Die Zukunft
der Architekturvermittlung

11. Jahrgang
Doppelheft 1-2
Februar 2007
   

 

___Niels-Christian Fritsche
Dresden
  Das Paradox des Sichtbaren
Ideen zum Vermitteln der zeitgenössischen Architektur in der Öffentlichkeit, im Architekturstudium und beim Bauen
   



Die Architekturvermittlung für die Öffentlichkeit

Die Architekturvermittlung für die Öffentlichkeit erscheint uns zunächst als ein einfaches Unterfangen: Der Gegenstand des Interesses ist schließlich sichtbar. Doch im Gegensatz zum „normalen“ Bauen erklärt sich die zeitgenössische Architektur nicht von selbst. Wir sehen zwar das, was gebaut wird, aber wir können vom Sichtbaren nicht ohne weiteres auf die Erklärung schließen. Das ist verwunderlich: Architektur handelt doch von solchen Selbstverständlichkeiten wie Zimmern, Häusern, Straßen und Städten, und – noch grundsätzlicher – von Schwerkraft, vom Wetterschutz, sowie von Licht, Farbe und Material. Unser Leben besteht im Erfahren dieser Grundsätzlichkeiten. Wieso aber wirkt die zeitgenössische Architektur wie ein Spezialgebiet, das nur Eingeweihten erklärlich zu sein scheint?

Spezialgebiet hin und her – wir bekommen laufend Architektur vermittelt. Tageszeitungen kommentieren die so genannte Stararchitektur der Gegenwart.[1] Kino und Fernsehen trainieren uns im Wahrnehmen von visuellen Mustern.[2] Der bürgerliche Bildungsimperativ[3] bringt uns wie nie zuvor dazu, unsere freie Zeit zum Reisen zu verwenden und uns von mehr oder weniger dafür ausgebildeten Reiseführern alle architektonischen Attraktionen – oder das, was dafür gehalten wird - erklären zu lassen. Doch wird uns dabei Architektur erklärt oder nur mit Jahreszahlen zur Baugeschichte und mit Episoden zu historischen Persönlichkeiten kommentiert?

Zwei Beispiele sollen die Mehrdeutigkeit des Erklärens und des Kommentierens veranschaulichen: Eine Führung durch das nach der deutschen Wiedervereinigung zum Deutschen Bundestag umgebaute ehemalige Reichstagsgebäude in Berlin, sowie eine Tour durch das barocke „Grüne Gewölbe“ in Dresden. – Hilft uns das faktische Wissen zur Geschichte des ehemaligen Reichstagsgebäudes beim Verstehen des „Warum“ der kreisförmigen Sitzanordnung des Bundestages und seiner neuen Glaskuppel mit der spiralförmigen Besucherrampe? – Natürlich wird uns der Besucherdienst des Reichstages die parlamentarische Sitzanordnung erklären. Nur was hat die mit dem Ort zu tun, dem Berliner Reichstag? – Nichts. Ursprünglich wies der Plenarsaal eine halbkreisförmige Sitzanordnung auf.[4] Der Kreis entstand als Ergebnis einer langen parlamentarischen Debatte zur demokratischen Sitzkultur beim Neubau des Deutschen Bundestages in Bonn von 1972 bis 1992 und der politischen Entscheidung, das Deutsche Parlament nach Berlin zu verlegen.[5] Die heute so prominent in Erscheinung tretende Glaskuppel auf dem ehemaligen Reichstagsgebäude ist das Ergebnis einer Überarbeitung: Der Wettbewerbsbeitrag der Architekten Foster + Partners sah ein alles überspannendes Kissendach auf Stützen vor.

Ebenso wenig hilft uns zum Beispiel die Kenntnis des Lebenswandels und der Sammlerlust von August dem Starken beim Verstehen seines „Grünen Gewölbes“, das von 1723 bis 1730 als barockes Gesamtkunstwerk eingerichtet wurde.[6] Was hat das episodische Wissen zu August dem Starken mit der Architektur des Barock zu tun, die vor unseren Augen steht? Natürlich bedingten sich die Lebensart und die Architektur des Barock. Im vorsichtigen Umkehrschluss jedoch bedarf es keines barocken Gewölbes zum Ausleben der sprichwörtlich gewordenen barocken Lebenslust. Feste können durch alle Baustile tanzen, wie uns jeder Fasching gern vor Augen führt. Doch Ironie beiseite: Was haben wir beim Besichtigen des „Grünen Gewölbes“ über das „Grüne Gewölbe“ gelernt? Wenig. War denn die Rede von wunderbaren barocken Raumprinzipien wie den raffinierten (und eben nicht offensichtlichen) Axialitäten? Ist die Museumsführung auf das maßgebliche barocke Prinzip vom „Raum-im-Raum“ eingegangen? Zwar dürfte ein Hinweis auf die großflächigen Verspiegelungen gefallen sein. Doch kann ein Tourist aus diesem Einzelhinweis das dahinter stehende und viel weiter reichende barocke Prinzip des Illusionismus beim Verstärken von Raumwirkungen ableiten? Hier mag man einwerfen, dass das fundamentale Wissen zu den Prinzipien des Barock vorausgesetzt werden darf. Auch könnte man sich das Wissen im Anschluss an das Erleben des „Grünen Gewölbes“ anlesen.

Das Unterscheiden zwischen dem Sichtbaren, dem oftmals paradoxen Beschreiben des Sichtbaren („das sehe ich doch selbst“) und dem Kommentieren lässt nach dem Leistungsvermögen unserer Wortsprache beim Beschreiben von „Raum’“ fragen. Im Gegensatz zu offenkundigen Personenbeziehungen („du dort, ich hier“) oder einfachen Verweisen auf Gegenstände („dieses Ding hier“) muss ein erklärenswerter Raum sowohl erfahren als auch in räumliche Ausdrücke umgesetzt werden. Man kann nur das beschreiben, was man einerseits erlebt hat und was man andererseits – und von der räumlichen Erfahrung durchaus unabhängig – sprachlich vermitteln kann. Um zudem in einem Gespräch etwas transportieren zu können, haben Sprecher und Zuhörer über zumindest ähnliche Raumvorstellungen zu verfügen. Sie sollten zudem die Bedeutung der verwendeten Ausdrücke und die mit dem Gebrauch verbundenen Regeln des Zusammenfügens kennen und auch in der Lage sein, die verwendeten Ausdrücke in vergleichbaren Zusammenhängen ähnlich zu verbinden (Klein, 1990, S. 10). Die so genannte gemeinsame „Raumreferenz“ von Sprecher und Zuhörer ist die Voraussetzung zum Vermitteln von Architektur.

Die Herausforderung besteht sowohl in der Komplexität der Argumente (so wie beim Deutschen Bundestag) als auch im Paradox des Kommentierens von Wirkungen wie beim „Grünen Gewölbe“. Muss denn etwas, das wie das „Grüne Gewölbe“ von vornherein auf „Wirkung“ konzipiert wurde, noch erklärt werden? – Ja! Erst durch das Erklären der den Wirkungen zugrunde liegenden architektonischen Prinzipien kann aus einer touristischen Ergötzlichkeit eine architektonische Wertschätzung entwickelt werden, die ein Besucher auf weitere Erlebnisse übertragen kann. Dieses Selbst-Übertragen ist für uns heute als einfache stilistische Zuordnung – „ahh - Barock...“ - selbstverständlich. – Dabei hat erst das enzyklopädische neunzehnte Jahrhundert die Baugeschichte als bündigen baukonstruktiv-semiotischen Kanon beschrieben. Architektur wird erst seit einhundert Jahren als Material betrachtet, das aus verbindlichen Stilen, Zeichen, Formen und Prinzipien zusammengesetzt ist. So weit, so klar. Bis es zu einer entscheidenden geschichtlichen Zäsur kommt, dem Bruch des baukonstruktiv-semiotischen Kanons durch den grundlegenden Paradigmenwechsel der Moderne um 1900.[7] Galt bisher das Paradigma „wahr oder falsch?“, so stellt sich nun die Frage: „Ist das Wahre auch neu?“

Der Grundzug der Architektur-Moderne besteht weniger in der oft beschworenen neuen Stilistik als in der fundamentalen Stilkritik des neunzehnten Jahrhunderts. So wird verständlich, warum der Architekt Frank Lloyd Wright vom Zerstören der Schachtel spricht.[8] Das Haus hatte methodisch in seine Bestandteile zerlegt zu werden, um sodann neu zusammengefügt werden zu können. Die Architektur wird nun auf eine prinzipielle, über eine stilistische Änderung hinausgehende Neuigkeit verpflichtet.[9] Ein Haus hat nicht länger so auszusehen wie ein Haus auf einer Kinderzeichnung; dafür aber hat es „neu“ zu sein.

Der Preis für die Freiheit des Spielens liegt nicht nur im Verlust der ohnehin immer vage gebliebenen semiotischen Verbindlichkeit. Vielmehr geht auch die allgemeine Raumreferenz verloren, ein bisher kaum besprochener Prozess. Der Verlust der allgemeinen Raumreferenz findet sowohl sensorisch in Bezug auf die veränderte Menschenbezüglichkeit (Anthropomorphie) des modernen Hauses und seine pragmatisch neuen Materialien statt, als auch in Bezug auf den ersatzlosen Verzicht auf die Dekorationen und Ornamente. Im Ergebnis werden die gebauten Formen zwar einfach, allgemein und variabel, aber damit auch in ihrer jeweiligen besonderen Anwendung erklärungsbedürftig. – Es gibt eben kein allgemeines Haus. Durch das ungebundene Neukombinieren ist die zeitgenössische Architektur zu einer Summe von erklärungsbedürftigen Abweichungen geworden. Doch wie kategorisiert man Abweichungen?


Die Architekturvermittlung im Architekturstudium

Die Ausbildungsszenarien an den deutschen Architekturfakultäten können in drei wesentliche Ausrichtungen unterteilt werden. Die Fachhochschulen orientieren sich an der im Bauprozess gefragten Expertise. Die Universitäten versuchen mit dem ihnen zugrunde liegenden Humboldtschen Bildungsideal die Baupraxis und die Kunst zu kombinieren. Die Kunstakademien erklären den avantgardistischen Einzelkünstler zum Vorbild. Zunächst überraschen die Unterschiedlichkeiten dieser drei Strömungen. Gibt es hier keine gemeinsame, verpflichtende Kernkompetenz? Sollte es nicht in einem Studiengang, der die so genannte Berufsberechtigung anstrebt, um klar bestimmbare Ausbildungsziele wie das Entwerfen-Lernen gehen?

Beim Betrachten des Entwerfen-Lernens wird schnell deutlich, dass das Entwerfen keine bündige Wissenschaft darstellt. Donald A. Schön beschreibt das Entwerfen vielmehr als rückbezügliches Handeln im Einzelfall. Entwerfende, so zitiert Schön einen der Begründer des operativen Forschens, Russell Ackoff, „do not solve problems: they manage messes.“ (Schön, 1983, S. 16) Doch was heißt managen? Man probiert, und zwar nicht willkürlich, sondern fundiert, auf der Basis des eigenen Sach- und Erfahrungswissens. Das hinter dem fundierten Probehandeln stehende logische Modell hat Charles Sanders Peirce als rückbezügliches (abduktives) Schließen benannt.[10] Man folgert von bekannten Effekten und Konsequenzen zurück auf unbekannte Ursachen und Voraussetzungen. Indem man probiert, kann man nicht nur herausfinden, ob das, was man probiert hat, funktionieren wird oder nicht. Das Probieren kann die vorher unbekannten Bedingungen und Voraussetzungen oft erst erhellen und Auswege aufzeigen. Das abduktive Schließen nimmt dem Lernen aus Fehlern den Anschein des Unwissenschaftlichen und des Dilettantischen.[11]

Aus einem nur ableitenden Arbeiten - dem Anwenden einer allgemeinen Regel auf einen Einzelfall - entsteht nichts grundsätzlich Neues. Auch das Schließen von einer Menge von Beobachtungen auf eine neue Regel kann in der Architektur nur von einer allgemeinen, richtungweisenden Bedeutung sein. Man weiß dann zwar, wie ein Problem in der Regel gelöst wird. Das aber beantwortet noch nicht die Frage nach dem besonderen, dem vorliegenden einmaligen Einzelfall. Wie denn nun genau an diesem Ort, für den besonderen Zweck, für dieses Budget, und für ein nachhaltiges, langlebiges Bauwerk? – Nun wird verständlich, was die drei verschiedenen Ausbildungsprofile in der Architektur eint. Fachhochschule, Universität und Kunstakademie unterscheiden sich nur durch jeweils leicht verschobene Verhältnisse zwischen dem originellen, experimentellen Entwerfen sowie dem naturwissenschaftlichen und technischen Wissen.

So sehr das reflexive Praktizieren, das fundierte Probehandeln, die Tätigkeit des Entwerfens umreißen kann – für das Entwerfen-Lernen bedeutet die Gleichzeitigkeit von Probieren und Lernen ein bisher wenig besprochenes Paradox. Die Studierenden der Architektur werden einerseits zum originellen und experimentellen Entwerfen angeregt, das gerade nicht den klassischen Wissensdoktrinen gehorchen, sondern „neu“ sein soll.[12] Andererseits hat dieses neu zu Entwerfende den statischen Berechnungen, einer baukonstruktiven Sinnfälligkeit und vielen weiteren Konventionen wie dem Baurecht und dem Brandschutz zu genügen. Genau diese Konventionen können einem Architekturlaien wie einem Studienanfänger der Architektur zunächst nicht bekannt sein. Das „sei jetzt mal kreativ!“ beim Entwerfen setzt jedoch die Kenntnis der Konventionen voraus, die just dabei, beim Entwerfen, auch schon gebrochen werden sollen. Ohne Kenntnis der Konvention kann das nur Neue als ein unbefangener Zufallstreffer gewertet werden. Kein Problem, mag man einwerfen, lehren wir doch beides gleichzeitig. Methodologisch bleibt der Imperativ des „Brich die dir noch nicht bekannten Regeln!“ ein Paradox und eine noch zu kommentierende Herausforderung für die Hochschuldidaktik.


Die Architekturvermittlung beim Bauen

Die Architekturvermittlung zwischen den Architekten und den Bauherren beim Bauen ist auf eine Handlungssituation bezogen. Es wird gebaut, die Bagger dröhnen, und es sind Entscheidungen zu treffen. Wo liegt hier das Vermittlungsproblem? Das Vermittlungsziel, das fertige Bauwerk erscheint uns zunächst klar bestimmbar.[13] Auch gibt es eine Anleitung für den Weg zum Ziel – den von den Architekten entwickelten und von den Bauherren gegengezeichneten Entwurf: „Ja, so soll es werden!“ – Doch was, wenn es beim Bauen stockt und das Architekturkonzept unter Zeitdruck oder durch steigende Kosten zu wanken beginnt? – Plötzlich stehen sich eine geisteswissenschaftlich-künstlerisch motivierte Architekturkonzeption sowie Fristen und Kosten gegenüber. Zwar war der Entwurf vor Baubeginn in Bezug auf Zeitplan und Kosten berechnet worden. Doch jetzt, da sich die Ideen gegen ihre Umsetzungen sträuben, ist das anschauliche Vermitteln der noch nicht zu sehenden Architektur gefragt. Die Gretchenfrage lautet: Wie viel ist uns das Schönere im Vergleich zum Billigeren wert? – Doch wie wägt man eine architektonische Idee finanziell ab? Die Ästhetik der Architektur, das „Wie“ des Schönen, wurde besonders in den in die Komplexität der Dinge verliebten 1960er Jahren empirisch zu fassen versucht. Diese Untersuchungen werteten jedoch meist nur vergleichbare Räume oder Bauformen.[14] Die finanziellen Mehraufwendungen für einen schöneren Raum, eine semiotisch reichere Bauform oder eine ökologischere Lösung können nur in Bezug auf einen Maßstab wie zum Beispiel den Durchschnitt kalkuliert werden. Dabei bleibt neben den sich laufend ändernden Baukosten sogar die triviale Gleichsetzung des „Schöneren“ mit dem „Teureren“ unbewiesen.

Kostenüberschreitungen beziehen sich nicht auf die ursprünglichen Rahmenbedingungen wie den Standort, die Größe des Bauwerkes und seine Bauweise – diese hätte man in der ursprünglichen Baukostenschätzung erfassen können – sondern auf die während des Bauens dann doch entstehenden Mehrkosten und Terminverzögerungen. Unabhängig vom Klären der Schuldfrage können die Katastrophen nur noch von den im Bauprozess folgenden Gewerken aufgefangen werden. Die Bauherren befinden sich in einem zweifachen Dilemma: Einerseits müssen sie auf die außer Kontrolle geratenden Kosten reagieren. Andererseits bleibt ihnen nicht viel an Verhandlungsmasse. Das Festhalten an der ursprünglichen architektonischen Qualität droht zu Kostenüberschreitungen zu führen. Das Festhalten am Kostenrahmen dürfte sichtbare Abstriche an der ursprünglichen architektonischen Qualität nach sich ziehen. Doch was sind das für Alternativen? – Durch die Fehler anderer – der Bauherr baut in der Regel nicht selbst mit – drohen nun wesentliche Qualitätseinbußen am vorher vertraglich festgelegten Ziel. Solche Kapriolen würde man in keiner anderen Vertragsform akzeptieren. Kann man den Bauherren die Kostenkontrolle in Form des Verzichts auf die ursprünglich vorgesehenen Standards als eine Handlungsalternative im Katastrophenfall vermitteln? – Nein. Bauen ist riskant; gegen die Risiken kann man sich nicht einhundertprozentig versichern. Das bedeutet, entweder Abstriche am architektonischen Anspruch hinzunehmen, oder tiefer in die Tasche zu greifen. – Das ist fatal. Was nun?


Chancen

Die unterschiedlichen Zweckbestimmungen, Vermittlungsrichtungen und Praxisbezüge der drei Vermittlungslinien lassen zunächst unbeachtet, dass die Vermittler der Architektur auf allen drei Linien nahezu identisch sind. Architekten prägen die zeitgenössische Architektur in der Öffentlichkeit durch ihre Bauten und den Nachwuchs durch ihre Lehraufträge. Ist demnach die Profession der Architekten selbst an den von ihr angemahnten Vermittlungsschwierigkeiten „schuld“? Abgesehen davon, dass das Vermitteln immer mindestens zwei Parteien voraussetzt – einen Sender und einen Empfänger, von den oft dazu kommenden oder dazwischen geratenden Vermittlern ganz zu schweigen: Die wesentliche Charakteristik des Vermittels liegt im Angleichen von zwei zunächst unterschiedlichen Vorkenntnissen. Demnach sollte es nun weniger um Sender oder Empfänger gehen, sondern um die mit den drei Vermittlungslinien verbundenen Chancen zum Angleichen der unterschiedlichen Vorstellungen von zeitgenössischer Architektur.


Die Alltagssicht – der Schritt in das, was sonst als Bild wahrgenommen wird

Im Alltag verstehen wir unter Architektur eine plötzlich neue Sicht, so wie sich eben „auf einmal“ ein Bauschild in den Weg stellt, oder eine plötzlich abgesperrte Baustelle oder ein endlich vom Baugerüst befreites Rätsel. Das „plötzlich Neue“ dürfte zunächst entlang der Unterscheidung zwischen der neuen Sicht – so ist es jetzt – und der alten – so sah es vorher aus – gewertet werden. Die Sichten-Bilder des „vorher“ und „nachher“ werden sodann entlang von Gegensatzpaaren wie „besser – schlechter’“oder „schön – hässlich“ vorsortiert, egal ob es danach zu einer weitergehenden Beschäftigung mit der Neuigkeit kommt oder nicht.

Kann Architektur sowohl in Bezug auf das Vage der Schönheit („mir gefällt es – mir nicht“ – was dann?)[15] als auch in einer einigermaßen kausalen Argumentation von Ursache und Wirkung besprochen werden, etwa im Sinne von: „es ist nicht hässlich, weil...“? Unterscheiden wir alltagspraktisch je zwischen einer Bildwahrnehmung sowie der mit diesem Bild verbundenen Konzeption?

Die inzwischen in Umrissen zu erkennenden Bildwissenschaften verbinden die Betrachtung des zu sehenden Bildes mit den darin enthaltenen Zeichen (Abel, 2005, S. 14). Bilder werden eben nicht nur ästhetisierend betrachtet, sondern als ein intentionales „Sehen-von“, ein Sehen von Aspekten, auch dann, wenn es scheinbar nur nach dem Motto abläuft: „Ich sehe, was zu sehen ist“. Ebenso wenig schließen sich die Zeichenhaftigkeit eines Bildes und die Bildhaftigkeit einer Konzeption aus.[16] Wir können durchaus etwa ein Verkehrsschild als Verkehrs-Zeichen beachten, und gleichzeitig registrieren, dass das Bild auf dem Kopf steht oder ramponiert ist. Ebenso gilt das durch den Parthenon-Tempel auf der Akropolis berühmt gewordene Tempelmotiv – die perfektionierte visuelle Balance von Stützen und Lasten, demnach ein Bild – als ein allgemein anerkanntes Zeichen der Glaubwürdigkeit, das sowohl von so unterschiedlichen öffentlichen Gebäuden wie Theatern, Banken und Museen wie auch als Eingangsmotiv für Wohnhäuser adaptiert wurde. – Und schließlich nehmen wir unsere Umwelt nicht entweder als „schön“ gleichbedeutend mit „gut“ oder „hässlich“ gleichbedeutend mit „schlecht“ wahr.[17] Etwas ästhetisch Schönes kann zum Beispiel ethisch durchaus „schlecht“ sein, etwa wenn wir das Schöne als Verschwendung empfinden oder wenn es unser Unrechtsbewusstsein erreicht.

Die hier beschriebene Wendigkeit im Springen zwischen den verschiedenen Skalen von „schön-hässlich“ sowie „gut-schlecht“ entsteht zunächst aus der Tatsache, dass man über Bilder, demnach über etwas ohnehin Sichtbares, auch sprechen kann. Im Gegensatz zur geisteswissenschaftlichen Bildresistenz hat sich das klassische kunstwissenschaftliche Abbildungstheorem immer schon um eine Allianz zwischen Ikonozentrismus und Logozentrismus bemüht (Beyer, 2005, S. 11). Zudem haben uns die Neurowissenschaften längst das „Sowohl-als-auch“ des impulsiven („schön“ versus „hässlich“) Sehens und dem reflektierten Verstehen („gut“ versus „schlecht“) im Gehirn nachgewiesen. So markiert etwa der so genannte Mandelkern die Emotionen als eine Art „emotionaler Wachtposten“ (Joseph LeDoux).[18] Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, die Gefühle als das Gegenteil von Verstand betrachtet, können Gefühle auch als „Nicht-Wissen“ verstanden werden, das heißt, man reagiert emotional, impulsiv oder affektiv besonders auf etwas, das man nicht kennt. Wir kennen das berühmte „Ahh, so hast du das gemeint...“ von uns selbst: Das verbale Erklären einer Sache ermöglicht uns eine plötzliche Einsicht in die eben noch emotional ärgerliche Geschichte. Auf etwas Bekanntes reagieren wir gelassen.

Der Wissensbezug beim Sehen von Aspekten deutet auf die enormen Möglichkeiten des Vermittelns von Architektur in der Öffentlichkeit hin. Wer eben nicht weiß, dass die zeitgenössische Architektur dem Neuigkeitsparadigma der Architektur-Moderne verpflichtet ist, der kann auch nur emotional – ablehnend – auf die Neuigkeiten reagieren. Erkennen, so könnte man verallgemeinern, heißt, etwas Neues etwas schon Bekanntem zuzuordnen. Erkennen schafft zwar Kenntnis, setzt aber auch schon etwas zum Er-Kennen voraus. Das Neuigkeitsparadigma sollte schon in die schulischen Fächer wie Geschichte, Kunsterziehung, Ethik, Religion und die Naturwissenschaften eingebaut werden. Schließlich ist nicht einzusehen, warum Architektur – ein grundlegendes Alltagsphänomen – in der schulischen Bildung oft nur baugeschichtlich-chronologisch thematisiert wird.

Neben dem möglichst zeitigen Einführen des Neuigkeitsparadigmas in der Schule dürfte eine zweite wesentliche Chance im unmittelbaren Erleben von zeitgenössischer Architektur liegen. Die Öffentlichkeit reagiert unter anderem deswegen mit Unverständnis und mit Aggression, weil die zeitgenössische Architektur weitgehend zugangsbeschränkt ist und oft nur aus der Entfernung betrachtet werden kann - vom Zaun aus oder durch die großen Fenster – oder, noch weiter verallgemeinert, als mediales Abbild in einem Lifestyle-Magazin oder als Filmkulisse.[19] Das Wesenhafte an jeglichem räumlichen Gebilde besteht hingegen im unmittelbaren Erleben des räumlich-funktionalen Zusammenhangs von aufeinander folgenden Räumen.[20] Erst im tatsächlichen Um- und Durchwandern der Raumfolgen sowie im unmittelbaren Erfahren der Tastsinnigkeit von Türklinken, Lichtschaltern und Möbeloberflächen können die Raumgeometrie, die Zweckbestimmung und die Ausgestaltung als architektonische Einheit (im Vergleich zum Kunsthandwerk oder zu Dekorationen) begriffen werden. So erklärt sich das Interesse an Musterhäusern, Bauausstellungen, Architekturexkursionen und den „Tagen der offenen Tür“, zu denen Bauherren ihre Häuser dem Publikum öffnen.[21]

Das Architektur-Amalgam aus dem „unverständlichen Sichtbaren“ legt ein von vornherein hochdimensionales Vermitteln nahe. Dazu gehört die Architekturvermittlung mit Händen und Füßen vor Ort (und „darin“), eine auf die allgemeine Raumreferenz bezogene Erklärungssprache sowie Raumdarstellungen, die auf Gleichzeitigkeit und Vergleichbarkeit angelegt sind – mit Bilderpaaren, Filmsequenzen, Lichteinstellungen, Architekturmodellen und Materialproben.[22] Hauptkriterium ist das Anbieten von unterschiedlichen Informationsarten, die so angelegt sein sollten, dass sie der Betrachter zusammenführen kann – der Hauptgesichtspunkt für aktive Lernformen überhaupt. Der Betrachter hat Wissen und Erlebnis selbst zu verbinden. Die Welt wird im Kopf zusammengesetzt.


Das Architekturstudium – Lernen, das intuitiv entworfene „Neue“ sprachlich zu vermitteln

Alle drei Ausbildungsarten an Universität, Fachhochschule und Kunstakademie entwickeln das Architekturwissen parallel zur Entwurfsroutine. In der Gleichzeitigkeit des Trainierens von Wissen und Können liegt eine im deutschen Sprachraum bisher wenig besprochene pädagogische Herausforderung.

Als ein vorläufiges Reformmodell für das Architekturstudium könnte der didaktische Vorlauf beim Ausbilden von Künstlern dienen. Die zeitgenössische Bilderdebatte übt einen enormen Druck auf die Kunstakademien aus. Hans Ulrich Reck fordert den Verzicht auf den „curricularen Darwinismus“, „stilistische Monokulturen und ästhetische Doktrinen“ in Richtung einer „Künstler(selbst)ausbildung“. Es geht um „beschleunigte Wechsel in [der] Methodologie“ (reck, 2001, S. 17, S. 22f. S. 28) in Richtung einer „poly-logen Wahrnehmung und Lehre“ (Manfred Faßler), um eine „Neuverdichtung von Fachzusammenhängen und Fachwissen“ (Faßler, 2001, S. 188) zu ermöglichen. Gleichzeitig umreißt der vom Bologna-Prozess beschriebene Übergang von dozentenorientierten- zu teilnehmerzentrierten Methoden für das Architekturstudium den „Verzicht auf polytechnische Bildung zugunsten experimenteller, exemplarischer und situativer Arbeit“ (Reck, 2001, S. 28). Die alte „Arbeitsteilung“ in allgemeine Grundlagen (ein zu lernendes Handwerk) und in besondere Anwendungen (die daraufhin mit dem Handwerk lösbar werdenden Probleme) hat ausgedient. Damit können auch die beiden klassischen Ausbildungsformen – das Lernen am besonderen Beispiel in der Meisterklasse und das allgemeine Wissensmodell an der Universität – nicht mehr für sich selbst bestehen.[23]

Mit dem Imperativ des Brechens von noch nicht bekannten Regeln beim Entwerfen verbindet sich auch das hochschuldidaktische Paradox des verbalen Bewertens von Architekturentwürfen. – Was soll bewertet werden? Das sichtbare Ergebnis auf dem Papier? Der durch das Ergebnis sichtbar werdende Bruch mit der Konvention? Und woran ließe sich der Bruch messen? An der Starre der Konvention? An der Rigidität des Bruchs? – So wenig, wie die Studierenden oft sagen können, „was“ sie da gemacht haben, so reicht es auch nicht, wenn die Lehrenden das kommentieren, was sich auf den Plänen zeigt (und wie sie es „finden“). Die Lehrenden und die Studierenden haben vielmehr das beachtliche Sprachvermögen zu entwickeln, die Qualität des Entwurfs im Zusammenhang vom Bruch mit der Konvention und den dem Bruch zugrunde liegenden Konventionen zu bewerten. Das besondere Neue und sein Rückbezug auf allgemeine architektonische Prinzipien. Oder auch: Der Vorgang des Brechens im Vergleich zur daraus entstehenden Substanz...

Obwohl die menschliche Sprache sehr genaue Unterscheidungen bereitzuhalten scheint, bestehen Wertungen („ich finde...“) aus zwei parallelen Aussagen (Prädikationen) – einerseits die Wichtigkeit der Überzeugung und andererseits das dazu verwendete Sprachmuster (Wort). – Zum Verstehen einer Wertung hat der Zuhörer die Bedeutung des Wortes mit der damit zum Ausdruck gebrachten Überzeugung abzugleichen.[24] Unter Architekturvermittlung könnten wir sodann das verbale Zurückführen von etwas Neuem auf etwas Bekanntes verstehen. Da etwas Neues per se immer erklärungsbedürftig ist, geht es sodann nicht mehr darum, ob Architektur für sich selbst zu sprechen hat oder nicht, sondern um das „Wie“ der Vermittlung. Überspitzt formuliert: Ab jetzt gehört das Erklären zum Entwerfen. Diese Kombination ist auf eine produktive Weise widersprüchlich. Einerseits muss eine sprachwissenschaftliche, baugeschichtliche und architekturtheoretische Expertise aufgebaut werden. Und zwar zum einen, um die Konventionen überhaupt methodisch in Richtung von etwas Neuem durchbrechen zu können. Und zum anderen wird diese Expertise benötigt, um das intuitiv erzeugte Neue (den an sich unbegründbaren Entwurf) auf Motive, Vorbilder und Prinzipien zurückführen zu können. Ja, es geht um das methodische Begründen des oft nicht methodisch (sondern intuitiv) erzeugten Neuen – zunächst im Expertendialog in der Ausbildung, und sodann in Bezug auf die allgemeine Raumreferenz in der Öffentlichkeit. Dann zählt nicht mehr das „was will ich sagen?“, sondern das „wie werde ich am besten verstanden?“ – Bisher trainieren wir im Architekturstudium weder das Begründen von intuitiv erzeugten Entwürfen, noch den Ersatz des Fachvokabulars durch eine allgemeine Raumreferenz für die Öffentlichkeit.


Vom Katastrophenszenario beim Bauen zur Mentalität des Mietens

Die dem Schicksal ausgelieferte Architekturvermittlung beim Bauen – scheinbar nichts zu machen – legt das Betrachten der Bauherren selbst nahe. Wer liefert sich denn diesem Schicksal aus? – Die Motivation der Bauherren von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart betraf neben dem mit dem Bauen verfolgten Behausungszweck die Manifestation der wirtschaftlichen Macht und der gesellschaftlichen Position der Bauherren. So entstand der baukonstruktiv-semiotische Kanon als ein Reservoir von Bauformen, die einerseits aufwändig und kostspielig angelegt wurden, damit sie nicht ohne weiteres reproduziert werden konnten. Andererseits zielte der Kanon auf eine dauerhafte Gültigkeit. Der Ewigkeitsanspruch führte dazu, dass der Kanon durch die Stilepochen hindurch eher konservativ ausgedeutet wurde.

Die Architektur-Moderne brach mit dem baukonstruktiv-semiotischen Kanon nicht nur entwurfsbezüglich, sondern auch durch ihre sozialreformerischen Absichten. Bauformenbezogene und architektonische Überlegungen stehen jetzt auch im Dienst von massiven sozialen Programmen und dürfen daher nicht aufwändig und kostspielig angelegt werden. Heute haben wir erstens den klassischen baukonstruktiv-semiotischen Kanon, zweitens den methodologischen Bruch des Kanons (das, was man oft für einen neuen Stil hält) und drittens die sozialreformerischen Ambitionen zu vermitteln.[25] Ein Regelbruch wird eben nur durch das Wissen um die dazugehörige Regel verständlich. Zudem kommt es zu einer Erweiterung des Kreises der potentiellen Bauherren über das Establishment hinaus. Neben den nach wie vor aktuellen großbürgerlichen Manifestationen verfügen viele neue Bauherren im so genannten Bausparmodell heute weder über die finanziellen Spielräume noch über das klassische bildungsbürgerliche Fundament. Der klassische Bauherr forderte die raffinierte Erweiterung des baukonstruktiv-semiotischen Kanons an. Viele zeitgenössische Bauherren müssen sich mit lächerlich anmutenden Motivanleihen zufrieden geben. Aus dem repräsentativen Grundstück wird ein kleines suburbanes Stück Land, die ehemals repräsentativ angelegte Vorfahrt schrumpft zum autolangen Kiesstreifen zwischen Bürgersteig und Garage, aus dem Villengrundriss wird ein Puppenhäuschen, das Tempelmotiv überlebt in Form von zwei Säulen und einem spitzwinkligen Vordach, die Eingangshalle reduziert sich zum Garderobenflur, und so weiter.

Das Wohnungseigentum (die so genannte Eigentumswohnung)[26] führt sogar noch weiter, nämlich zu einem Wohn– oder Investitionsverständnis, das die Wohnung zum ersten Mal in der Baugeschichte vom Haus getrennt betrachten kann, und das folgerichtig die farbloseste Sparte im Wohnungsbau produziert.

Die Erweiterung des Bauherren-Publikums und die Auflösung des standortbezogenen Bauwunsches ist gleichbedeutend mit dem Verlust der schlüssigen Architekturvermittlung beim Bauen. Ohne Spielräume zum Entscheiden kann man nicht von Entscheidungen sprechen. Ohne Entscheidungsfreiheit werden Bauformen zu Baumarkt-Standards verkarsten müssen, über die zu reden sich nicht lohnt. Zudem haben sich die zeitgenössischen sozialreformerischen Absichten – wenn man sie noch so nennen mag – längst von ihrem ursprünglichen Architekturbezug entfernt. – Die Gartenstadtbewegung um 1900 und das genossenschaftliche Bauen in den 1920er Jahren entstanden noch aus gezielten architektonischen Überlegungen. Die deutschen Bauspar- und Eigentumswohnungsmodelle der vergangenen vierzig Jahre sind nur noch als politische Entscheidung verständlich – wahlweise als Schollenbindungsversuch oder als Wirtschaftsförderungsmaßnahme. Heute stößt die unbedingte Eigentumsförderung an ihre Grenzen. Eine zumindest stagnierende Bevölkerungsentwicklung bietet keine Begründung mehr für die immensen steuerlichen Erlässe und die direkten Zuschüsse aus dem Gesamthaushalt – ganz abgesehen von der Zersiedelung der Landschaft durch Einfamilienhäuser, dem durch die Zersiedelung steigenden Autoverkehr und der bislang nicht absehbaren Weiternutzung der Schlafdörfer durch die nächsten Generationen. Parallel zu der Novellierung der Subventionspolitik[27] entsteht eine neue ‚Mietmentalität’. Die so genannten Patchwork-Biografien – die immer häufigeren beruflichen und privaten Veränderungen sowie die damit einhergehende Mobilität – scheinen das Mieten zu einem neuen Muster der Alltagsbewältigung zu machen. So wie wir heute schon immer mehr bereit sind, Bücher, Filme und technisches Gerät auszuleihen statt alles partout besitzen zu wollen, so dürfte auch das temporäre Wohnen sowie das Mieten von Möbeln, Kunst und Freizeitgerät weiter zunehmen. Damit ist ein laufendes und vor allem unmittelbares, die eigene Lebenssituation betreffendes Informationsbedürfnis angemeldet. Das Vermitteln von Architektur für die Einrichtungs- und Wohnungssuchenden könnte zu einer individualisierten Form der allgemeinen Architekturvermittlung werden.


Aussichten

Die Architektur-Moderne hat die zeitgenössische Architektur vom baukonstruktiv-semiotischen Kanon des „guten Alten“ abgetrennt. Es nutzt nichts, dass die Architektur-Moderne selbst stilistisch beschrieben werden könnte. Es ist schließlich paradox, ein entwurfsmethodisch begründetes Bauwerk stilistisch einordnen zu wollen. Das Zuordnen von etwas Unverständlichem in eine Kiste mit der Aufschrift „unverständlich“ ist unnötig.

Zwei bisher vernachlässigte Betrachtungen zur zeitgenössischen Architektur können in allen drei hier betrachteten Richtungen neue Schlüsselrollen in der Architekturvermittlung bekommen.

Zum einen sollten die durch die Architektur-Moderne neu bestimmten Raumfolgen und Übergänge im Inneren der zeitgenössischen Architektur betrachtet werden. Aus den Zimmern auf einer Längsachse – so wie noch bei Goethes Haus am Frauenplan in Weimar – entstand zunächst der uns heute selbstverständliche, parallel zu den Zimmern angelegte Flur. Die Architektur-Moderne rückt die Übergänge der Zimmer in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die vormalig feststehenden Raumfolgen – viele Menschen gehen verständlicherweise von den ihnen nur bekannten Minimalgrundrissen des sozialen Wohnungsbaus aus – werden zu „Raumplänen“[28],die nicht mehr aus klar abgegrenzten Zimmern bestehen und daher neben der Neuigkeit die Frage nach dem „warum?“ des Bruchs mit der gewohnten Zuordnung der Zimmer stellen.

Zum anderen sollten die durch die Architektur-Moderne neu bestimmten Arten des Zusammenfügens von Bauteilen – ihre Verbindungen wie auch ihre durch die Verbindungen neu zu entwickelnden Fassaden – betrachtet werden. Die Art des äußerlichen Zusammenfügens der zunächst für sich gedachten Bauteile könnte den weitgehenden Zusammenhang zwischen dem programmatischen „Was wollte ich?“ und dem „Wie habe ich es konstruiert?“ erklären. Das besondere Konstruieren der Verbindungen zwischen den einzelnen Kuben (das „Wie?“ zum Vermeiden von Rissen und das „Womit“ zum Abdichten) erklärt die äußere Erscheinung der zeitgenössischen Architektur – die Fassaden – vielleicht markanter, als das Dozieren über die darin möglicherweise zur Anwendung gekommenen klassischen Proportionslehren. So verwirrend ein Leitdetail der zeitgenössischen Architektur zunächst auch wirken mag, so anschaulich könnte schon das gekonnte Entwirren der Materie werden – „aha, es ist kompliziert“ – und zur weiteren eigenen Beschäftigung anregen.[29]

Die Frage lautet sodann nicht mehr: „Wie viel kann man Laien beim Erklären zumuten?“ – sondern: Wie kann das Erklären des Neuen auch noch den Prozess seines Zustandekommens vermitteln?

 



Literatur:

 

Abel, G. (2005). Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder. In S. Majetschak (Hrsg.), Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild (S.13-29). München: Fink.

Baecker, D. (1990). Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur. In N. Luhmann, F. D. Bunsen & D. Baecker (Hrsg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur (S.67-104). Bielefeld: Haux.

Beyer, A. & Lohoff, M. (Hrsg.). (2005). Bild und Erkenntnis. Formen und Funktionen des Bildes in Wissenschaft und Technik. München: Deutscher Kunstverlag.

Böhme, G. (1999). Theorie des Bildes. München: Fink.

Faßler, M. (2001). Sind künstlerische und wissenschaftliche Bildungswege »machbar«? In P. Weibel (Hrsg.), Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren (S.180-192). Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz.

Frege, G. (1986). Logische Untersuchungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Gardner, H. E. (1993). Multiple Intelligences: The Theory in Practice. New York: Basic Books.

Goleman, D. (1998). Emotionale Intelligenz. München: DTV.

Klein, W. (1990). Überall und nirgendwo. Subjektive und objektive Momente in der Raumreferenz. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 20, 9-42.

Reck, H. U. (2001). Zwischen Bild und Medium. Zur Ausbildung der Künstler in der Epoche der Techno-Ästhetik. In P. Weibel (Hrsg.), Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren (S. 17-49). Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz.

Schön, D. A. (1983). The Reflective Practitioner. New York: Basic Books.

Smith, P. F. (1981). Architektur und Ästhetik. Wahrnehmung und Wertung der heutigen Baukunst. Stuttgart: Hoffmann.


 


Anmerkungen:
 

[1] Der Schriftsteller Hermann Hesse hat die Sprach- und Stilhaltung des so genannten Feuilletonismus in seinem Roman „Das Glasperlenspiel“ (1943) treffend als selbstbezogene Mitteilungsform beschrieben.

[2] Der so genannte Flynn-Effekt, benannt nach dem Politologen James R. Flynn beweist, dass man das Verstehen von Bildern und Stimmungen lernen kann. Der Intelligenzquotient ist kulturabhängig.

[3] Der universale Bildungsimperativ geht aus dem aufklärerischen 18. Jahrhundert hervor und wird heute vor dem Hintergrund der „Privatisierung“ verschiedener Bildungsträger sowie Studiengebühren kritisch diskutiert.

[4] Das ehemalige Reichstagsgebäude wurde von 1881 bis 1884 von Paul Wallot geplant und 1894 fertig gestellt.

[5] Siehe dazu: Zeitschrift Bauwelt 29/30, 8. August 1975, sowie: Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Buch zum „Realisierungswettbewerb Umbau des Reichstagsgebäudes zum deutschen Bundestag“. Berlin, 1993. Das Dilemma jeder sich für „neu“ erklärenden Gesellschaft besteht im notgedrungenen Nachnutzen des Vorgefundenen.

[6] Das Museum Grünes Gewölbe der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden umfasst das 2004 wiedereröffnete „Neue Grüne Gewölbe“ in einer zeitgenössischen Museumsarchitektur sowie das 2006 eröffnete „Historische Grüne Gewölbe“ als Nachbau des weitgehend im Krieg zerstörten barocken Gesamtkunstwerks.

[7] Der lange enzyklopädische Vorlauf des neunzehnten Jahrhunderts – das Wissen um die Welt – und die gravierenden Änderungen des Lebens in der Industriegesellschaft führten ab 1900 zu einer neuen Lebenswahrnehmung. Nachdem die Literatur das neue Stadtleben zunächst noch mit den klassischen Mustern möglichst naturgetreu zu beschreiben versucht hatte, kam es sodann zu einer Erweiterung der literarischen Konventionen in Richtung Bruch, Verfremdung und Collage. Das methodologische Erweitern kann ebenso in der modernen Kunst und in der Architektur beobachtet werden, so etwa in Form der berühmten New York Armory Show (1913) oder des Architekturessays „Ornament und Verbrechen“ von Adolf Loos (1908).

[8] Frank Lloyd Wright nimmt Wände und Decken der von ihm so bezeichneten Schachtel (des Hauses) auseinander. Er sieht die Stützen nicht in den Ecken der vormaligen Räume vor, sondern von diesen zurückgesetzt. Das Dach soll „schweben“ und kann sowohl von den Stützen als auch von den übrig gebliebenen Wandecken getragen werden. Die Reste der Schachtel werden zu „Abschirmungen“ (Baecker, 1990, S. 90) erklärt. Damit ist der Weg für die moderne Raumauffassung, den so genannten „fließenden Raum“ frei. Siehe dazu: Frank Lloyd Wright: An Autobiography. New York, 1943.

[9] Siehe dazu Ulrich Conrads (Hrsg): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1964. Der Philosoph Jürgen Habermas spricht von der Moderne als einem „unvollendeten Projekt“ („Kleinere politische Schriften“ (I-IV). Frankfurt am Main 1981, S. 444-466. In Bezug auf das Neuigkeitsparadigma könnte man auch von einem nicht vollendbaren – da sich immer wieder neu aufstellenden – Projekt sprechen.

[10] Die Abduktion ist aus der Sicht der klassischen Logik etwas Ärgerliches. Die Abduktion stellt keine neuen Normen auf. Andererseits kann sie zur einzigen synthetischen Schlussform werden, die vom Resultat und von der Regel auf den besonderen Fall schließt und somit etwas Neues erfinden kann.

[11] Das Interesse am abduktiven Schließen wird von einer Reihe von pragmatisch orientierten Wissenschaftszweigen geteilt. Die Kreativitätsforschung, die Physik, die pragmatische Philosophy of Mind und eine pragmatisch ausgerichtete Semiotik sind inzwischen mehr an praktikablen Aussagen interessiert als an den vormaligen letztendlichen Definitionen.

[12] Hier wäre interessant, die Beziehungen zwischen dem Neuigkeitsparadigma („sei neu!“) und dem Zeitgeist (den zeitgenössischen ästhetischen Moden: „Sei zugehörig!“) zu besprechen.

[13] Das Bürgerliche Gesetzbuch bestimmt das Werkvertragsmodell in § 631.

[14] So bildeten sich unter anderem die Kybernetik, die Wissenschaft von der Struktur komplexer Systeme, die Bionik, die sich mit der technischen Ableitung von Mustern aus der Biologie beschäftigt, und die empirische Ästhetik heraus. Die 1965 gegründete Internationale Gesellschaft für Empirische Ästhetik (IAEA) versucht das emotionale Urteilen über Schönheit und Geschmack mit wissenschaftlich verifizierbaren Methoden zu untersuchen.

[15] Bernhard Victor Christoph-Carl von Bülow (Loriot) hat mit dem Sketch zum „Frühstücksei“ (ohne Jahresangabe) das Eskalieren des Streites um das Kochen des Frühstückseis „nach Gefühl“ wunderbar formuliert: „Aber es ist hart ... vielleicht stimmt da mit deinem Gefühl was nicht ...“

[16] Das Fehlen eines grundsätzlichen Bildbegriffs hat Böhme mit der „Theorie des Bildes“ pragmatisch geklärt. Böhme, 1999, S. 133: „Was ein Bild jeweils ist, definiert sich nicht, wie in der klassischen Epoche des Bildes, durch den Referenten, sondern vielmehr durch die Art des Gebrauchs. Damit löst die Bildpragmatik den Vorrang der Semiotik in der Bestimmung und wissenschaftlichen Bearbeitung der Bilder ab.“

[17] Der Philosoph Karl Rosenkranz knüpft mit der „Ästhetik des Hässlichen“ (Königsberg 1853, Leipzig 1996) an die These seines Lehrers Georg Wilhelm Friedrich Hegel vom so genannten „Ende der Kunst“ an. Später spricht der Philosoph Nelson Goodman vom „Paradox der Hässlichkeit“.

[18] Siehe dazu Goleman, 1998, S. 35: „Wenn wir bei einem Überholmanöver auf einer zweispurigen Landstrasse nur knapp einem Frontalzusammenstoß entgehen, ist es der Hippocampus, der sich die Einzelheiten des Vorfalls merkt, etwa, auf welchem Straßenabschnitt wir uns befanden, wer mit uns fuhr, wie das andere Auto aussah. Es ist jedoch der Mandelkern, der fortan jedes Mal, wenn wir unter ähnlichen Umständen ein Auto zu überholen versuchen, eine Woge der Angst durch unseren Körper jagt. Mit anderen Worten: Der Hippocampus [eine zentrale Schaltstation des limbischen Systems – NCF.] merkt sich die nüchternen Fakten, während der Mandelkern sich an den emotionalen Beigeschmack erinnert, der diesen Fakten anhaftet.“

[19] Die Gemeinsamkeit des Wahrnehmens von zeitgenössischer Architektur aus der Entfernung und in den Medien liegt im Bild-Charakter, der überhaupt nur eine ästhetisierende Reaktion auf der Skala von „schön-hässlich“ nahe legt. – Zudem ist der Anteil der avantgardistischen Neubauten am Gesamtbestand einer Gesellschaft verschwindend gering. Schließlich muss – prozentual betrachtet und auf ein konstantes Neubauvolumen bezogen – der Anteil der Neubauten am Gesamtbestand ständig abnehmen. Selbst jemand, der in einem fremdbestimmten zeitgenössischen Verwaltungs- oder Produktionsgebäude arbeitet, kann daraus noch keine verbindlichen Schlussfolgerungen auf sein eigenes selbstzubestimmendes privates Wohnen ziehen.

[20] Zum Bestimmen der Architektur auf der Basis des Gegensatzes von Innen und Außen siehe Baecker, 1990.

[21] In einem weiteren Bogen könnte man die Reiselust und den Tourismus auch als architektonische Neugier betrachten.

[22] Hier wartet man zu Recht auf das digitale Äquivalent zur vor etwa einhundert Jahren von Georg Dehio eingeführten Diapositiv-Parallelprojektion.

[23] Anstatt wie bisher alle Studierenden einem pauschalen Lehrplan auszusetzen, sollte die Architekturvermittlung auf die besonderen Eignungen der einzelnen Studierenden ausgerichtet werden. Gardener, 1993, S. 10 hat längst die Ausbildung von Pädagogen zum Bestimmen der besonderen individuellen Fähigkeiten der Studierenden („assessment specialists“) vorgeschlagen. In der Tradition des klassischen Mentors wird hier das Profil eines Lehrplan-Maklers („student-curriculum broker“) entworfen, ein der allgemeinen Architekturvermittlung ähnelnder Abschied vom chronologischen oder kategorischen Vermitteln des Wissens.

[24] Vgl. Frege, 1986, S.48, 52.

[25] Zum Abschied von den verbindlichen Gebäudetypologien im Wohnungsbau und bei den öffentlichen Bauten addiert sich eine enorme Anzahl von Zweckbauten der Industrie und von temporären Bauten der Ausstellungsarchitektur. Man kann bauen, was man will und wie man will, sowohl semiotisch – die Formen sind mehr oder weniger bedeutungsfrei geworden – wie auch baukonstruktiv – die Bauindustrie unterliegt einem immensen Innovationsdruck.

[26] Wohnungseigentumsgesetz – WEG (1951).

[27] 2006 trat das "Gesetz zur Abschaffung der Eigenheimzulage" in Kraft.

[28] So etwa bei Adolf Loos: Haus Müller, Prag 1928-30: Der Raumplan unterscheidet sowohl in Zimmer als auch in ineinander übergehende Räume.

[29] Edward Ford vermittelt die Architektur-Moderne über das Betrachten des Details. Siehe dazu: The Details of Modern Architecture, Vol. 2 (1928 – 1988). Cambridge, MA 1996.

 


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11. Jahrgang
Doppelheft 1-2
Februar 2007