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Keine
Wissenschaft kann Aussagen über (einen Ausschnitt von) Weltgegebenheiten
treffen, ohne sich dabei bestimmter Menschenbilder zu bedienen. Das gilt
zwar insbesondere für die Sozialwissenschaften, deren zentrales
Erkenntnisinteresse auf soziale Prozesse gerichtet ist. Aber auch die
Naturwissenschaften forschen auf dem Hintergrund von Menschenbildern.
Naturstrukturen sind schon deshalb implizit stets auf Menschen bezogen, weil
Menschen sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Interessen machen. Nicht
zuletzt sind Menschenbilder aber a priori in jedem Forschungsprozess
virulent. Ein Forscher[1]
kann sich nur als Mensch auf einen Forschungsprozess
einlassen, der deshalb auch immer sein Forschungsprozess ist. Es kann
keine Forschung geben, auf deren Wege und Resultate Menschenbilder keinen
Einfluss haben. Als Moment des Forschungsprozesses wie des
(Forscher-) Selbstverständnisses werden sie aber nur in Ausnahmefällen auch
thematisiert; die Selbstdeutung des Wissenschaftlers bleibt dann im Dunkeln.
Die aus solchen Ausklammerungspraxen resultierenden Probleme werden seit
einigen Jahren z. B. im Zuge der interdisziplinären Diskussion neuer Befunde
der Hinforschung besonders deutlich, treten doch namhafte Vertreter der
Neurowissenschaften mit dem selbstbewussten
Anspruch auf, die geisteswissenschaftlichen Theorien des Menschen müssen neu
geschrieben werden oder haben gar ihren Wert verloren. Die Frage, ob die (Selbst-)Erklärung
des Menschen künftig ganz und gar in einem naturalistischen Rahmen aufgehen
kann oder ob diese Sicht nur als eine neben anderen auf ihrem
Geltungsanspruch bestehenden Perspektiven angesehen werden soll, hat nicht
nur im Kontext der Sozialwissenschaften „thematische“ Auswirkungen auf die
Befunde konkreter Forschung. Die Frage ist von grundlegender ethischer
Tragweite.[2]
Der folgende Beitrag setzt
sich mit einem transdisziplinären Thema auseinander. In der Humangeographie
ist die wissenschaftstheoretische Konstruktion eines Menschenbildes zu
beobachten, die sich pointiert auf die folgende Formel bringen lässt:
Der Mensch ist ein Akteur! Im gegebenen Rahmen will ich mich mit
diesem Akteurs-Begriff auseinandersetzen und eine Brücke zur
Architekturtheorie schlagen. Während Geographen nur im Ausnahmefall
räumliche Umwelt selbst (gleichsam professionell) aktiv gestalten, sie
vielmehr aus einer theoretischen Analyse-Haltung heraus thematisieren, ist
die Architektur mit langer historischer Tradition und unmittelbar in die
Herstellung und Veränderung gebauter Umwelten involviert. Die Reflexion des
Menschenbildes vom >Akteur< soll eine Sensibilisierung für Fragen nach
Mensch-Umwelt-Beziehungen fördern. Aus der Perspektive der
Architekturtheorie mag das überflüssig sein. Ich gehe aber davon aus,
dass die Kontrastierung disziplintheoretisch je eigener Denkkulturen Früchte
tragen kann, die die Rolle von Menschenbildern im Forschungsprozess
grundsätzlich deutlicher machen kann. Damit würde die Frage nach
jenen Menschenbildern virulent, die dem wissenschaftlichen und praktischen
Tun in den wissenschaftlichen Disziplinen meist stumm vorausgesetzt werden.
Ich will diese Reflexion aber auch mit dem Ziel betreiben, um den eigenen
fachlichen (humangeographischen) Blick im Gebrauch der fremden „Linse“ der
Architektur zu schärfen und abschließend dann selbstreferentiell wieder auf
die Geographie zurückzuwerfen.
1. Wissenschaft im Schatten ihrer selbst
Der Behaviorismus betrachtete den Menschen als ein sich
im Wesentlichen verhaltendes und auf äußere Reize re-agierendes
Wesen. Methoden der Introspektion, gar der Einfühlung in Verhalten
motivierende Hintergründe wurden abgelehnt. Das Reiz-Reaktions-Modell war
für das sozialwissenschaftliche Menschenbild für lange Zeit richtungsweisend
(großen Einfluss hatte es in der Zeit zwischen den
1960er und 1980er Jahren). Seit rund 10 Jahren kristallisiert sich in der
wissenschaftstheoretischen Selbstkonstitution der Humangeographie ein neues
Menschenbild heraus.[3]
Die Anfänge reichen in die 1980er Jahre zurück, an jenen Übergang, an dem
aus dem erweiterten Wissen um die Mehrdimensionalität des Menschen
(insbesondere in psychologischer und soziologischer Hinsicht), und in der
Konsequenz aus einem ethischen Memento gegenüber einem tief in
wissenschaftstheoretische Modelle der Sozialwissenschaften eingesickerten
anthropologischen Reduktionismus, das Denken des Menschen auf eine
revidierte Grundlage gestellt werden sollte. Inwieweit das neue Denken
seinerseits einem reduktionistischen Bild aufsitzt, wird
im Folgenden zu diskutieren sein.
1.1 Die Reduktion des Menschen zum Akteur
In der Humangeographie
mündete diese Revision in einen Paradigmenwechsel, der bis heute den
mainstream der Coummunity eint: An die Stelle des reaktiven
Menschenbildes ist das Modell des handelnden Menschen getreten. Der
Wechsel hat Bedeutung für die theoretische Reflexion menschlicher
Tätigkeiten; er berührt das Bild des Menschen grundsätzlich: Der Mensch ist
ein Akteur! Dieses Denken wird primär auf die Theorie der Strukturierung von
Anthony Giddens zurückgeführt. Ich skizziere wichtige Eckpunkte, ohne in
diesem Rahmen dem theoretischen Konzept handlungstheoretischer
Humangeographie in Gänze gerecht werden zu können.[4]
Auf dem
handlungstheoretischen Theoriehorizont gilt (mit anthropologischer
Reichweite) grundsätzlich: „Ein menschliches Wesen zu sein, heißt, ein
zweckgerichtet handelnder zu sein, der sowohl Gründe für seine Handlungen
hat, als auch fähig ist, diese Gründe auf Befragung hin diskursiv darzulegen
(oder auch: sie zu verbergen).“[5]
„Kompetente Akteure“ sind „normalerweise dazu in der Lage (sind), für ihr
handeln in aller Regel eine Erklärung abzugeben, wenn sie danach gefragt
werden.“[6]
Akteure sind nicht nur rational agierende Subjekte, sie sind sich auch der
Grundlagen ihres rationalen Tuns bewusst. Den
Umstand der Einwirkung unbewusster und halbbewusster Impulse menschlichen
Tuns exludiert Giddens aus seinem Modell. Der gesamte Bereich des
Unbewussten – und damit die gesamte Psychoanalyse i. S. von Sigmund
Freud oder Ethnopsychoanalyse i. S. von Erdheim – wird zu einer
vernachlässigungswürdigen Marginalie abgewertet. Giddens ist nämlich der
Meinung, „daß das Unbewußte nur höchst selten direkt auf die reflexive
Steuerung des Verhaltens einwirkt.“[7]
Daher bestehe „keinerlei Bedarf für die Annahme irgendwelcher
Blockierungsmechanismen.“[8]
Das Gedächtnis ist in diesem Ansatz auch nicht als komplex geschichtetes
Modell gedacht, sondern als „zeitliche Konstitution des Bewußtseins“. Die
Erinnerung wird zu einem „Mittel der Rekapitulierung vergangener
Erfahrungen“[9]
trivialisiert. Folglich ist das Selbst auch nicht von strukturellen
Widersprüchen gekennzeichnet. In der Giddens´schen Vorstellungswelt ist sich
das menschliche Leben selbst transparent: „Das Selbst ist der Handelnde, wie
er sich selbst sieht.“[10]
So ist es in seiner Identität auch nicht durch Nichtidentität
charakterisiert.[11]
Der Blick, den die
Kritische Theorie der Frankfurter Schule auf das Subjekt geworfen hatte, war
ein anderer. Nach Adorno ist das Selbst von strukturellen Widersprüchen
gekennzeichnet, das Individuum in seiner Identität durch Nichtidentität
charakterisiert und – in Umkehrung von Giddens – der Handelnde ausdrücklich
nicht das Selbst, wie er sich selbst sieht. Im Mittelpunkt steht das
Subjekt-Objekt-Verhältnis des Individuums. Adorno geht von einer mehrfachen
Gefangenschaft des Subjekts aus, von einer anthropologischen Abhängigkeit
von den Erkenntnisvermögen des Menschen und von einer gesellschaftlichen
Abhängigkeit von kulturellen und technischen Hervorbringungen. Die
Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt gelingt nur in der Erfahrung, der
reflexiven dialektischen Durchdringung dieser Verhältnisse.[12]
Zerbricht dieser Reflexionszusammenhang, „verarmt, verroht und regrediert es
(das Subjekt, J. H.) auf den Stand des bloßen gesellschaftlichen Objekts.“[13]
Der Erfahrung fällt eine Aufgabe zu, die dem Subjekt seine Objekt-Rolle erst
verdeutlichen kann.
Der Akteur plant und gestaltet seine Rolle dagegen in der Nische lupenreinen
Subjektseins. Deshalb kennt die Handlungstheorie, die den Akteur in ein
rationalistisch-asepetisches Gitternetz stellt, das von jeder „Unreinheit“
der Gefühle, Stimmungen, Triebe, archaischen Regungen bis hin zur leiblichen
Existenz gesäubert ist, auch keine existentielle Kategorie
menschlichen Lebens. Ein Akteur führt genau
genommen gar kein biographisches Leben, das sich von Ereignis zu
Ereignis gleichsam dahinlebt; er vernetzt sich vielmehr in einem
gigantischen Schaltplan der Strukturen mit anderen Akteuren.[14]
Wissenschaftliche Eitelkeiten
Die Ausklammerung des Anderen des Verstandes ist eine lebensphilosophische
Kuriosität. Einer der profiliertesten Repräsentanten der Lebensphilosophie
ist Friedrich Nietzsche. In großer Klarheit und mit rhetorisch schlagender
Schärfe führte er jedes Denken ad absurdum, das den Menschen auf geistige
Fähigkeiten reduziert.
Nietzsche erklärt das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt auch nicht aus
der Logik einer linearen Beziehung. Vielmehr sieht er zwischen beiden
Sphären „keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern
höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende
Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache …“[15].
Subjekt- und Objektsein vermitteln sich in dieser Sicht nicht in
erster Linie rational, sondern ästhetisch, d. h. leiblich-nachspürend,
mimetisch, durch grundlegende Gefühle wie Lust und Unlust motiviert usw.
Kein menschliches Tun, das Ausdruck einer vitalen Praxis ist, steht ganz in
der Ontologie des Subjektseins. Die Wissenschaft sieht er nicht in der Rolle
sensiblen Verstehens. Im Gegenteil – und darin nahm er die moderne
Entwicklung der Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts vorweg –
unterwarf er sie in ihrem Erklärungsanspruch scharfer Kritik. Im Zarathustra
heißt es: „Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, hat niemals in sich
sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge
Ende: so eitel sind sie.“[16]
Der Vorwurf der Eitelkeit trifft neben der Institution >Wissenschaft< als
Instanz rationalistisch-disziplinierten Denkens auch die individuelle Ebene,
personifiziert sich die Eitelkeit der „Disziplin“ doch im konkreten Tun
individueller WissenschaftlerInnen. Die Kritik mündet in der fröhlichen
Wissenschaft in die Bemerkung der „lächerlichen Überschätzung und Verkennung
des Bewußtseins“[17].
Die Verachtung gegenüber dieser Überschätzung wird in der Vorrede zur
fröhlichen Wissenschaft noch plastischer:
„Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivier- und Registrierapparate
mit kaltgestellten Eingeweiden – wir müssen beständig unsre Gedanken aus
unsrem Schmerz gebären … Leben – das heißt für uns Philosophen alles, was
wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln; auch alles, was uns
trifft, wir können gar nicht anders.“[18]
Wer diese komplexen Wirkungszusammenhänge verkennt und sich der Illusion
hingibt, allein mit dem Verstand der sozialen Welt Herr werden zu können –
gleichsam ohne die ästhetische Vermittlung zwischen dem Gnostischen
(erkennenden Denken) und dem Pathischen (leiblichen Mitsein) – findet sich
in jener Situation wieder, die Nietzsche mit dem Bild des Wissenschaftlers
pointiert, der ein Ding hinter einem Busch versteckt und das anschließende
Wiederfinden als Erfolg seines Verstandes auch noch rühmt.[19]
Bei Nietzsche kommt (Freud vorwegnehmend) der Mensch auch in seiner Natur
zur Geltung.[20]
Dagegen ist die (handlungstheoretische) Natur des Akteurs auf die
Körperlichkeit des Menschen begrenzt. Seine Sinnlichkeit ist ebenso aus
dem neuen Menschenbild herausgeklärt wie die in aller Regel schwer bis gar
nicht prognostizierbaren Gefühle des Menschen. Nur so kann die Idee des
Akteurs theoretisch letztlich handhabbar werden. Zwar spricht Giddens
unverständlicherweise mit Merleau-Pointy und Heidegger auch vom Leib. Die
Rekontextualisierung zeigt aber sehr schnell, dass
er die phänomenologische Bedeutung des >Leibes<[21]
unterschlägt; vielmehr setzt er Leib umstandslos mit >Körper< gleich.[22]
Das hat den „Vorteil“, dass der menschliche Körper
sich dann als verfügbarer Gegenstand eigenen intelligiblen Handelns
betrachten und anderen (toten) Körpern der materiellen Welt gleichsetzen
lässt.
In der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung der (Human-) Geographie führt
das (konstruktivistische) Akteurs-Denken immer wieder zu absurden
Konstruktionen, die nicht nur weit hinter den Stand
geisteswissenschaftlicher Debatten zur Theorie des Menschen zurückfallen,
sondern als wissenschaftlich abstrakte Denk-Gebilde eine so hohe
Suggestivkraft entfalten, dass sie
diskursiv selbst dann noch goutiert werden, wenn sie mit der profansten
Alltagserfahrung kollidieren. So schreibt Tobias Chilla kürzlich: „Aus
konstruktivistischer Perspektive ist >Raum< als materielles Objekt
(Hervorhebung J. H.) zu verstehen.“[23]
In solcher Logik kann es keinen Raum geben, der allein im leiblichen Spüren
wahrnehmbar ist, da er sich ontologisch jeder Materialität entzieht.
Mit Blick auf die Theorie der Architektur liegt die Pointe eines im
Akteurs-Denken kulminierenden Zurechtschneidens von Wirklichkeit auf der
Hand. Die handlungstheoretische Idee des Akteurs
schafft nicht nur eine übersichtliche Welt, in der es nur Substanz
und Akzidenz gibt[24].
Damit einhergehend prolongiert sie auch eine „Aufspaltung des Menschen nach
Funktionen“, einer „Trennung von Gefühl und Verstand“[25].
Architektur lässt sich aus diesem Blickwinkel
nicht einmal im Ansatz verstehen, müsste sie in diesem Blickwinkel doch auf
eine körperliche Seite ihrer baulichen Materialität (Substanz) und eine
semantische Seite aus lauter Eigenschaften (Akzidenz) zusammenschrumpfen.
Für das empfindende (pathische) Mitsein leiblich in Architektur sich
bewegender Menschen lässt dieses Denken keinen Raum.
Exkurs 1:
Geographische Bildung – mit Scheuklappen
Es ist besonders bedenklich, dass
sich sogar die Didaktik der Geographie, die sich bildungstheoretisch mit dem
Lehren und Lernen geographischer Sachverhalte befasst, rückhaltlos auf die
Fiktion in Gänze handelnder Individuen einlässt. Irritierend ist das
insofern, als sie aufgrund ihrer professionsbedingten Nähe zu
Psychologie und Psychoanalyse und schließlich zur Praxis schulischer Bildung
besser wissen sollte, wie Menschen leben, wenn sie (nicht nur) denken.
So steht im österreichischen Lehrplan für das Fach „Geographie und
Wirtschaftskunde“ in der Oberstufe schon einleitend unter „Bildungs- und
Lehraufgabe“ das menschliche Handeln in der Mitte des Bildungs- bzw.
Vermittlungs-Interesses. Das Programm des Fachlehrplanes mündet in ein
massives (implizites) Plädoyer für die Gegenaufklärung. Unter der
Überschrift „Der Mensch und seine wirtschaftlichen Bedürfnisse“ heißt es:
„Verflechtungen des Welthandels (Güter und Kapitalströme) erkennen und die
persönliche Rolle als Akteur/Akteurin beurteilen.“[26]
Zumindest außerhalb derart gereinigter Vorstellungswelten (die ja
Erklärungswelten sind!) ist es eine Binsenweisheit, dass
gerade die persönliche Verflechtung von Individuen in Prozesse des Handels
in hohem Maße mit Beweggründen zu tun hat, die gerade nicht auf dem Boden
rational rechenschaftsfähiger „Handlungen“ stehen. Wäre dem so, müsste es
keine Werbung geben, die sich ausgefeilter Mechanismen subtilster
Manipulation bedient.
Noch deutlicher wird die gleichsam automatische Übernahme der
handlungstheoretischen Begriffsapparatur in die Erläuterungen des
Studienplanes für das Fach Geographie im Studiengang für das Höhere Lehramt
an der Universität Karlsruhe. Unter den Anmerkungen zur Humangeographie
heißt es dort: „Der Mensch selbst als Akteur, als zielgerichtet handelndes
Wesen mit seinen Motiven, seiner psychischen Gestimmtheit und seinen
soziokulturellen Bindungen rückt in den Mittelpunkt des Interesses.“[27]
So wichtig der Hinweis auf psychische Gestimmtheiten und soziokulturelle
Bindungen des Menschen zur Erklärung von Umweltbeziehungen auch ist, so
wenig passt er doch zum
erkenntnistheoretischen Vorverständnis des Akteurs-Begriffes. Kein Mensch
geht erkenntnistheoretisch als Akteur durch, dessen Tun aus der Resonanz
einer Stimmung, die ihn zu diesem oder jenem Tun oder Lassen neigt, erklärt
wird. Das Beispiel zeigt, dass das
Akteurs-Konzept von der „Community“ fachlicher Theoriefelder (hier der
Didaktik) nicht übernommen wird, weil es konzeptionell kompatibel ist,
sondern weil es „angesagt“ ist. Moden und kommunikative (Karriere-) Zwänge
können stärker sein als die Ausschlusskraft
wissenschaftstheoretischer Inkompatibilitäten.
Das Leben der Menschen ist aus dem Fokus der Geographie als Wissenschaft
ebenso heraus gefallen, wie aus dem des Geographieunterrichts. In Österreich
scheint sich der Geographieunterricht (in seinem didaktischen Verbund mit
dem Fach „Wirtschaft“) nur noch einer Seite ökonomischer
Strukturierungen zuzuwenden. Indem nur das Wort der Akteure gilt (bzw.
didaktisch im Mittelpunkt des Unterrichts steht), kommen – logisch durchaus
konsequent – jene Individuen gar nicht erst in den Blick, die unter den
sozial erosiven Prozessen einer Ungleichheit produzierenden Globalisierung
lebenspraktisch an Prozessen ökonomischer Differenzierung leiden, anstatt in
den Genuss ihrer wirtschaftlichen Segnungen
zu kommen.
Wissenschaft generiert nur eine von vielen (und deshalb bestreitbaren)
Erzählungen. So kann man die von der Humangeographie vollzogene
handlungstheoretische Weichenstellung gelassen zur Kenntnis nehmen. Wenn
derselbe Paradigmenwechsel indes auch von einem Unterrichtsfach adaptiert
wird, das mit dem Anspruch allgemeiner, aufklärungsorientierter Bildung
auftritt, trägt solches „Handeln“ einen nicht übersehbaren zynischen Akzent.
Für den hier zu diskutierenden Rahmen genügt die Rekapitulation dieser
wenigen Eckpunkte der Theorie von Anthony Giddens, bzw. ihrer Diffusion und
Adaption, um deutlich zu machen, dass das
Modell >Menschen = Akteur< nur auf dem Boden einer radikalen Abstraktion von
allen menschlichen Eigenschaften gedeihen kann, die der Fiktion eines
rational handelnden und (denkend) über sich verfügenden Wesens nicht folgen.[28]
Menschenbilder haben in wissenschaftlichen Aussagesystemen eine filternde
(destruierende) und zugleich fokussierende (produzierende) Aufgabe. Diese
Filterung konstruiert – als Produkt erkenntnistheoretischer Ein- und
Ausgrenzungen – eine ganz bestimmte Relation zwischen innerdisziplinären
Erklärungssystemen und „deren“ Gegenstandswelt, auf die sich die
wissenschaftlichen Aussagen beziehen.
1.2 WissenschaftlerInnen als Akteure?
Es wäre naiv, die Konstruktion dieser Theorie-Filter als einen durch und
durch rationalen Prozess aufzufassen. Der Umstand
allein, dass Theorien von WissenschaftlerInnen gemacht werden, ist kein
hinreichender Grund für die Zuschreibung von Rationalität. Zwar haben
WissenschaftlerInnen gelernt, sich im Gebrauch ihrer (wissenschaftlichen)
Sprache von eigenen emotionalen Impulsen zu distanzieren. Das heißt aber nicht,
dass sie ihre Gefühle und Affekte auch tatsächlich aus dem
Produktionsprozess theoretischen Tuns heraushalten. Dies kann schon
lebenspraktisch nicht gelingen: Zum einen agieren Forscher nie aus einer
gleichsam gleichgültigen Haltung gegenüber ihrer Gegenstandswelt. Sie werden
im Rahmen ihres wissenschaftlichen Tuns stets unter der Voraussetzung eines
Wollens tätig. Jedes Wollen ist von ethisch motivierten Zielen ebenso
justiert wie es von deren gefühlsmäßigen Wurzeln durchwachsen ist.
Von letztendlicher Rationalität ist wissenschaftliches „Handeln“ aber vor
allem deshalb mehr oder weniger weit entfernt, weil die gefühlsmäßige
Unterströmung wissenschaftlichen Tuns nur zu einem kleinen Teil
offen gelegt und legitimiert wird, zu einem weit
größeren Teil aber verdeckt virulent ist. Norbert Elias pointiert das so:
Die Forscher „werden verleitet, ihre Probleme so zuzuschneiden, dass
sie zu ihrer Methode passen, anstatt Methoden zu entwickeln, die sich zur
Lösung relevanter Probleme eignen.“[29]
Die Produktion von Wissenschaft ist ein höchst libidinös besetzter Prozess,
der weit davon entfernt ist, sich selbst durchsichtig und von außen
kritikfähig zu machen. Im Gegenteil – die Vermittlung von Techniken der
Eskamotierung subjektiver Verwicklungen in den Prozess der Produktion
von Wissen(schaft) gehört nicht nur zu jeder wissenschaftlichen
Sozialisation, die Routinisierung wissenschaftsmethodischen Könnens macht
diese Techniken schließlich vergessen, um damit wissenschaftshygienische
Reinigungspraxen zu automatisieren, die den Glauben an die
Objektivität der Wissenschaft nähren; dies heute – in der Zeit eines
postkritischen, ökonomisierten universitären Wissenschafts-Maschinismus –
mehr, als zu Zeiten wissenschaftspolitisch motivierter Kritik und Reflexion
der Denkvoraussetzungen wissenschaftlichen Tuns.[30]
Neben diesen gleichsam professionsbedingten Einflüssen auf den Prozess
wissenschaftlichen Schreibens und Machens spielen biographiebedingte
Attraktoren eine weitere wichtige Rolle. Ein Individuum denkt und arbeitet
als (männlicher) Wissenschaftler anders als eine (weibliche)
Wissenschaftlerin. Das haben die Erkenntnisse feministischer
(Gender-) Forschung besonders deutlich gemacht.[31]
Schließlich argumentiert ein Wissenschaftler / eine Wissenschaftlerin mit
(vielleicht grundlosem) persönlichem Selbstvertrauen stringenter,
sicherer und deshalb letztlich auch überzeugender als ein Wissenschaftler /
eine Wissenschaftlerin mit einem in der Sache (vielleicht
begründeten) Zweifel.
Wenn diese Einwände schon gegen das Selbstbild des Sozialwissenschaftlers
vorgebracht werden können – um das es Giddens in erster Linie aber gar nicht
geht –, dann mit Nachdruck für jene „normalen Menschen“, die Gegenstand
sozialwissenschaftlicher Theoriebildung sind. Ich ziehe an dieser Stelle ein
Zwischenresümee. Die Ubiquität, mit der in der humangeographischen
Theoriebildung und Forschung insgesamt heute der „Akteur“ im Sinne des
handelnden Individuums nach Giddens mit dem Menschen (als Forschungsobjekt)
gleichgesetzt wird, nährt die Illusion eines (sich selbst gegenüber)
transparenten Subjekts. Diese Fiktion hat vor allem
wissenschaftspsychologische Funktion. Sie suggeriert die
theoretisch-analytische Beherrschbarkeit einer sozialen Welt, die doch
als wirkliche Welt (i. S. sozialer Wirklichkeit) nur in kleinen Ausschnitten
der wissenschaftlichen Introspektion – geschweige denn der präzisen
Kontrolle und Analysierbarkeit – zugänglich ist. Das illusionierte Bild des
sich in seinem Tun (optional) bewussten
Individuums impliziert die Idee einer personalen Identität, die – Adorno zum
Spott gereichend – frei ist von einer grundlegenden Struktur des
Nicht-Identischen.
Solches Denken setzt eine Verdrängung des Mannigfaltigen und Situativen
ebenso voraus, wie es einer Fixierung auf (scheinbar) Eindeutiges bedarf.[32]
Eine in diesem Sinne wissenschaftssoziologisch ergänzungsbedürftige These
vertritt R. Schurz. Danach lebe der Naturwissenschaftler in einer Welt der
Machbarkeit, des Funktionellen und der Präzision; den Geisteswissenschaftler
dagegen platziert er in einer Welt der
Skepsis und der Ambivalenzen.[33]
Die Dichotomisierung überspringt den „Zwischentyp“ des
Sozialwissenschaftlers (dem sich der moderne Humangeograph ganz überwiegend
zugehörig fühlen dürfte). Vieles spricht dafür, ihn aufgrund seiner oft
quantifizierenden Forschungsmethoden wie vorausgesetzter gesellschaftlicher
Verwertungsinteressen mehr in der Nähe des Naturwissenschaftlers als in der
Nähe des Geisteswissenschaftlers zu sehen.
Exkurs 2:
Theater – Der (em)pathische Akteur
Ein anderes, aber sehr verbreitetes Verständnis des
Akteurs-Begriffes macht auf die blinden Flecken des sozialwissenschaftlichen
Akteurs-Begriffes aufmerksam. Auf der Bühne des Theaters wie in der Welt des
Films wird der Akteur gleichsam vom anderen Ende seines rationalistischen
Daseins her gedacht. Würde der „spielende Akteur“ dort einem
rationalistischen Plan folgen, bliebe er seiner zu spielenden Rolle
äußerlich und fremd. Jedes kundige Publikum erwartet mehr als nur das
Abspulen von Textrezitationen. Einem Akteur gelingt die Darstellung seiner
Rolle nur, wenn er zur Empathie fähig ist. Im Begriff der Empathie steckt
das Wort des >Pathischen<, das Erwin Straus für die gelebte Teilhabe an
einem Geschehen oder Erscheinen verwendete, welches weniger als Gegen–stand
der Erkenntnis Beachtung findet, denn als Medium des (pathischen) Mitseins.[34]
Auch im Begriff der Bühnen-Handlung steckt das Ganze menschlicher
Präsenz, das Ganze einer szenisch darzustellenden Situation.
Die Handlung eines Stückes kann also das Andere dessen sein, was >Handlung<
im handlungstheoretischen Sinne meint. Das französische Psychodrama
Longtemps après la dernière note (Gefangene der Musik, 2005, Regie Mario
Fanani) hat in diesem Sinne gar keine Handlung. Es macht den Zuschauer zu
einem pathischen Teilhaber von Musik ausgehender gefühlsmäßiger
Gestimmtheiten. Das Driften an emotionalen Abgründen folgt weder
verstandesrationalen noch zweckgerichteten „Motiven“ – es geschieht,
weil sich zwischen Sinnlichkeit und Imagination ein ästhetischer Raum
öffnet, in dem es keine objektivierbaren Wegmarken der Orientierung gibt.
Die Performanz des Stückes hat weder einen wirklichen (außer einen
dramaturgischen) Anfang, noch ein wirkliches (außer ein dramaturgisches)
Ende. Was man hier im film- und theaterwissenschaftlichen Sinne eine
>Handlung< nennen kann, ist ein vitales Oszillieren zwischen emotionalen
Kraftfeldern – auf der einen Seite Atmosphären, zu denen man noch
Distanz halten kann, auf der anderen Seite Stimmungen, in
denen diese Grenze zwischen Selbst und Nichtselbst gefallen ist.[35]
Am Beispiel des Erlebens von Plätzen im öffentlichen Raum machen Janson und
Bürklin deutlich, von welch zentraler Bedeutung die leibliche Kommunikation
als nicht-denkende Form der Raumbeziehung ist.[36]
Jede Fokussierung auf das rational handelnde Subjekt müsste
fehlschlagen. Sie könnte bestenfalls zur Analyse des geodätischen Raumes
>Platz XY< anleiten, noch nicht einmal aber zu dessen Planung, die eine
(empathische) Fähigkeit zum nicht-rationalen Platzerleben voraussetzt.
2. Das Andere des Akteurs-Denkens
Was macht das Andere des Akteurs aus, jene Seite des Menschen, auf der er
nicht Akteur ist? In der Mitte des handlungstheoretischen Reduktionismus
stehen die menschlichen Gefühle. Sie werden oft dem Verstand nicht nur
gegenüber, sondern entgegen gestellt und ganz im platonischen Sinne (samt
den Sinnen) als minder rational und trügerisch abgewertet. Für das Verstehen
des Menschen ist ein Verständnis von Gefühlen aber schon deshalb
unverzichtbar, weil Gefühle eine zentrale Rolle im menschlichen Leben
spielen und deshalb auch auf das Handeln der Akteurs-Seite des Menschen
einwirken.
Seit den 1980er Jahren lässt sich in den
verschiedenen Geisteswissenschaften eine zunehmend differenzierte und sich
ausbreitende Debatte beobachten, in deren Mitte die Frage nach der Rolle der
Gefühle im menschlichen Leben steht.[37]
Die Geographie nimmt hiervon wenig Notiz und zieht es anstelle dessen vor,
an einmal eingeführten und konsensuell konsolidierten Denkmodellen
festzuhalten. Es ist wissenschaftspsychologisch außerordentlich
bemerkenswert, dass sich eine
sozialwissenschaftliche Disziplin (wie die Humangeographie) nachhaltig mehr
als zehn Jahre gegenüber jenen akademischen Denkkulturen anderer Disziplinen
abzuschotten in der Lage war und ist, die eigene (liebgewordene)
Denktraditionen auf den Prüfstand verweisen müssten.[38]
Die Referenztheorien, die eine konsequente Integration der sinnlichen und
gefühlsmäßigen Seite des menschlichen Lebens in Modelle des Menschen (bzw.
wissenschaftliche Menschenbilder[39])
reklamieren, sind zu großen Teilen noch nicht einmal neu, sondern schon in
lebensphilosophischen Diskursen vor rund 100 Jahren zu finden[40].
Auf diese rekurrieren auch aktuelle geisteswissenschaftliche Debatten, auf
die ich bereits verwiesen habe. Nicht nur in der Philosophie hat eine breite
Kritik der Ausklammerung der Gefühle im (anthropologischen) Denken
des Menschen eingesetzt.[41]
Im allgemeiner wissenschaftssoziologischer Intention spricht sich z. B.
Richard Rorty nachhaltig für eine Relativierung der rationalistischen
Vereinseitigung des Menschen auf seine Geisteskräfte aus: „Dieser Gedanke,
die Vernunft sei „stärker“ als das Gefühl … ist ausgesprochen zählebig.“[42]
Oft ist die Frage nach den Gefühlen mit denen nach
dem Unbewussten gekoppelt. Die Verankerung der Sinne und der Gefühle in der
Natur des Menschen begründet schon diesen Zusammenhang. Die menschlichen
Gefühle stehen in einem doppelten dialektischen Verhältnis; zum einen
zwischen dem Bewussten und dem Nicht-Bewussten und zum anderen zwischen dem
Geistig-Abstrakten und dem Sinnlichen-Konkreten. Die Isolierung
sozialwissenschaftlicher Theorie vom gelebten Leben strebt zumindest
implizit das Ziel an, der sich aus diesen dialektischen Verstrickungen
ergebenden Offenheit durch theoretische Einengung des Möglichen aufs
Vorhersehbare (vorhersehbar Gemachte) zuvorzukommen. Im Unterschied zum
Leben der Menschen gilt wissenschaftstheoretisch allein jene Wirklichkeit
als forschungsrelevant, die sich als Summe rekonstruierbarer Elemente einer
gedachten Rasterstruktur menschlicher Handlung gleichsam addieren
lässt. Dieses Denken ist noch weit davon entfernt, sich einer
psychoanalytischen Sichtweise anzunähern, die Hans-Jürgen Heinrichs mit
Bezug auf Freud vorschlägt, indem er das Unbewusste „als eine Art
Relaisstation“ versteht, als eine Art Bildschirm, auf den innere Bild
geworfen werden, die unser Tun mitgestalten.[43]
Damit nähern wir uns von der Seite des Unbewussten
der Mimesis, die für das Verstehen ästhetischen Verhaltens
unentbehrlich ist[44],
jenem kreativen, imaginativen und intuitiven Prozess
der Anverwandlung an eine aktuelle Situation wirklichen Lebens. Die sich
mimetisch einander vermittelnden Dimensionen menschlichen Seins lassen sich
auch als strukturverschiedene Ausdrucksformen menschlichen Lebens auffassen
- als gelebte Weisen, auf eine Situation zu
reagieren, in ihr in der einen oder anderen >Lebensform<[45]
zu reagieren, zu agieren oder sich auch nur kontemplativ an sie zu
verlieren. Aus dieser Perspektive erscheint die Identifizierung der Essenz
des menschlichen Wesens im Modell des Akteurs als eine Erzählung, die
durch weitere zu bereichern wäre.
Ich werde im Folgenden
die Frage in Umrissen
diskutieren, welchen Sinn eine Erweiterung des Akteurs-Denkens durch den
leiblich-sinnlich spürenden, vitalen Menschen haben könnte. Dabei stelle ich
Bezüge zur Architektur-Theorie her.
3. Ein Flaneur ist kein Akteur
Der Flaneur, der als kontemplativ-streunender Bürger im frühen 20.
Jahrhundert die Stadt erkundete, indem er sie auf sich wirken ließ und sich
dem Strom urbaner Ereignisse überantwortete, verhielt sich ästhetisch zu
seiner Stadt. Das Megaereignis >Stadt< sollte in einem pathischen Sinne
erlebt werden. Der Flaneur begab sich nicht in einer zielgerichteten Haltung
auf den Weg, um etwas zu „erledigen“. Um Erledigung ging es dem Flaneur
gerade nicht! Der Flaneur ist das Andere des Akteurs. Zwar ist er seiner
Herr, sich seiner auch bewusst, aber doch
zugleich bereit, sich einem Geschehen zu überlassen, das nie Gegen-stand
bestimmten Wollens ist.
Der Flaneur ist ein Phänomen der Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts,
ließe sich einwenden, und damit kein Fall, an dem sich belegen ließe,
dass es noch heute einen Typ Mensch geben könnte, der nicht im Akteurswesen
aufginge. Wenn sich der Flaneur auch als eine kulturhistorische Besonderheit
verstehen lässt, so darf doch nicht vergessen werden, dass ästhetische
Verhältnisse zur Welt ihrer Struktur nach keinen kulturellen, sondern
einen anthropologischen Akzent tragen. Wenn Helmuth Plessner der Menschen
als Ort beschreibt, „an dem Natur und Geist sich begegnen“[46],
dann weist er diese Begegnung als eine sinnliche aus, die der Vermittlung
von Körper und Leib bedarf. Dass diese Vermittlung
des Sinnlichen durch das kulturelle Fenster der Bedeutungen gehen muss,
kennzeichnet die Künstlichkeit der Natürlichkeit des Menschen.[47]
Der Flaneur ist also nur eine kulturelle Konkretisierung einer Form anthropologischen In-der-Welt-Seins. Sie macht eine Variante deutlich, in
der Menschen als sich und ihre Welt sinnlich und bedeutsam erlebende Wesen
existieren. Damit wird ein Menschenbild gestärkt, das das Platonische
Projekt der Konstituiertheit des Menschen als Geistwesen relativiert.
Diese Relativierung zieht diesseits der sprachlichen Abstraktionen eine
Linie, diesseits des rationalistischen Verstandesbezirks. Aus diesem Veto
folgt eine Reihe von Konsequenzen, die für den praktischen wie theoretischen
und metatheoretischen Gegenstandsbereich der Architektur von Belang sind.
A.
Architektonische Räume haben neben ihrem relationalen, materiellen und
symbolischen einen leiblichen Charakter
Architektonische Räume werden er-lebt.
Dürckheim hat solche Um-gebungen
des Menschen mit dem Begriff der „leibhaftigen Herumwirklichkeit“
umschrieben. Damit betonte er ein Verhältnis zum umgebenden Raum, das nicht
der Logik irgendwelcher Erkenntnisinteressen untersteht, das sich vielmehr
durch ein Hineingezogensein und Sich-Hineinziehen-Lassen in den Bann einer
Umgebung beschreiben ließe. Dieser Raum „ist in seiner jeweils leibhaftigen
und bedeutungsvollen Ganzheit „gegenwärtig“ in Gesamteinstellung,
Haltung, Gerichtetheit und Zumutesein, man hat ihn im „Innesein“,
hat ihn in den Gliedern und im Gefühl, in Leib und Herz …“[48].
Bei Hermann Schmitz wird die Form des leiblichen Im-Raum-Seins
systematisch auf phänomenologischem Hintergrund entfaltet.[49]
Schmitz entwickelt in seinem philosophischen System eine Raumontologie, die
dieses Raum-Denken im Unterschied zu natur- oder sozialwissenschaftlichen
Konzepten verständlich macht. Der Schmitzschen Phänomenologie liegt ein
Raum-Begriff zugrunde, der sich weder aufs Symbolische noch aufs
Mathematische reduzieren lässt, also die
Konstruiertheit der Dinge im relationalen und sozialen Raum durch
Bedeutungen ebenso unterschreitet wie die Reduktion des Raumes auf
Gebilde mit Flächen und Kanten. Vielmehr konstituiert sich der leibliche
Richtungsraum in gefühlsmäßig spürbaren Ausdehnungen zwischen Enge
und Weite als prädimensionales Volumen.[50]
Das Wohnen entfaltet sich z. B. in solchem Erleben, das die heimische
Qualität eines „eigenen“ WohnRaumes erst entstehen lässt.[51]
Am Beispiel der Bewegung beschreibt Erwin Straus, wie sich die Motorik ein
eigenes leibliches Raumerleben erschließt,[52]
das nicht nur für das Wohnen von Belang ist, sondern schon grundlegende
anthropologische Bedeutung hat.
B. Die Erlebbarkeit architektonischer Räume konkretisiert
sich in Atmosphären
Räumliche
Umgebungen im Sinne von leiblichen Herum-Wirklichkeiten werden gefühlsmäßig
als Atmosphären erlebt. Atmosphären definiert Schmitz als räumlich
ausgedehnte Gefühle, in deren Bann man hineingeraten kann. Im Unterschied
zur sozialwissenschaftlichen Sicht betrachtet er Gefühle nicht als
subjektive Marginalien, die Produkt individueller (bestenfalls kollektiver)
Imagination sind, sondern als objektive Situationen. Verständlich wird diese
Perspektive durch die doppelte Funktion, die Gefühle darin einnehmen.[53]
Er unterstellt nicht, dass eine Atmosphäre in
ihrer Gefühlsgeladenheit jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort in gleicher
Weise auch wirk-lich
ergreifen muss. Nur wer von einer Atmosphäre affektiv auch betroffen wird,
gerät gleichsam mitfühlend in den Bann jenes Gefühlsraumes, der als
Atmosphäre ‚da‘ ist. Wer sich i. d. S. ergreifen lässt,
von dem hat die Atmosphäre als Stimmung in der Form leiblichen
Spürens Besitz ergriffen. In einer Stimmung geht man distanzlos auf, während
man zu einer Atmosphäre, die affektiv (noch) nicht durch Betroffenheit in
das persönliche Befinden übergegangen ist, Distanz hat.
Atmosphären sind alltagsweltlich und ubiquitär. Es gibt nicht keine
Atmosphären. Aber wir leben in einer gewissen Selbstverständlichkeit mit
ihnen. Das heißt nicht, dass man nicht auf
die spürbare Präsenz von Atmosphären reagieren würde. Nur thematisiert man
sie in aller Regel nicht sprachlich; man kommuniziert in und über
Atmosphären eher im Wege leiblicher Kommunikation, indem man sich in ihnen
zu ihnen verhält, sie sucht, weil sie Behagen ausstrahlen oder ihnen
ausweicht, weil sie beengend wirken. Solche Atmosphären thematisiert Gernot
Böhme (im Rückgriff auf Schmitz) am Beispiel der Dämmerung, der Musik, der
Kirchenarchitektur, der Stadt usw.
Den wissenschaftstheoretischen Denktraditionen der modernen Sprach- und
Sozialwissenschaften zufolge wäre Atmosphären nur mit größter Skepsis zu
begegnen, gälten sie doch als solipsistische Gebilde reiner Innerlichkeit,
weil sie sich eben nicht in sprachliche und damit abstrakte Chiffren
übersetzen lassen. Atmosphären wären ganz im Sinne von Platons
Höhlengleichnis als Täuschungen und Akzidenzien aufzufassen. Atmosphären
scheinen nicht zum Akteur zu passen. Indes ließe sich leicht zeigen,
dass gerade darin ein fundamentaler
Irrtum liegt, denn niemand wird ernsthaft bestreiten können, dass es
Experten gibt, die Atmosphären planmäßig und mit genauem wenn auch
diffusem Wissen um ihre Wirkungen herstellen können.
C.
Architektonische Räume können -
als Bedingung von Architektur und im Unterschied zur Bautechnik
-
in ihrer atmosphärischen Erlebbarkeit (planvoll) hergestellt werden
Gernot Böhme zeigt an diversen Beispielen, wie professionelle
Atmosphären-Experten mit Hilfe geeigneter Mittel (z. B. Licht
[54])
bestimmte Atmosphären mit spezifischen Absichten herzustellen in der Lage
sind.[55]
Schon das alltägliche Leben präsentiert – ganz ohne Wissenschaft – eine
Fülle solcher Atmosphären, in deren Bann man durch externe „Zündung“ von
Betroffenheit hineingeraten kann. Solche suggestiven Räume entstehen nicht
zufällig und nicht durch spirituelle Eingebung, sondern durch die praktische
Anwendung professionellen Atmosphären-Wissens. Dies schließt Wissen um die
sinnliche und leibliche Affizierbarkeit des Menschen ein. Professionelle
Akteure (!) in diesem Sinne sind Architekten, Designer,
Kirchenbaumeister, Innenarchitekten, Landschaftsarchitekten/Gärtner,
Künstler, Bühnenbildner, Lichtdesigner und viele andere. Dies bedeutet, dass
die Macher von Atmosphären nur zu rational handlungsfähigen Akteuren
werden und sich als solche professionell bewähren können, weil sie über
detailliertes Wissen um jene pathische Konstitution des Menschen als sich
und seine Welt erlebendes Wesen verfügen, das am anderen Ende dessen liegt,
was die modernen Sozialwissenschaften mit dem Konstrukt des >Akteurs<
fassen. Gerhard Auer verortet die Rezeption von Architektur treffend
zwischen den Rationalitäten, wenn er sagt: „Architektur wird auf drei
Ebenen rezipiert: einer pragmatischen, einer ästhetischen und einer
affektiven.“[56]
Diese Trilogie der Durchgänge dürfte für den Prozess
des Architektur-Machens nicht minder bedeutsam sein.
4. Architekten als Akteure
Architekten können ihre Rolle nur professionell und darin erfolgreich
wahrnehmen, wenn sie als Akteure ihres Faches auftreten. Im Zentrum der
Arbeit von Architekten steht nicht die Anwendung bautechnologischen Wissens,
sondern – auf dem Boden einer Zusammenarbeit mit Bauingenieuren sowie dem
gesamten Baugewerbe – die Herstellung räumlicher Wirkungen, d. h. die
Gestaltung von Mensch-Umwelt-Beziehungen als Verwirklichung eines
ästhetischen Projekts. In dieser identitätsspezifischen Frage ist das
Selbstverständnis der Architektur aber gebrochen. Die Resonanz auf das Werk
Camillo Sittes, der den Städtebau vor der Vereinnahmung durch Ingenieure und
Techniker bewahren und ihn als eine ästhetische Aufgabe der Raum- und
Wahrnehmungsgestaltung sicher wollte, zeigte schon im 19. Jahrhundert, dass
das Selbstverständnis der Architektur als ästhetisches Projekt
keineswegs unumstritten war.[57]
Die Nachhaltigkeit, mit der diese Debatte bis in die Gegenwart andauert,
zeigt, dass dieser Dissens einen sensiblen Punkt
im Selbstverständnis der Disziplin berührt.
Drei Beispiele sollen genügen, um Eckpunkte der epistemologischen
Verspannung der Architektur zwischen rationalem und mimetischem Können
deutlich zu machen und in der Folge zu zeigen, dass
der Architekt als Akteur (a) technischen, konstruktiven bzw. propositionalen
Wissens bedarf, er dieses Wissen aber nur praktisch gelingend in Situationen
der Raumgestaltung anwenden kann, wenn er (b) auch über Erfahrungswissen[58]
verfügt, in dem Wissenssedimente aus beruflicher Erfahrung abgelagert sind,
die gerade nicht in Gänze nach einem rationalen Modell menschlichen
Handelns jederzeit abrufbar und rechtfertigungsfähig sind.
1.
Sigfried Giedion gilt als Verfechter des
Primats der Konstruktion (und hatte deshalb wenig Sympathie für Camillo
Sittes Vorstellungen). Vielleicht ist er aber gerade deshalb ein
prädestinierter Repräsentant für die These, dass
gute Architektur das Produkt von Akteuren ist, die sich auf der Grenze
zweier tendenziell inkommensurabler Rationalitäten bewegt. In seinem den
Raumkonzeptionen der Architektur gewidmeten Werk[59]
zeigen im Prinzip alle Beispiele aus allen Zeiten, dass die erste
Aufgabe der Architektur darin bestand und besteht
-
mit historisch je spezifischen Mitteln
-,
materialisierte Strukturen über Raumwirkungen zu präsentieren, damit
Wahrnehmungsweisen zu eröffnen und Funktionen zu erfüllen. Kein Bauwerk ist
auf seine funktionalistische Struktur zu reduzieren. Es steht immer in einem
atmosphärischen Wirkungsrahmen. So geht es in der Architektur auch nie um
die Alternative zwischen Form und Funktion, sondern immer um die Frage der
Beziehung beider Dimensionen zueinander. Dabei kann die mit einer
Architektur sich ausdrückende Atmosphäre Moment der Form, aber auch Moment
der Funktion sein.
2.
Das Werk des großen Gartenbautheoretikers
Christian Cay Laurenz Hirschfeld[60]
(1779-1785) ist ein schlagender Beweis für
die hohe Professionalisierung im Bereich pathischen (Erlebnis- oder
Gefühls-) Wissens, das in einer Raumgestaltung zur Anwendung kommt, die sich
in besonderer Weise ihrer gestaltenden Einwirkung auf
Mensch-Umwelt-Beziehungen bewusst ist. Hirschfeld
entfaltet in seinem mehrbändigen Werk ein hoch differenziertes
Gefühls-Alphabet von Pflanzpraktiken. Seit über die Anwendung der
Gestaltungsprinzipien des englischen Gartens Gefühlsräume geschaffen worden
sind, die bis in die Gegenwart wegen ihrer atmosphärischen Qualitäten
attraktiv geblieben sind und deshalb immer wieder aufgesucht werden, muss
die Gartenkunst in erster Linie als gefühlsmäßige Ausdrucksarbeit verstanden
werden. Zwar war dies in der Garten- und Landschaftsarchitektur nie anders;
aber die Konturen des diesem Handeln zugrunde liegenden Wissens sind
durch Hirschfelds Werk besonders unmissverständlich hervorgetreten.
Hirschfeld zeigt, was bis heute für die gesamte Architektur gilt: Das bewusste
(und damit rational verfügbare) Wissen zur Herstellung ästhetischer
Raumwirkungen kann nur so lange zu emotionalisierenden Wirkungen
führen, als die Rezipienten solch atmosphärischer Räume nicht über den Code
zur Entschlüsselung des künstlichen Zaubers verfügen. Mit anderen Worten:
Das professionelle Handeln von Architekten hat spezifisches Wissen über
nicht-rationale und in großen Teilen auch nicht bewusste
Erlebnisweisen von Architektur notwendig zur Voraussetzung. Erst aus der
Differenz zwischen Akteur (der der Architekt ist) und Nicht-Akteuer (der der
lebensweltliche Rezipient von Architektur ist), mit anderen Worten, aus der
Differenz zweier inkommensurabler Rationalitäten (der theoretischen
Rationalität von Architekten und der ästhetischen Rationalität
erlebender Architektur-Nutzer) kann es zu Raumwirkungen kommen, auf deren
Herstellung Architektur im wesentlichen auch abhebt.
3.
Der in Hirschfelds Werk liegende
Erfahrungsschatz variiert und wiederholt sich im Prinzip in anderen
professionellen Gestaltungsfeldern. So liefert z. B. die Materialikonologie
ein vielfältiges Wissen über die Wirkungsweise von Baustoffen. Holz
entfaltet je nach Farbe, Textur, Dichte und Art der Verwendung (am Bau) eine
je eigene atmosphärische Wirkung. Das gilt im Prinzip für alle Materialien.[61]
Beachtung verdient an dieser Stelle der Hinweis, dass
die Eindrücke, die von bestimmten Materialien in bestimmter Weise zur
Erscheinung gebracht werden, nicht auf Symboleigenschaften (im semiotischen
Sinne) begrenzt werden können. Vielmehr steht die Symbolik in einem
dialektischen Verhältnis zur synästhetischen Erlebnisweise einer
Inszenierung. Materialien werden in ihrem symbolischen Verstehen leiblich in
bedeutungskomplementärer Weise empfunden (z. B. als weich oder hart, warm
oder kalt). Dabei fungieren die symbolischen Bedeutungen nicht generell als
Gründe für Empfindungsqualitäten; gespürte Empfindungsqualitäten können auch
– umgekehrt – Gründe für die Entstehung einer Bedeutung sein. Werkstoffe
sind „Überbringer magischer Botschaften; statt eines lesbaren Textes
vermitteln sie Gefühle, erregen Konnotationen, wenden sich an tiefere
Schichten unserer Wahrnehmung.“[62]
Das Wissen um diese dialektischen Wirkungsketten gehört zum Wissensbestand
je einschlägiger Professionen. Die „Sprache“ der Materialien lässt
sich in ihrer kommunikativen Funktionsweise nur aufrechterhalten,
wenn die Differenz zwischen der theoretisch-ästhetischen Rationalität
der Produzenten und der sinnlich-ästhetischen Rationalität der
Rezipienten gewahrt bleibt.
Der Architekt ist ein Akteur. Ich klammere
die Frage aus, inwieweit mimetisches Können (als implizites Wissen)
auf den im Prinzip rationalen Planungs-, Gestaltungs- und Herstellungsprozess
einwirkt. Letzte Vorbehalte gegen das Bild des „reinen“ Akteurs sind
also anzumelden. Dies auch aus jenem Grund, der schon eingangs diskutiert
wurde: Wie der Forscher seiner Emotionalität in all seinem Tun aufsitzt, so
folgt auch der Architekt keiner geistig-aseptischen Handlungsspur. An das
Bild des Akteurs ist notwendig das des Nicht-Akteurs gekoppelt. Nur in jenem
Teil seines Tuns, für den klare Gründe angegeben werden können, ist das
Individuum Akteur. Das „Gesamt-Handeln“ Atmosphären produzierender
Architekten ist nach Gerhard Auer kaum zu kalkulieren und nur schwerlich zu
planen, da sich letztendlich zündende Wirkungen einer „Unzahl von
Ingredienzien, der Spontaneität und der Subjektivität“ verdanken.[63]
Im Fluss des gelebten Lebens gibt es diese
Trennlinie in aller Regel nicht. Man tut in zahllosen Situationen, schlicht
was man tut und ist dann auch im Nachhinein nur insofern in der Lage,
Gründe für solches Tun anzugeben, als sich letztlich immer Gründe nennen
lassen. Allein die Möglichkeit, bei hinreichender intelligibler Mobilität
ein bestimmtes „Tun“ gewissermaßen „nachlaufend“ durch fiktive Ergänzung
begründender Argumente zu einem „Handeln“ zu adeln, zieht eine ethisch
schwer legitimierbare Grenze. Als Akteur könnte sich dann stets der
geschulte Rhetoriker erweisen, der den Graben zwischen eigenem Nichtwissen
um Gründe für ein Tun durch (konventionelle) Eloquenz zu kitten in der Lage
wäre. Der Art nach wäre dies eine Grenzen, wie sie im Wissenschaftssystem
tagtäglich durch Berufung auf Geltung und Rückgriff auf diskursive
Herrschaftspraktiken gezogen wird. Es gibt aber auch eine anthropologische
Grenze zwischen Akteur und Nicht-Akteur, die durch die Mitte eines jeden
Menschen verläuft. Kein Menschenbild ließe sich deshalb letztlich als
wissenschaftlich glaubwürdig machen, in dem jene (lebensphilosophisch so
virulent diskutierte) Seite des Menschen ausgeklammert bleibt, die Helmuth
Plessner in seiner „Anthropologie der Sinne“[64]
zu Wort kommen lässt. Diese „andere“ (als
rational handelnde) Seite des Menschen wird aber nicht nur in Philosophie
und Phänomenologie diskutiert; Hinweise auf entsprechende Defizite finden
sich auch in der Geschichte der Soziologie. So kritisierte Georg Simmel in
seiner „Soziologie der Sinne“ die Methode der Soziologie, die es an
Aufmerksamkeit gegenüber den ästhetischen Implikationen des menschlichen
Lebens mangeln lasse.[65]
Auch in der Architekturtheorie wird diese vom Akteurs-Bild der modernen
Sozialwissenschaften ausgeklammerte Seite des Menschen diskutiert. Juhani
Pallasmaa[66]
unterstreicht das Wesen der Architektur als „eine Kunstform des Körpers und
aller Sinne“. Die kritische Anmerkung, die durch Architektur vermittelten
Emotionen seien auf das Visuelle verengt, macht auf eine der Kultur des
Ästhetischen inhärente Ausklammerung nicht-visueller Wirkungsbereiche
aufmerksam, die von Räumen und Orten ausgehen können.[67]
Mit dem Plädoyer für eine „Architektur der Askese, der Konzentration und der
Kontemplation, eine Architektur der Stille“ wird eine für die Disziplin der
Architektur neue Aufgabe rationaler Professionalisierung definiert. Für den
Stadtbenutzer – den Rezipienten von Architektur – läge in einer solchen
programmatischen Erweiterung selbst zugeschriebener
Professionalisierungsansprüche dann ein Gewinn, wenn die architektonische
Gestalt – auf der Grenze zwischen rational Bewusstem
und Noch-nicht- oder Nicht-mehr-Bewusstem
– Erfahrungsprozesse zu evozieren in der Lage wäre, die sich im Sinne eines
Zuwachses an Selbstreflexivität der Subjekte schlechterdings nur auf dieser
Grenze bewerkstelligen lassen (vgl. oben Hinweis zur Reflexion der Differenz
zwischen Subjekt und Objekt). Die Tilgung des Nicht-Akteurs in der
Universalisierung des Menschen zum Akteur stellt deshalb auch keine
qualitative Menschenbild-„Liftung“ dar, sondern seine ontologische
Verarmung. Diese impliziert im Übrigen nicht
zufällig genau jenen Typ von Erfahrung, der die Ebene der bewussten Gründe
bestimmten Tuns ins Halbdunkel diffuser Anlässe zu durchstoßen fähig wäre.[68]
Die Kritik von Alberto Pérez-Gómez[69]
an der Theorie der Architektur, die sich von ihrer technizistischen
Anwendbarkeit abhängig gemacht habe, reklamiert unter dem Fokus der
Hermeneutik eine zwischen Distanzierung und Annäherung
oszillierende Dynamik der Reflexion. Sie strebt im Prinzip nach nichts
anderem und kann nur gelingen, wenn sie über die theoretisch-praktische
Dimension des Architektur-Machens auch die spiegelverkehrte Seite der
sinnlich-ästhetischen Dimension des Architektur-Erlebens
theoretisch-konzeptionell mit einbezieht.
Der Mensch ist ein Akteur
-
und er ist es nicht! Jede konzeptionelle Verengung zur einen oder anderen
Seite wird dem Menschen in der vitalen Praxis seines Lebens nicht gerecht.
Wissenschaft muss über kurz oder lang in
ernsthafte Legitimationsprobleme geraten, wenn die ihrem Tun zugrunde
gelegten (oder vorausgesetzten) Menschenbilder eine Schieflage
aufweisen. Die Architekturtheorie führt ihren Diskurs, der ein Streit über
den Zweck von Theorie und Metatheorie ist. Damit ist ein Raum für die
Verständigung über das Selbstverständnis in Relation zu einem Herstellungs-
und/oder Erkenntnisgegenstand geöffnet. Die Frage nach dem Menschen ist
hierbei stets undogmatisch mitgestellt.
5. Retrospektive
Die retrospektive Pointe der hier geführten Diskussion für die
Humangeographie ist evident. Der Mensch ist nie nur ein Akteur. Diese im
Prinzip triviale These, die sich im Blick auf die Gegenstände der
(verschiedensten) Architektur(en) leicht belegen ließ, weist auf eine
rationalistische Obsession hin. In szientistischen Fächern wie der
Humangeographie erschließt sich deren kommunikative Funktion in der
wissenschaftlichen Gemeinschaft (die dem Begriff nach das Gegenteil einer
„Gemeinschaft“ ist vom Rande der Akteure her – von jener Grenze, an der
die rationalen (und als solche rechtfertigungsfähigen) Modelle affektiv von
außerwissenschaftlichen „Bedürfnissen“ unterströmt werden. Die erste sich
ganz im Sinne von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“ stellende Aufgabe
sehe ich in der kritischen Selbstreflexion der strukturell pluralen
Beziehungen, die forschende Subjekte zu Theorien (hier zu Menschenbildern)
unterhalten. Die vordringliche Aufgabe liegt in der Suche nach Antworten auf
die Frage nach den affektiven Bindungen an
Theorien.
Roth, Gerhard:
In das 'Wahrnehmungssystem dringt nur das ein, was nicht zu erwarten war'.
In: Kunstforum, Band 124 (1993), S. 152-157.
Roth, Gerhard:
Verstand und Gefühle. In: Kunstforum International, Band 126 (1994), S.
118-126.
[1] Immer wenn ich in
diesem Beitrag die männliche Form verwende, meine ich die weibliche
zugleich mit, es sei denn, ich expliziere eine Differenzierung.
[2]
Vgl. hierzu Janich / Korsch 2005. Der Frage nach den
Menschenbildern in der Geographie haben Ilse Helbrecht und ich uns
an anderer Stelle ausführlich gewidmet (vgl. Hasse / Helbrecht
2003).
[3]
Vgl. beispielhaft für viele Autoren:
Werlen 1999 sowie Reuber
1999.
[4]
Kritische Anmerkungen dazu vgl. Hasse u. a. 2000.
[11]
Die Annahme nichtidentischer Identitäten steht dagegen im Zentrum
der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die in der
Strukturationstheorie von Giddens konsequenterweise ausgeblendet
bleibt.
[12]
Adorno
1969, S. 151ff.
[13]
Adorno
1944/47, S. 198.
[14]
Es ist für die Handlungstheorie charakteristisch, dass
sie für die nicht beabsichtigten Effekte eines Tuns eine erklärende
Kategorie benötigt (die Restkategorie der unbeabsichtigten Folgen
einer Handlung, vgl. Giddens 1988, S. 61 ff), während das
komplementäre Gegenstück, das einem Handeln halb oder nur diffus
Bewusste theoretisch in die Belanglosigkeit hinausmanövriert
wird.
[15]
Nietzsche
(Wahrheit und Lüge), S. 317.
[16]
Nietzsche
(Zarathustra), S. 300.
[17]
Nietzsche
(Fröhliche Wissenschaft), S. 44.
[19]
Vgl. Nietzsche
(Wahrheit und Lüge), S. 316.
[20]
Vgl. dazu auch Hastedt 2005, S. 37ff.
[21]
Die wohl umfassendste Theorie der Leiblichkeit des Menschen liegt
mit dem System der Philosophie von Hermann Schmitz vor (vgl.
Schmitz
1964ff).
[22]
Vgl. die verschwommene Terminologie bei Giddens 1988 auf den
S. 116 ff.
[23]
Vgl. Chilla 2005, S. 33.
[24]
Zur Kritik der geistesgeschichtlichen Entwicklung dieses
dichotomischen Denkens, an dessen Diffusion bis in die Gegenwart
vgl. insbes. Schmitz
1994, S. 19 ff.
[25]
Adorno
1944/47, S. 262. Kritik i. d. S. steht aber nicht nur im
Mittelpunkt des Werkes von Adorno; sie bildet einen zentralen Nerv
im Denksystem der gesamten Frankfurter Schule.
[26]
Lehrplan für das Fach Geographie und Wirtschaftskunde (Oberstufe).
[27]
Der Studiengang Geographie Lehramt an der Universität Karlsruhe
(gültig für Studierende mit Studienbeginn ab dem WS 2005/06).
[28]
Zur Kritik i. d. S. an Giddens vgl. auch
Gerstenberger
1988.
[30]
I. S. einer Anekdote verweise ich auf eine wiederholte Beobachtung
im universitären Alltag. Beharrlich lehren Hochschullehrer, die
selbst in einer Zeit lebendig praktizierter Wissenschaftskritik
sozialisiert worden sind, Studierenden heute in der Universität
wieder vermehrt, in der schriftlichen Abfassung von Referaten oder
Hausarbeiten nicht in der Ich-Form zu schreiben, um
Objektivität zu verbürgen. Es darf nicht übersehen
werden, dass auf diese Weise über „nur“ formales Lernen hinaus, auf
einem kategorialen Niveau, die Einverleibung von Routinen der
Abstraktion vom eigenen Selbst vermittelt wird. Auch auf solchen
scheinbar unbedeutenden Wegen wird die Illusion und Ideologie einer
wertfreien Wissenschaft gelehrt. Es liegt auf der Hand, dass dies
implizit auch eine Schule der Einübung verantwortungsloser
Wissenschaft ist.
[31]
Vgl. Fleischmann / Meyer-Hanschen 2005.
[32]
Vgl. i. d. S. Großheim 2005, S. 142.
[33]
Vgl. Schmidt 2003/2004, S. 172.
[35]
Thema des Filmes sind Symphonien von Jean Sibelius.
[36]
Vgl. Janson / Bürklin 2002.
[37]
Die ganze Breite dieser Debatten kann hier nicht nachgezeichnet
werden. Stellvertretend sei auf das zunehmend Beachtung findende
Werk von Hermann Schmitz (1964ff) verwiesen; daneben auf
zusammenfassende Veröffentlichungen von Hastedt 2005,
Reichold 2004, Fink-Eitel / Lohmann
1993, Meier-Seethaler 1997, Scheele 1990 u. v. a.
[38]
Es versteht sich nahezu von selbst, dass
aus dem Kontext der jüngeren Diskussionen nicht alles ausgeklammert
wurde, was mit Gefühlen zu tun hatte. Charakteristisch dürfte der
Sachverhalt sein, dass jene naturwissenschaftlichen
Forschungsbefunde aus dem Bereich der Neurophysiologie und
Hirnforschung hier und da Beachtung gefunden haben, ließen
diese sich doch unmittelbar mit dem rationalistischen Akteursdenken
in Geographie und (insbesondere) deren Didaktik verknüpfen (hier ist
z. B. an die Arbeiten von Gerhard Roth
zu denken, die insgesamt eine breite
Resonanz befunden haben (vgl. Roth 1993 sowie Roth
1994).
[39]
Im Bezug auf die Theorie der Geographie vgl. dazu Hasse /
Helbrecht 2003.
[40]
Vgl. resümierend dazu Kozljanič 2004.
[41]
Vgl. z. B. kürzlich Nickl 2005, Droschel 2005 oder
Rorty 1993.
[43]
Heinrichs 2005, S. 40.
[44]
Vgl. dazu auch Marcuse
1957, S. 171ff.
[45]
Ich greife diesen Begriff der Lebensform bei Eduard Spranger auf,
der in seiner Analyse menschlichen Lebens nicht nur verschiedene
Rationalitäten (theoretische, ästhetische, ökonomische, soziale
usw.) rekonstruierte und in der Durchdringung einer je speziellen
Rationalität das durch Vereinseitigung entstehende Defizit
herausstellte (vgl. Spranger 1914).
[46]
Plessner
1923, S. 371.
[48]
Dürckheim 1932, S. 26.
[49]
Raum- wie umweltbezogene und darin auch architekturtheoretische
Konkretisierungen habe ich im Detail an anderer Stelle vorgenommen
(vgl. Hasse 2005.1).
[50]
Kurz und i. S. einer Zusammenfassung vgl.
Schmitz
1998 sowie ausführlicher und zusammenfassend Schmitz 1994.
[51]
Zum leiblichen Charakter des Wohnens vgl. bes. Heidegger 1951
sowie Bollnow
1963.
[53]
Zu Gefühlen als Atmosphären vgl. zusammenfassend
Schmitz
1993.
[54]
An anderer Stelle habe ich ausführlich die Bedeutung des künstlichen
Lichts für die Herstellung städtischer Atmosphären behandelt (vgl.
Hasse 2004) sowie mit Bezug auf konkrete städtische
Illuminationsprojekte: Hasse 2005.2.
[58]
Zur Frage des Zusammenhangs von propositionalem Wissen und
Erfahrungswissen im Prozess
wissenschaftlichen Handelns vgl. auch Reichert 2000.
[60]
Hirschfeld
(1779-1785).
[61]
Vgl. z. B. Raff
1994.
[65]
Simmel
1907, S. 149.
[66]
Vgl. Pallasmaa 1994.
[67]
Mit engagiertem Nachdruck denkt Hans Boesch in diese Richtung (vgl.
Boesch 2001).
[68]
Zum Begriff der Erfahrung i. d. S. vgl.
Dilthey
1958 sowie Gehlen 1936.
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