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Die Architekturvermittlung für die Öffentlichkeit
Die Architekturvermittlung für die Öffentlichkeit erscheint uns zunächst als
ein einfaches Unterfangen: Der Gegenstand des Interesses ist schließlich
sichtbar. Doch im Gegensatz zum „normalen“ Bauen erklärt sich die
zeitgenössische Architektur nicht von selbst. Wir sehen zwar das, was gebaut
wird, aber wir können vom Sichtbaren nicht ohne weiteres auf die Erklärung
schließen. Das ist verwunderlich: Architektur handelt doch von solchen
Selbstverständlichkeiten wie Zimmern, Häusern, Straßen und Städten, und –
noch grundsätzlicher – von Schwerkraft, vom Wetterschutz, sowie von Licht,
Farbe und Material. Unser Leben besteht im Erfahren dieser
Grundsätzlichkeiten. Wieso aber wirkt die zeitgenössische Architektur wie
ein Spezialgebiet, das nur Eingeweihten erklärlich zu sein scheint?
Spezialgebiet hin und her – wir bekommen laufend Architektur vermittelt.
Tageszeitungen kommentieren die so genannte Stararchitektur der Gegenwart.[1]
Kino und Fernsehen trainieren uns im Wahrnehmen von visuellen Mustern.[2]
Der bürgerliche Bildungsimperativ[3]
bringt uns wie nie zuvor dazu, unsere freie Zeit zum Reisen zu verwenden und
uns von mehr oder weniger dafür ausgebildeten Reiseführern alle
architektonischen Attraktionen – oder das, was dafür gehalten wird -
erklären zu lassen. Doch wird uns dabei Architektur erklärt oder nur mit
Jahreszahlen zur Baugeschichte und mit Episoden zu historischen
Persönlichkeiten kommentiert?
Zwei Beispiele sollen die Mehrdeutigkeit des Erklärens und des Kommentierens
veranschaulichen: Eine Führung durch das nach der deutschen
Wiedervereinigung zum Deutschen Bundestag umgebaute ehemalige
Reichstagsgebäude in Berlin, sowie eine Tour durch das barocke „Grüne
Gewölbe“ in Dresden. – Hilft uns das faktische Wissen zur Geschichte des
ehemaligen Reichstagsgebäudes beim Verstehen des „Warum“ der kreisförmigen
Sitzanordnung des Bundestages und seiner neuen Glaskuppel mit der
spiralförmigen Besucherrampe? – Natürlich wird uns der Besucherdienst des
Reichstages die parlamentarische Sitzanordnung erklären. Nur was hat die mit
dem Ort zu tun, dem Berliner Reichstag? – Nichts. Ursprünglich wies der
Plenarsaal eine halbkreisförmige Sitzanordnung auf.[4]
Der Kreis entstand als Ergebnis einer langen parlamentarischen Debatte zur
demokratischen Sitzkultur beim Neubau des Deutschen Bundestages in Bonn von
1972 bis 1992 und der politischen Entscheidung, das Deutsche Parlament nach
Berlin zu verlegen.[5]
Die heute so prominent in Erscheinung tretende Glaskuppel auf dem ehemaligen
Reichstagsgebäude ist das Ergebnis einer Überarbeitung: Der
Wettbewerbsbeitrag der Architekten Foster + Partners sah ein alles
überspannendes Kissendach auf Stützen vor.
Ebenso wenig hilft uns zum Beispiel die Kenntnis des Lebenswandels und der
Sammlerlust von August dem Starken beim Verstehen seines „Grünen Gewölbes“,
das von 1723 bis 1730 als barockes Gesamtkunstwerk eingerichtet wurde.[6]
Was hat das episodische Wissen zu August dem Starken mit der Architektur des
Barock zu tun, die vor unseren Augen steht? Natürlich bedingten sich die
Lebensart und die Architektur des Barock. Im vorsichtigen Umkehrschluss
jedoch bedarf es keines barocken Gewölbes zum Ausleben der sprichwörtlich
gewordenen barocken Lebenslust. Feste können durch alle Baustile tanzen, wie
uns jeder Fasching gern vor Augen führt. Doch Ironie beiseite: Was haben wir
beim Besichtigen des „Grünen Gewölbes“ über das „Grüne Gewölbe“ gelernt?
Wenig. War denn die Rede von wunderbaren barocken Raumprinzipien wie den
raffinierten (und eben nicht offensichtlichen) Axialitäten? Ist die
Museumsführung auf das maßgebliche barocke Prinzip vom „Raum-im-Raum“
eingegangen? Zwar dürfte ein Hinweis auf die großflächigen Verspiegelungen
gefallen sein. Doch kann ein Tourist aus diesem Einzelhinweis das dahinter
stehende und viel weiter reichende barocke Prinzip des Illusionismus beim
Verstärken von Raumwirkungen ableiten? Hier mag man einwerfen, dass das
fundamentale Wissen zu den Prinzipien des Barock vorausgesetzt werden darf.
Auch könnte man sich das Wissen im Anschluss an das Erleben des „Grünen
Gewölbes“ anlesen.
Das Unterscheiden zwischen dem Sichtbaren, dem oftmals paradoxen Beschreiben
des Sichtbaren („das sehe ich doch selbst“) und dem Kommentieren lässt nach
dem Leistungsvermögen unserer Wortsprache beim Beschreiben von „Raum’“
fragen. Im Gegensatz zu offenkundigen Personenbeziehungen („du dort, ich
hier“) oder einfachen Verweisen auf Gegenstände („dieses Ding hier“) muss
ein erklärenswerter Raum sowohl erfahren als auch in räumliche Ausdrücke
umgesetzt werden. Man kann nur das beschreiben, was man einerseits erlebt
hat und was man andererseits – und von der räumlichen Erfahrung durchaus
unabhängig – sprachlich vermitteln kann. Um zudem in einem Gespräch etwas
transportieren zu können, haben Sprecher und Zuhörer über zumindest ähnliche
Raumvorstellungen zu verfügen. Sie sollten zudem die Bedeutung der
verwendeten Ausdrücke und die mit dem Gebrauch verbundenen Regeln des
Zusammenfügens kennen und auch in der Lage sein, die verwendeten Ausdrücke
in vergleichbaren Zusammenhängen ähnlich zu verbinden (Klein, 1990, S. 10).
Die so genannte gemeinsame „Raumreferenz“ von Sprecher und Zuhörer ist die
Voraussetzung zum Vermitteln von Architektur.
Die Herausforderung besteht sowohl in der Komplexität der Argumente (so wie
beim Deutschen Bundestag) als auch im Paradox des Kommentierens von
Wirkungen wie beim „Grünen Gewölbe“. Muss denn etwas, das wie das „Grüne
Gewölbe“ von vornherein auf „Wirkung“ konzipiert wurde, noch erklärt werden?
– Ja! Erst durch das Erklären der den Wirkungen zugrunde liegenden
architektonischen Prinzipien kann aus einer touristischen Ergötzlichkeit
eine architektonische Wertschätzung entwickelt werden, die ein Besucher auf
weitere Erlebnisse übertragen kann. Dieses Selbst-Übertragen ist für uns
heute als einfache stilistische Zuordnung – „ahh - Barock...“ -
selbstverständlich. – Dabei hat erst das enzyklopädische neunzehnte
Jahrhundert die Baugeschichte als bündigen baukonstruktiv-semiotischen Kanon
beschrieben. Architektur wird erst seit einhundert Jahren als Material
betrachtet, das aus verbindlichen Stilen, Zeichen, Formen und Prinzipien
zusammengesetzt ist. So weit, so klar. Bis es zu einer entscheidenden
geschichtlichen Zäsur kommt, dem Bruch des baukonstruktiv-semiotischen
Kanons durch den grundlegenden Paradigmenwechsel der Moderne um 1900.[7]
Galt bisher das Paradigma „wahr oder falsch?“, so stellt sich nun die Frage:
„Ist das Wahre auch neu?“
Der Grundzug der Architektur-Moderne besteht weniger in der oft beschworenen
neuen Stilistik als in der fundamentalen Stilkritik des neunzehnten
Jahrhunderts. So wird verständlich, warum der Architekt Frank Lloyd Wright
vom Zerstören der Schachtel spricht.[8]
Das Haus hatte methodisch in seine Bestandteile zerlegt zu werden, um sodann
neu zusammengefügt werden zu können. Die Architektur wird nun auf eine
prinzipielle, über eine stilistische Änderung hinausgehende Neuigkeit
verpflichtet.[9]
Ein Haus hat nicht länger so auszusehen wie ein Haus auf einer
Kinderzeichnung; dafür aber hat es „neu“ zu sein.
Der Preis für die Freiheit des Spielens liegt nicht nur im Verlust der
ohnehin immer vage gebliebenen semiotischen Verbindlichkeit. Vielmehr geht
auch die allgemeine Raumreferenz verloren, ein bisher kaum besprochener
Prozess. Der Verlust der allgemeinen Raumreferenz findet sowohl sensorisch
in Bezug auf die veränderte Menschenbezüglichkeit (Anthropomorphie) des
modernen Hauses und seine pragmatisch neuen Materialien statt, als auch in
Bezug auf den ersatzlosen Verzicht auf die Dekorationen und Ornamente. Im
Ergebnis werden die gebauten Formen zwar einfach, allgemein und variabel,
aber damit auch in ihrer jeweiligen besonderen Anwendung
erklärungsbedürftig. – Es gibt eben kein allgemeines Haus. Durch das
ungebundene Neukombinieren ist die zeitgenössische Architektur zu einer
Summe von erklärungsbedürftigen Abweichungen geworden. Doch wie
kategorisiert man Abweichungen?
Die Architekturvermittlung im Architekturstudium
Die Ausbildungsszenarien an den deutschen Architekturfakultäten können in
drei wesentliche Ausrichtungen unterteilt werden. Die Fachhochschulen
orientieren sich an der im Bauprozess gefragten Expertise. Die Universitäten
versuchen mit dem ihnen zugrunde liegenden Humboldtschen Bildungsideal die
Baupraxis und die Kunst zu kombinieren. Die Kunstakademien erklären den
avantgardistischen Einzelkünstler zum Vorbild. Zunächst überraschen die
Unterschiedlichkeiten dieser drei Strömungen. Gibt es hier keine gemeinsame,
verpflichtende Kernkompetenz? Sollte es nicht in einem Studiengang, der die
so genannte Berufsberechtigung anstrebt, um klar bestimmbare
Ausbildungsziele wie das Entwerfen-Lernen gehen?
Beim Betrachten des Entwerfen-Lernens wird schnell deutlich, dass das
Entwerfen keine bündige Wissenschaft darstellt. Donald A. Schön beschreibt
das Entwerfen vielmehr als rückbezügliches Handeln im Einzelfall.
Entwerfende, so zitiert Schön einen der Begründer des operativen Forschens,
Russell Ackoff, „do not solve problems: they manage messes.“ (Schön, 1983,
S. 16) Doch was heißt managen? Man probiert, und zwar nicht willkürlich,
sondern fundiert, auf der Basis des eigenen Sach- und Erfahrungswissens. Das
hinter dem fundierten Probehandeln stehende logische Modell hat Charles
Sanders Peirce als rückbezügliches (abduktives) Schließen benannt.[10]
Man folgert von bekannten Effekten und Konsequenzen zurück auf unbekannte
Ursachen und Voraussetzungen. Indem man probiert, kann man nicht nur
herausfinden, ob das, was man probiert hat, funktionieren wird oder nicht.
Das Probieren kann die vorher unbekannten Bedingungen und Voraussetzungen
oft erst erhellen und Auswege aufzeigen. Das abduktive Schließen nimmt dem
Lernen aus Fehlern den Anschein des Unwissenschaftlichen und des
Dilettantischen.[11]
Aus einem nur ableitenden Arbeiten - dem Anwenden einer allgemeinen Regel
auf einen Einzelfall - entsteht nichts grundsätzlich Neues. Auch das
Schließen von einer Menge von Beobachtungen auf eine neue Regel kann in der
Architektur nur von einer allgemeinen, richtungweisenden Bedeutung sein. Man
weiß dann zwar, wie ein Problem in der Regel gelöst wird. Das aber
beantwortet noch nicht die Frage nach dem besonderen, dem vorliegenden
einmaligen Einzelfall. Wie denn nun genau an diesem Ort, für den besonderen
Zweck, für dieses Budget, und für ein nachhaltiges, langlebiges Bauwerk? –
Nun wird verständlich, was die drei verschiedenen Ausbildungsprofile in der
Architektur eint. Fachhochschule, Universität und Kunstakademie
unterscheiden sich nur durch jeweils leicht verschobene Verhältnisse
zwischen dem originellen, experimentellen Entwerfen sowie dem
naturwissenschaftlichen und technischen Wissen.
So sehr das reflexive Praktizieren, das fundierte Probehandeln, die
Tätigkeit des Entwerfens umreißen kann – für das Entwerfen-Lernen bedeutet
die Gleichzeitigkeit von Probieren und Lernen ein bisher wenig besprochenes
Paradox. Die Studierenden der Architektur werden einerseits zum originellen
und experimentellen Entwerfen angeregt, das gerade nicht den klassischen
Wissensdoktrinen gehorchen, sondern „neu“ sein soll.[12]
Andererseits hat dieses neu zu Entwerfende den statischen Berechnungen,
einer baukonstruktiven Sinnfälligkeit und vielen weiteren Konventionen wie
dem Baurecht und dem Brandschutz zu genügen. Genau diese Konventionen können
einem Architekturlaien wie einem Studienanfänger der Architektur zunächst
nicht bekannt sein. Das „sei jetzt mal kreativ!“ beim Entwerfen setzt jedoch
die Kenntnis der Konventionen voraus, die just dabei, beim Entwerfen, auch
schon gebrochen werden sollen. Ohne Kenntnis der Konvention kann das nur
Neue als ein unbefangener Zufallstreffer gewertet werden. Kein Problem, mag
man einwerfen, lehren wir doch beides gleichzeitig. Methodologisch bleibt
der Imperativ des „Brich die dir noch nicht bekannten Regeln!“ ein Paradox
und eine noch zu kommentierende Herausforderung für die Hochschuldidaktik.
Die Architekturvermittlung beim Bauen
Die Architekturvermittlung zwischen den Architekten und den Bauherren beim
Bauen ist auf eine Handlungssituation bezogen. Es wird gebaut, die Bagger
dröhnen, und es sind Entscheidungen zu treffen. Wo liegt hier das
Vermittlungsproblem? Das Vermittlungsziel, das fertige Bauwerk erscheint uns
zunächst klar bestimmbar.[13]
Auch gibt es eine Anleitung für den Weg zum Ziel – den von den Architekten
entwickelten und von den Bauherren gegengezeichneten Entwurf: „Ja, so soll
es werden!“ – Doch was, wenn es beim Bauen stockt und das Architekturkonzept
unter Zeitdruck oder durch steigende Kosten zu wanken beginnt? – Plötzlich
stehen sich eine geisteswissenschaftlich-künstlerisch motivierte
Architekturkonzeption sowie Fristen und Kosten gegenüber. Zwar war der
Entwurf vor Baubeginn in Bezug auf Zeitplan und Kosten berechnet worden.
Doch jetzt, da sich die Ideen gegen ihre Umsetzungen sträuben, ist das
anschauliche Vermitteln der noch nicht zu sehenden Architektur gefragt. Die
Gretchenfrage lautet: Wie viel ist uns das Schönere im Vergleich zum
Billigeren wert? – Doch wie wägt man eine architektonische Idee finanziell
ab? Die Ästhetik der Architektur, das „Wie“ des Schönen, wurde besonders in
den in die Komplexität der Dinge verliebten 1960er Jahren empirisch zu
fassen versucht. Diese Untersuchungen werteten jedoch meist nur
vergleichbare Räume oder Bauformen.[14]
Die finanziellen Mehraufwendungen für einen schöneren Raum, eine semiotisch
reichere Bauform oder eine ökologischere Lösung können nur in Bezug auf
einen Maßstab wie zum Beispiel den Durchschnitt kalkuliert werden. Dabei
bleibt neben den sich laufend ändernden Baukosten sogar die triviale
Gleichsetzung des „Schöneren“ mit dem „Teureren“ unbewiesen.
Kostenüberschreitungen beziehen sich nicht auf die ursprünglichen
Rahmenbedingungen wie den Standort, die Größe des Bauwerkes und seine
Bauweise – diese hätte man in der ursprünglichen Baukostenschätzung erfassen
können – sondern auf die während des Bauens dann doch entstehenden
Mehrkosten und Terminverzögerungen. Unabhängig vom Klären der Schuldfrage
können die Katastrophen nur noch von den im Bauprozess folgenden Gewerken
aufgefangen werden. Die Bauherren befinden sich in einem zweifachen Dilemma:
Einerseits müssen sie auf die außer Kontrolle geratenden Kosten reagieren.
Andererseits bleibt ihnen nicht viel an Verhandlungsmasse. Das Festhalten an
der ursprünglichen architektonischen Qualität droht zu
Kostenüberschreitungen zu führen. Das Festhalten am Kostenrahmen dürfte
sichtbare Abstriche an der ursprünglichen architektonischen Qualität nach
sich ziehen. Doch was sind das für Alternativen? – Durch die Fehler anderer
– der Bauherr baut in der Regel nicht selbst mit – drohen nun wesentliche
Qualitätseinbußen am vorher vertraglich festgelegten Ziel. Solche Kapriolen
würde man in keiner anderen Vertragsform akzeptieren. Kann man den Bauherren
die Kostenkontrolle in Form des Verzichts auf die ursprünglich vorgesehenen
Standards als eine Handlungsalternative im Katastrophenfall vermitteln? –
Nein. Bauen ist riskant; gegen die Risiken kann man sich nicht
einhundertprozentig versichern. Das bedeutet, entweder Abstriche am
architektonischen Anspruch hinzunehmen, oder tiefer in die Tasche zu
greifen. – Das ist fatal. Was nun?
Chancen
Die unterschiedlichen Zweckbestimmungen, Vermittlungsrichtungen und
Praxisbezüge der drei Vermittlungslinien lassen zunächst unbeachtet, dass
die Vermittler der Architektur auf allen drei Linien nahezu identisch sind.
Architekten prägen die zeitgenössische Architektur in der Öffentlichkeit
durch ihre Bauten und den Nachwuchs durch ihre Lehraufträge. Ist demnach die
Profession der Architekten selbst an den von ihr angemahnten
Vermittlungsschwierigkeiten „schuld“? Abgesehen davon, dass das Vermitteln
immer mindestens zwei Parteien voraussetzt – einen Sender und einen
Empfänger, von den oft dazu kommenden oder dazwischen geratenden Vermittlern
ganz zu schweigen: Die wesentliche Charakteristik des Vermittels liegt im
Angleichen von zwei zunächst unterschiedlichen Vorkenntnissen. Demnach
sollte es nun weniger um Sender oder Empfänger gehen, sondern um die mit den
drei Vermittlungslinien verbundenen Chancen zum Angleichen der
unterschiedlichen Vorstellungen von zeitgenössischer Architektur.
Die Alltagssicht – der Schritt in das, was sonst als Bild wahrgenommen wird
Im Alltag verstehen wir unter Architektur eine plötzlich neue Sicht, so wie
sich eben „auf einmal“ ein Bauschild in den Weg stellt, oder eine plötzlich
abgesperrte Baustelle oder ein endlich vom Baugerüst befreites Rätsel. Das
„plötzlich Neue“ dürfte zunächst entlang der Unterscheidung zwischen der
neuen Sicht – so ist es jetzt – und der alten – so sah es vorher aus –
gewertet werden. Die Sichten-Bilder des „vorher“ und „nachher“ werden sodann
entlang von Gegensatzpaaren wie „besser – schlechter’“oder „schön –
hässlich“ vorsortiert, egal ob es danach zu einer weitergehenden
Beschäftigung mit der Neuigkeit kommt oder nicht.
Kann Architektur sowohl in Bezug auf das Vage der Schönheit („mir gefällt es
– mir nicht“ – was dann?)[15]
als auch in einer einigermaßen kausalen Argumentation von Ursache und
Wirkung besprochen werden, etwa im Sinne von: „es ist nicht hässlich,
weil...“? Unterscheiden wir alltagspraktisch je zwischen einer
Bildwahrnehmung sowie der mit diesem Bild verbundenen Konzeption?
Die inzwischen in Umrissen zu erkennenden Bildwissenschaften verbinden die
Betrachtung des zu sehenden Bildes mit den darin enthaltenen Zeichen (Abel,
2005, S. 14). Bilder werden eben nicht nur ästhetisierend betrachtet,
sondern als ein intentionales „Sehen-von“, ein Sehen von Aspekten, auch
dann, wenn es scheinbar nur nach dem Motto abläuft: „Ich sehe, was zu sehen
ist“. Ebenso wenig schließen sich die Zeichenhaftigkeit eines Bildes und die
Bildhaftigkeit einer Konzeption aus.[16]
Wir können durchaus etwa ein Verkehrsschild als Verkehrs-Zeichen beachten,
und gleichzeitig registrieren, dass das Bild auf dem Kopf steht oder
ramponiert ist. Ebenso gilt das durch den Parthenon-Tempel auf der Akropolis
berühmt gewordene Tempelmotiv – die perfektionierte visuelle Balance von
Stützen und Lasten, demnach ein Bild – als ein allgemein anerkanntes Zeichen
der Glaubwürdigkeit, das sowohl von so unterschiedlichen öffentlichen
Gebäuden wie Theatern, Banken und Museen wie auch als Eingangsmotiv für
Wohnhäuser adaptiert wurde. – Und schließlich nehmen wir unsere Umwelt nicht
entweder als „schön“ gleichbedeutend mit „gut“ oder „hässlich“
gleichbedeutend mit „schlecht“ wahr.[17]
Etwas ästhetisch Schönes kann zum Beispiel ethisch durchaus „schlecht“ sein,
etwa wenn wir das Schöne als Verschwendung empfinden oder wenn es unser
Unrechtsbewusstsein erreicht.
Die hier beschriebene Wendigkeit im Springen zwischen den verschiedenen
Skalen von „schön-hässlich“ sowie „gut-schlecht“ entsteht zunächst aus der
Tatsache, dass man über Bilder, demnach über etwas ohnehin Sichtbares, auch
sprechen kann. Im Gegensatz zur geisteswissenschaftlichen Bildresistenz hat
sich das klassische kunstwissenschaftliche Abbildungstheorem immer schon um
eine Allianz zwischen Ikonozentrismus und Logozentrismus bemüht (Beyer,
2005, S. 11). Zudem haben uns die Neurowissenschaften längst das
„Sowohl-als-auch“ des impulsiven („schön“ versus „hässlich“) Sehens und dem
reflektierten Verstehen („gut“ versus „schlecht“) im Gehirn nachgewiesen. So
markiert etwa der so genannte Mandelkern die Emotionen als eine Art
„emotionaler Wachtposten“ (Joseph LeDoux).[18]
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, die Gefühle als das Gegenteil von
Verstand betrachtet, können Gefühle auch als „Nicht-Wissen“ verstanden
werden, das heißt, man reagiert emotional, impulsiv oder affektiv besonders
auf etwas, das man nicht kennt. Wir kennen das berühmte „Ahh, so hast du das
gemeint...“ von uns selbst: Das verbale Erklären einer Sache ermöglicht uns
eine plötzliche Einsicht in die eben noch emotional ärgerliche Geschichte.
Auf etwas Bekanntes reagieren wir gelassen.
Der Wissensbezug beim Sehen von Aspekten deutet auf die enormen
Möglichkeiten des Vermittelns von Architektur in der Öffentlichkeit hin. Wer
eben nicht weiß, dass die zeitgenössische Architektur dem
Neuigkeitsparadigma der Architektur-Moderne verpflichtet ist, der kann auch
nur emotional – ablehnend – auf die Neuigkeiten reagieren. Erkennen, so
könnte man verallgemeinern, heißt, etwas Neues etwas schon Bekanntem
zuzuordnen. Erkennen schafft zwar Kenntnis, setzt aber auch schon etwas zum
Er-Kennen voraus. Das Neuigkeitsparadigma sollte schon in die schulischen
Fächer wie Geschichte, Kunsterziehung, Ethik, Religion und die
Naturwissenschaften eingebaut werden. Schließlich ist nicht einzusehen,
warum Architektur – ein grundlegendes Alltagsphänomen – in der schulischen
Bildung oft nur baugeschichtlich-chronologisch thematisiert wird.
Neben dem möglichst zeitigen Einführen des Neuigkeitsparadigmas in der
Schule dürfte eine zweite wesentliche Chance im unmittelbaren Erleben von
zeitgenössischer Architektur liegen. Die Öffentlichkeit reagiert unter
anderem deswegen mit Unverständnis und mit Aggression, weil die
zeitgenössische Architektur weitgehend zugangsbeschränkt ist und oft nur aus
der Entfernung betrachtet werden kann - vom Zaun aus oder durch die großen
Fenster – oder, noch weiter verallgemeinert, als mediales Abbild in einem
Lifestyle-Magazin oder als Filmkulisse.[19]
Das Wesenhafte an jeglichem räumlichen Gebilde besteht hingegen im
unmittelbaren Erleben des räumlich-funktionalen Zusammenhangs von
aufeinander folgenden Räumen.[20]
Erst im tatsächlichen Um- und Durchwandern der Raumfolgen sowie im
unmittelbaren Erfahren der Tastsinnigkeit von Türklinken, Lichtschaltern und
Möbeloberflächen können die Raumgeometrie, die Zweckbestimmung und die
Ausgestaltung als architektonische Einheit (im Vergleich zum Kunsthandwerk
oder zu Dekorationen) begriffen werden. So erklärt sich das Interesse an
Musterhäusern, Bauausstellungen, Architekturexkursionen und den „Tagen der
offenen Tür“, zu denen Bauherren ihre Häuser dem Publikum öffnen.[21]
Das Architektur-Amalgam aus dem „unverständlichen Sichtbaren“ legt ein von
vornherein hochdimensionales Vermitteln nahe. Dazu gehört die
Architekturvermittlung mit Händen und Füßen vor Ort (und „darin“), eine auf
die allgemeine Raumreferenz bezogene Erklärungssprache sowie
Raumdarstellungen, die auf Gleichzeitigkeit und Vergleichbarkeit angelegt
sind – mit Bilderpaaren, Filmsequenzen, Lichteinstellungen,
Architekturmodellen und Materialproben.[22]
Hauptkriterium ist das Anbieten von unterschiedlichen Informationsarten, die
so angelegt sein sollten, dass sie der Betrachter zusammenführen kann – der
Hauptgesichtspunkt für aktive Lernformen überhaupt. Der Betrachter hat
Wissen und Erlebnis selbst zu verbinden. Die Welt wird im Kopf
zusammengesetzt.
Das Architekturstudium – Lernen, das intuitiv entworfene „Neue“
sprachlich zu vermitteln
Alle drei Ausbildungsarten an Universität, Fachhochschule und Kunstakademie
entwickeln das Architekturwissen parallel zur Entwurfsroutine. In der
Gleichzeitigkeit des Trainierens von Wissen und Können liegt eine im
deutschen Sprachraum bisher wenig besprochene pädagogische Herausforderung.
Als ein vorläufiges Reformmodell für das Architekturstudium könnte der
didaktische Vorlauf beim Ausbilden von Künstlern dienen. Die zeitgenössische
Bilderdebatte übt einen enormen Druck auf die Kunstakademien aus. Hans
Ulrich Reck fordert den Verzicht auf den „curricularen Darwinismus“,
„stilistische Monokulturen und ästhetische Doktrinen“ in Richtung einer „Künstler(selbst)ausbildung“.
Es geht um „beschleunigte Wechsel in [der] Methodologie“ (reck, 2001, S. 17,
S. 22f. S. 28) in Richtung einer „poly-logen Wahrnehmung und Lehre“ (Manfred
Faßler), um eine „Neuverdichtung von Fachzusammenhängen und Fachwissen“ (Faßler,
2001, S. 188) zu ermöglichen. Gleichzeitig umreißt der vom Bologna-Prozess
beschriebene Übergang von dozentenorientierten- zu teilnehmerzentrierten
Methoden für das Architekturstudium den „Verzicht auf polytechnische Bildung
zugunsten experimenteller, exemplarischer und situativer Arbeit“ (Reck,
2001, S. 28). Die alte „Arbeitsteilung“ in allgemeine Grundlagen (ein zu
lernendes Handwerk) und in besondere Anwendungen (die daraufhin mit dem
Handwerk lösbar werdenden Probleme) hat ausgedient. Damit können auch die
beiden klassischen Ausbildungsformen – das Lernen am besonderen Beispiel in
der Meisterklasse und das allgemeine Wissensmodell an der Universität –
nicht mehr für sich selbst bestehen.[23]
Mit dem Imperativ des Brechens von noch nicht bekannten Regeln beim
Entwerfen verbindet sich auch das hochschuldidaktische Paradox des verbalen
Bewertens von Architekturentwürfen. – Was soll bewertet werden? Das
sichtbare Ergebnis auf dem Papier? Der durch das Ergebnis sichtbar werdende
Bruch mit der Konvention? Und woran ließe sich der Bruch messen? An der
Starre der Konvention? An der Rigidität des Bruchs? – So wenig, wie die
Studierenden oft sagen können, „was“ sie da gemacht haben, so reicht es auch
nicht, wenn die Lehrenden das kommentieren, was sich auf den Plänen zeigt
(und wie sie es „finden“). Die Lehrenden und die Studierenden haben vielmehr
das beachtliche Sprachvermögen zu entwickeln, die Qualität des Entwurfs im
Zusammenhang vom Bruch mit der Konvention und den dem Bruch zugrunde
liegenden Konventionen zu bewerten. Das besondere Neue und sein Rückbezug
auf allgemeine architektonische Prinzipien. Oder auch: Der Vorgang des
Brechens im Vergleich zur daraus entstehenden Substanz...
Obwohl die menschliche Sprache sehr genaue Unterscheidungen bereitzuhalten
scheint, bestehen Wertungen („ich finde...“) aus zwei parallelen Aussagen (Prädikationen)
– einerseits die Wichtigkeit der Überzeugung und andererseits das dazu
verwendete Sprachmuster (Wort). – Zum Verstehen einer Wertung hat der
Zuhörer die Bedeutung des Wortes mit der damit zum Ausdruck gebrachten
Überzeugung abzugleichen.[24]
Unter Architekturvermittlung könnten wir sodann das verbale Zurückführen von
etwas Neuem auf etwas Bekanntes verstehen. Da etwas Neues per se immer
erklärungsbedürftig ist, geht es sodann nicht mehr darum, ob Architektur für
sich selbst zu sprechen hat oder nicht, sondern um das „Wie“ der
Vermittlung. Überspitzt formuliert: Ab jetzt gehört das Erklären zum
Entwerfen. Diese Kombination ist auf eine produktive Weise widersprüchlich.
Einerseits muss eine sprachwissenschaftliche, baugeschichtliche und
architekturtheoretische Expertise aufgebaut werden. Und zwar zum einen, um
die Konventionen überhaupt methodisch in Richtung von etwas Neuem
durchbrechen zu können. Und zum anderen wird diese Expertise benötigt, um
das intuitiv erzeugte Neue (den an sich unbegründbaren Entwurf) auf Motive,
Vorbilder und Prinzipien zurückführen zu können. Ja, es geht um das
methodische Begründen des oft nicht methodisch (sondern intuitiv) erzeugten
Neuen – zunächst im Expertendialog in der Ausbildung, und sodann in Bezug
auf die allgemeine Raumreferenz in der Öffentlichkeit. Dann zählt nicht mehr
das „was will ich sagen?“, sondern das „wie werde ich am besten verstanden?“
– Bisher trainieren wir im Architekturstudium weder das Begründen von
intuitiv erzeugten Entwürfen, noch den Ersatz des Fachvokabulars durch eine
allgemeine Raumreferenz für die Öffentlichkeit.
Vom Katastrophenszenario beim Bauen zur Mentalität des Mietens
Die dem Schicksal ausgelieferte Architekturvermittlung beim Bauen –
scheinbar nichts zu machen – legt das Betrachten der Bauherren selbst nahe.
Wer liefert sich denn diesem Schicksal aus? – Die Motivation der Bauherren
von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart betraf neben dem mit dem
Bauen verfolgten Behausungszweck die Manifestation der wirtschaftlichen
Macht und der gesellschaftlichen Position der Bauherren. So entstand der
baukonstruktiv-semiotische Kanon als ein Reservoir von Bauformen, die
einerseits aufwändig und kostspielig angelegt wurden, damit sie nicht ohne
weiteres reproduziert werden konnten. Andererseits zielte der Kanon auf eine
dauerhafte Gültigkeit. Der Ewigkeitsanspruch führte dazu, dass der Kanon
durch die Stilepochen hindurch eher konservativ ausgedeutet wurde.
Die Architektur-Moderne brach mit dem baukonstruktiv-semiotischen Kanon
nicht nur entwurfsbezüglich, sondern auch durch ihre sozialreformerischen
Absichten. Bauformenbezogene und architektonische Überlegungen stehen jetzt
auch im Dienst von massiven sozialen Programmen und dürfen daher nicht
aufwändig und kostspielig angelegt werden. Heute haben wir erstens den
klassischen baukonstruktiv-semiotischen Kanon, zweitens den methodologischen
Bruch des Kanons (das, was man oft für einen neuen Stil hält) und drittens
die sozialreformerischen Ambitionen zu vermitteln.[25]
Ein Regelbruch wird eben nur durch das Wissen um die dazugehörige Regel
verständlich. Zudem kommt es zu einer Erweiterung des Kreises der
potentiellen Bauherren über das Establishment hinaus. Neben den nach wie vor
aktuellen großbürgerlichen Manifestationen verfügen viele neue Bauherren im
so genannten Bausparmodell heute weder über die finanziellen Spielräume noch
über das klassische bildungsbürgerliche Fundament. Der klassische Bauherr
forderte die raffinierte Erweiterung des baukonstruktiv-semiotischen Kanons
an. Viele zeitgenössische Bauherren müssen sich mit lächerlich anmutenden
Motivanleihen zufrieden geben. Aus dem repräsentativen Grundstück wird ein
kleines suburbanes Stück Land, die ehemals repräsentativ angelegte Vorfahrt
schrumpft zum autolangen Kiesstreifen zwischen Bürgersteig und Garage, aus
dem Villengrundriss wird ein Puppenhäuschen, das Tempelmotiv überlebt in
Form von zwei Säulen und einem spitzwinkligen Vordach, die Eingangshalle
reduziert sich zum Garderobenflur, und so weiter.
Das Wohnungseigentum (die so genannte Eigentumswohnung)[26]
führt sogar noch weiter, nämlich zu einem Wohn– oder
Investitionsverständnis, das die Wohnung zum ersten Mal in der Baugeschichte
vom Haus getrennt betrachten kann, und das folgerichtig die farbloseste
Sparte im Wohnungsbau produziert.
Die Erweiterung des Bauherren-Publikums und die Auflösung des
standortbezogenen Bauwunsches ist gleichbedeutend mit dem Verlust der
schlüssigen Architekturvermittlung beim Bauen. Ohne Spielräume zum
Entscheiden kann man nicht von Entscheidungen sprechen. Ohne
Entscheidungsfreiheit werden Bauformen zu Baumarkt-Standards verkarsten
müssen, über die zu reden sich nicht lohnt. Zudem haben sich die
zeitgenössischen sozialreformerischen Absichten – wenn man sie noch so
nennen mag – längst von ihrem ursprünglichen Architekturbezug entfernt. –
Die Gartenstadtbewegung um 1900 und das genossenschaftliche Bauen in den
1920er Jahren entstanden noch aus gezielten architektonischen Überlegungen.
Die deutschen Bauspar- und Eigentumswohnungsmodelle der vergangenen vierzig
Jahre sind nur noch als politische Entscheidung verständlich – wahlweise als
Schollenbindungsversuch oder als Wirtschaftsförderungsmaßnahme. Heute stößt
die unbedingte Eigentumsförderung an ihre Grenzen. Eine zumindest
stagnierende Bevölkerungsentwicklung bietet keine Begründung mehr für die
immensen steuerlichen Erlässe und die direkten Zuschüsse aus dem
Gesamthaushalt – ganz abgesehen von der Zersiedelung der Landschaft durch
Einfamilienhäuser, dem durch die Zersiedelung steigenden Autoverkehr und der
bislang nicht absehbaren Weiternutzung der Schlafdörfer durch die nächsten
Generationen. Parallel zu der Novellierung der Subventionspolitik[27]
entsteht eine neue ‚Mietmentalität’. Die so genannten Patchwork-Biografien –
die immer häufigeren beruflichen und privaten Veränderungen sowie die damit
einhergehende Mobilität – scheinen das Mieten zu einem neuen Muster der
Alltagsbewältigung zu machen. So wie wir heute schon immer mehr bereit sind,
Bücher, Filme und technisches Gerät auszuleihen statt alles partout besitzen
zu wollen, so dürfte auch das temporäre Wohnen sowie das Mieten von Möbeln,
Kunst und Freizeitgerät weiter zunehmen. Damit ist ein laufendes und vor
allem unmittelbares, die eigene Lebenssituation betreffendes
Informationsbedürfnis angemeldet. Das Vermitteln von Architektur für die
Einrichtungs- und Wohnungssuchenden könnte zu einer individualisierten Form
der allgemeinen Architekturvermittlung werden.
Aussichten
Die Architektur-Moderne hat die zeitgenössische Architektur vom
baukonstruktiv-semiotischen Kanon des „guten Alten“ abgetrennt. Es nutzt
nichts, dass die Architektur-Moderne selbst stilistisch beschrieben werden
könnte. Es ist schließlich paradox, ein entwurfsmethodisch begründetes
Bauwerk stilistisch einordnen zu wollen. Das Zuordnen von etwas
Unverständlichem in eine Kiste mit der Aufschrift „unverständlich“ ist
unnötig.
Zwei bisher vernachlässigte Betrachtungen zur zeitgenössischen Architektur
können in allen drei hier betrachteten Richtungen neue Schlüsselrollen in
der Architekturvermittlung bekommen.
Zum einen sollten die durch die Architektur-Moderne neu bestimmten
Raumfolgen und Übergänge im Inneren der zeitgenössischen Architektur
betrachtet werden. Aus den Zimmern auf einer Längsachse – so wie noch bei
Goethes Haus am Frauenplan in Weimar – entstand zunächst der uns heute
selbstverständliche, parallel zu den Zimmern angelegte Flur. Die
Architektur-Moderne rückt die Übergänge der Zimmer in den Mittelpunkt der
Betrachtung. Die vormalig feststehenden Raumfolgen – viele Menschen gehen
verständlicherweise von den ihnen nur bekannten Minimalgrundrissen des
sozialen Wohnungsbaus aus – werden zu „Raumplänen“[28],die
nicht mehr aus klar abgegrenzten Zimmern bestehen und daher neben der
Neuigkeit die Frage nach dem „warum?“ des Bruchs mit der gewohnten Zuordnung
der Zimmer stellen.
Zum anderen sollten die durch die Architektur-Moderne neu bestimmten Arten
des Zusammenfügens von Bauteilen – ihre Verbindungen wie auch ihre durch die
Verbindungen neu zu entwickelnden Fassaden – betrachtet werden. Die Art des
äußerlichen Zusammenfügens der zunächst für sich gedachten Bauteile könnte
den weitgehenden Zusammenhang zwischen dem programmatischen „Was wollte
ich?“ und dem „Wie habe ich es konstruiert?“ erklären. Das besondere
Konstruieren der Verbindungen zwischen den einzelnen Kuben (das „Wie?“ zum
Vermeiden von Rissen und das „Womit“ zum Abdichten) erklärt die äußere
Erscheinung der zeitgenössischen Architektur – die Fassaden – vielleicht
markanter, als das Dozieren über die darin möglicherweise zur Anwendung
gekommenen klassischen Proportionslehren. So verwirrend ein Leitdetail der
zeitgenössischen Architektur zunächst auch wirken mag, so anschaulich könnte
schon das gekonnte Entwirren der Materie werden – „aha, es ist kompliziert“
– und zur weiteren eigenen Beschäftigung anregen.[29]
Die Frage lautet sodann nicht mehr: „Wie viel kann man Laien beim Erklären
zumuten?“ – sondern: Wie kann das Erklären des Neuen auch noch den Prozess
seines Zustandekommens vermitteln?
Literatur:
Abel, G.
(2005). Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder. In S. Majetschak
(Hrsg.), Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild (S.13-29).
München: Fink.
Baecker,
D. (1990). Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der
Architektur. In N. Luhmann, F. D. Bunsen & D. Baecker (Hrsg.),
Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur (S.67-104). Bielefeld: Haux.
Beyer, A.
& Lohoff, M. (Hrsg.). (2005). Bild und Erkenntnis. Formen und Funktionen des
Bildes in Wissenschaft und Technik. München: Deutscher Kunstverlag.
Böhme, G.
(1999). Theorie des Bildes. München: Fink.
Faßler,
M. (2001). Sind künstlerische und wissenschaftliche Bildungswege »machbar«?
In P. Weibel (Hrsg.), Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue
Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren (S.180-192).
Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz.
Frege, G.
(1986). Logische Untersuchungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Gardner, H. E. (1993). Multiple
Intelligences: The Theory in Practice. New York: Basic Books.
Goleman, D. (1998). Emotionale
Intelligenz. München: DTV.
Klein, W.
(1990). Überall und nirgendwo. Subjektive und objektive Momente in der
Raumreferenz. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 20,
9-42.
Reck, H.
U. (2001). Zwischen Bild und Medium. Zur Ausbildung der Künstler in der
Epoche der Techno-Ästhetik. In P. Weibel (Hrsg.), Vom Tafelbild zum globalen
Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren
(S. 17-49).
Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz.
Schön, D. A. (1983). The
Reflective Practitioner. New York: Basic Books.
Smith, P. F. (1981).
Architektur und Ästhetik. Wahrnehmung und Wertung der heutigen Baukunst.
Stuttgart: Hoffmann.
Anmerkungen:
[1]
Der Schriftsteller Hermann Hesse hat die Sprach- und Stilhaltung des
so genannten Feuilletonismus in seinem Roman „Das Glasperlenspiel“
(1943) treffend als selbstbezogene Mitteilungsform beschrieben.
[2]
Der so genannte Flynn-Effekt, benannt nach dem Politologen James R.
Flynn beweist, dass man das Verstehen von Bildern und Stimmungen
lernen kann. Der Intelligenzquotient ist kulturabhängig.
[3]
Der universale Bildungsimperativ geht aus dem aufklärerischen 18.
Jahrhundert hervor und wird heute vor dem Hintergrund der
„Privatisierung“ verschiedener Bildungsträger sowie Studiengebühren
kritisch diskutiert.
[4]
Das ehemalige Reichstagsgebäude wurde von 1881 bis 1884 von Paul
Wallot geplant und 1894 fertig gestellt.
[5]
Siehe dazu: Zeitschrift Bauwelt 29/30, 8. August 1975, sowie:
Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Buch zum
„Realisierungswettbewerb Umbau des Reichstagsgebäudes zum deutschen
Bundestag“. Berlin, 1993. Das Dilemma jeder sich für „neu“
erklärenden Gesellschaft besteht im notgedrungenen Nachnutzen des
Vorgefundenen.
[6]
Das Museum Grünes Gewölbe der Staatlichen
Kunstsammlungen Dresden umfasst das 2004 wiedereröffnete
„Neue Grüne Gewölbe“ in einer zeitgenössischen Museumsarchitektur
sowie das 2006 eröffnete „Historische Grüne Gewölbe“ als Nachbau des
weitgehend im Krieg zerstörten barocken Gesamtkunstwerks.
[7]
Der lange enzyklopädische Vorlauf des neunzehnten Jahrhunderts – das
Wissen um die Welt – und die gravierenden Änderungen des Lebens in
der Industriegesellschaft führten ab 1900 zu einer neuen
Lebenswahrnehmung. Nachdem die Literatur das neue Stadtleben
zunächst noch mit den klassischen Mustern möglichst naturgetreu zu
beschreiben versucht hatte, kam es sodann zu einer Erweiterung der
literarischen Konventionen in Richtung Bruch, Verfremdung und
Collage. Das methodologische Erweitern kann ebenso in der modernen
Kunst und in der Architektur beobachtet werden, so etwa in Form der
berühmten New York Armory Show (1913) oder des Architekturessays
„Ornament und Verbrechen“ von Adolf Loos (1908).
[8]
Frank Lloyd Wright nimmt Wände und Decken der von ihm so
bezeichneten Schachtel (des Hauses) auseinander. Er sieht die
Stützen nicht in den Ecken der vormaligen Räume vor, sondern von
diesen zurückgesetzt. Das Dach soll „schweben“ und kann sowohl von
den Stützen als auch von den übrig gebliebenen Wandecken getragen
werden. Die Reste der Schachtel werden zu „Abschirmungen“ (Baecker,
1990, S. 90) erklärt. Damit ist der Weg für die moderne
Raumauffassung, den so genannten „fließenden Raum“ frei. Siehe dazu:
Frank Lloyd Wright: An Autobiography. New York, 1943.
[9]
Siehe dazu Ulrich Conrads (Hrsg): Programme und Manifeste zur
Architektur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1964. Der Philosoph
Jürgen Habermas spricht von der Moderne als einem „unvollendeten
Projekt“ („Kleinere politische Schriften“ (I-IV). Frankfurt am Main
1981, S. 444-466. In Bezug auf das Neuigkeitsparadigma könnte man
auch von einem nicht vollendbaren – da sich immer wieder neu
aufstellenden – Projekt sprechen.
[10]
Die Abduktion ist aus der Sicht der klassischen Logik etwas
Ärgerliches. Die Abduktion stellt keine neuen Normen auf.
Andererseits kann sie zur einzigen synthetischen Schlussform werden,
die vom Resultat und von der Regel auf den besonderen Fall schließt
und somit etwas Neues erfinden kann.
[11]
Das Interesse am abduktiven Schließen wird von einer Reihe von
pragmatisch orientierten Wissenschaftszweigen geteilt. Die
Kreativitätsforschung, die Physik, die pragmatische Philosophy of
Mind und eine pragmatisch ausgerichtete Semiotik sind inzwischen
mehr an praktikablen Aussagen interessiert als an den vormaligen
letztendlichen Definitionen.
[12]
Hier wäre interessant, die Beziehungen zwischen dem
Neuigkeitsparadigma („sei neu!“) und dem Zeitgeist (den
zeitgenössischen ästhetischen Moden: „Sei zugehörig!“) zu
besprechen.
[13]
Das Bürgerliche Gesetzbuch bestimmt das Werkvertragsmodell in § 631.
[14]
So bildeten sich unter anderem die Kybernetik, die Wissenschaft von
der Struktur komplexer Systeme, die Bionik, die sich mit der
technischen Ableitung von Mustern aus der Biologie beschäftigt, und
die empirische Ästhetik heraus. Die 1965 gegründete Internationale
Gesellschaft für Empirische Ästhetik (IAEA) versucht das emotionale
Urteilen über Schönheit und Geschmack mit wissenschaftlich
verifizierbaren Methoden zu untersuchen.
[15]
Bernhard Victor Christoph-Carl von Bülow (Loriot) hat mit dem Sketch
zum „Frühstücksei“ (ohne Jahresangabe) das Eskalieren des Streites
um das Kochen des Frühstückseis „nach Gefühl“ wunderbar formuliert:
„Aber es ist hart ... vielleicht stimmt da mit deinem Gefühl was
nicht ...“
[16]
Das Fehlen eines grundsätzlichen Bildbegriffs hat Böhme mit der
„Theorie des Bildes“ pragmatisch geklärt. Böhme, 1999, S. 133: „Was
ein Bild jeweils ist, definiert sich nicht, wie in der klassischen
Epoche des Bildes, durch den Referenten, sondern vielmehr durch die
Art des Gebrauchs. Damit löst die Bildpragmatik den Vorrang der
Semiotik in der Bestimmung und wissenschaftlichen Bearbeitung der
Bilder ab.“
[17]
Der Philosoph Karl Rosenkranz knüpft mit der „Ästhetik des
Hässlichen“ (Königsberg 1853, Leipzig 1996) an die These seines
Lehrers Georg Wilhelm Friedrich Hegel vom so genannten „Ende der
Kunst“ an. Später spricht der Philosoph Nelson Goodman vom „Paradox
der Hässlichkeit“.
[18]
Siehe dazu Goleman, 1998, S. 35: „Wenn wir bei einem Überholmanöver
auf einer zweispurigen Landstrasse nur knapp einem
Frontalzusammenstoß entgehen, ist es der Hippocampus, der sich die
Einzelheiten des Vorfalls merkt, etwa, auf welchem Straßenabschnitt
wir uns befanden, wer mit uns fuhr, wie das andere Auto aussah. Es
ist jedoch der Mandelkern, der fortan jedes Mal, wenn wir unter
ähnlichen Umständen ein Auto zu überholen versuchen, eine Woge der
Angst durch unseren Körper jagt. Mit anderen Worten: Der Hippocampus
[eine zentrale Schaltstation des limbischen Systems – NCF.] merkt
sich die nüchternen Fakten, während der Mandelkern sich an den
emotionalen Beigeschmack erinnert, der diesen Fakten anhaftet.“
[19]
Die Gemeinsamkeit des Wahrnehmens von zeitgenössischer Architektur
aus der Entfernung und in den Medien liegt im Bild-Charakter, der
überhaupt nur eine ästhetisierende Reaktion auf der Skala von
„schön-hässlich“ nahe legt. – Zudem ist der Anteil der
avantgardistischen Neubauten am Gesamtbestand einer Gesellschaft
verschwindend gering. Schließlich muss – prozentual betrachtet und
auf ein konstantes Neubauvolumen bezogen – der Anteil der Neubauten
am Gesamtbestand ständig abnehmen. Selbst jemand, der in einem
fremdbestimmten zeitgenössischen Verwaltungs- oder
Produktionsgebäude arbeitet, kann daraus noch keine verbindlichen
Schlussfolgerungen auf sein eigenes selbstzubestimmendes
privates Wohnen ziehen.
[20]
Zum Bestimmen der Architektur auf der Basis des Gegensatzes von
Innen und Außen siehe Baecker, 1990.
[21]
In einem weiteren Bogen könnte man die Reiselust und den Tourismus
auch als architektonische Neugier betrachten.
[22]
Hier wartet man zu Recht auf das digitale Äquivalent zur vor etwa
einhundert Jahren von Georg Dehio eingeführten
Diapositiv-Parallelprojektion.
[23]
Anstatt wie bisher alle Studierenden einem pauschalen Lehrplan
auszusetzen, sollte die Architekturvermittlung auf die besonderen
Eignungen der einzelnen Studierenden ausgerichtet werden. Gardener,
1993, S. 10 hat längst die Ausbildung von Pädagogen zum Bestimmen
der besonderen individuellen Fähigkeiten der Studierenden („assessment
specialists“) vorgeschlagen. In der Tradition des klassischen
Mentors wird hier das Profil eines Lehrplan-Maklers („student-curriculum
broker“) entworfen, ein der allgemeinen Architekturvermittlung
ähnelnder Abschied vom chronologischen oder kategorischen Vermitteln
des Wissens.
[24]
Vgl. Frege, 1986, S.48, 52.
[25]
Zum Abschied von den verbindlichen Gebäudetypologien im Wohnungsbau
und bei den öffentlichen Bauten addiert sich eine enorme Anzahl von
Zweckbauten der Industrie und von temporären Bauten der
Ausstellungsarchitektur. Man kann bauen, was man will und wie man
will, sowohl semiotisch – die Formen sind mehr oder weniger
bedeutungsfrei geworden – wie auch baukonstruktiv – die Bauindustrie
unterliegt einem immensen Innovationsdruck.
[26]
Wohnungseigentumsgesetz – WEG (1951).
[27]
2006 trat das "Gesetz zur Abschaffung der Eigenheimzulage" in Kraft.
[28]
So etwa bei Adolf Loos: Haus Müller, Prag 1928-30: Der Raumplan
unterscheidet sowohl in Zimmer als auch in ineinander übergehende
Räume.
[29]
Edward Ford vermittelt die Architektur-Moderne über das Betrachten
des Details. Siehe dazu: The Details of Modern Architecture,
Vol. 2 (1928 – 1988).
Cambridge, MA 1996.
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