Die Zukunft
der Architekturvermittlung

11. Jahrgang
Doppelheft 1-2
Februar 2007
   

 

___Britta Trostorff
Weimar
  Architektur zwischen Ereignis und Alltag –
zu möglichen Ebenen der Vermittlung von Architektur
   

Was ist...?

Die Frage nach den Möglichkeiten der Vermittlung[1] von Architektur wirft mindestens für den Nicht-Architekten und die Nicht-Architektin die Frage auf, was das denn ist, das da vermittelt werden soll: Unsere gebaute Umwelt nutzen wir tagtäglich, mit ein wenig Übung können wir die Formensprache verschiedener Epochen erkennen, und einige Bauwerke genießen auf Grund ihrer Größe, ihrer Geschichte oder nicht zuletzt der Thematisierung in verschiedenen Medien unsere besondere Aufmerksamkeit. Was genau soll also vermittelt werden in Bezug auf Architektur, worüber soll geredet, worüber ein Austausch herbeigeführt werden? Das Nachdenken über diese Fragen führt unweigerlich zu der „großen“ Frage nach dem „Wesen“ von Architektur: Was „ist“ eigentlich Architektur? Oder in abgeschwächter Formulierung: In welcher Form begegnet uns Architektur?

All die genannten Fragen können und sollen mit diesem Beitrag mitnichten abschließend behandelt werden. Vielmehr werde ich basierend auf einer postmodernen raumtheoretischen Perspektive verschiedene Möglichkeiten der Betrachtung von und Beschäftigung mit Architektur andiskutieren und daraus denkbare Ebenen einer Architekturvermittlung ableiten. Aus dem so begründeten Verständnis von Architektur ergeben sich nicht zuletzt auch mögliche Antworten auf Fragen nach den Akteuren, die über Architektur kommunizieren bzw. an der Vermittlung von Architektur beteiligt sein können. Hinter diesen Überlegungen steht das Anliegen, Architektur umfassend(er) zu begreifen und die Bedeutung verschiedener Disziplinen für das „Vorhaben Architekturvermittlung“ anzudeuten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Bedeutungsgewinns der unscharfen Kategorie „Raum“ im Rahmen eines sich seit einigen Jahren vollziehenden „spatial turns“ in zahlreichen gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen.

Nun also zurück zu der eventuell provokant anmutenden, jedoch keinesfalls so gemeinten Eingangsfrage: Was ist Architektur? Auf den griechischen Wortstamm arché (Anfang, erste) und techné (Kunst, Handwerk) zurückgreifend, können wir Architektur im etymologischen Sinne als „erste Kunst“ oder als „erstes Handwerk“, mit Blick auf die Beschreibung der Tätigkeit des Architekten (architéktos) auch als Bauhandwerk bzw. in bewusster Abgrenzung zum bloßen Bauen als Baukunst verstehen. Der Blick in ein Nachschlagewerk ergibt, dass Architektur „Zweckerfüllung mit künstlerischer Gestaltung verbindet.“ (Zeitverlag, 2005, S. 343). Über den Architekten erfahren wir zudem, dass seine „Aufgabe in der Gestaltung der baulichen Umwelt besteht [...]“ sowie „die Fähigkeit erfordert, individuelle und gesellschaftliche Ansprüche in ein technisch und wirtschaftlich realisierbares Ordnungskonzept umzusetzen und diesem auch eine künstlerisch befriedigende Form zu geben“ (Zeitverlag, 2005, S. 343).


Architektur als Baukunst

Aus diesen Definitionen nehmen wir am deutlichsten das Verständnis von Architektur als Baukunst mit. Beispiele dafür gibt es zu jedem Zeitpunkt der (Bau-)Geschichte. Der neue Berliner Hauptbahnhof etwa ist in diesen Tagen in vieler Munde: Seit seiner Eröffnung bestaunen zahlreiche Besucherinnen und Besucher die 321 Meter lange Halle, die von einem Glasdach in „atemberaubender Höhe“ (Schulz, 2006, o. S.) überspannt wird und alle Ebenen des Bauwerks mit Tageslicht versorgt. Dabei erscheinen die Angaben über die Mengen verbauten Materials ebenso superlativ wie die Beschreibung der verschiedenen Gebäudeteile oder die mit dem Bauwerk geschaffenen Flächen. Attribute wie filigran und transparent, modern, hell und großzügig werden nicht zuletzt auch von der Bauherrin Deutschen Bahn AG herangezogen, um die Eigenschaften dieses neuen Bahnhofs lobend zu beschreiben. Ungeachtet der Unstimmigkeiten, die hinsichtlich der Erfordernisse der Zweckerfüllung als Funktionsbau einerseits und dem künstlerischen Anspruch andererseits bestanden, begeistert der Bahnhof die architektonischen Laien weit über die bundesdeutsche Hauptstadt hinaus, und so hat sich dieses Bauwerk innerhalb kurzer Zeit in die Liste der zu besuchenden Sehenswürdigkeiten vieler Touristen eingereiht. In der Tagespresse wird festgestellt, dass am Bau des Bahnhofs wie bei „keinem anderen der zahllosen Neubauten Berlins seit der Wiedervereinigung [...] die Öffentlichkeit großen Anteil genommen“ (Schulz, 2006, o. S.) hat. Es wird gar davon gesprochen, dass die Architekten mit diesem Bauwerk „Architekturgeschichte schreiben“ (Schulz, 2006, o. S.) könnten.

Ob es sich bei dem neuen Berliner Hauptbahnhof nun tatsächlich um Baukunst im Sinne einer „architektonischen Meisterleistung“ handelt, und woran diese Meisterleistung gemessen werden könnte, soll an dieser Stelle offen bleiben. Wichtiger erscheint vielmehr die Feststellung, dass das Bauwerk durch eine große Öffentlichkeit wahrgenommen und als etwas Besonderes, Sehens- bzw. Erlebenswertes eingeordnet wird. Dazu trägt nicht unwesentlich die Tagespresse bei, die durch eine entsprechende, begeisterte und begeisternde Berichterstattung den Berliner Hauptbahnhof als Thema außerhalb der Fachwelt anbietet. Für diese Thematisierung von Architektur in der Tagespresse eignen sich insbesondere Bauwerke mit „spektakulären“ Eigenschaften bezüglich Größe, Materialität, Formensprache oder auch Entstehungsgeschichte. So erregte beispielsweise von Beginn an der Bau von Hochhäusern, die alleine hinsichtlich ihrer Erscheinung im Stadtbild im wahrsten Sinne des Wortes überragend sind, das Aufsehen. Während der Bau in die Höhe Ende des 19. Jahrhunderts vor allem den hohen Bodenpreisen geschuldet und dank technischer Neuerungen wie der Erfindung des Fahrstuhls und der Entwicklung der Stahlskelettbauweise überhaupt erst möglich wurde (Gräwe, Schmal, 2006), sind es heute neben der Höhe eine „besondere Ästhetik, zukunftsweisende Gestaltung, städtebauliche Einbindung, Nachhaltigkeit sowie innovative Technik und Wirtschaftlichkeit“ (Deutsches Architekturmuseum 2006a), die den besonderen Reiz und die Herausforderung im Hochhausbau darstellen und die neuen städtischen Leuchttürme zu urbanen „Ereignissen“[2] machen. So überragt etwa der Gewinner des diesjährigen Internationalen Hochhauspreises, der „Torre Agbar“ des französischen Architekten Jean Nouvel, mit einer Höhe von 142 Meter nicht nur die Gebäude in seiner Nachbarschaft bei weitem, sondern verbindet zudem eindrucksvolle Erscheinung mit technischer Innovation: passend zu dem Bauherren und Nutzer des Gebäudes, einem spanischen Wasserkonzern, leuchtet das Gebäude nach dem Vorbild eines Geysirs in Feuer-, Wasser- und Luftfarben. Im Vergleich zu anderen Gebäuden mit Glasfassaden stellt es eine Neuerung im Bereich des energiebewussten Bauens dar. Ungeachtet dieser Herausforderungen übt alleine Höhe noch immer eine große Faszination aus, und so ist global gesehen ein Wettkampf um das höchste Gebäude der Welt entbrannt.

Es sind nicht zuletzt solche, auf eine bestimmte Weise „spektakuläre“ Bauwerke, die sowohl die Entwicklung der Architektur als Baukunst einerseits als auch das öffentliche Interesse, ja die Begeisterung für Architektur andererseits vorangebracht haben. Architektur wird hier  tatsächlich zum Ereignis, Kommunikation ist wesentlicher Bestandteil dabei. Medien der Vermittlung sind etwa zahlreiche Nachschlagewerke, in denen nach zeitlichen, räumlichen oder funktionalen Kriterien die „Wichtigsten Bauwerke der Moderne“ (Haberlik, 2001) o. ä. aufgelistet sind, oder die als Architekturführer den Weg durch unsere Städte weisen. Insbesondere für die Kommunikation außerhalb der Fachkreise fungieren jedoch auch die Tagespresse, Architekturpreise und anderweitige Auszeichnungen, die wiederum den Ereignischarakter der Architektur betonen, als Vermittlungsinstanzen.


Architektur als Symbol

Betrachten wir stellvertretend die angeführten Beispiele des Berliner Hauptbahnhofs oder des Hochhausbaus, so lässt sich neben den baulichen und technischen Leistungen, die in darin zum Ausdruck kommen, eine weitere Ebene identifizieren, die in diesen Bauwerken enthalten ist und sie „ausmachen“. Diese Ebene ist weniger offensichtlich, da nicht materiell als vielmehr von symbolischem Gehalt. Bezüglich des Berliner Hauptbahnhofs wird eine „Interpretationshilfe“ für diese symbolische Ebene des Bauwerks mitgeliefert, wenn beispielsweise auf die Bedeutung dieses „größten Kreuzungsbahnhofs Europas“ als „Schnittstelle im zusammenwachsenden Europa“ (Deutsche Bahn AG, 2006, o. S.) hingewiesen  wird: Der Bahnhofsbau soll als Symbol nicht nur der Überwindung der einstigen Teilung der Stadt, sondern vielmehr ganz Europas „gelesen“ werden. Berlin scheint damit zu einem „Drehkreuz“ in alle Himmelrichtungen und so zu einem Mittelpunkt zu werden. Das hört sich doch aussichtsreich an, zukunftsweisend, am Puls der Zeit – wer möchte da nicht in Begeisterung verfallen! Der Berliner Hauptbahnhof ließe sich jedoch ebenfalls unter anderen Gesichtspunkten dekodieren und als Symbol interpretieren. Beispielhaft wären etwa das „Zeichen“, dass die Deutsche Bahn AG damit im anhaltenden Privatisierungs- und Liberalisierungsprozess des Bahnbetriebs setzt, oder die politische Aussage, die sich aus Lage und Gestaltung in Bezug zu den Regierungsbauten ergibt. Und auch für den „Torre Agbar“ findet sich die offizielle „Lesehilfe“ etwa in der Preisbegründung der international besetzen Jury, die das Gebäude als Symbol für die „Entwicklung eines neuen Stadtviertels in Barcelona“ sehen. „Seine expressive Gestalt, eine Form, die scheinbar aus dem Erdboden aufsteige, markiere die pulsierende Dynamik einer städtebaulichen Revitalisierung.“ (Deutsches Architekturmuseum, 2006b, o. S.). Dabei ist jedoch auch zu sehen, dass der ursprüngliche Zwang zum Bauen in die Höhe, der sich auf Grund der hohen Bodenpreise ergab, heute kaum noch besteht und die wenigsten Regionen der Welt so dicht besiedelt sind, dass es nicht eine Alternative in der Fläche gäbe. Vor diesem Hintergrund lassen sich Hochhäuser vielmehr auch als Symbole von Macht und Einfluss im städtischen Raum verstehen. Nicht zuletzt der entbrannte „Wettbewerb“ um das höchste Gebäude deutet in diese Richtung.

Das Bauwerk in seinen baulichen Eigenschaften wie Größe, Stil, Materialität ist somit eine „Übersetzung“ von Bedeutungen in physisch wahrnehmbare Eigenschaften, Architektur kann in dieser Betrachtungsweise zeichentheoretisch als „Bedeutungsträger“ verstanden werden. So werden mit dem Begriff „Politische Architektur“ nicht etwa nur Bauwerke mit politischen Nutzungen, sondern auch mit politischem Nutzen bezeichnet: Architektur wird als baulicher „Ausdruck[s] von Herrschaft und Politik“ (Nerdinger, 2004, S. 14) eingesetzt, mittels dessen politische Funktionen und Aussagen baulich sicht- und wahrnehmbar gemacht werden sollen. Dem Bauwerk kommt in diesem Sinne die Rolle eines Bedeutungsträgers „im Dienste der Machthabenden“ (Fleischmann, 2005, S. 119) zu. Steffen de Rudder (2007) analysiert in seiner Arbeit zur Berliner Kongresshalle unter anderem diese symbolische Dimension: Das „Geschenk“ Kongresshalle der Amerikanischen Regierung an die Stadt (West-)Berlin aus dem Jahr 1957 ist angesichts der durch Kalten Krieg und Teilung der Stadt geprägten politischen Situation mehr als eine Aufmerksamkeit. Es ist ebenfalls mehr als ein Symbol der teilhabenden Verbundenheit. Vielmehr ist das „Geschenk“ als ganz gezieltes Instrument amerikanischer Bündnispolitik dieser Zeit zu verstehen. Während die Kongresshalle sich nach Überwindung der bautechnischen Probleme tatsächlich der begeisterten Nutzung durch die Berliner erfreute und mehr und mehr zu einem Wahrzeichen amerikanisch-deutscher Freundschaft wurde, wurde ein ähnliches Geschenk des großen Bruders Sowjetunion an die polnische Hauptstadt Warschau, der 230 m hohe Kulturpalast, seit seiner Erbauung Mitte der 1950er Jahre als Symbol totalitärer Unterdrückung verstanden und war eher unbeliebt.

Bereits Victor Hugo schreibt 1832 in seinem Roman „Notre-Dame de Paris“ ausdrücklich von der Kathedrale Notre-Dame als „Buch aus Stein“ (ebd., 1975, S. 106f.), und weist uns darauf hin, dass wir ein Bauwerk „lesen“ können. Analog zu einem Buch aus Papier „schreibt“ auch unsere gebaute Umwelt – von einer bestimmten Zeit, einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung, einer politischen Intention, einer finanziellen Situation, eines irgendwie gearteten Repräsentationswillens. Ihre „Worte“ sind etwa Grundriss, Exposition, Formensprache, Materialien, Bauweise etc. Ähnlich schlägt der Historiker Karl Schlögel in seinem vielbeachteten Buch „Im Raume lesen wir die Zeit“ (2003) vor, die uns umgebende Welt unter historischen Gesichtspunkten zu dechiffrieren und zu deuten und führt weiter aus, „man könnte ein Geschichtsstudium streckenweise auch als Schulung der Sinne und als Augentraining absolvieren – mit Städten und Landschaften als Dokumenten. [...] Alles bekommt dann ein anderes Aussehen und beginnt zu uns zu sprechen: Trottoire, Landschaften, Reliefs, Stadtpläne, die Grundrisse von Häusern." (Schlögel, 2003, S. 13). Ein entsprechendes verstehendes „Lesen“ von politischen und gesellschaftlichen Statements, die in Stein „übersetzt“ wurden, erfordert seitens der „Leser“ umfassende Kenntnisse zu Entstehungsgeschichte und –zeit von Bauwerken sowie die „Lesbarkeit“ der architektonischen Sprache auf der anderen Seite. Katharina Fleischmann (2005) hat in ihrer Arbeit neben den Aussagen, die in Berliner Botschaftsneubauten als Form staatlicher Repräsentanzen zum Ausdruck kommen sollen, eben diese Frage nach der „Lesbarkeit“ durch den Laien untersucht. Die Ergebnisse sind nicht zuletzt ein Indiz dafür, dass in diesem Punkt erheblicher Vermittlungsbedarf besteht. Die architektonischen „Übersetzungen“ von politischen Aussagen haben sich den Passanten als der zahlenmäßig größten Gruppe potenzieller „Leser“ dieser Aussagen nur bedingt erschlossen.

Zahlreiche Beispiele zeigen uns zudem, dass das „Lesen“ vergangener politischer Aussagen in Form von Architektur nicht zu jeder Zeit und unter allen gesellschaftlichen Systemen gewünscht ist. Die Zerstörung von Bauwerken, wie etwa in den 1950er und 1960er Jahre in ostdeutschen Städten mit Stadtschlössern und anderen Herrschaftsbauten, die als Ausdruck einer überholten feudalen Gesellschaftsordnung betrachtet wurden, geschehen, ist sicherlich die radikalste Umgangsweise damit. Eine andere Art und Weise des Umgangs ist die bewusste Nicht-Thematisierung der ursprünglichen symbolischen Bedeutung.


Architektur als Alltag

Letztgenanntes Beispiel leitet schließlich zu einer dritten Ebene eines Architekturverständnisses über, die mit dem Begriff des „Alltäglichen“ überschrieben werden kann. Während insbesondere bei der Betrachtung von Architektur als Baukunst das Besondere, Spektakuläre betont und Architektur als „Ereignis“ gekennzeichnet wird, und im Falle von Architektur als Symbol ebenfalls eine Absichtlichkeit festgestellt wurde, geht es hier um das scheinbar Banale, Alltägliche, Unspektakuläre. Wie eingangs angesprochen, nutzen wir tagtäglich unsere gebaute Umwelt, und ein Großteil der Gebäude wurde für eben diese alltäglichen Zwecke errichtet. Der größte Teil dieser Nutzungen erfolgt aus Routine und ist durch die entsprechende Funktion, die mit einem Gebäude verbunden ist, begründet: In einem Einkaufszentrum gehen wir einkaufen, in einem Wohnhaus wohnen wir. Die baulichen, technischen oder gestalterischen Eigenschaften treten gegenüber den Nutzungen in den Hintergrund. Trotzdem, oder auch gerade deshalb, lohnt sich der bewusste Blick auf die Architektur, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist die Architektur angesichts ihrer vergleichsweise langen „Haltbarkeit“ Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Ordnungen und Setzungen. Claudia Wucherpfennig (2006) zeigt beispielsweise, wie sich in Größe und Anordnungen von Bahnhofs-Wartesälen für verschiedene Klassen gesellschaftliche Verhältnisse, die wesentlich den Alltag der Menschen mitbestimmten, widerspiegeln. Auch hier besteht also die Möglichkeit, Architektur zu dekodieren.

Mehr noch soll mit der Bezeichnung „Architektur als Alltag“ jedoch eine andere Ebene angesprochen werden, die einen noch stärkeren Bezug zu den Be-Nutzern und Be-Nutzungen von Architektur im Alltag hat: Wenn Victor Hugo in dem Vorwort zu seinem Werk „Notre-Dame de Paris”  (1975 [1831]) bedauernd feststellt, dass die in die Wände geritzten Nachrichten vormaliger Nutzer im Rahmen der Instandsetzung der Kirche verschwunden sind, dann sind es Spuren der Nutzung, von denen er spricht. Die Nutzungen des Kirchengebäudes, auf die diese Spuren hinweisen, stehen nicht in direktem Zusammenhang zu der vordergründig ersichtlichen bzw. anzunehmenden Nutzung für eine Kathedrale. Im Alltag nutzen wir unsere gebaute Umwelt häufig „zweckfremd“. C. Wucherpfennig zeigt dies wiederum am Beispiel von Bahnhöfen: Diese ganz offensichtlich als Abfahrts- oder Ankunftsorte dienenden Bauten, die durch die zunehmende Erschließung für kommerzielle Zwecke und die damit einhergehende Privatisierung eine deutliche Veränderung erfahren, werden beispielsweise als trockener und warmer Aufenthaltsort von Obdachlosen genutzt. Diese „andere“ (Soja, 1994) Nutzung unserer gebauten Umwelt im Alltag ist kaum ersichtlich in Formensprache und Materialität des Bauwerks selber, wird unter Umständen jedoch zu einem bedeutenden Bestandteil des Bewusstseins über und damit der Geschichte von einem Bauwerk. So steht in der „Stadt der Dichter und Denker“ Weimar das einzige nahezu vollkommen fertig gestellte Gauforum, das von den Nationalsozialisten zwischen 1937 und 1945 unter erheblicher Veränderung der städtischen Struktur zum Zwecke der Repräsentation und Machtdemonstration errichtet wurde. Dieses Bauwerk lässt sich ausgezeichnet im Sinne der vorangehend dargestellten symbolischen Ebene von Architektur analysieren (siehe dazu Wolf, 1999). Es hat mittlerweile jedoch ebenso eine rund 50jährige realsozialistische Nutzung sowie 15 Jahre deutscher Einheit hinter sich, Phasen, die maßgeblich geprägt sind durch „Alltag“[3]. Dieser Alltag bedeutete vorwiegend nicht die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Intention etwa „einer Halle der Volksgemeinschaft“, sondern vielmehr die Möglichkeit der Nutzung einer Kegelbahn, der Anlage einer Champignonzucht zur Produktion von „Tauschware“ oder die Erweiterung des innerstädtischen Einkaufsangebots usw. Solche Erinnerungen an den „gelebten Raum“ sind für den heutigen Umgang mit diesem Bauwerk innerhalb der Stadt mindestens ebenso aufschlussreich wie eine Analyse der Entstehungsgeschichte, der Bauausführung oder der Formensprache.

Mit der Bezeichnung „Architektur als Alltag“ wird also eine Betrachtungsperspektive angedeutet, die einen Blick auf den „gelebten Raum“, der durch Architektur gefasst ist, hilfreich sein kann. Insbesondere durch die Suche nach den wenig offensichtlichen, aber ganz „normalen“, alltäglichen Nutzungen kann ein Verstehen von Architektur auf eine andere Art und Weise möglich sein, als dies der bloße Blick auf die gebaute Form möglich macht. Dabei werden die zuvor noch als „Laien“ bezeichneten, architektonisch womöglich ungebildeten Menschen plötzlich zu den Experten.


Architekturvermittlung kann...

Die angedeuteten Ebenen der Betrachtung von Architektur sprechen mit der physisch-materiellen, der symbolischen sowie der „gelebten“ Dimension ganz unterschiedliche „Eigenschaften“ von Architektur an, die sich in einem Verständnis von „Raum“ begründen, dass diesen nicht als ausschließlich „gegeben“ sondern vielmehr als gesellschaftlich konstruiert und „gemacht“ begreift (vgl. dazu u. a. Lefebvre, 1991; Soja, 1994; Werlen, 1995/97). „Raum“ lässt sich dabei weder ausschließlich mit der einen noch mit der anderen Blickweise erfassen, vielmehr „ist“ Raum erst durch das Zusammenspiel dieser drei Dimensionen. So kann die von Karl Schlögel vorgeschlagene Form des praktischen Geschichtsstudiums an Hand von Städten und deren Bauwerken nur bedingt die Ebene des gelebten Raumes erfassen, der alltägliche Raum des ehemaligen Gauforums etwa bliebe ihm zu großen Teilen verschlossen, da es keine physischen Spuren davon gibt. Das „Raum-(Er-)Leben“ wiederum kann durch Kenntnisse über die ursprüngliche Bedeutung oder Intention oder die Einordnung als „Baukunst“ beeinflusst werden, wie dies sicherlich für die erstmaligen Gäste des Berliner Hauptbahnhofs der Fall ist, die kaum „einfach so“ aus dem Zug steigen und ihres Weges gehen werden, sondern zumindest einmal den Blick rundum schweifen lassen werden. In diesem Verständnis „ist“ auch Architektur mehr als Materialität und Form, sie kann und sollte vielmehr ebenfalls unter der symbolischen Bedeutung sowie der alltäglichen Raumproduktion betrachtet werden. Die jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind dabei wesentliche Kontexte, die das „richtige“ Sehen und Verstehen erst ermöglichen.

Das skizzierte weit gefasste Verständnis von Architektur schließlich hat für die Frage der Vermittlung Konsequenzen. Die eingangs dargelegte Auffassung von Vermittlung als Kommunikation kann ergänzt werden um mögliche Zielstellungen dieser Kommunikation ebenso wie um Aussagen zu möglichen Akteuren, die da kommunizieren. Entgegen einer möglichen, auf das Verständnis von Architektur als Baukunst beschränkten Annahme, dass es sich bei der Vermittlung von Architektur insbesondere um Stil- und Formenlehre, Auflistung bedeutender Bauwerke und deren Architekten oder ähnliche Ansätze handeln könnte, impliziert die Kommunikation über Architektur im Sinne der an zweiter und dritter Stelle vorgestellten Betrachtungsweise vor allem gesellschaftliche und historische Aussagen. Das Bauwerk hat hier die Eigenschaft eines „Mittels“ oder „Indikators“ bzw. ist Ausdruck, und muss als solcher verstanden werden. „Vermittlung“ meint nicht zuletzt die Befähigung des verstehenden „Lesens“ auf diesen Ebenen. Folglich sind es verschiedenste Disziplinen, die an der Vermittlung von Architektur beteiligt sind, neben Architektinnen und Architekten etwa Historikerinnen und Historiker, Soziologinnen und Soziologen, Psychologinnen und Psychologen, Geographinnen und Geographen, Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler usw. Die Vermittlung erfolgt zu einem großen Teil innerhalb dieser Gruppe (vgl. Wolkenkuckucksheim 10. Jg., Heft 1, September 2006). Neben diesen „Fachleuten“  sind es zudem die „ganz normalen Menschen“, die einerseits als Zielgruppe der Vermittlung dienen können, insbesondere aber auch mit Blick auf die Betrachtung von Architektur als Alltag die Vermittelnden sind.

 


Literatur
:
 

De Rudder, S. (2007, z. Z. in Druck). Der Architekt H. Stubbins – Amerikanische Moderne der 1950er Jahre in Berlin. Berlin: Jovis.

Deutsche Bahn AG (2006). Berlin Hauptbahnhof. Bauvorhaben. Architektur.
http://www.hbf-berlin.de/site/berlin_hauptbahnhof/de/bauprojekt/architektur/architektur.html, Zugriff 10.11.2006

Deutsches Architekturmuseum (2006a): High Society. Aktuelle Hochhausarchitektur und der Internationale Hochhaus Preis 2006.
Link, Zugriff 20.11.2006

Deutsches Architekturmuseum (2006b):Internationaler Hochhauspreis 2006.
Link, Zugriff 20.11.2006

Fleischmann, K. (2005). Botschaften mit Botschaften. Zur Produktion von Länderbildern durch Berliner Botschaftsbauten.
http://www.diss.fu-berlin.de/2005/287/index.html

Gräwe, C. & Schmal, P.C. (Hrsg.). (2006). High Society. Berlin: Jovis.

Haberlik, C. (2001). Architektur des 20. Jahrhunderts: die wichtigsten Bauwerke der Moderne. Hildesheim: Gerstenberg.

Hugo, V. (1975 [1831]). Notre-Dame de Paris. Editions Gallimard.

Lefebvre, H. (1991). The production of space. Oxford: Blackwell.

Nerdinger, W. (2004). Architektur, Macht, Erinnerung: Stellungnahmen 1984 bis 2004. München: Prestel.

Schlögel, K. (2003). Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München: Hanser.

Schulz, B. (2006). Eine Reise ins Licht. Der Tagesspiegel, 22.05.2006.
http://www.tagesspiegel.de/kultur/archiv/22.05.2006/2547439.asp, Zugriff 10.11.2006.

Soja, E. (1994). Postmodern geographies: the reassertion of space in critical social theory (4th ed.). London: Verso.

Soja, E. (1997). Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Malden: Blackwell.

Soja, E. (2001). Thirdspace – Die Erweiterung des Geographischen Blicks. In H. Gebhardt, P. Reuber & G. Wolkersdorfer (Hrsg.), Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen. Heidelberg: Spektrum.

Werlen, B. (1995). Sozialgeographie Alltäglicher Regionalisierung (Band 1: Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum. Erdkundliches Wissen, H. 16). Stuttgart: Steiner.

Werlen, B. (1997). Sozialgeographie Alltäglicher Regionalisierung (Band 2: Globalisierung, Region und Regionalisierung. Erdkundliches Wissen, H.119.) Stuttgart: Steiner.

Werlen, B. (2000). Sozialgeographie. Eine Einführung. Bern: UTB.

Wolf, C. (1999): Gauforen - Zentren der Macht: zur nationalsozialistischen Architektur und Stadtplanung. Berlin: Verlag Bauwesen.

Wolkenkuckucksheim, 10. Jahrgang, Heft 1 2006: From Outer Space: Architekturtheorie außerhalb der Disziplin (Teil 1).
/theoriederarchitektur/Wolke/deu/Themen/themen.html

Wucherpfennig, C. (2006, im Druck). Bahnhof – (stadt)gesellschaftlicher Mikrokosmos im Wandel (Wahrnehmungsgeographische Studien 22). Oldenburg: BIS.

Zeitverlag (Hrsg.). (2005). Das Lexikon in 20 Bänden. Band 1 A – Bar.

 


Anmerkungen:
 

[1] „Vermittlung“ wird hier im Sinne des Thematisierens verstanden, also als das „darüber Reden“, das „sich damit Auseinandersetzen“, kurz: als Kommunikation.

[2] Der Begriff des Ereignisses wird hier mit Bezug auf den englischen Begriff „Event“ als etwas „Besonderes“ verstanden, das von einer großen Gruppe Menschen als „faszinierend“, „außerordentlich“ o. ä. erlebt wird.

[3] Die Untersuchung dieses alltäglich “gemachten”, durch das physische wie symbolische Bauwerk Gauforum geprägten Raumes ist Gegenstand des Dissertationsvorhabens der Autorin.

 


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11. Jahrgang
Doppelheft 1-2
Februar 2007