From Outer Space:
Architekturtheorie außerhalb der Disziplin

10. Jg., Heft 2
September 2006
   

 

___Wolfgang Sonne
Strathclyde
  Die Geburt der Städtebaugeschichte
aus dem Geist der Multidisziplinarität

 

   

In Zeiten, in denen sich jeder Erfolg versprechende Forschungsantrag mit dem Etikett der "Interdisziplinarität' garnieren muss, um überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben, scheint es festzustehen, dass Interdisziplinarität innovativ ist. Auch die Architektur – und mit ihr die Architekturtheorie – ist deswegen (wieder einmal) verzweifelt auf der Suche nach neuen, außerdisziplinären Anregungen und Begründungen. Dabei gibt es wohl kaum eine Disziplin, die gelassener auf diese Forderungen des Tages schauen könnte: Denn seitdem es Architekturtheorie gibt, seitdem wird die Interdisziplinarität der Architektur bzw. des Architekten beschworen. Klassische Architekturtheorie beinhaltet seit Vitruv die Forderung nach einer multidisziplinären Architekturausbildung, brauche doch der Architekt nicht allein praktische und theoretische Fähigkeiten, sondern darüber hinaus auch Kenntnisse in Geometrie, Arithmetik, Optik, Geschichte, Philosophie, Physiologie, Musik, Medizin, Jura und Astronomie.[1] Kaum eines der heute hoch gepriesenen inter- oder gar transdisziplinären Projekte bringt eine solch divergente Vielfalt der Fächer zusammen.

Wie kann bei einer solchen – historisch immanenten – Multidiszplinarität der Architekturtheorie überhaupt ein Blick von außen auf sie geworfen werden? Sind nicht gerade jene Disziplinen, die ebenfalls gehaltvoll von Architektur handeln, je schon auch Bestandteil der Architekturtheorie gewesen? Diesem Problem möchte ich mich mit einer historischen Untersuchung nähern, die sich mit der Bildung der Städtebautheorie und insbesondere der Städtebaugeschichtsschreibung im frühen 20.
Jahrhundert beschäftigt. Dabei lässt sich zeigen, dass dieses neue Fach aus der Zusammenarbeit von Experten unterschiedlicher Disziplinen entstand, dass sozusagen eine problembezogene Multidisziplinarität zu einer neuen Disziplin führte. Die Trennung von "Außen" und "Innen" erscheint dabei kaum möglich, führte doch erst die Bündelung zahlreicher "Außenperspektiven" zu einer Bestimmung dessen, was die Disziplin "innen" zusammenhält.



Städtebaugeschichte als Teil der Kunstgeschichte? Das Beispiel Brinckmann


Die Entstehung der modernen Städtebautheorie kann als ein multidisziplinärer diskursiver Prozess beschrieben werden, an dem Vertreter vieler Fächer teilnahmen, um eine Wissenschaft des Städtebaus zu begründen. Dazu zählten Ingenieure wie Ildefonso Cerdà, Architekten wie Hendrik Petrus Berlage oder Daniel Hudson Burnham, Ökonomen wie Rudolf Eberstadt oder Werner Hegemann, Soziologen wie Max Weber oder Robert Park, Philosophen wie Georg Simmel, Politikwissenschaftler wie Frederic Howe, Naturwissenschaftler wie Patrick Geddes, Historiker wie Marcel Poëte, Kunsthistoriker wie Albert Erich Brinckmann und Kunstkritiker wie Karl Scheffler – um nur die allerwichtigsten zu nennen. Angesichts dieser Lage kann man ohne Übertreibung von einer Geburt des modernen Urbanismus aus dem Geist der Multidisziplinarität sprechen.
[2]

Wie sieht dies mit dem speziellen Gebiet der Städtebaugeschichte, oder genauer: der Städtebaugeschichtsschreibung aus?
[3] Auf den ersten Blick erscheint diese als ein typisch disziplinäres Produkt des seinerseits noch jungen Faches Kunstgeschichte. 1920 publizierte der Kunsthistoriker Albert Erich Brinckmann die erste umfassende Geschichte des Städtebaus unter dem Titel Stadtbaukunst. Geschichtliche Querschnitte und neuzeitliche Ziele. Darin bestimmte er Städtebau vor allem als Formproblem: "Baumasse und Räume in Beziehung zu setzen und aus einander zu entwickeln, das ist das Programm künstlerischen Stadtbaus."[4] Als Schüler Heinrich Woelfflins hatte er schon 1908 in seinem Buch Platz und Monument festgestellt: "Städte bauen heißt: mit dem plastischen Hausmaterial Gruppen und Räume gestalten!"[5]

Dürfen wir nun von ihm einen streng formalistisch-kunsthistorischen Zugang erwarten? Keineswegs! Schon im ersten Satz seiner Stadtbaukunst beschreibt Brinckmann die multidisziplinäre Natur seines Gegenstands: Er erwähnt "die sozialen und ökonomischen Bedingungen der städtischen Entwicklung", denen er nun eine "Formgeschichte der Städte" zur Seite stellen wolle.
[6] Seine gesamte Darstellung der Städtebaugeschichte ist durch die Auffassung gekennzeichnet, dass die Stadtform nicht autonom, sondern von verschiedenen Faktoren beeinflusst sei. So beschreibt er etwa das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren am Beispiel des zeitgenössischen Städtebaus: "Wohnungswesen, Industrie, Handel und Verkehr machen Ansprüche, die Stadt selbst als Ganzes hat bestimmte Lebensgewohneiten und künstlerische Traditionen. Die einzelnen Forderungen müssen gegeneinander ausgewogen werden."[7] Er vertritt also weder ein Konzept formaler Autonomie noch eines der Reduktion auf außerkünstlerische Faktoren, sondern fordert ein Abwägen diverser Aspekte wie Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Technik und auch Kunst.

So wie Brinckmann auf diese Weise andere Disziplinen in seine Städtebaugeschichte mit einbezog, so dachte er
auch, die Grenze zwischen Theorie und Praxis, oder genauer: zwischen historischer Forschung und zeitgenössischem Entwurf zu überschreiten. Denn er hatte seine historische Untersuchung "in der Absicht geschrieben, das gegenwärtige künstlerische Denken anzuregen."
[8] Tatsächlich war Brinckmann nicht allein ein aktiver Streiter im urbanistischen Tagesgeschäft wie etwa dem Wettbewerb Groß-Berlin von 1908-1910, sondern seinerseits in seinen Auffassungen stark von entwerfenden Architekten geprägt. Auch wenn er Camillo Sittes Bestrebungen fälschlicherweise als "romantisch" und "mittelalterlich" abtat, so war sein Interesse an Plätzen doch vor allem durch Sittes Pamphlet Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von 1889 geprägt. Mehr noch: dass er in seinem Buch über Plätze das "Gefühl für Raum und Raumwirkung" als das entscheidende Kriterium für gelungene Platzanlagen anführte, war eine direkte Wiederholung von Sittes Programm.[9] Die erste umfassende Städtebaugeschichte eines Kunsthistorikers ist also alles andere disziplinär-introvertiert: Sie steht ebenso in einem engen Verhältnis zur Praxis wie sie andere Fächer mit einbezieht.

Im Folgenden möchte ich zeigen, wie die Städtebaugeschichtsschreibung vor Brinckmann im Rahmen der praktischen Planungsliteratur entsta
nd – und nicht innerhalb einer historischen Disziplin wie der Kunstgeschichte.


Vor Brinckmann: Städtebaugeschichte als Teil der Planungsliteratur

Die ersten generellen Darstellungen der Städtebaugeschichte waren nicht als Monographien, sondern als Kapitel in Werken der zeitgenössischen Planungsliteratur erschienen. Geschichte war hier nicht nur unmittelbar mit der Praxis verknüpft, sondern von unterschiedlichen Fachleuten wie Architekten, Ökonomen, Naturwissenschaftlern oder Historikern dargestellt worden.

So ließen etwa Daniel Hudson Burnham und Edward Herbert Bennett ihren Plan of Chicago (1909) mit einem zwanzigseitigen Kapitel über die Geschichte des Städtebaus beginnen. Unter dem Titel "City Planning in Ancient and Modern Times" präsentierten sie eine großzügig illustrierte umfassende Stadtplanungsgeschichte von Mesopotamien bis zu den zeitgenössischen USA. Dieses seinerzeit auflagenstärkste Planungsdokument war selbst ein Produkt interdisziplinärer Zusammenarbeit: Während Burnham und Bennett ausgebildete Architekten waren, arbeitete Charles Moore, der den Text des Bandes verfasst hatte, als Journalist und Politiker. Darüber hinaus war auch die Stadtgeschichte nicht als autonome Formgeschichte aufgefasst, sondern als Resultat unterschiedlicher Faktoren verstanden. Die Autoren legten ein besonderes Augenmerk auf die Ökonomie und meinten, dass "commerce a leading motive in city building" sei
[10] kein Wunder, war ihr Plan doch vom Chicago Commercial Club speziell als Wirtschaftsförderungsmaßnahme in Auftrag gegeben worden. Doch auch weitere Faktoren wie Religion, Politik oder Gesetzgebung spielten im Text eine entscheidende Rolle.

Im selben Jahr erschien in Deutschland das von dem Volkswirtschaftler Rudolf Eberstadt verfasste Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage. Dieses enthielt eine noch ausführlichere Geschichte des Städtebaus: Über 50 Seiten schilderte der Autor gleich zu Beginn des Bandes "Die Entwicklung der
städtischen Bauweise: Altertum, Mittelalter, Periode der landesfürstlichen Bautätigkeit, Gegenwart".
[11] Auch Eberstadt pflegte einen multidisziplinären Zugriff auf sein Thema und erklärte diesen gleich im Vorwort: "Die Zweige der Wissenschaft, die in Betracht kamen, sind Verwaltungslehre, Technik und Volkswirtschaft".[12] Das Einbeziehen dieser Disziplinen ergab sich für ihn aus der multidisziplinären Natur seines Gegenstandes. So sei das besondere am Städtebau vor allem die innige Verknüpfung verschiedener Faktoren: "Das Wohnungswesen zeigt, in größerem Umfang vielleicht als irgend ein anderer Teil unseres Kulturlebens, den Grundzug, daß jeder einzelne Vorgang seine Wirkungen vervielfältigt und auf fremde Gebiete überträgt. Die Einrichtungen, die der Jurist schafft, sind bestimmend für das Werk des Technikers. Die Maßnahmen des Technikers wiederum haben in hervorragender Weise volkswirtschaftliche Bedeutung. Die Ergebnisse der Bodenparzellierung, der Bauweise, der Besitzverteilung greifen auf das tiefste in die Gestaltung der politischen Verhältnisse ein."[13] Gesetzgebung, Technik, Wirtschaft und Politik bestimmten sich im Städtebau wechselseitig und bedürfen als spezielle Gebiete eine besondere Beachtung.

Dass Eberstadt als Volkswirtschaftler die ökonomischen und politischen Aspekte betonte, überrascht wenig. Dennoch reduzierte er selbst als Ökonom die Stadt nicht auf diese Faktoren, sondern räumte auch der Stadtform, den "künstlerischen" Fragen, einen eigenen Stellenwert ein: "Gewiß stehen für unsere Untersuchungen die volkswirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Gesichtspunkte an erster Stelle; indes die künstlerischen Forderungen fallen mit unseren Zielen vollständig zusammen und können nur gleichzeitig und gemeinsam mit diesen verwirklicht werden."
[14] Dieses nicht-reduktive Verständnis des Städtebaus – die Beachtung ästhetischer Aspekte neben anderen Aspekten – war typisch für den frühen modernen Urbanismus, bevor funktionalistische, technizistische oder ausschließlich soziologische Konzepte die Oberhand gewannen und die Stadtform aus anderen Faktoren abzuleiten versuchten.

Ganz ähnlich sah dies Werner Hegemann, ebenfalls als Ökonom ausgebildet und dann als Stadtplaner tätig, zwischen Deutschland und den USA pendelnd. Der von ihm herausgegebene zweibändige Katalog der großen Berliner Städtebauausstellung von 1910, auf der vor allem die Pläne des Wettbewerbs Groß-Berlin gezeigt worde
n waren, umfasste ebenfalls ausführliche historische Beiträge. Die erste Hälfte des ersten Bandes war einer historischen Übersicht des Städtebaus und einer ausführlichen Planungsgeschichte Berlins gewidmet. Auch Hegemann betonte den Zusammenhang wirtschaftlicher, technischer und künstlerischer Aspekte, wenn es um gelungene Stadtplanung ging: "Dabei darf jedoch die technische und wirtschaftliche Überwindung von der künstlerischen zeitlich nicht getrennt werden, um beide muss gleichzeitig gerungen werden."
[15] Nur ein multidisziplinärer Zugriff, der ebenfalls die Kunst mit einbezog, könne die aktuellen Probleme der Großstädte lösen.

Ein weiteres Medium, in d
em Städtebaugeschichte im Rahmen aktueller Stadtplanung präsentiert wurde, war die Städtebauausstellung. Den umfassendsten Zugriff lieferte hier zweifellos der Biologe Patrick Geddes in seiner Cities and Town Planning Exhibition, die er erstmals 1911 in Chelsea, London, zeigte. Hier war – neben aktuellen Plänen und einem ausführlichen Survey von Edinburgh – die gesamte Städtebaugeschichte in chronologischer Folge als folgerichtige Entwicklung dargestellt, nach dem organisch-religiösen Schema von "origin, growth, decay, revivance" geordnet. Die Gegenwart hatte dabei Geddes in die "present separate contributions of professions & specialisms" aufgeteilt.
Diese bestanden in "ethics & religion, economics & politics, education, medicine, hygiene, horticulture etc., architecture and arts & crafts, engineering, surveying etc.".[16] Diese in der Gegenwart getrennten Disziplinen sollten dann in der Zukunft zu einem Verständnis der "city as organic unity" zusammengeführt werden. Interdisziplinarität, sogar Transdisziplinarität, ist hier das explizite Programm des städtebautreibenden Naturwissenschaftlers.

Die umfassendste Darstellung der Städtebaugeschichte in einem Planungsbericht erschien in dem monumentalen zweibändigen Werk zum World Centre of Communication 1913-1918.
[17] Dieses von dem in Rom ansässigen amerikanischen Bildhauer norwegischer Abstammung Hendrik Christian Andersen initiierte Projekt einer internationalen Stadt zur Beförderung des wissenschaftlichen Austausches, des Fortschritts und des Friedens war selbst ein multidisziplinäres Unternehmen. Für den Entwurf der Stadt hatte Andersen den französischen Architekten Ernest Hébrard gewonnen, die juristischen Aspekte beleuchtete der italienische Rechtsphilosoph Umano, die wirtschaftlichen Vorteile untersuchte der Ökonom Jeremiah W. Jenks – und der französische Archäologe und Historiker Gabriel Leroux präsentierte auf nicht weniger als 130 Seiten zu Beginn des ersten Bandes "The Great Monumental Conceptions of the Past" von den Städten Mesopotamiens bis zur Planung von Washington 1902. Fachleute also behandelten die historischen, architektonischen, juristischen und ökonomischen Aspekte dieser Idealstadt, die unter der Schirmherrschaft der Kunst konzipiert wurde.

Dies alles waren Beispiele allgemeiner Städtebaugeschichten, die im Rahmen von aktuellen Planungen entstanden und präsentiert worden waren, geschrieben von Experten unterschiedlichster Disziplinen – bevor schließlich 1920 mit Brinckmanns Stadtbaukunst die erste kunsthistorische Darstellung als Monographie erschien. Auch diese zeichnete sich – wie wir gesehen hatten – durch die Berücksichtigung diverser Einflussfaktoren auf die Stadtform aus, und im folgenden möchte ich zeigen, wie auch die nachfolgenden allgemeinen Städtebaugeschichten dieses multidisziplinäre Verständnis beibehielten, auch wenn sie sich auf die Entwicklung der Stadtform konzentrierten.


Nach Brinckmann: Generelle Städtebaugeschichten und ihr multidisziplinäres Selbstverständnis

Im Jahr 1926 öffnete der Philosoph und Kunsthistoriker Pierre Lavedan "un nouveau chapitre de l’histoire générale de l’art: l’histoire de l’architecture urbaine", wie er es in seinem Band Qu’est-ce que l’urbanisme? formulierte.
[18] Im selben Jahr erschien ebenfalls der erste Band seiner Histoire de l’urbanisme, der ersten mehrbändigen Städtebaugeschichte, die über Jahrzehnte als Standardwerk dienen sollte.[19] Auch wenn Lavedan hier die Stadtarchitektur und den Urbanismus als neues Thema der Kunstgeschichte apostrophierte und die "étude des apparences matérielles" als eigentlichen Fokus beschrieb,[20] so bedeutete dies keineswegs, dass er sie als autonome Formprodukte deutete. Seine Interpretationen historischer Städte bezogen im Gegenteil eine Vielfalt relevanter Aspekte wie Geographie, Soziologie, Ökonomie oder Politik mit ein, wie auch seine Lehre zwischen der Ausbildung von Historikern und Entwerfern pendelte. Dabei reduzierte er die Form nicht auf andere Faktoren, sondern forderte im Sinne des embellissement, sie mit diesen in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen: "les ville ne devaient donc pas seulement être saines et commodes, mais belles".[21]

Umfassend – entsprechend seinem Beruf als Archivar, Bibliothekar und Historiker – behandelte 1929 Marcel Poëte den Städtebau in seiner Introduction à l'urbanisme. Schon zuvor hatte er eine monumentale Stadtgeschichte von Paris verfasst,
[22] doch erst mit diesem Buch plante er auch eine systematische Darstellung und generelle Städtebaugeschichte, die allerdings nicht über die Antike hinausgelangte. Der Städtebau sei gleichzeitig Kunst und Wissenschaft, "l'Urbanisme, à la fois science et art", und umfasse "disciplines diverses: économique, géographique, historique et autres."[23] Diese verschiedenen Fächer entsprächen den verschiedenen Aspekten des Städtebaus, "aux données historiques il faut joindre les données géographiques, géologiques et économiques." Alle Aspekte seien zudem eng miteinander verknüpft: "les traits économique servent à expliquer les traits sociaux, de même qu'à ces derniers sont liés les traits politiques ou administratifs."[24] Am Beispiel des klassischen Athen erläuterte er eindrücklich, wie ein Faktor innig mit dem anderen zusammenhänge: "Il y a un lien étroit entre la découverte de nouveaux filons argentifères au Laurion, vers 484 avant Jésus-Christ (fait économique), la construction, grâce aux nouvelles ressources de ces mines, de la flotte par laquelle Athènes est entrée dans la phase maritime des son existence (fait organique d'évolution), la victoire navale de Salamine, en 480 (fait historique), l'expansion commerciale et l'esprit de conquête de la même cité (faits d'ordre économique et politique), l'essor de la démocratie athénienne (fait politique), enfin la merveilleuse floraison d'art de la seconde moitié de ce même ve siècle (fait d'ordre immatériel)."[25] Das umfassende und angemessene Verständnis einer Stadt konnte für Poëte nur gewonnen werden, wenn – wie in diesem Beispiel – ökonomische, organische, politische, historische und immaterielle Faktoren gleichzeitig berücksichtigt wurden.

Explizit eine Formgeschichte der Stadt legte der Architekt und Kunsthistoriker Paul Zucker 1929 mit seinem Band Entwicklung des Stadtbildes. Die Stadt als Form vor. Oft genug schon seien "die Voraussetzungen des Stadtwerdens in sozialer, ökonomischer, wohnungspolitischer und verkehrstechnischer Hinsicht analysiert worden", bemerkte er in der Einleitung. Dem wolle er nun die "Behandlung und Analyse der formalen Erscheinung der gewordenen Stadt" zur Seite stellen.
[26] Doch auch seine Formgeschichte der Stadt schloss andere Faktoren keineswegs aus. Im Gegenteil konstatierte er ausdrücklich, dass ein angemessenes Verständnis der Stadt nur in der Zusammensicht der Faktoren zu gewinnen sei: "So wird jede Betrachtung des Stadtorganismus immer von einer zweifachen Sicht ausgehen müssen: einmal von der ästhetischen Auffassung der Stadt als des einmaligen gestalteten Kunstwerkes, das mit der nur ihm eigenen inneren Gesetzlichkeit im Raume steht, und daneben von der biologischen Anschauung, welche die Stadt als einen lebendigen, sich ständig fortentwickelnden Organismus ansieht, der, sozialen, hygienischen, ökonomischen und technischen Gesetzen unterworfen, als solcher in der Zeit steht."[27] Selbst eine Betrachtung der Stadtform ließ sich für Zucker nur sinnvoll leisten, wenn auch soziale, hygienische, ökonomische und technische Aspekte beachtet wurden.

Den breitesten Zugang zur Städtebaugeschichte wies schließlich 1938 Lewis Mumfords The Culture of Cities auf. Für Mumford – Schriftsteller und in der Breite seiner Themen ein Generalist par excellence, zudem Schüler des Universalisten Patrick Geddes – war die Stadt Ausdruck aller nur erdenklichen menschlichen Tätigkeiten. In der Einleitung schrieb er: "The city, as one finds it in history, is the point of maximum concentration for the power and culture of a community. It is the place where the diffused rays of many separate beams of life fall into focus."[28] Entsprechend dieser integrativen Definition der Stadt, die alle unterschiedlichen Aspekte und Disziplinen mit einschloss, berücksichtigte er in seiner Erzählung der Städtebaugeschichte eine große Breite unterschiedlicher Faktoren. Dies hieß wiederum nicht, dass er die eigentliche Formgeschichte vernachlässigte. Im Gegenteil: Tafeln mit eindrücklichen Stadtbildern und den entsprechenden Erläuterungen zur Stadtform bilden das eigentliche Rückgrat seines Werkes – eine Anordnung, die er in seinem Opus Magnum The City in History 1961 beibehalten sollte.[29]


Schluss


Städtebaugeschichte war demnach weder als disziplinäres Projekt der Kunstgeschichte entstanden, noch wurde sie jemals als autonome Formgeschichte betrieben. Ihre Anfänge lagen in der Städtebaupraxis, bevor eigenständige historische Monographien erschienen. Sie wurde von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen wie Architekten, Ökonomen, Historikern, Naturwissenschaftlern und Journalisten verfasst – und schließlich auch von Kunsthistorikern. Und selbst als Formgeschichte vernachlässigte sie nicht die Beachtung anderer relevanter Faktoren. Wie die Städtebautheorie entstand die Städtebaugeschichte im frühen 20. Jahrhundert als ein multidisziplinäres Projekt.

Vor diesem Hintergrund erscheint es erstaunlich, wie überhaupt der Vorwurf einer formautonomen Betrachtungsweise entstehen konnte, wie er heute immer noch gerne Kunsthistorikern und Architekten von Soziologen, Ökonomen oder Politikwissenschaftlern gemacht wird, wenn es um die Deutung der Stadt als gebauter Umwelt geht. Tatsächlich wird nicht selten in diesen Fächern die Relevanz der gebauten Form ignoriert oder unterschätzt, obwohl doch ein Auseinanderdividieren der verschiedenen Aspekte dem komplexen Sachverhalt der Stadt gänzlich unangemessen ist, wie es die Theorie und Geschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts dargelegt hat.

Viel eher ließe sich zeigen, wie im Zuge der Avantgarden des 20. Jahrhunderts die Beachtung formaler Aspekte im Städtebau zunehmend an Bedeutung verlor und entwerferische Prozesse oftmals eindimensional auf soziale, ökonomische oder technische Faktoren reduziert wurden – je nach Provenienz und Vorliebe der Autoren.
Diese Entwicklung kündigte sich schon zu Beginn der 1920er Jahre an, als Hegemann und Peets in ihrem American Vitruvius kritisch bemerkten: "Indeed, the authors feel that the young profession of city planning is drifting too strongly in the directions of engineering and applied sociology."[30] Um dem entgegenzuwirken, legte Hegemann als Ökonom (!) den Schwerpunkt seines historischen Atlasses auf die architektonische Form der Stadt: Hier galt es, unabhängig von persönlicher Vorbildung die dem Gegenstand angemessene Balance der Betrachtungsweisen zu wahren.

Anders wurde dies jedoch von den Vertretern der unterschiedlichen Avantgardebewegungen gehandhabt, die gerne die Stadt auf wenige Faktoren, wenn möglich gar nur einen Faktor, reduzierten, was die Griffigkeit ihrer Theorien erhöhte. Dies war allerdings kein notwendiger Zeitgeist, sondern wurde von aufmerksamen Zeitgenossen hellsichtig erfasst und kritisiert. Als Beispiel sei hier die scharfzüngige Besprechung von Le Corbusiers The City of Tomorrow von 1929 durch den englischen Architekten und Architekturtheoretiker A. Trystan Edwards gegeben.
Der Kernpunkt seiner Kritik lag in der reduktionistischen Stadtauffassung Le Corbusiers: "It is much too easy to design ideal or Utopian cities if the artist concentrates upon two or three of the factors to be considered and rejects all others."[31] Und weiter: "The real effect of M. Le Corbusier's proposals is an over-simplification of the city [...]. M. Le Corbusier's solution is to do away with the complexity. This complexity, however, is part of the subject of civic design. The modern great city is like a large orchestra which often plays an inferior piece of music, and in which the instruments themselves may occasionally even be out of tune. It is the business of a reformer to improve the music and the instruments, but not to cut down the range of the orchestra, nor the number of musical effects that are aimed at by it. M. Le Corbusier has not the patience to attempt this, but substitutes for this orchestra a single tin whistle with about five notes, with which he plays a perfectly rhythmical tune. But it is not enough."[32] So wenig wie mit einer Blechpfeife eine Symphonie von Elgar aufgeführt werden kann, so wenig eignet sich das reduzierte Instrumentarium zum angemessenen Verständnis des komplexen Phänomens der Stadt.

Es war diese Art des reduktionistischen Städtebauverständnisses (und weniger die Frage von Neu und Alt bzw. Moderne und Tradition), die in der Folge der Charta von Athen zu den Verfehlungen der so genannten funktionalistischen Stadtplanung führte. Nicht die autonome Konzeption der Form hat im 20. Jahrhundert die größten städtebaulichen Probleme bereitet, sondern das reduktionistische Verständnis der Stadt als soziales, ökonomisches oder technisches Phänomen unter Ausschluss der eigenständigen Rolle der formalen Aspekte. Hier kann die Untersuchung der frühen modernen Städtebautheorie und Städtebaugeschichte erhellende Einsichten zeitigen, bildet sie doch einen multidisziplinären Höhepunkt zwischen dem oftmals ingenieurstechnisch bestimmten Städtebau des 19.
Jahrhunderts und dem oftmals funktionalistischen Städtebau des späteren 20. Jahrhunderts. Ihre Autoren versuchten nicht, die Stadtform auf wenige Faktoren zu reduzieren, sondern den unterschiedlichen Aspekten der Stadt durch eine reichhaltige nicht-reduktive Theorie gerecht zu werden. Exemplarisch hatte dies Paul Wolf in seinem Städtebau 1919 verdichtet: "Stadtbau aber ist ein Produkt, bestehend aus den Einzelfaktoren: Volkswirtschaft, Technik, Hygiene, Verwaltung und Kunst. Die Kunst ist der sichtbare Ausdruck des Ganzen. Das höchste Ziel der Kunst ist Monumentalität; im monumentalen Bauwerk, in der Monumentalstadt erreicht die Kultur ihren höchsten Punkt." [33] Nur eine multidisziplinär konzipierte Stadtbaukunst, die das Ziel der Form nicht aus den Augen verliere, könne zu einem kulturellen Gipfel führen.

Erst die "Blicke von außen" konstituierten in der Städtebautheorie und der Städtebaugeschichte das "Innere" des Faches; erst der multidisziplinäre Zugang definierte die Disziplin. Diese verlor sich jedoch nicht in transdisziplinärer Beliebigkeit, sondern fokussierte – ohne die vielfältigen Faktoren zu vernachlässigen – auf das für die Städtebauer und Städtebauhistoriker zentrale Problem: die Interpretation und Bestimmung der gebauten Form der Stadt.
 


 

[1] Vitruv: De architectura libri decem, Buch 1, Kapitel 1. Dieser Artikel entwickelte sich aus einem Beitrag zur vom Autor konzipierten Sektion "Urban Design History as an Interdisciplinary Field: Working across Boundaries in the Formative Years 1890-1940" des gemeinsam vom INHA und der SAH veranstalteten Kongresses "Changing Boundaries: Architectural History in Transition" im September 2005 in Paris, zu der ebenfalls Gabriele Barman-Krämer, Christiane Crasemann Collins, Diana Periton, Ulrich Maximilian Schumann, Nancy Stieber und Iain Boyd Whyte beitrugen.

[2] Vgl. Sonne, Wolfgang: "'The entire city shall be planned as a Work of Art.' Städtebau als Kunst im frühen modernen Urbanismus 1890 – 1920", in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 66, Nr. 2, 2003, S. 207-236; Sonne, Wolfgang: Representing the State. Capital City Planning in the Early Twentieth Century, München, London und New York 2003, S. 44-49.

[3] Vgl. Hebbert, Michael, Sonne, Wolfgang: "'History Builds the Town.' On the Uses of History in Twentieth Century City Planning", in: Monclus, Xavier, Guardia, Manuel (Hg.), Culture, Urbanism and Planning, London 2006 (im Druck).

[4] Brinckmann, Albert Erich: Stadtbaukunst. Geschichtliche Querschnitte und neuzeitliche Ziele, Berlin 1920, S. 134.

[5] Brinckmann, Albert Erich: Platz und Monument. Untersuchungen zur Geschichte und Ästhetik der Stadtbaukunst in neuerer Zeit, Berlin 1908, 19122, 19233, S. 209. Vgl. Brinckmann, Albert Erich: Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit, Frankfurt 1911.

[6] Brinckmann, Albert Erich: Stadtbaukunst. Geschichtliche Querschnitte und neuzeitliche Ziele, Berlin 1920, Vorwort.

[7] Ebd., S. 119.

[8] Ebd., S. 107.

[9] Brinckmann, Albert Erich: Platz und Monument, Berlin 1908, 3. Auflage 1923, S. 190.

[10] Burnham, Daniel Hudson, Bennett, Edward Herbert: Plan of Chicago, Chicago 1909, S. 9.

[11] Eberstadt, Rudolf: Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage, Jena 1909, Inhaltsverzeichnis.

[12] Ebd., S. III.

[13] Ebd., S. III.

[14] Ebd., S. 172.

[15] Hegemann, Werner: Der Städtebau nach den Ergebnissen der allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin nebst einem Anhang: Die internationale Städtebau-Ausstellung in Düsseldorf, Bd. 1, Berlin 1911, S. 129.

[16] Plan der Ausstellung mit Geddes' Beschriftungen, in: Welter, Volker M.: Biopolis. Patrick Geddes and the City of Life, Cambridge und London 2002, S. 126.

[17] Andersen, Hendrik Christian, Hébrard, Ernest M.: Creation of a World Centre of Communication, Paris 1913 (französische Ausgabe: Création d'un centre mondial de communication, Paris 1913). Andersen, Hendrik Christian, Cushing Andersen, Olivia: Creation of a World Centre of Communication. Legal Argument, Economic Advantage, Rom 1918 (französische Ausgabe: Création d'un centre mondial de communication. Science positive du gouvernement, les avantages économique, Rome 1918).

[18] Lavedan, Pierre: Qu’est-ce que l’urbanisme? Introduction à l’histoire de l’urbanisme, Paris 1926, Vorwort.

[19] Lavedan, Pierre: Histoire de l’urbanisme, Bd. 1: Antiquité-Moyen Âge, Paris 1926, Bd. 2: Renaissance et temps moderne, Paris 1941, Bd. 3: Epoque contemporaine, Paris 1952.

[20] Lavedan, Pierre: Histoire de l’urbanisme. Antiquité-Moyen Âge, Paris 1926, S. 2.

[21] Lavedan, Pierre: Histoire de l’urbanisme. Renaissance et temps moderne, Paris 1941, S. 6.

[22] Préfecture du Département de la Seine, Commission d'Extension de Paris: Aperçu historique, Paris 1913 (Text von Marcel Poëte); Poëte, Marcel: Une vie de cité. Paris de sa naissance à nos jours, 4 Bde., Paris 1924-31.

[23] Poëte, Marcel: Introduction à l'urbanisme. L'évolution des villes, Paris 1929, S. 1.

[24] Ebd., S. 3.

[25] Ebd., S. 12-13.

[26] Zucker, Paul: Entwicklung des Stadtbildes. Die Stadt als Form, München, Berlin 1929, S. 7.

[27] Ebd., S. 11.

[28] Mumford, Lewis: The Culture of Cities, New York 1938, S. 3.

[29] Mumford, Lewis: The City in History. Its Origins, Its Transformations, and Its Prospects, London 1961.

[30] Hegemann, Werner, Peets, Elbert: The American Vitruvius. An Architects' Handbook of Civic Art, New York 1922, p. 4; vgl. Sonne, Wolfgang: "Bilder, Geschichte und Architektur. Drei wesentliche Bestandteile der Städtebautheorie in Werner Hegemanns und Elbert Peets' American Vitruvius", in: Scholion. Bulletin der Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, Nr. 2, 2002, S. 122-133.

[31] Edwards, A. Trystan: "The Dead City", in: The Architectural Review, Bd. 66, 1929, S. 135-138, Zitat S. 137.

[32] Ebd., S. 138.

[33] Wolf, Paul: Städtebau. Das Formproblem der Stadt in Vergangenheit und Zukunft, Leipzig 1919, S. 4.

 

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