Himmel und Erde (Heaven and Earth)
Festheft für Karsten Harries

12. Jg., Heft 1
August 2007
   

 

___Eduard Führ
Cottbus
  Feld und Welt.
Zur Phänomenalität des Phänomens

 

   

Das Phänomen in der Architektur

Schauen wir uns im Museum ein Bild an oder im Kino einen Film, so sehen wir Dinge, Menschen, Räume sowie zeitliche Potenzen oder Verläufe; wir erkennen Ereignisse und Geschichten.
Wenn wir hinterher mit Freunden darüber sprechen, was wir gesehen haben, so gibt es zumeist – durchaus auch fruchtbare – Meinungsverschiedenheiten über das Dargestellte, über Ereignis und Geschehen, über den Sinn des Wahrgenommenen und über die künstlerische Qualität.
Worüber es keine Diskussion gibt, ist, dass wir Dinge, Menschen, Räume sowie zeitliche Potenzen oder Verläufe, Ereignisse und Geschichten wahrgenommen haben.
Im Grunde genommen müsste uns das aber überraschen. Bilder, Abbildungen und Filme sind empirisch gesehen nichts anderes als nach einem bestimmten Algorithmus angeordnete (Bild) und sich transformierende (Film) zweidimensionale bunte Flecken auf einer Fläche. Der an der Erforschung der Wahrheit Interessierte müsste sich sofort deutlich machen, dass er einer Täuschung aufsitzt, dass er das eingebildete welthafte Geschehen verwerfen und alle Anstrengungen darauf richtet müsste, zweidimensionale Muster zu sehen.

Die Wahrheit ist subjektiv im doppelten Sinne, sie ist etwas, das nur ein Subjekt haben kann und etwas, das stets in der individuellen Perspektive eines Subjektes steht. Kann man, muss man diese beiden Subjektivismen voneinander trennen? Was bleibt von der Welt der Dinge, kann es Objektivität von Wahr-Nehmung geben?
Ich muss nicht erwähnen, dass sich die Philosophen zumindest seit Kant diesen Fragen stellen – und völlig konträr beantworten. Ich möchte die Fragen jedoch innerhalb der Architektur diskutieren.
Gibt es so etwas wie eine Objektivität der Architektur? Spielt diese Objektivität überhaupt eine Rolle, wenn man realisiert, dass Architektur stets nur für uns als wahrgenommene existiert. Wenn sie wegen der Subjektivität der Wahrnehmung subjektiv ist, macht es da noch Sinn, sie zu entwerfen (wenn man unter Entwerfen die Mühen versteht, ein spezifisches Konzept, eine spezifische ästhetische Aussage, einen spezifischen Sinn zu materialisieren)?

Architekturhistorisch hat man sich bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts darüber wenig Gedanken gemacht. Wie selbstverständlich gingen die Architekten davon aus, dass sie Dinge der Außenwelt herstellen und diese als diese dann auch wahrgenommen werden. Dissenz der Interpretation zur Intention der Architekten wurde als Unfähigkeit von laienhaften oder geisteswissenschaftlichen professionellen Interpreten abgetan, als Architekturkritiker wurde allein eine Person akzeptiert, die zumindest selber Architekt war. Der Architekt nahm sich als Urheber, als Person, die den Grund des Seins eines Seienden ausmacht und damit der Einzige ist, der über arche, Grund, Sinn eines Gebäudes auszusagen kompetent ist; ‚Ich habe es ja schließlich gemacht‘, ist der Satz, der jedem Architekturkritiker das Wort abzuschneiden suchte.

Dann aber haben sich in der Architektur Phänomenologie und Semiotik durchgesetzt, zwei Seins- und Wissenstheorien, die den Rezipienten zum Urheber und damit zum Architekten machen.
Die Phänomenologie – auf die ich mich hier konzentrieren möchte – nimmt die Architektur konsequent als Phänomen, als Zwischengegenstand (Intermediary Object). (Norberg-Schulz 1963).
Sehen wir uns das Verständnis von Phänomen in einer der frühesten Untersuchungen zur Architekturphänomenologie an:


„We meet a girl.
This girl has certain properties of which we spontaneously become aware. She may seem very beautiful because she corresponds to our idea of how a beautiful girl should look. Being asked after the first meeting if we know the girl, we should have to answer both yes and no. We do know some of her properties, but some thought tells us that she certainly has other qualities which are hidden to us. We say that her beauty is one of her ‚manifestations’. … Generally we may say that any object is represented by its manifestations, that is by mediating phenomena … We may also call these phenomena properties because they are not a thing, but belong to the thing in such a way that they directly represent or symbolize the thing for us. … From this it follows that a phenomenon is present (appears), while an object exists. The phenomena do not exist, as they are characterized by a lack of permanence … Thus they have no independent existence and it is meaningless to talk about ‘das Ding an sich’.”
(Norberg-Schulz 1963, S. 28f)


Da es dieses ‚Ding an sich‘ nicht gebe – so Norberg-Schulz – werde man das Mädchen auch niemals objektiv und vollständig erfassen können, es sei immer als Zwischengegenstand, als Phänomen gegeben.
In der Disziplin der Architektur bilde sich der Zwischengegenstand als eine zu einer Ganzheit gewordenen, in einer symbolhaften Bedeutung gründenden Koordination von „task, form and technics“ (Norberg-Schulz 1963, S. 167) heraus, nur dann handele es sich überhaupt um Architektur (als Gegenstand).

Nun habe ich die Erfahrung, wenn ich eine Frau oder einen Mann spontan schön finde, dass ich sie unmittelbar schön finde, dass mein Schönheitsempfinden nicht erst entsteht, wenn ich die wahrgenommene äußere Erscheinung der Menschen mit meinem Schönheitsverständnis vergleiche und dann – als mehr oder weniger bewusstes Urteil – schließe: ergo, es handelt sich um eine schöne Frau oder einen schönen Mann.
Aber darauf will ich später zurückkommen.

Eine der frühen Benutzungen des Wortes Phänomen stand im Zusammenhang der Astronomie und aus dem Problem, das aus der Differenz entstand zwischen der Annahme, der Kosmos, als Ort der göttlichen Ordnung, verhalte sich nach göttlichen (= mathematisch einfachen und klaren) Regeln und der zu machenden Wahrnehmung des Laufs der Planeten, die sich (aufgrund der Eigenbewegung der Erde) für den subjektiven Betrachter auf der Erde als sehr unregelmäßig zeigte. Hier standen Logos und Phänomen offensichtlich im Widerspruch.
Ein Phänomen ist demnach ein Ereignis, das eine Eigenständigkeit besitzt und sich (zunächst) nicht in eine Regel überführen lässt. Wie diese Eigenständigkeit zu bewerten ist, als bösartige Täuschung, die vom wahren Sein ablenkt (etwa Plato), als eigenständige Wirklichkeit, die man wichtig nehmen müsse (etwa Aristoteles), oder aber als Erscheinung einer Wahrheit, die man noch nicht erkannt habe (etwa Anaxagoras), blieb in der Antike offen (dazu siehe Ritter Gründer 1989, Spalte 461 f.) und ist auch heute noch diskutiert.

Bei der hier mit Norberg-Schulz vorgenommenen Definition eines ‚Phänomens‘ wird darüber deutlich, dass der Einführung des Begriffs ‚Phänomen‘ drei Wirklichkeitsbereiche und deren Beziehung zueinander adressiert werden, das Objekt, ein Subjekt und eine Zwischenrealität. Daraus entstehen Fragen, die einzelne Phänomenologien jeweils unterschiedlich beantworten; sie sind,

-          wie diese drei Wirklichkeiten zueinander stehen,

-          welche der drei Wirklichkeiten vorrangig ist, und welche abhängig sind,

-          ob es denn überhaupt eine reine objektive Wirklichkeit gibt, wenn die Zwischenwirklichkeit vorrangig ist,

-          was dann eigentlich die subjektive Wirklichkeit ist,

-          ob es sie als zwischenwirklichkeits- und objektfreie Wirklichkeit gibt, oder

-          ob die subjektive Wirklichkeit letztlich nichts anderes als die subjektive Ordnung der Zwischenwirklichkeit ist.


Zugleich bleibt offen, in welcher Weise das Phänomen ein Zwischen bildet. Ist die Zwischenwirklichkeit

-          sinnlich,

-          eine Erkenntnis,

-          ein Sein oder

-          Vorschein eines Wesens?


In der Architektur wird dieser allgemeine Phänomenbegriff in drei grundsätzlich unterschiedlichen Weisen konkretisiert:
 

-         Als Wissenschaft des empirisch-dinglichen, materialen Vorhandenseins der Architektur ist auch die strenge ‚Bauforschung‘ eine Phänomenologie, und zwar insofern, als sie es ablehnt, über die Beziehung der erscheinenden Wirklichkeit zu einer hinter oder in ihr liegenden zu spekulieren, wobei diese Ablehnung zwar nicht in der Nichtakzeptanz eines objektiven Logos, sondern in der wissenschaftstheoretischen Angst liegt, doch nur einer subjektiven Hypothese aufzusitzen. Die Phänomenologie der ‚Bauforschung‘ verweigert die Referenz des Phänomens auf eine objektive Wirklichkeit, weil sie die Gründung der Zwischenwirklichkeit im Subjekt negiert. Die  ‚Bauforschung‘ ist somit eine Art positivistischer Phänomenologie.
Die ‚Bauforschung‘ ist keine theoretisierende Wissenschaft, das widerspräche auch ihrer eigenen – wissenschaftstheoretischen – Grundposition. Sie versteht sich zudem als Baugeschichte (vormoderner Geschichtsbegriff). Als ihre Opponenten sieht sie deshalb eher interpretierende (dem eigenen Verständnis nach stets überinterpretierende) Historiker. Gleichwohl wären ihr wissenschaftstheoretisch zwei Phänomenologien entgegengesetzt, die Phänomenologie, die die Gründung des Phänomens in einer überempirischen objektiven Wirklichkeit und die Phänomenologie, die die Gründung des Phänomens in einer subjektiven Wirklichkeit vornehmen. Architektur ist allein ‚steinerne‘ Wirklichkeit, sie ist von überempirischer, geistiger und von subjektiver Wirklichkeit isoliert.
In der Verabsolutierung des Phänomens innerhalb der Architektur steht die ‚Bauforschung‘ aber nicht allein. Auch die allein an einer Chronologie des Herstellens, Bestehens, Verfallens und Umbauens eines Gebäudes interessierte Baugeschichte gehört dazu.
 

-         Norberg-Schulz selbst ist spätestens seit der Veröffentlichung von ‚Genius Loci‘ (1979) (siehe auch Norberg-Schulz 2000) ein Architekturphänomenologe, dem es auf das ‚deeper meaning‘ (Norberg-Schulz 2000, S. 20)  ankommt, der also eine Gründung des Phänomens in einer überempirischen Wirklichkeit annimmt. Der genius loci ist ein Phänomen, in dem sich die ‚Teilnahme an der Wahrheit‘ (Norberg-Schulz 1979, S. 6) zeigt. Neben Norberg-Schulz wäre hier vor allem Gaston Bachelard (1957) anzuführen, er spricht vom Phänomen als vom ‚Aufflammen des Seins in der Einbildungskraft‘ (Bachelard 1957, S. 8), auch ihm ist die Referenz eines Phänomens auf eine ‚über‘ der Empirie liegenden objektiven Wirklichkeit, vorrangig. Dieses Sein findet sich zwar in der Einbildungskraft des Menschen ein – nur in der Einbildungskraft, weil Wissen es zerstört –, es ist aber nicht die Einbildungskraft, die es im Grunde konstituiert. Bei Norberg-Schulz und Bachelard bringt das Phänomen eine objektive Überwirklichkeit zur Präsenz, in ihm sind weder die Banalität seines empirischen Soseins noch Wirklichkeit der Subjektiven wichtig. Dazu in fast diametralem Gegensatz wird Phänomen als eine geistige Entität, eine den Gegenstand in seiner Materialität übersteigende Sinnhaftigkeit verstanden. Architektur ist ideale objektive Wirklichkeit, Geist. Subjektive Wirklichkeit, als das Konkrete, Alltägliche, als das Je-für-mich-Richtige, widerspricht der Autonomie der idealen objektiven Wirklichkeit ebenso wie eine Überbewertung des Empirischen des Phänomens.
 

-         Die andere Gegenposition zu einer Verabsolutierung der Empirizität des Phänomens kappt eher die Referenz zur überempirischen objektiven Wirklichkeit. Sein und Sinn gründen nun im Subjekt. Die wissenschaftstheoretischen Ansätze sind hier aber sehr heterogen.
Für Otto Friedrich Bollnow (1963) ist das Phänomen Ergebnis des biologisch-anthropologischen Wesens der Menschen. So habe der Mensch etwa ein natürliches Achssystem, das darin begründet sei, dass er aufrecht stehe (senkrechte Dimension), nach vorne gehe (Tiefendimension) und ein Rechts und Links neben sich habe (Breitendimension), wobei aus der Gerichtetheit des Aufrechtsein (Kopf oben), der ambulatorischen Fähigkeit des Menschen, besser nach vorne als nach hinten gehen zu können, sowie seiner gerichteten Sichtigkeit (Augen sind vorne am Kopf) und weiterhin aus seiner Händigkeit (Rechts- oder Linkshändigkeit) ein im Gegensatz zur Mathematik stehende inhomogene spezifisch menschliche Räumlichkeit entsteht. Diese Räumlichkeit gründet in der biologischen Ausstattung des Menschen als solchem und ist deshalb überindividuell. Auch der Philosoph Hermann Schmidt, der sich immer wieder auch an architekturphänomenologischen Statements versucht, wäre hier einzuordnen, obwohl er sich weniger auf die biologische Körperlichkeit, denn auf eine diffuse aber immer noch als anthropologisch gedachte Leiblichkeit bezieht.
Phänomen ist aber auch ein Sinneseindruck einer unmittelbar sinnlich rezipierten Gegenstandswelt, ohne dass die Beziehung zu dessen eigentlichem Sein geklärt werden oder eine tiefere geistige Bedeutung bestehen muss. Architektur ist dann verstanden als Oberfläche. Das wäre ein sensualistisches Verständnis von Phänomen. Dabei kann man einerseits mehr die äußere Erscheinung des Gegenstandes meinen, (wobei ‚außen‘ hier die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften meint, die nicht unbedingt nur außen dran sein müssen), gerade im Gegensatz zur dinglichen Existenz eines Gegenstandes als Ganzem, und man kann andererseits die subjektiv erlebte Empfindung betonen unter Absehung von den Oberflächenqualitäten eines Dings.
Für diese erste Unterposition könnte man den Malerischen Städtebau, wie er zum Teil bei Camillo Sitte formuliert wird, oder aber auch die baumaterialbegründete Analyse der Spanischen Treppe durch Roland Günter u. a. (1978) anführen.
Für das zweite Verständnis kann man Eiler Rasmussen (1959) zitieren: Die besten Bauwerke sind entstanden „wenn ein Künstler, ein Architekt, von etwas an der Aufgabe inspiriert wurde, das dem Bauwerk eine besondere Prägung geben soll. Es ist aus einer Stimmung heraus entstanden und gibt seinerseits diese Stimmung weiter an andere. So werden die äußeren Dinge ein Mitteilungsmittel für Gefühle und Stimmungen von einem Menschen zum anderen.“ (Rasmussen 1959, S. 32). Hier wäre aber auch John Jerde und seine Überlegungen zum Entwerfen von Architektur für Las Vegas zu erwähnen (dazu siehe Ötsch 2006).
Architektur ist, was subjektiv von ihr empfunden wird.


Ich möchte außer dieser Klassifizierung und des Andeutens ihrer Implikationen hier keine weitere Bewertung dieser Positionen vornehmen. Ich meine, dass alle Positionen sich mit einem gewissen Recht als Phänomenologie verstehen und bezeichnen können.
Ich möchte vielmehr auf meine Eingangsfrage eingehen, wie kommt es, dass es keine Diskussion darüber gibt, dass wir Dinge, Menschen, Räume sowie zeitliche Potenzen oder Verläufe, Ereignisse und Geschichten wahrnehmen.


Wahrnehmung
 

image01a.jpg (27120 Byte)
image01b.jpg (26973 Byte)
Abbildung 1


image02.jpg (20272 Byte)
Abbildung 2:
Wahrnehmungsvorgang nach Descartes 1662
 
  Nun wird man schnell sagen, Dinge und Räume existieren, und man sieht ja schließlich. Das Sehen sei zu einem großen Teil ein optischer Vorgang, bei dem ein äußerer Gegenstand sich auf der Retina und dann im Hirn abbildet.
Zweifelsohne sieht man das an den Baum gelehnte Fahrrad; man hat es in einiger räumlicher Distanz vor sich und zwar im Modus des Sichtbaren, so wie man eine Sonate im Modus des Akustischen und die „4“ als Lösung der mathematischen Aufgabe, was denn „2 + 2“ sei, als kognitive – und eben nicht als visuelle – Entität hat.

Man kommt dazu, das Sehen mit dem Funktionieren eines Fotoapparates zu vergleichen (s. Abbildung 1).

Die Grundannahme unserer Vorstellung vom Sehvorgang ist, dass ein optisches Abbild des vor dem Wahrnehmenden befindlichen Gegenstandes über das Auge in sein Hirn gelangt und dort – wie auch immer – identifiziert wird.

Seit der Antike wird dieser Vorgang nach den physikalischen Gesetzen der Optik erklärt, findet sich etwa auch bei Descartes und ist heute immer noch Standarderklärung (s. Abbildung 2).

Dabei wird das Sehen als ein Rezeptionsvorgang erklärt, was uns heute selbstverständlich ist. In der Antike gab es aber neben dem Verständnis von Sehen als Rezeption durchaus auch die Position, dass Sehen eine Projektion sei, etwa so wie Scheinwerfer (wobei Argument für diese Erklärung u. a. die ‚Scheinwerferaugen‘ bei Katzen waren). Das jedoch meinen wir, heute medizinisch geklärt zu haben; wir wissen, dass die Katzenaugen das von außen einfallende Licht nur stark konzentrieren.

Heute gilt die Rezeptionstheorie als selbstverständlich. Weil sie im Grunde physikalisch argumentiert, liegt die Analogie zum nach physikalischen Gesetzen konstruierten Fotoapparat so nahe. Entsprechende Abbildungen und Vergleiche mit Fotoapparaten finden sich immer wieder, selbst in den seriösesten und neuesten Handbüchern der Wahrnehmungspsychologie, obwohl Erwin Panofsky schon 1927 diesen Vergleich kritisiert und in Bezug auf Ernst Cassirer die Perspektive als symbolische Form bezeichnet hat (zu Panofsky wiederum Damisch 1987).

Nun muss man bei den entsprechenden Abbildungen feststellen, dass sie nicht aus der Sicht des gerade wahrnehmenden Subjekts gezeichnet sind, sondern aus der Sicht einer von der Seite auf den Vorgang der Wahrnehmung eines Gegenstandes durch eine Person schauenden weiteren Person, die ich einmal als ‚Dritten Mann‘ bezeichnet habe (ausführlicher dazu Führ 2004). Der Dritte Mann ist bei diesen Erklärungen des Wahrnehmens erforderlich, da es hier eine Unbekannte zu viel gibt und etwa die subjektive Verortung eines Gegenstandes bzw. die Annahme seiner Größe nicht anders als durch eine zusätzliche Seitensicht erklärt werden kann.

Man muss aber diese Erklärung auch noch weiter und grundsätzlicher in Frage stellen. Was man bei der Wahrnehmung eines Weinglases oder eines Pfeils sieht, ist – wie die Zahl 4 bei der Lösung der mathematischen Aufgabe, was denn „2 + 2“ sei, oder wie bei der Wahrnehmung von Musik – keine optische Angelegenheit. Es gibt kein Licht im Hirn.
Nur der Vorgang bis zum Auftreffen auf die Retina kann optisch erklärt werden; und das verstehen wir heute nicht mehr als Sehen. Wenn man das Sehen also als rein optischen Vorgang im Sinne der physikalischen Optik verstehen würde, müsste man eingestehen, dass Menschen nicht sehen können. Und wenn wir vermeinen, gerade einen Gegenstand sehend wahrzunehmen, dann ist er nicht gesehen im Sinne einer optischen Definition. Eine optische Erklärung trägt damit nichts zur eigentlichen Erklärung des Sehens als kognitives bewusstes subjektives Haben eines Gegenstandes in seiner Sichtbarkeit bei.

Das Sehen findet nicht vor der Retina statt, sondern beginnt mit dem Auftreffen auf der Retina und mit den dortigen Verarbeitungsmechanismen und setzt sich dann in zentral-cerebralen Vorgängen fort.
Lassen Sie mich diese Aussagen in aller Knappheit physiologisch noch ein wenig erläutern und belegen. Die Zellen auf der Retina sind nicht die Enden (oder Anfänge) von optischen Leitungen, sondern wandeln die Lichtimpulse in elektro-chemische Impulse um; das auf die Retina auftreffende optische Muster wird in elektro-chemische Vorgänge übersetzt. Sie sind selektiv (sie reagieren nur auf einen kleinen Ausschnitt des Spektrums der Lichtwellenlängen) und sind alles andere als simple Weiterleitung.
 
image03.jpg (111433 Byte)
Abbildung 3:
Reaktionen von Zellen der Retina auf einen Lichtimpuls


image04.jpg (37653 Byte)
Abbildung 4:
Chiasma
  Wie man in Abbildung 3 sieht, erzeugt ein Lichtimpuls von bestimmter Stärke und Dauer (siehe die schwarzen Blocks oben und unten auf der rechten Seite der Reaktionsableitungen) in den vielen unterschiedlichen Zellen auf der Retina (es gibt nicht nur Stäbchen und Zäpfchen) sehr unterschiedliche Reaktionen, die zudem in einer sehr eigenartigen Weise dann weiterverarbeitet und topografisch verortet werden. Besonders deutlich wird diese Aufteilung beim so genannten Chiasma (s. Abbildung 4), der Aufteilung der linken und rechten Retinaflächen auf unterschiedliche Hirnhälften.

Alle Impulse aus den Zellen der rechten Seite beider Augenhintergründe werden in die rechte Hirnhälfte, die aus den beiden linken Seiten in die linke Hirnhälfte geleitet. Dadurch wird (wegen der Umkehrung der Strahlen) die linke Hälfte der Welt in die rechte Hirnhälfte, die rechte Hälfte der Welt in die linke Hirnhälfte geleitet. Stehe ich also als Radfahrer an einer Straßenkreuzung und schaue geradeaus, so habe ich die rechts einmündende Straße in meiner linken Hirnhälfte und die von links einmündende Straße in meiner rechten Hirnhälfte. Fährt ein Auto von rechts nach links, so werden die Lichtreflexionen von ihm zuerst in meine linke Hirnhälfte transportiert und dann, wenn es meine Straße gekreuzt hat, in die rechte Hirnhälfte.

Sehen ist also nichts anderes als spezifisches ‚Brisseln‘ an verschiedenen Stellen im Hirn. Das vermeintlich in der Wahrnehmung vor einem stehende visuelle Ding ist weder optisch noch vor mir, sondern eine elektrochemische Erregtheit des Hirns.

Nun könnte man meinen, dass dies nichts zum Verständnis von Phänomen beitrage, es handele sich ja auch nur um Medizin und nicht um Philosophie, um ‚brain‘ und nicht um ‚mind‘, um Naturwissenschaft und nicht um Phänomenologie.

Die Physiologie der Wahrnehmung würde begründen, ein Phänomen (‚Brisseln‘) als rein subjektiven Vorgang und Ereignis zu verstehen. Wobei – die alte Unterscheidung zwischen subjektiv als mit dem Subjekt zu tun habend und subjektiv als zwischen den Subjekten individuell unterschieden aufnehmend – dies medizinisch als Vorgang im ersten Sinn belegt ist, der Vorgang ist bei allen Menschen gleich (wenn sie keinen medizinischen Defekt haben).
Gleichwohl haben wir das an unterschiedlichen Stellen im Hirn sich vollziehende elektrochemische Geschehen nicht als ‚Brisseln‘ im Hirn, sondern als spezifischen visuellen Gegenstand vor uns.
Es handelt sich offensichtlich um eine Projektion, nicht um eine Rezeption. So grundsätzlich hätten wir die Projektionstheorie nicht abtun sollen; wir können sie allein als optische Theorie abtun.

Eine bisher schlüssige Erklärung – im Bereich der visuellen Wahrnehmung und unter Umgehung eines Bezugs auf physiologische Vorgänge – gab der Wahrnehmungspsychologe J. J. Gibson in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wahrnehmung ist der Entwurf einer Welt auf Grund eines durch die Reflexion der Oberfläche der Dinge und ihrer art- und lagespezifischen Ausdifferenziertheit in der Mikrostruktur (Gradienten) erzeugten visuellen Feldes (ausführlicher dazu Führ 2004). Welt muss entworfen werden, um Welt sein zu können. Zugleich aber ist dieser Entwurfsvorgang allgemein psychologisch, d. h. ein Vorgang, den alle Menschen mit gesundem Gehirn gleich ausführen. Damit ist er subjektiv objektiv, will sagen – er ist ein Vorgang im Menschen, aber bei allen Menschen gleich. Diese Gleichheit ist Basis unseres gegenseitigen Verstehens und Basis erfolgreicher Handlungskooperation.
Mit der Wahrnehmungspsychologie von Gibson gelingt auch die Erklärung, warum wir beim Besuch eines Kinos auf der Leinwand nicht nur sich bewegende Farbflecken sehen, sondern eine erzählte Welt, und warum diese Welt nicht Ergebnis einer individuellen Willkür ist, sondern von allen Besuchern gleich generiert wird. Das Muster der Farbflecken und ihre spezifischen Transformationen sind im Prinzip nichts anderes als die Muster der Farbflächen und ihre Transformationen bei der Wahrnehmung einer dreidimensionalen Außenwelt.
Mich interessiert nun der Übergang vom visuellen Feld zu einer Welt.


Die Entstehung eines Phänomens

Gibson erläutert diesen Unterschied an einer bereits bei Mach abgebildeten Zeichnung (siehe zunächst Abb. 5 links).
Das visuelle Feld ist (Mach und Gibson berücksichtigen hier nicht die bereits von Panofsky festgestellte Verzerrung der Linien aufgrund der Konkavität der Retina) die Wiedergabe des Retinabildes vor jeder Wahrnehmungsleistung durch das Wahrnehmungssubjekt. Es ist ein zweidimensionales Bild (den Feldcharakter nimmt man besonders gut wahr, wenn man nun vom linken Teilbild auf das rechte umgedrehte Teilbild schaut) ohne jede räumliche Tiefe, ohne jede Ding-Identifizierung und ohne jegliche Bedeutung. Die visuellen Gegebenheiten des visuellen Feldes sind zweidimensional.

Die visuelle Welt hingegen entsteht durch Identifikation der Flecken als bestimmte Dinge und in bestimmtem Raum. Das visuelle Feld schlägt in die visuelle Welt um, indem ich die Dinge identifiziere, sie als Oberflächen nehme und damit zugleich Raum konstituiere und sie in diesem Raum verorte.
Wir sehen in der visuellen Welt, dass Ernst Mach ein spartanisch eingerichtetes Arbeitszimmer (ohne Teppich und Gardinen) hat, keinen Schreibtisch, aber einen sehr bequemen Sessel. Wir sehen, dass er den Stift bewegen wird, und dass er aufstehen könnte, etwa um das Fenster zu öffnen.
 
image05.jpg (152448 Byte)
Abbildung 5
 

Und ich komme nun zu meinem Experiment (s. Abbildung 5).

Wenn wir die Zeichnung von Mach umdrehen und nun ein zweites Mal neben ihr aufrecht stehendes Original stellen, so geschieht Folgendes. Man kann beide Zeichnungen zugleich sehen, aber nur eine fokussieren. Die Zeichnung, die man fokussiert, schlägt um in eine Visuelle Welt, die andere reduziert sich in ein Visuelles Feld. Man kann auch die Zeichnung fokussieren, die auf dem Kopf steht, auch sie schlägt – vor allem, wenn man den eigenen Kopf etwas schräg stellt – in eine Welt um und macht die andere Zeichnung zu einem Feld.
Wir begeben uns quasi in den Akt des Gewinnens einer Welt – auch in den des Verlustes.

Schlägt ein Feld in eine Welt um, so werden einige zeichnerische Bereiche zu drei- – vielleicht sollte man auch sagen – vierdimensionalen Dingen, denn sie gewinnen nicht nur Körperlichkeit und Raum, sondern auch Zeit.
Die Dinge haben nun Rückseiten und Innenleben, sie haben Funktionen und Bedeutungen, sie haben ihre Welt-Geschichte, womit ich meine, dass ich ihnen nun ansehe, dass sie irgendwie in dieses Zimmer gestellt wurden und dass sie mögliche Zukünfte bergen. Bei dem Fenster an der Kopfwand etwa, sehe ich, dass Mach es öffnen könnte, um hinauszuschauen.

Das visuelle Feld hat seine Grenzen am Rahmen des Bildes, die visuelle Welt ist dadurch nicht begrenzt; wir sehen, dass das Zimmer rechts weitergeht, wir sehen auf die Innenwand des Zimmers mit dem Fenster, sehen dieser Wand an, dass sie eine Außenseite hat, wir sehen vor dem Fenster eine Landschaft und sehen die Landschaft – irgendwie bis nach vorne ans Haus sich erstrecken. Ich sage ‚irgendwie’, denn was nicht Teil des visuellen Feldes ist, ist in meinem Sehen indeterminiert. Aber es ist da, in der Welt.

Im Welthaften der Visuellen Welt konstituieren sich Dinge in Zeiten und Räumen, wir sehen die Dinge in ihren Identitäten, in der Logik ihres Zueinander, in ihren mitgebrachten Vergangenheiten und wahrscheinlichen Zukünften. Deshalb hat der so konstruierte Raum eine spezifische Identität.
Da Dinge in einem Funktions- und Handhabungszusammenhang stehen, ist dieser Raum nicht nur abstrakt Raum, sondern Handlungsraum, Raum, der sich in seiner Seinsqualität aufgrund meiner Handlungsmöglichkeiten konstituiert.

Die Beziehung des Wahrnehmenden verändert sich. Das visuelle Feld liegt vor mir, in der visuellen Welt bin ich als Wahrnehmender verortet. Ich bin inmitten einer Welt, die die Welt auch meiner Mitmenschen ist, und bin zugleich ihr Autor.

Das Umschlagen des visuellen Feldes in eine visuelle Welt kann man als Herstellung einer Situation bezeichnen (Sartre 1943), um damit die Einheit von Konstruktion und Rekonstruktion durch ein Subjekt deutlich zu machen und ebenso auf die Einheit von Wahrheit und Freiheit zu verweisen.


Der phänomenologische Grund von Architekturphänomenologien

Vor all den Möglichkeiten einer Phänomenologie der Architektur steht das Phänomen der Welt. Die Möglichkeit des Nebeneinanderstellens (siehe Abb. 5) von visuellem Feld und einer Welt macht deutlich, was die Phänomenalität einer Welt im Grunde ausmacht.
Welt meint Existenz von Raum, Zeit, Dingen, Handlungsmöglichkeiten und Narrationen.
Welt meint zudem deren situationales Gefüge.
Welt ist zudem immer konkret. Norberg-Schulz hatte 1963 (siehe oben) am Beispiel eines schönen Mädchens erklärt, was denn ein Phänomen sei, dabei aber eine ihrer Eigenschaften, ihre Schönheit, erst eingestanden, als er ihr Erscheinen mit einem Schönheitskanon verglichen und darüber ein Urteil gefällt hatte. Das Phänomen ist kein Urteil, kein Fall eines Allgemeinen, sondern ein Unmittelbares.

 



 

Literatur:
 

Gaston Bachelard; La Poétique de l'espace; Paris 1957 (dt. Poetik des Raumes; München 1960).

Otto Friedrich Bollnow; Mensch und Raum; Stuttgart Berlin Köln Mainz 1963.

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1923); Darmstadt 1953.

Hubert Damisch; L’origine de la perspective; Paris 1987 (engl 1994).

Rene Descartes, De Homine, 1662.

Eduard Führ; Die Rezeption von Heideggers 'Bauen Wohnen Denken'; in: E.F. (Hg); Martin  Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur;  Münster, New York 2000 Eduard Führ; Ja, kann man denn Räume überhaupt bauen? In: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi Zamok (http://www.cloud-cuckoo.net) 9. Jg. Heft 1 (2004).

J. J. Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt (1950); Weinheim 1973.

Roland Günter, Wessel Reinink, Janne Günter;  Rom – Spanische Treppe : Architektur, Erfahrungen, Lebensformen; Hamburg 1978.

Christian Norberg-Schulz; Intentions in Architecture, Oslo 1963 hier zitiert nach der MIT Veröffentlichung, Cambridge MA 1965 (deutsch als ‚Logik der Baukunst‘ veröffentlicht: Bauwelt-Fundamente,  Band 15, Berlin Frankfurt Wien 1965).

Christian Norberg-Schulz; Genius loci. Paesaggio, ambiente, architettura; Milano 1979 (dt. Genius loci. Landschaft, Lebensraum, Baukunst; Stuttgart 1982).

Christian Norberg-Schulz; Architecture. Presence, language and place; Milan 2000.

Silke Ötsch; Überwältigen und Schmeicheln. Der menschliche Körper im Visier der Planer; Weimar 2006.

Ernst Panofsky ; Perspektive als symbolische Form; in: Beiträge der Bibliothek Warburg 1924–25, Leipzig Berlin (wiederabgedruckt in: E. P.; Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft (Hg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen); Berlin 1964, S. 99-167 Stehen Eiler Rasmussen; Architektur Erlebnis; Stuttgart 1980 (dänische Originalausgabe 1959).

Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg); Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 7; Basel 1989.

Jean-Paul Sartre; Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943); Reinbek 1966.

 


feedback  


12. Jg., Heft 1
August 2007