vergleich und als Seharbeit.
Spätestens aber bei Entwurfs- und Planungskooperationen sowie bei Entwurfspräsentationen wird Reflexion dezidiert sprachlich.
Reflektieren, Denken, Nachdenken und Wahrnehmen sind niemals isolierte Einzelvorgänge, sondern stehen in einer Handlungs-, Erfahrungs- und Wissenswelt.
Indem jedes Denken und Reflektieren in der Abhängigkeit von kognitiven Items, von kognitivierten Strukturen und jedes Sprechen in der Abhängigkeit von der Sprache und damit in größeren theoretischen Zusammenhängen steht, ist es stets schon theoretisch. Wahrnehmung, die in den unterschiedlichen ins Hirn gelangenden elektrischen Nervenimpulsen einen Gegenstand und einen Raum erkennt, ist stets theoretisch, da die Wahrnehmungsinhalte abhängen vom kognitiven Konzept von Welt.

Theorie ist mehr als das Theoretische. Als Theorie versucht man, das Theoretische in konsistenten Verknüpfungen, systematischen Strukturen, in Schlüssigkeit und mit Wahrheitsanspruch zu realisieren.
Architekturtheorie als Theoretisieren von Architekten und als Bildung einer Theorie ist unabdingbar für das entwerfende und planende Handeln von Architekten; Architekturtheorie ist ein Teil des Bauens.

Allerdings wird die Rückschleife der Theorie zur Architektur oft gekappt; Architekturtheorien werden oft nicht mehr überarbeitet und oft nicht mehr auf die Erfahrung des Architekten und anderer zurückgebunden.
Theorie kann sich von der Architektur lösen, ist dann bestenfalls Text. Womit sie eigentlich eher in die Literaturwissenschaft gehörte.

In unseren traditionellen Vorstellungen gibt es Orte für das Wohnen und Orte für das Denken. Wohnen vollzieht sich in der alltäglichen Umwelt, das Denken am heimatlichen oder akademischen Schreibtisch. Unsere Vorstellungen trennen dieses Tun in zwei Welten, in die alltägliche, banale kognitionsfreie Welt des Wohnens und in die vom Sein distanzierte, intellektuelle Welt des Denkens.
Das scheint mir falsch. Denn das Wohnen (und hier ist der Begriff eher in Heideggers Sinn gemeint) stattet mein Denken mit Inhalten, mit Substanz, mit Unbegriffenem und Ungedachtem aus. Es konkretisiert, versinnlicht mein Denken und bietet ihm einen Widerstand. Das Wohnen bringt dem Denken Bilder.

Aber auch umgedreht: Das Denken kann dem Wohnen einen Widerstand bieten, im Versuch, die Welt zu verstehen, zeigt sich die Welt in ihrer Mangelhaftigkeit und Widersprüchlichkeit. Erst im Denken gelingt die Kritik der Realität.


 

Schlusswort


Wenn man das von Vitruv im Begriff der architectura vorgegebene Verständnis der Integration von Architektur und Theorie also einerseits im Wissenschaftsverständnis modernisiert, so muss man einer weiten Definition einer Theorie der Architektur Recht geben, wobei darin auch der Unterschied zwischen der Architekturtheorie und einer Theorie der Architektur liegt.

Das Fach ‚Architekturtheorie’ hat dies aufzunehmen und sich zu einem Fach der Alltags- und vielen Fachwissenschaften des Wohnens, Bauens und Denkens der Umwelt zu entwickeln. Dieses Fach hat darüber hinaus besonders die wissenschaftstheoretischen Grundlagen dafür zu diskutieren und zu entwickeln und die vereinzelten theoretischen Ansätze und Erkenntnisse kritisch zu reflektieren, zusammenzuführen und zu systematisieren.

 


Anmerkungen:

[1] Ich nehme im Folgenden einige Gedanken eines Vortrages an der HfbK in Hamburg wieder auf, der dort auch als ‚Denken im Bestand’ veröffentlicht wurde.

[2] Ich kann hier natürlich nur auf einige Aspekte eingehen.


 


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9. Jg., Heft 2
März 2005