Rundgespräch zur Architekturtheorie

9. Jg., Heft 2
März 2005
   

 

___Frank R. Werner
Wuppertal
  Die ‚Neue Einfachheit’ – ein Problem für Architektur und Städtebau?
Anmerkungen zu einer Architekturtheorie des Einfachen

 

   

Es macht keinen Sinn, etwas zu erfinden, es sei denn, es handle sich um eine Verbesserung.“ (Adolf Loos)



„Einfach bauen“ ist das Simpelste in dieser Welt, sollte man meinen. Die Architektur- und Designgeschichte hat uns freilich eines Besseren belehrt. Einfach Gestaltetes kann „erhaben“ bis
trivial", „moralisierend“ bis destruktiv", „zeichenhaft“ bis gestaltlos" sein. Im Umkehrschluss kann komplex Gestaltetes „marktschreierisch“ bis „erhaben“, „informativ“ bis „moralisierend“, „sinnstiftend“ bis „zeichenhaft“ sein. Das Dilemma ist evident: Einfach bauen, einfach gestalten ist in theoretischer wie praktischer Hinsicht eine äußerst komplexe Angelegenheit.

Dies gilt um so mehr, als der Architektursemiotiker Claus Dreyer erst kürzlich festgestellt hat:

A cursory examination of some spectacular architectural works of recent years results in a finding that would be easy to supplement and support on the basis of further examples: the crisis of representation is evident. There is no common
’language’ in architecture through which common experience, ideas, hopes, values, traditions and conventions could be expressed, just as there is no common ground in society for these issues. There are only a few outstanding individuals with a great artistic potential and almost God-like reputation who have the opportunity to articulate their 'private language’ by unique means, and to present it to the public. The work of translating and interpreting this 'language’ for the general public takes place mainly in the professional and popular media, where it occasionally comes dangerously close to product advertising. Under these conditions, the communicative correspondence between employer, architect, user, observer, and society as a whole amounts to little more than a coincidence or a stroke of luck. In a complex, multi-cultural, compartmentalized, and media-oriented society, this state of affairs seems impossible to circumvent: everyone must and can seek the representational context in architecture that suits him and is limited only by lack of information or financial means.
At any rate, this freedom of choice must be understood as an achievement and an opportunity. Never before in history so many different forms of architectural representation have been in competition. The monotony of classic international modernism is a thing of the past. Today interested people can put together their own (even potentially virtual)
'universe of architectural discourse’. At the same time, there is a possibility for the emergence of a new architectonic paradigm that may develop from the close proximity of the different 'languages’. It could represent a world culture growing closer, without losing the regional varieties and ‚dialects'
.“[1]

Einfaches Bauen also ein „Dialekt“ architektonischer Repräsentation?
Dem ließe sich ohne weiteres zustimmen, wäre das einfache Bauen in seiner jüngeren Vergangenheit nicht immer wieder instrumentalisiert worden. Erlebte das einfache Bauen als Dialekt im deutschen Nationalsozialismus doch jene Doppelbödigkeit, unter der es bis heute leidet. Unter dem fremdenfeindlichen Banner der Heimatschutzbewegung segelnd und auf den heimattümelnden, jeder Form von Fortschritt abgeneigten „Kulturarbeiten“ eines Paul Schultze-Naumburg fußend, empfahlen die Verfechter der Blut-und-Boden-Ideologie einfachste, regional verwurzelte Architektur-Stereotypen, die sich letztlich als eine Art von „synthetischem Regionalismus“ entpuppen sollten. Von Peenemünde bis zum Obersalzberg hätten, so zumindest die Vision, alle deutschen Einfamilienhäuser, die realiter von den Nazis zugunsten der großen staatstragenden Bauten sträflich vernachlässigt wurden, reichseinheitlich, reichsuniform aussehen sollen. Goethes Gartenhaus in Weimar wurde bauwilligen Parteigenossen wie allen anderen potentiellen Bauherrn des Tausendjährigen Reiches gleichsam als archetypologische Ur-Matrix mit auf den Weg gegeben. Aus dieser Haltung heraus entstanden Einfamilienhäuser und Siedlungen in Hülle und Fülle, so zum Beispiel im Jahre 1933 in Stuttgart die berühmt-berüchtigte  Kochenhofsiedlung, welche gleichsam als kompakte urbane Vision oder Mustersiedlung einer synthetischen, regional geprägten Einfachheit nationalsozialistischer Prägung angelegt war. Eine Vision, die als gebautes Gegenmanifest zur benachbarten Weißenhofsiedlung unrühmlich in die Baugeschichte eingehen sollte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt schien jedwede Vorstellung von einfacher Architektur als „bodenständiger Architektur“ (zumindest in Deutschland) kontaminiert mit dem Hauch des Völkischen, Rückwärtsgewandten, Innovationsfeindlichen.

Wirft man indessen einen Blick auf die Architekturgeschichte, wird rasch deutlich, dass die so genannte „Neue Einfachheit“ im Prinzip zu allen Zeiten, wenn auch unterschiedlichsten Beweggründen gehorchend, auf der Tagesordnung stand. So veröffentlichte im Jahre 1788 ein unbekannter Anonymus eines der wichtigsten Traktate des spätbarocken Klassizismus unter dem Titel „Untersuchungen über den Charakter der Gebäude; über die Verbindung der Baukunst mit den schönen Künsten und über die Wirkungen, welche durch dieselben hervorgebracht werden sollen.“[2] Wie ein roter Faden durchzieht diese aufklärerische Schrift, die sich ausschließlich mit der Wirkung von Gebautem auf den Menschen auseinandersetzt, das Prädikat „einfach“. Einfach soll der Plan, die Silhouette, der Innenraum, das Möbel, das Dekor, die Materialwahl sein und umso sorgfältiger gefügt das eben diese Einfachheit konstituierende Detail. Einfaches Bauen, einfache Gegenstände waren also zu allen Zeiten existent, wenngleich unterschiedlichen gesellschaftlichen Konnotationen, unterschiedlicher Anerkennung unterworfen. Fast mit Wehmut erinnert man sich hierbei an andere Kulturkreise, in denen
wie zum Beispiel in Japan – das „einfache Haus“ und in einem noch tieferen Sinne dessen asketisch sinnliche Ausstattung seit altersher als „gebautes philosophisches Kontinuum“, als „weltanschauliche Denkgebäude“ zeit- und raumübergreifend als gestalterische Selbstverständlichkeit und Verpflichtung begriffen wurden.[3]

Das aktuelle, auch internationale Interesse am „einfachen Bauen“ beziehungsweise „einfachen Gestalten“ fokussiert sich freilich weniger auf die Historie oder auf die Nabelschau der Neuberliner Architekturbanalitäten, beziehungsweise den Nebenkriegsschauplatz der gleichfalls in Berlin entbrannten, nicht minder fruchtlosen Tektonik-Debatte, als vielmehr auf das Problem des umweltverträglichen, ökologisch sparsamen Entwerfens; noch mehr allerdings auf die Schule machenden Beispiele junger internationaler Architektur, darunter nicht wenige deutscher, schweizerischer und österreichischer Herkunft.

Kenneth Frampton hat in diesem Kontext eine sehr dezidierte Position eingenommen. Er glaubt in der Szene des „einfachen Bauens“ Architekten zu entdecken, die durchaus „der Tradition des Neuen Bauens folgen und … Max Bills Unterscheidung zwischen konkreter Architektur und konkreter Kunst aufrechterhalten.“[4] Frampton denkt damit wie Adolf Loos, der einmal sagte: „Das Haus ist konservativ, und das Kunstwerk revolutionär, deswegen liebt der Mensch das Haus und haßt die Kunst“. Die Anerkennung der damit angesprochenen Trennung zwischen Gebrauchsgegenstand (gleich Pragmatismus) und Kunst (gleich Transformation), soll heißen Anerkennung des Funktionalen und Ablehnung des Kunstwollens,  bestimmt demnach das Werk von Architekten wie Guyer und Gigon, Diener oder Zumthor. Auch Steven Holl rechnet Frampton zu dieser Gruppe, da er gegen „das Fetischisieren von Material und Details als Selbstzweck“ sei, „insbesondere wenn dies losgelöst vom Inhalt oder vom Zusammenhang“ geschehe. „Für mich“, sagt Holl in der Tat, „ist das Material nichts als ein Werkzeug zum Ausdruck eines Konzeptes. Gibt es kein Konzept, so ist das Ergebnis uninteressant. Das Material ist das Fleisch, das dem Konzept Form und Raum gibt. Die Gefahr dabei ist, daß das Material zum Selbstzweck wird. Das wäre ein ziemlicher Jammer.“[5] Unterwirft man aber beispielsweise Zumthors „archaisches“ bis „atavistisches“ Thermalbad in Vals einer eingehenderen Analyse, dann wird die Fragwürdigkeit solcher Ausdifferenzierungsversuche rasch deutlich. Zumthor verhält sich hier nämlich weniger programmatisch „einfach“ (gleich funktional) oder konzeptionell „sparsam“, geschweige denn ökologisch, als vielmehr skulptural transzendierend im Sinne einer sensualistischen Ästhetik.

Die zweite, von Frampton harsch verurteilte Abteilung einfach bauender Architektinnen und Architekten umfasst nach seiner Definition Protagonisten, „die den halluzinatorischen Effekten der Medienwelt unterlegen zu sein scheinen.“ Dazu rechnet er unter anderem Büros wie Herzog und De Meuron sowie Sumi und Burkhalter. Auch diese Differenzierung erscheint mir sehr fragwürdig, wie ich später aufzeigen werde. Die dritte Gruppe einfach bauender Zeitgenossen und Designer, denen er beispielsweise John Pawson zuordnet, bezeichnet Frampton eher wohlwollend als „Null-Grad-Architektur“. Diese minimalistische Art zu bauen, antwortet seiner Meinung nach „auf die zunehmende Kakophonie der modernen Welt mit einer greifbaren Stille, einem ‚beinahe Nichts’, in dem die Körnung eines Materials die einzig zulässige Figur ist.“ Um Missverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, dass Architekten wie Pawson oder Chipperfield und wahlverwandt operierende Designer, die dieser Richtung zuzuordnen wären, nicht das Geringste mit reaktionären Gesellschaftsbezügen zu tun haben.

Erleben wir realiter nicht schon seit vielen Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten, eine regelrechte Renaissance von gegenständlichen Archetypen? Archetypen, die klug bis „sophisticated“ auf Aldo Rossis, Robert Venturis oder Christopher Alexanders Vorstellungen von den einfachsten Grundformen alles Gestalteten basieren? Neu hingegen ist dabei freilich der veränderte Umgang mit dem Begriff der „Materialgerechtigkeit“. Denn die modernen Verbundstoffe und Materialverbände haben ganz einfach zu viele Eigenschaften, als dass man diese noch anschaulich machen könnte. „Der Grund der Form“ vermag die Materialschichtungen nicht mehr zu durchdringen. Die Materialität verselbstständigt sich (z. B. im Holzständer- oder Betonbau) und wird zu einem Wert an sich. Die Materialität wird zum Garanten für „Gegenwärtigkeit“.[6] Martin Steinmann sagt hierzu: „Die Dinge zeigen ihre Gegenwärtigkeit vor, welche sich in ihre Materialität einschreibt. Andererseits ist es gerade die Materialität, welche ihre Gegenwärtigkeit zeigt.“[7]

Damit ist nach Hans Frei „der Gegensatz zwischen Innen/Außen neu lanciert als Indifferenz von Stoff und Form, von Form und Konstruktion. Die räumliche Konstruktion kann man infolgedessen getrost den Generalunternehmern überlassen; zumindest bleibt sie weit hinter der Komplexität der Fassadenoberflächen zurück, die zum eigentlichen Mysterium des architektonischen Schaffens erhoben wird.“[8] Minimalistische Architektur lässt sich von so genannten Hightech-Materialien inspirieren, Arte-Povera-Architektur hingegen und Arte-Povera-Design hingegen von den Theorien Joseph Beuys’, denen zufolge „arme Materialien“ mit mentalen Energien aufgeladen werden müssen. Es wird nicht mehr nach der Rolle gefragt, für die ein Material innerhalb einer bestimmten Konstruktion bestimmt ist, sondern danach, welche optische Wirkung es hervorbringen kann. „Weg vom Material, hin zur Wirkung“ lautet nach Christian Sumi das neue Motto. Ähnlich wie bestimmte Designer, meint er, „suchen wir eine Magie der Werkstoffe jenseits der semantischen Festlegungen. Wir finden, Werkstoffe sind an sich etwas Magisches, deren sensuelle Qualitäten es zu differenzieren und zu nutzen gilt. Der Begriff Aura ist strapaziert, aber hier wichtig. Wenn wir nicht sehr elaboriert darüber sprechen, dann aus Vorsicht.“[9]

Baumusterkataloge und Fertigmaterialien erscheinen als wesentliche Inspirationsquellen des einfachen Bauens, das mit Vorliebe auf industrielle oder handwerkliche Fertigprodukte für Fassaden zurückgreift: Industrieglas für die Erweiterung eines Museums in Winterthur (Gigon & Guyer), traditionelle Holzschindeln für eine Kapelle in Sumvigt bei Disentis (Zumthor), gusseiserne Dohlendeckel für ein Wohn- und Geschäftshaus in der Innenstadt von Basel (Herzog & De Meuron). Nicht selten werden Fertigprodukte auf einfache, fast archaische Weise in ein neues Erscheinungsbild transformiert. „So wird für Herzog & De Meuron das Bild einer Transformatorenspule zum Stellwerk auf dem Hauptbahnhof in Basel und ein Holzstapel auf einem Lagerplatz zur geschichteten Fassade des ersten Ricolawerks transformiert.“ Ziel scheint es zu sein, Bilder des Alltäglichen, also Banalität in Architektur zu verwandeln. Oder es entsteht im Baseler Bahnhofsviertel ein kleines sechsgeschossiges Bürohaus als Qualitätsprodukt des renommierten Büros Diener & Diener, „dummerweise allerdings ohne die üblichen Selbstreferenzen von Architektur als Architektur ausgestattet,“[10] wie Klaus-Jürgen Bauer anmerkt. Das der Betonfassade beigemengte Eisenoxyd erzeugt – so Martin Steinmann – „einen ärmlichen Ausdruck, wie er einem Quartier hinter dem Bahnhof entspreche, wo der Flugrost der Züge die Fassaden verändert.“ Bewusstes Spiel mit der Banalität scheint einen Teil der Qualität dieses unscheinbaren Bauwerks auszumachen. Es  war aber bisher nicht üblich, Architektur oder Produkte mit dem Prädikat „banal“ als etwas Positives zu charakterisieren. Die betonte Ärmlichkeit dieser Fassade steht im bewussten Widerspruch zu eleganten Details, wie den Bronzerahmen für die Fenster des Baseler Gebäudes. „Der Bau soll“, wie Steinmann argumentiert, „Bedeutungen in der Schwebe halten.“[11]

Zurzeit sind im Wesentlichen zwei verschiedene Verfahren zu beobachten, um die Ganzheit der Gestalt im einfachen Bauen aufscheinen zu lassen. Zum einen die Herstellung einer „starken Form“. Die sichtbare Konstruktion ist dabei nicht identisch mit der tatsächlichen Konstruktion. Letztere wird umhüllt und zusammengefasst in einer Form, für die weniger konstruktive als „wahrnehmungspsychologische Überlegungen ausschlaggebend sind.“ Dargestellt werden Tektonik und Schwere, teils überbetont, teils infrage gestellt. Architekten und Designer nähern sich also der Gestalt, „indem sie die wirklichen Konstruktionen einkapseln, um die sichtbaren Konstruktionen zu dramatisieren.“[12] Dergleichen kennen wir aus der Baugeschichte bereits von Mies van der Rohes berühmter Stütze für den Pavillon des Deutschen Reichs auf der Weltausstellung von Barcelona (1928/29), deren Weiterentwicklung für das Haus Tugendhat in Brünn (1930) oder seiner weltbekannten „Ecklösung“ für die Alumni Memorial Hall (1945-46) auf dem Gelände des I.I.T. in Chicago.

Das zweite Verfahren meint nach Hans Frei die Herstellung einer „spezifischen Form“. Inhaltliche Verbindungen zwischen Funktion und Oberfläche werden dabei hergestellt. Die Fassade versucht das Spezifische der Aufgabe zu reflektieren. „Materialien dienen als Speicher von Bedeutungen“, wie an dem mit Kupferlamellen umwickelten Stellwerk auf dem Güterbahnhof Wolf in Basel unschwer abzulesen. So als gelte es, die
elektronischen Steuermechanismen im Inneren mit Hilfe eines Schutzpanzers gegen den elektromagnetischen Smog von außen abzuschirmen. Herzog & De Meuron haben damit, so Hans Frei, „die mentalen Kräfte der ‚Feuerstelle’, die sie als Assistenten von Beuys im Basler Museum für Gegenwartskunst eingerichtet haben, ins elektronische Zeitalter übertragen“.

Das Prinzip der Einfachheit besteht aber in jedem Fall darin, die Fassade eines Baus „als möglichst betrachterfreundliche Schnittebene zu gestalten, die aussagekräftig und allgemein verständlich ist.“ Die Hülle wird somit zum „Ort des Widerstands gegen die reine Fiktion, wird Bezugsebene für die Wahrheit des Sehens.“[13] Dagegen steht, um es ganz deutlich zu sagen, die Ästhetik der Sparsamkeit, welche sich die konstruktive Einheit zwischen Innen und Außen, die ökonomische Verbindung von Konstruktion und Form zum Ziel, die ökologische Anpassung an den Status quo gesetzt hat. So gilt der bildhafte, konstruktiv „saubere“ Holzbau in bestimmten Gebieten Europas inzwischen längst als „Gesellenstück für den Eintritt in die regionale Architekturszene“. Durch Ablehnung des modern Exaltierten, des importierten Fremden und durch Rückbesinnung auf alltäglich Banales, aber Funktionstüchtiges kam es dort zu einer subversiven Neubelebung einfacher Nutzbauten, welche praktischerweise noch dazu billiger und umweltverträglicher als die ungeliebten modernistischen Implantate waren. „So wurde aus einer Notlage ein ethisches Prinzip entwickelt
[14], welches sich die Architekten bestimmter Regionen (Vorarlberg/Tessin) fast bruchlos als Programm für eine mehr oder weniger Aufsehen erregende „neu-alte Einfachheit“ einverleiben konnten.

Was all die genannten, heterogenen Strategien des „einfachen Gestaltens“ letztendlich aber dennoch eint, ist die Wahrnehmungsebene. Also hat Martin Tschanz Recht, wenn er feststellt, dass sich gerade „bei den vordergründig einfachen und spröden Bauten eine hintergründige, sinnenfreudige Vieldeutigkeit“ eröffne. (Häufiger eine größere Vieldeutigkeit, als sie etwa in postmodernen Architekturprodukten anzutreffen war.) Daraus resultieren nicht selten „Wirkungen von beeindruckender Schönheit, die man auch ohne jegliches Vorwissen genießen kann.“[15] Trotz der Beglückung durch solche Wirkungen kann es uns natürlich nicht gleich sein, ob es sich bei dieser Art von Architektur um „Minima Aesthetica“, also „Banalität als subversive Strategie der Architektur“ handelt, oder ob es ihren Urhebern programmatisch darum geht, „Körper“ nicht wieder in autonome ästhetische Objekte zu verwandeln (woran schon die klassische Moderne gescheitert ist), sondern einfache Gebilde „durch Arbeit an der Sinngebung“ in einen präzis konturierten kulturellen wie politischen Rahmen zu stellen.

Die Frage, ob und
wenn ja welche Wirkungen die so genannte Neue Einfachheit auf den zeitgenössischen Städtebau ausübt, ist nicht einfach zu beantworten. Zu unterschiedlich erscheinen die Ansprüche zwischen Stadtzentren und Peripherien, zwischen länderspezifischen und globalen Strategien, zwischen Orten und Nicht-Orten, zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion des Urbanen, als dass definitive Antworten zu geben wären. Immerhin lassen sich jedoch aus dem bislang Dargestellten mindestens vier solcher Wirkungen deskriptiv dingfest machen:
 

1.      Das autistische Einzelbauwerk : Also das Bauwerk, das zwar im städtebaulichen Kontext signifikant dasteht, aber nicht willens oder dazu in der Lage ist, mit seinem urbanen Umfeld, mit den Stadtbenutzerinnen und -benutzern in einen Dialog (welcher Couleur auch immer) einzutreten.

2.      Die „Tote Stadt“ (in Anspielung an eine Metapher Ernst Jüngers bzw. Jean Baudrillards): Lässt sich Einfachheit im urbanen Kontext instrumentalisieren, sei es durch einseitige Kapital- oder Machtansprüche, sei es durch ein rigides Regelwerk zur brachialen Durchsetzung des  ein- für allemal vorgegebenen Stadtganzen (man denke nur an Haussmanns Paris oder Stimmans Berlin), dann mündet die Summe an sich akzeptabler Einfachheiten in Domestizierung, Erstarrung, Ausblendung des Gegenwärtigen.

3.      Die Stadt als Normalfall: Versteht sich Einfachheit im urbanen Kontext ganz unaufgeregt als Nutzern und Stadtganzem dienende Ergänzung, als Zutat zur Regeneration zeitgemäßer städtischer Denk- und Emanzipations-Räume, kann sie Hervorragendes leisten.

4.      Die ungebrochene Kraft der Zeile: Die Zeilenbauweise bzw. periphere Reihenhausbebauung erscheint mir ungeachtet des Vorwurfs, sie sei lediglich ein reanimiertes Relikt der klassischen Moderne, derzeit als vielleicht fruchtbarstes Betätigungsfeld des einfachen Bauens. Weiterkultiviert und amelioriert durch ökologische, baukonstruktive und, was die Wohnräume anbelangt, binnenräumliche qualitative Quantensprünge, sind sie nach wie vor als nahezu einzige Bauaufgabe dazu in der Lage, der Zersiedelung Einhalt zu bieten, selbst Global Playern regionalspezifische Orte zuzuweisen und das Entstehen neuer suburbaner Sozialisationsformen zu befördern.


At a time when our scale of value was still determined by the church and the monarchy, and later by local government and banks, it was a case of erecting buildings which proclaimed a message of power. Now that we are being influenced simultaneously by many different factors, the time for any kind of rhetoric in individual buildings is past.“[16] Niemand wird heutzutage noch diese Meinung von Alison und Peter Smithson aus den siebziger Jahren teilen wollen. Selbst „einfachste“ Architektur von heute ist alles andere als sprachlos. Die besten Beispiele, so zu bauen, so zu gestalten, sprechen freilich eine Sprache, die man nicht in die Ecken der Restauration abdrängen, der Besserwisserei der ewig Gestrigen überlassen darf. Derartige Bauten und Objekte verstehen sich weder als Abbilder von Banalitäten, noch als reaktionäre gesellschaftliche Denkmodelle. „Das Einfache ist vielmehr die Formel eines Verfahrens, das“ nach Hans Frei „möglichst vieles einschließt“, an Vergegenwärtigung wohlgemerkt. Regelrecht ausschließen dürfte es hingegen jedweden neuen „Ismus“, eine neue Mode also. Denn dies würde wohl oder übel das Ende auch des einfachen Bauens, des einfachen Designs bedeuten; das Ende einer letzten optimistischen Option auf das, was an Gestaltkultur noch vor uns liegt. Einfach bauen, einfach gestalten ist das Simpelste der Welt, sollte man meinen. Realiter ist es das Anstrengendste, das Zeitraubendste und last not least das am wenigsten Einträgliche, was es heutzutage überhaupt gibt. Deshalb sollten wir es kultivieren, intellektuell wie praktisch, anstatt es hohlen Phrasen populistischer Räsoneure anheim fallen zu lassen.


 

Anmerkungen:

[1] Claus Dreyer, The crisis of representation in contemporary architecture, in: Semiotica 143 /1-4, 2003, S. 180.

[2] Untersuchungen über den Charakter der Gebäude, Faksimile-Neudruck der Ausgabe Leipzig 1788 mit einer Einführung von Hanno-Walter Kruft, Nördlingen 1986.

[3] vergl. Hierzu: Tetsuro Yoshida, Das Japanische Wohnhaus, Tübingen 1954.

[4] Kenneth Frampton, In der (De)-Natur der Werkstoffe: Bemerkungen zum Stand der Dinge, in: Daidalos Nr. 56, Magie der Werkstoffe II, Berlin 1995, S. 12.

[5] Steven Holl zit., ebenda S. 16.

[6] Hans Frei, Neuerdings Einfachheit, in: Bundesamt für Kultur (Hrsg.), minimal tradition, Max Bill und die „einfache“ Architektur 1942-1996, Baden 1996, S. 122.

[7] Martin Steinmann, Form und Ausdruck, in. Matthias Ackermann (Hrsg.), Morger & Degelo Basel, Kommunales Wohnhaus 1993, Basel 1994, S. 8.

[8] Hans Frei, Neuerdings Einfachheit, ebenda S. 122.

[9] Christian Sumi, Positive Indifferenz, in: Daidalos Nr. 56, Magie der Werkstoffe II, Berlin 1995, S. 26 ff.

[10] Klaus-Jürgen Bauer, Minima Aesthetica, Banalität als subversive Strategie der Architektur, Weimar 1997, S. 32.

[11] Martin Steinmann, Neue Architektur in der Schweiz, in: Magistrat Linz (Hrsg.), Bauart, Linz 1990, S. 82.

[12] Hans Frei, Neuerdings Einfachheit, ebenda S. 123 f.

[13] Hans Frei, ebenda S. 126.

[14] Klaus-Jürgen Bauer, Minima Aesthetica, ebenda S. 28.

[15] Martin Tschanz, Sanfte Pervertierungen, in: Daidalos Nr. 56, Magie der Werkstoffe I, Berlin 1995, S. 88 f.

[16] Alison and Peter Smithson, Without Rhetoric, An Architectural Aesthetic, London 1973, S. 12.

 


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