Thema 1. Jg., Heft 1
Oktober 1996

Karsten Harries


Warum überhaupt Architektur?



Warum überhaupt Architektur? Verstehen wir Architektur einfach als das Bauhandwerk oder Baufach, den Architekten als den Baufachmann oder Bautechniker, beantwortet sich unsere Frage von selbst: so verstanden gehört Architektur zum alltäglichen Leben: es geht nicht ohne sie. Aber das Wort "Architektur" erhebt ja oft höhere Ansprüche, definieren wir doch Architektur als Baukunst, und Kunst meint hier mehr als ein besonders geschultes Können, erhebt Anspruch auf Schönheit und Schöpferkraft. Scheinbar problemlos schlägt so das Wort "Baukunst" eine Brücke über den im Titel dieses Symposiums angesprochenen Kunst und Alltag trennenden oder vielleicht auch verbindenden Zwischenraum.
Nur fragt sich, wie sich ein solcher Brückenschlag mit dem Wesen der Kunst vertragen soll: verleugnet nicht die so verstandene Architektur ihren Kunstcharakter? Kann sich wahre Kunst in diesem Zwischenraum zuhause fühlen? Gehört sie nicht der einen Seite? Und müssen wir dann nicht Architektur, insofern sie zwischen Kunst und Alltag steht, als das Stiefkind der Kunst verstehen, als die Kunst, die sich immer wieder gemein machen, immer wieder dem Alltag verkaufen und so ihr Wesen verleugnen muß?
Aber auch umgekehrt: verliert nicht auch der Alltag wenn er sich so von der Kunst umarmen läßt? So wenigstens dachte Adolf Loos: ich erinnere an den Anfang seines Aufsatzes "Architektur" von 1909. Loos führt den Leser an einen Bergsee:

    "Der himmel ist blau, das wasser grün and alles liegt in tiefem frieden. Die berge und wolken spiegeln sich im see und die häuser, höfe und kapellen tun es auch! Nicht wie von Menschenhand gebaut stehen sie da. Wie aus gottes werkstatt hervorgegangen sind sie, gleich den bergen und bäumen, den wolken und dem blauen himmel. Und alles atmet schönheit und ruhe...
    Da, was ist das! Ein mißton in diesem frieden. Wie ein gekreisch, das nicht notwendig ist. Mitten unter den häusern der bauern steht eine villa. Das gebilde eines guten oder eines schlechten architekten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß friede, ruhe und schönheit dahin sind.
    Denn vor gott gibt es keine guten oder schlechten architekten. In der nähe seines thrones sind alle architekten gleich. In den städten, in dem reiche Belials, da gibt es feine nuancen, wie das eben in der art des lasters liegt. Und ich frage daher: wie kommt es, daß ein jeder architekt, ob schlecht oder gut, den see schändet?
    Der bauer tut das nicht. Auch nicht der ingenieur der eine eisenbahn ans ufer baut oder mit seinem schiffe tiefe furchen in den klaren seespiegel zieht".(1)

Es ist dies eine Erfahrung, die sich uns gerade heute immer wieder wiederholt. Um nur ein Beispiel zu geben: Vor ein paar Wochen besuchten meine Frau und ich die Küste von North Carolina. Gerade im letzten Jahrzehnt hat sich diese Dünenlandschaft völlig verändert: gedrängt dastehende Ferienhäuser und die dazugehörigen asphaltierten Parkplätze fressen hier immer noch eine Düne nach der anderen. Wir unterhielten uns mit dem noch jungen entwerfenden Architekten. Stolz war er auf seinen Erfolg: in nur wenigen Jahren hat er an diesen Condominiums viel verdient; stolz auch, auf was er in der School of Architecture der University of Kentucky gelernt hatte, auf die zeitgemäßen, gemäßigt postmodernen Gesten, die dem Käufer das Gefühl geben sollten, daß hier mehr geboten wird, als nur eine Ferienwohnung: eben Architektur. Auf die Frage, wie diese luftigen, billig gebauten und schnell hingestellten Häuser einen Hurricane überstehen würden, erhielten wir die Antwort, daß Hurricanes hier in Corolla Light, so nannte sich der Ort, recht selten seien. Alle dreißig Jahre könnte so was schon passieren - hoffentlich hätten die Leute dann auch die nötige Versicherung. Aber mit solchen Eventualitäten zu rechnen, würde die Häuser zu teuer machen. Wie das von ihm Gebaute in dreißig Jahren aussehen würde, schien dem Architekten ziemlich egal zu sein. Er rechnete mit sehr viel kürzeren Zeitspannen. Wir fragten ihn dann, ob er und seine junge Frau sich in so einer aus dem Boden gestampften, allzu zeitgemäßen Feriensiedlung zuhause fühlen könnten? Nein, war die Antwort: sie hofften, bald genug Geld verdient zu haben, sich ein großes Grundstück mit einem netten Haus in irgendeiner noch relativ unberührten Ecke in den Bergen von Virginia leisten zu können.
Loos hat recht: ein solcher Architekt sollte sich schämen. Der ästhetische Anspruch stört hier nur, unterstreicht den Mißbrauch der vorgegebenen Landschaft mit der er nichts zu tun hat, nichts zu tun haben will, und wird eben dadurch noch unerträglicher. Ein solches Bauen ist unverantwortlich: unverantwortlich ist erst einmal der rücksichtslose Umgang mit einer Landschaft, die allen gehören sollte; unverantwortlich dann die Art und Weise wie hier mit der Zeit gerechnet wird, das auf schnellen Profit bedachte Planen, das gedankenlos die Zukunft der Gegenwart opfert; unverantwortlich aber auch die ästhetische Geste, unverantwortlich in dem Sinne, daß sie dem Vorgegebenen, der Landschaft und dem Bauprogramm, nicht antwortet, eben nur ästhetischer Zusatz ist und auch als solcher empfunden wird, d. h. als etwas im Grunde überflüssiges. Kant hätte hier von Schmuck gesprochen. Schmuck definiert Kant als Zierat, der "wie der goldene Rahmen, bloß um durch seinen Reiz das Gemälde dem Beifall zu empfehlen angebracht ist". Solcher Zierat, meint er, "tut der echten Schönheit Abbruch".(3) Auch ästhetisch läßt sich der so verstandene Zierat, wie auch Loos wußte, nicht rechtfertigen.

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"Warum", um die Frage von Loos noch einmal zu wiederholen, "schändet ein architekt, der gute wie der schlechte, den see?" Eben weil er, wenigstens so wie Loos ihn versteht, mehr sein will als Bauer oder Ingenieur, weil er sich als ein der Schönheit, oder allgemeiner, ästhetischen Interessen dienender Künstler versteht und eben dadurch aus dem Ganzen der natürlichen Ordnung herausfällt; eben weil er mit seinem ästhetischen Anspruch das Alltag und Kunst trennende Zwischen überspringt, zwischen Kunst und Alltag hin- und herspringt, ohne das der Architektur gemäße Zwischen zu erspringen. Anders gesagt: weil er ein ästhetisches Objekt schaffen will fällt der Architekt aus der vorgegebenen Ordnung.
Was heißt hier "ästhetisches Objekt"? Ein Bild von Frank Stella aus den frühen 60er Jahren gibt uns eine erste Orientierung:

    "Immer wieder gerate ich in Streitgespräche mit Leuten, die die alten Werte in der Malerei bewahren möchten, die humanistischen Werte, die sie immer auf der Leinwand finden. Fragt man weiter, so kommen sie zum Schluß immer zu der Behauptung, daß da noch etwas sei außer der Farbe auf der Leinwand. Mein Bild beruht auf der Tatsache, daß es nur gibt, was man sieht. Es ist wirklich ein Ding. Ein jedes Bild ist ein Ding und jeder, der sich mit Bildern genügend beschäftigt, kommt letzten Endes um die Dinghaftigkeit des von ihm Geschaffenen nicht herum. Er macht ein Ding. Das sollte Voraussetzung sein. Wenn das Bild alles Überflüssige abschütteln könnte, wenn es genau genug, richtig genug wäre, dann wärest Du in der Lage es einfach zu sehen. Das Einzige, das jemand aus meinen Bilden herausholen soll, und das Einzige, das ich aus Ihnen heraushole, ist die Tatsache, daß Du die ganze Idee ohne jede Unklarheit siehst ... Du siehst, was Du siehst".(4)

Vier Punkte möchte ich unterstreichen:
l. Das Bild soll unsere Aufmerksamkeit so an sich saugen, daß wir nicht versucht sind, irgendwoanders, außerhalb des Bildes, den Bildsinn zu suchen. So sollen wir das Bild z. B. nicht als Darstellung sehen, die ihr Maß in dem abwesenden Dargestellten besitzt; auch nicht als ein auf Abwesendes verweisendes Zeichen; auch nicht als sinnschweres Symbol; auch nicht als vielsagende Metapher oder Allegorie. Das Bild soll nichts sagen, soll nichts bedeuten. Es soll nur sein, was es ist.
2. Das Bild soll uns die "ganze Idee ohne jede Unklarheit" sehen lassen. Die Frage, ob es da nicht doch einen verborgenen, tieferen Sinn gäbe, sollte sich einfach nicht stellen. Im Bild soll es nichts Überflüssiges geben; nichts soll fehlen. Ein solches Bild erfahren wir nicht als Fragment eines abwesenden Ganzen. Das Bild genügt sich selbst. Was Mörike in "Auf eine Lampe" von einem "Kunstgebild der echten Art" sagt, gilt auch von einem solchen Bild: "selig scheint es in ihm selbst".(5)
3. Solche Selbstgenügsamkeit will, daß wir Zuschauer das Bild sein lassen, was es ist, daß wir Distanz halten. Ein solches Distanz halten unterscheidet die so verstandene ästhetische Erfahrung von der Art unseres alltäglichen Umgangs mit Menschen und Dingen. Zunächst und zumeist interessieren wir uns für was uns begegnet; und ein solches Interesse weigert sich, Abstand zu halten. Sorge und Begierde, Haß und Liebe lassen ihre Objekte nicht allein. Das so verstandene ästhetische Erfahren dagegen läßt das ästhetische Objekt so sein, wie es eben ist.
4. Der sich selbst genügenden Gegenwart des Bildes entspricht die Selbstgenügsamkeit der ästhetischen Erfahrung. Ästhetische Objekte brauchen wir nicht wie Hammer oder Computer; sie taugen für nichts. Und so ist auch der Ästhet, wie schon Kant sah, wesentlich ein Taugenichts. Aber gerade die Unbrauchbarkeit des Kunstwerks, die es von allem unterscheidet, was unserem Interesse dient, verleiht ihm seinen besonderen Zauber, denn dieser Unbrauchbarkeit entspricht, was Kant ein interesseloses Wohlgefallen nennt, ein Wohlgefallen, das es uns erlaubt, wenigsten eine Zeit lang in der Gegenwart zu existieren, ist doch alles Interesse auf Zukünftiges ausgerichtet. Und so läßt das Kunstwerk uns in der Gegenwart präsent sein auf eine Art, die unsere alltägliche Geschäftigkeit verbietet. Der Fülle des ästhetischen Objekts entspricht die Fülle der ästhetischen Erfahrung. Ästhetisches Erfahren denkt nicht an die Zukunft.
Was Stella von seinen Bildern sagt, kann verallgemeinert werden. So gelesen geben seine Worte uns eine erste Bestimmung des ästhetischen Objekts. Wichtig hier ist nicht Stella, sondern eine bestimmte Einstellung, ein Umgang mit Kunstwerken, der seit dem 18. Jahrhundert die Entwicklung der verschiedenen Künste immer entschiedener bestimmt hat und auch heute noch bestimmt, trotz einer stärker werdenden Gegenströmung. Schon in Alexander Gottlieb Baumgartens Dissertation von 1735 findet diese ästhetische Einstellung einen ersten klaren Ausdruck. Besonders vielsagend ist folgender Vergleich: der Dichter, meint Baumgarten, sei wie Gott und ein gelungenes Gedicht, und wir dürfen verallgemeinern und lesen, das Kunstwerk sei wie eine Welt.(6) Welt meint hier mehr als die Gesamtheit der Tatsachen. Mit Leibniz und Wolff versteht Baumgarten "Welt" als ein vollkommenes Ganzes. Der so verstandenen Welt fehlt nichts und nichts in ihr ist überflüssig. In diesem Sinne sollte auch das Kunstwerk ein vollkommenes Ganzes sein.
Nun versteht schon Aristoteles die gelungene Tragödie als ein fest gefügtes Ganzes; und Baumgarten steht in dieser Tradition, wenn er sich die im 18. Jahrhundert so geläufige Definition des Schönen als sinnlich erfahrene Vollommenheit zu eigen macht.(7) Das echte Kunstwerk gibt sich uns als ein vollkommenes Ganzes. Das heißt: ein solches Kunstwerk will nicht Anderes bedeuten, will nicht erbaulich oder wahr sein, will nur selig in sich selbst scheinen. Nichts in einem solchen Werk scheint zufällig oder willkürlich. Hingegeben an ein solches Werk stehen wir nicht mehr vor verschiedenen Möglichkeiten, und das heißt auch, sorgen wir uns nicht mehr um Zukünftiges. Und so nimmt das Kunstwerk der Zeit ihren Stachel, bietet uns, wenn auch nur für kurze Zeit, so etwas wie Erlösung von jenem Widerwillen gegen die Zeit, den Nietzsche als den Geist der Rache und als den tiefsten Grund unserer Selbstentfremdung verstand.
Mir geht es hier weder um Baumgarten noch um Stella; nur um eine Einstellung zum Schönen und zur Kunst, die in Kants Kritik der Urteilskraft ihre tiefste Deutung und in Schopenhauer ihren wohl einflußreichsten Deuter fand. Wenn ich hier von der ästhetischen Einstellung zum Schönen spreche, will ich damit nicht das Ästhetische mit dem Schönen gleichsetzen, hat das Wort Schönheit doch heute einen leicht antiquierten Klang: welcher Künstler dient heute schon noch der Schönheit? Kennzeichnet die postmoderne Kunst nicht gerade die Absage an Vollkommenheit, Fülle und Selbstgenügsamkeit? Bedeutet uns heute das Spiel mit vieldeutigen Möglichkeiten nicht mehr als die so verstandene Schönheit? So verdrängt heute oft das Interessante das Schöne. Aber ästhetische Objekte brauchen nicht schön, sie können z. B. auch häßlich, aber gerade in ihrer herausfordernden Häßlichkeit interessant oder vielleicht auch erhaben sein. Wesentlich ist, daß das ästhetische Objekt eine Empfindung erzeugt, die wir genießen. Alles ästhetische Genießen ist letzten Endes Selbstgenuß und rechtfertigt so sich selbst.

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Daß sich jedes einer solchen ästhetischen Einstellung verpflichtete Denken und Schaffen schwer tut mit der Architektur, ist offenkundig. Zwar fordert schon Vitruv, daß ein Bau Nutzen, Dauer und Schönheit zugleich enthalte. Aber widersprechen sich nicht Nutzen und Schönheit? Ist die Schönheit nicht, ihrem Wesen nach, nutzlos? So versteht Kant die Schönheit eines Gebäudes als eine zweckbedingte, unreine Schönheit. Der Gebrauch sei hier "die Hauptsache, worauf als Bedingung die ästhetischen Ideen eingeschränkt werden".(8) So verstanden ist das Architekturwerk wesentlich, wie Venturi sagt, ein "decorated shed", ein dekorierter Schuppen, Zweckbau mit ästhetischem Zusatz, Zusatz, den Kant zutreffend als Parergon, als bloßes Beiwerk versteht. Vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen fügt sich ein solches Werk nie zu einem organischen Ganzen, hat wesentlich ein in sich gebrochenes Aussehen, steht doch der ästhetische Zusatz in keinem inneren Bezug zu dem vorgegebenen Zweckbau. Ästhetisches Objekt und zweckrationelles Denken widersprechen sich, und dieser Widerspruch läßt sich nicht lösen, solange die ästhetische Einstellung unser Bauen bestimmt. Und so lange wir Kunst als ein Hervorbringen ästhetischer Objekte verstehen, verbauen wir uns den Zugang zum Wesen der Architektur, und d. h. auch den Zugang zu jenem Zwischen, das dieses Wesen bestimmt. Wie ein gelungenes Ornament sich dem Ornamentträger unterordnen, ihm dienen muß, so auch die Schönheit eines Architekturwerks. Doch verträgt sich solcher Dienst nur schlecht mit dem Genuß, den Kants Analyse des Schönen verspricht, soll das Schöne doch unsere Aufmerksamkeit so an sich saugen, daß wir die Sorgen und Interessen, die uns gewöhnlich die Welt erschließen, ausklammern. In der Zeit soll uns die Schönheit die Zeit verlieren lassen. Die Idee eines Gegenstandes, der ohne alles Interesse, nur durch seine ästhetische Präsenz gefällt, verspricht Erlösung von unserem Leiden an der Zeit, und d. h. auch an der Wirklichkeit. Kant gibt uns hier einen Schlüssel, die Anziehungskraft dieser aus dem Alltäglichen herausspringenden reinen Schönheit zu verstehen, gerade in einer Welt die an eine wirkliche Erlösung nicht mehr glauben kann. Das Beklagen der wesentlichen Unreinheit der Architektur gehört zu dieser Einstellung zum Kunstwerk und wiederholt sich immer wieder in der ästhetischen Literatur.
Es braucht nicht zu dieser Klage zu kommen. Unvermeidbar wird sie nur, wenn die reine Schönheit, so wie Kant sie versteht, oder allgemeiner, ein rein ästhetischer Effekt, zum Ziel der künstlerischen Produktion gemacht wird, aber gerade dies weigert sich Kant zu tun, schätzt er doch die reinen Kunstwerke, die er erwähnt, "Zeichnungen á la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten," also Dekoration, wie auch "was man in der Musik Phantasien (ohne Thema) nennt", nicht besonders hoch ein.(9) Seine Sympathien liegen ganz woanders, bei Winckelmanns edler Einfalt und stiller Größe, bei einer Schönheit, die gleichzeitig Ausdruck des Sittlich-Guten ist, also eine ethische Funktion hat. Verbindet eine solche Kunst die Menschen, wirft eine der reinen Schönheit dienende Kunst den Menschen auf sich selbst zurück. So meint Kant, daß das Interesse am Schönen keineswegs ein Beweis "einer dem Moralischguten anhänglichen, oder auch nur dazu geeigneten Denkungsart" sei.(10) Es gibt zu denken, daß Kant, ohne es zu wollen, mit seiner Analyse der reinen Schönheit dem die moderne Kunst führenden ästhetischen Denken die Richtung wies, obwohl er vor dieser Richtung warnte, vor der Vereinzelung, der Abkehr von den Anderen, von der uns aufgegebenen sozialen Wirklichkeit, die der ästhetische Genuß, wie er ihn uns bestimmt, mit sich bringen muß.
Aus dem Ideal einer allein der Schönheit dienenden Kunst läßt sich der in sich gebrochene Charakter der unsicher zwischen Kunst und Technik, Kunst und Alltag stehenden Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts ohne weiteres ableiten. Ruskins The Seven Lamps of Architecture mögen dies verdeutlichen. Scharf trennt Ruskin Arbeit und Freizeit. Unsere Freizeit sollten wir so gestalten, daß sie sich selbst rechtfertigt. Von Zeitverschwendung kann hier keine Rede sein, da Freizeit mit der Zeit nicht so rechnet, daß sie überhaupt verschwendet werden könnte. Wer arbeitet, sollte allerdings so wirtschaftlich wie nur möglich arbeiten. Bejaht Ruskin so die seine und unsere Zeit bestimmende Rationalisierung und Organisierung der Arbeit, so weiß er doch auch, daß je mehr diese unsere Arbeitsweise bestimmen, desto unabweisbarer wird die Forderung nach Freizeit, nach einer Tätigkeit oder Erfahrung, die keinem Anderen dient, sondern sich selbst rechtfertigt. Nun ist das ästhetische Genießen seit langem Hauptbeispiel einer solchen sich selbst rechtfertigenden Erfahrung. Die scharfe Trennung von Arbeit und Freizeit spiegelt sich in der Trennung von Zweckmäßigkeit und Schönheit, und diese wiederum in der Trennung von funktionalem Bauen und wahrer Architektur. So definiert Ruskin Architektur als die Kunst, zweckmäßige Gebäude mit schöner, d. h. überflüssiger Dekoration zu verzieren.(11) Gerade dieser Überfluß ist es hier, der zweckmäßige Bauten Architektur werden läßt. Hier Wirtschaftlichkeit zu fordern, hieße das Wesen der Architektur verkennen. Und so nennt Ruskin den Geist, der große Architektur entstehen läßt, "im höchsten Grade unvernünftig und enthusiastisch". Man definiert ihn "am besten negativ, als Widerspruch zum herrschenden Gefühl der modernen Zeit, die mit den geringsten Kosten das größte Resultat hervorbringen möchte". (12) Das diesem Gefühl entsprechende zweckrationelle Denken läßt den Ingenieur an die Stelle des Architekten treten, die Bautechnik an die Stelle der Baukunst. Und doch meint Ruskin, daß gerade, weil unsere moderne Wirklichkeit der Kunst eigentlich keinen Platz mehr läßt, sie dieser Kunst und ihrer Unwirklichkeit bedarf, fördert die Kunst doch "unsere geistige Gesundheit, Macht, und Lust".(13) Demnach braucht unsere Zeit eine nur der Schönheit dienenden Kunst als Komplement des sie beherrschenden Imperativs.
Doch braucht sie deshalb auch Architektur, wie Ruskin sie versteht? Ruskin weiß, daß zweckrationelles Denken mit überflüssiger Dekoration nichts anzufangen weiß; und bei Gebäuden, deren Bedeutung ganz in ihrem Zweck aufgeht, so bei Bahnhöfen oder Fabriken, will auch Ruskin von Dekoration nichts wissen und verurteilt sie mit einer Vehemenz, die die Kritik des Modernismus, z. B. die von Adolf Loos, vorwegnimmt. Schon Ruskin nennt es ein "allgemeines Gesetz, für den heutigen Tag von einzigartiger Wichtigkeit, ein Gesetz des gesunden Menschenverstandes, Dinge, die mit den Zwecken des aktiven, abeitserfüllten Leben zusammenhängen, nicht zu schmücken. "Schmücke, wo Du ausruhen kannst; ist Ruhe verboten, ist es auch die Schönheit. So wie Du Geschäft und Spiel nicht vermischen darfst, darfst Du auch Geschäft und Ornament nicht vermischen. Arbeite erst, dann ruhe Dich aus".(14) Doch nicht alle unsere Bauten, meint Ruskin, dienen dem aktiven, arbeitserfüllten Leben. So erlauben Kirchen und Häuser Ornament, ruhen wir doch hier nach getaner Arbeit.
Nun lassen sich Arbeit und Freizeit nicht leicht so scharf trennen: ist nicht auch die Zeit eine Mangelware? Zwar meint Heidegger, das eigentliche Dasein hätte immer Zeit,(15) d. h, ein eigentliches Existieren könne nicht so mit der Zeit rechnen wie es Rationalität und Wirtschaftlichkeit verlangen. Der herrschende Geist der Zeit, so wie Ruskin ihn versteht, erlaubt kein solches Existieren: müssen wir nicht auch unseren Umgang mit der Zeit dem zweckrationellen Denken unterwerfen? Dann muß dieses Denken aber auch die Freizeit einplanen und darf nicht vor der Haustür stehen bleiben. Sollten wir nicht mit Le Corbusier das Haus als Wohnmaschine verstehen, mit Loos Ornament, welches ja immer verschwendete Arbeit und damit verschwendete Gesundheit voraussetzt, als Verbrechen? Damit würde allerdings auch alle Architektur die Kunst sein möchte zum Laster, zum Verbrechen.
Loos weiß, so gut wie Ruskin, daß wir uns von der Arbeit ausruhen müssen, ja mehr noch, daß erst solche Stunden unserem Leben einen Sinn geben können. Loos denkt hier zunächst an den Genuß der Natur, aber auch an ästhetisches Genießen. Die Gestalt der modernen Welt läßt die Eigentlichkeit ihre Zuflucht in der Natur und in der Kunst suchen. Von dieser Kunst aber fordert Loos mehr als Dekoration, und d. h. auch mehr als was gewöhnlich Architektur heißt, bieten kann. Loos weiß, daß, weil das Ornament dem Ornamentträger dienen muß, dieses die Reinheit, die er vom ästhetischen Objekt fordert, nie besitzen kann. So wird auch ihm, wie schon Nietzsche, die Musik und nicht die Architektur zur paradigmatischen modernen Kunst. An ihrer abstrakten Reinheit lassen sich die anderen Künste messen.
Aber warum diese scharfe Trennung von Arbeit und Freizeit, von Perioden, wenn uns das Lebensgeschäft voll in Anspruch nimmt, von anderen, die es uns erlauben, uns an die Kunst zu verlieren. Nun sagt Loos, erst diese Trennung habe die moderne Kunst in ungeahnte Höhen geführt. Empfängt Höhe ihr Maß vom ästhetischen Reinheitsgebot, müssen wir ihm dies zugestehen; auch, daß so verstanden, die anderen Künste notwendigerweise die Architektur tief unter sich lassen müssen. Aber arbeiten wir wirklich, um dann in ein Konzert gehen zu können oder um den Alltag in einem Vergangenheit atmendem Museum zu vergessen? Die von Loos verherrlichte reine Kunst fordert nicht nur, daß wir Abschied nehmen von der Arbeit, sondern auch Abschied vom Alltag, von der Wirklichkeit, mit all ihren Freuden und Leiden. Wir spüren Schopenhauers auf der modernen Kunst liegenden Schatten. Setzt dieses Abstandnehmen vom Leben im ästhetischen Genuß nicht, wie Nietzsche meinte, ein tiefes Leiden an der Wirklichkeit, am Leben voraus? Gründet die ästhetische Aufassung der Kunst nicht in diesem Leiden? Es kann nicht Überraschen, daß bei Loos das Grabmonument als fast einzige der Architektur noch verbleibende Aufgabe erscheint.

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Aber müssen wir nicht den tieferen Grund für die scharfe Trennung von Kunst und Arbeit ganz woanders suchen, in dem Bestreben, das Leben zu rationalisieren, den arbeitenden Menschen, wie Marx sagt, als lebendiges Anhängsel dem Produktionsmechanismus möglichst reibungslos einzufügen.(16) So läßt der kapitalistische Produktionsprozeß die vergegenständlichte Arbeit in Fabrik und Büro die einst in Handwerk und Manufaktur lebendige Arbeit verdrängen. Die Rationalisierung der Arbeit bedingt ihre Vergegenständlichung, muß den Arbeiter zu einem bloßem Produktionsmittel erniedrigen. Und je mehr die so rationalisierte Arbeit das Leben bestimmt, desto weniger Sinn wird sich in diesem Leben finden lassen. Daraus ergibt sich die Forderung nach einem anderen Leben, einem Leben, das von der Arbeit befreit, sich selbst rechtfertigt. Der ästhetische Genuß verspricht nun das hier Geforderte, läßt er auch an die Stelle eines wirklichen ein nur imaginäres, spielerisches Erleben treten, an die Stelle des Indikativs der Wirklichkeit den ästhetischen Konjunktiv. Gerade der Computer eröffnet einer solchen Flucht aus der Wirklichkeit neuen Spielraum. Das Theorie und Praxis der modernen Kunst leitende Reinheitsgebot kann als der von der rationalisierten Arbeit geworfene Schatten verstanden werden, verspricht es doch eine gehobene Form der Unterhaltung, Ersatz für verlorenen Sinn, Ersatz der im Interesse der Arbeit oft auch gerne gewährt wird.
Ähnliches läßt sich auch von der falschen Gotik, der falschen Renaissance, dem falschen Barock des 19. Jahrhunderts sagen, von dem Widerspruch von vorwartsweisender Technik und rückwärtsblickender Dekoration, der das Aussehen dieser Architektur bestimmte; und Analoges gilt von der heute so populären postmodernen Architektur. Auch diese Architektur verrät eine zutiefst gebrochene Einstellung zur Wirklichkeit, die an Heideggers ähnlich gebrochenes "Ja" und "Nein" zur technischen Welt denken läßt?(17) So verstanden ist der ästhetische Aspekt der Architektur im Grunde unnötige und doch eben darum geschätzte Dekoration.
Aber nahm die moderne Architektur nicht gerade mit der Kritik an solcher in sich gebrochenen Architektur ihren Anfang? Versprach das Bauhaus nicht den Zwiespalt von Kunst und Technik zu heilen und den anfangs in Frage gestellten Raum zwischen Kunst und Alltag nicht nur der Architektur sondern dem Menschen zurückzugewinnen? Und spüren wir nicht in den besten Werken der modernen Architektur, bei Frank Lloyd Wright und Le Corbusier, bei Gropius und Mies van der Rohe, daß es dem Architekten in der Tat gelungen ist, den unseligen Zwiespalt von Kunst und unserem der Technik verpflichteten Alltag zu überwinden: eine neue Ehrlichkeit und überzeugende Kraft der Gestaltung? Doch je überzeugender Architektur, desto entschiedener stellt sie jede nur ästhetische Auffassung von Schönheit, Kunst, und Architektur in Frage.
Aber wie überzeugen die besten Werke der modernen Architektur? Ohne Zweifel gehören sie zu den Spitzenleistungen der modernen Kunst. Aber eben hier liegt das Problem: der Versuch die Architektur von dem gebrochenen Aussehen, das z. B. die Fassaden der Gründerjahre kennzeichnete, zu befreien, unterwirft sie allzu leicht entweder der Hegemonie der Technik, und gefährdet damit ihren Charakter als Kunst, oder aber unterwirft die Technik der Hegemonie der Kunst. So steht auch die moderne Architektur allzu oft unsicher zwischen Maschine und Kunstwerk und viele ihrer überzeugendesten Schöpfungen überzeugen, wie gelungene Gemälde oder Skulpturen überzeugen, als ästhetische Objekte. Aber, um es noch einmal zu sagen: ästhetische Objekte, so hinreißend sie auch als solche sein mögen, sind wesentlich unbewohnbar. Das Farnsworth House von Mies van der Rohe, z. B., ist kein gutes Haus, aber ein eindrucksvolles ästhetisches Objekt hausähnlicher (18) Art, das einen Ehrenplatz in einem Museum für moderne Kunst durchaus verdienen würde. In diesem Sinne hat Hundertwasser recht, wenn er, natürlich übertreibend, von der moralischen Unbewohnbarkeit der modernen Architektur spricht; und Lukács, wenn er der vom Modernismus geübten Kritik an dem ihm vorausgehenden historisierenden Eklektizismus die Berechtigung nicht abspricht, aber dann den Modernismus umso energischer kritisiert, konnte doch diese Architektur ihrer fundamentalen Aufgabe, "einen Raum für den Menschen zu schaffen",(19) nicht gerecht werden. Dieser Aufgabe kann sie nur gerecht werden, wenn sie lernt, das Zwischen von Kunst und Alltag nicht nur als trennend, sondern auch als verbindend zu verstehen; wenn sie verstehen lernt, daß und wie Kunst in den Alltag gehört.

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"Die Wesensart einer Epoche läßt sich gemeiniglich an ihrer architektonischen Fassade ablesen", meinte Hermann Broch.(20) Dabei dachte er an die Stuckfassaden der Jahrhundertwende, an den schroffen Gegensatz von zweckmäßigem Bauen und überflüssiger Dekoration, der ihm zum Spiegel wurde des gleich schroffen Gegensatzes von einem "nüchtern-klare, ungeschminkt realistische Weltbetrachtung" fordernden Rationalismus und einem Ästhetizismus, der um des Genußes willen die Augen vor der Häßlichkeit und Grausamkeit der Welt geschlossen hält, oder gar das Entsetzliche ästhetisch genießt.(21) Das erinnert wieder an Schopenhauer: bei ihm schon treffen sich nüchtern-klare Weltbetrachtung und ästhetisch-mystische Weltflucht. Entschiedener als bei Kant bedeutet Kunstgenuß hier Flucht aus der Wirklichkeit. Nietzsches Wort, "Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen",(22) entspricht der so verstandenen Zeit. Rationalismus und Ästhetizismus gehören zusammen und, wie Hermann Broch bemerkt, "in allem Ästhetizismus, in aller Dekoration, auch in der harmlosesten, schlummert der Zynismus - gleichfalls ein Produkt des rationalistischen Denkens - schlummert die Skepsis, die weiß, oder zumindestens ahnt, daß bloß ein "Verklärungsspiel gespielt wird".(23) Die Dekoration der Neuzeit spiegelt die ihre Wesensart bestimmende Dekadenz.
Nach Nietzsche kennzeichnet die Dekadenz, daß das Leben "nicht mehr im Ganzen wohnt". So wird in der literarischen décadence das Wort "souverän und springt aus dem Satz hervor, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichnis für jeden Stil der décadence... Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt".(24) In diesem Sinne dekadent ist die eklektische Dekoration des 19. Jahrhunderts, aber auch die des gegenwärtigen Postmodernismus, die allzu oft an Abziehbilder erinnert. Als ästhetische Präsenz zieht solche Dekoration unsere Aufmerksamkeit an sich, steht aber in keinem engen Bezug zum architektonischen Ganzen; so sieht sie wie aufgeklebt aus, ohne wirkliche Bindung an die sie tragende Architektur. Gerade dies unterscheidet solche Dekoration vom Ornament früherer Jahrhunderte. Hier dient das Ornament dem Ornamentträger, dient ihm so, wie z. B. ein guter Rahmen das Gerahmte schmückt, aber so, daß dieser Schmuck das Gerahmte nicht verdeckt, sondern im Gegenteil sichtbarer werden läßt. Ein solches Ornament hat die Funktion, den Ornamentträger zu re-präsentieren, um ihn so in seinem Wesen sichtbarer erscheinen zu lassen. Und so verstanden darf das Ornament als Gleichnis der Schönheit verstanden werden, einer Schönheit allerdings die nicht mehr ästhetisch verstanden werden darf, hat die Schönheit doch nun wesentlich eine re-präsentierende Funktion, stellt die von Kant gemeinte reine Schönheit in den Dienst solcher Re-präsentation und schlägt so immer wieder die Brücke zurück zum Alltäglichen, sucht das Wesentliche der Schönheit gerade in diesem Brückenschlag, diesem Dienst am Alltag. Schönheit, so verstanden, re-präsentiert das Schöne, ganz wie ein schmückender Armreif unsere Aufmerksamkeit so an sich zieht, daß auch der geschmückte Arm nun unseren Blick auf sich lenkt und sichtbarer wird. So vergleicht schon Xenophon mit Recht das Schöne mit einem Licht: Schönheit ist wie eine Lampe, die uns das in ihr Licht gestellte besser sehen läßt. Und so läßt auch ein gelungenes Ornament den Ornamentträger in seinem Wesen sichtbarer werden. In diesem Sinne hilft uns das Ornament einer gotischen oder barocken Kirche das Kirchengebäude als Kirche zu sehen und zu deuten. Und in diesem Sinne sollte das Ornament eines Hauses uns helfen dieses Gebäude besser, eben als ein Haus zu sehen.
Ich verglich Schönheit mit einer Lampe, die das in ihr Licht gestellte sichtbarer erscheinen läßt. Auch dazu gehört ein Abstandnehmen von unserem alltäglichen Umgang mit Menschen und Dingen. Kants Bestimmung des Schönen als Gegenstand eines interesselosen Wohlgefallens setzt ein solches Abstandnehmen voraus, lädt uns ein, das Zwischen von Kunst und Alltag als trennenden Riß zu verstehen. Aber gerade ein solches Aufreißen des Alltäglichen öffnet die Augen. So weist Heidegger in Sein und Zeit darauf hin, daß es die Risse und Brüche in unserem alltäglichen Besorgen sind, die Dinge und die dazu gehörige Welt aufleuchten lassen.(25) Hier ein verlassenes und verfallendes Haus in San Juan: gerade in seiner Unbewohnbarkeit fällt es auf. Anders als seine leicht übersehenen Nachbarn drängt sich diese Hausruine mit ihren Fensterlöchern uns auf; und aufsässig rufen Spruchbänder und Plakate in den Alltag hinein, rufen eine geträumte Zukunft. Von dieser bescheidenen, vermutlich für nur wenig Geld zu erstehenden Hausruine hat der Architekt viel zu lernen. Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit haben nach Heidegger die Funktion, am Zuhandenen den Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein zu bringen. Risse und Brüche, Störungen in dem Gefüge des Alltäglichen lüften den Schleier, den die Gewohnheit über die Dinge legt.
Zwar dachte Heidegger nicht an Kunst oder Architektur wenn er uns Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit als Verweisungsstörungen verstehen läßt, bei denen Zuhandenes seiner Zuhandenheit verlustig wird. Ihm ging es um ein Aufzeigen der Weltmäßigkeit der Umwelt. Aber auch die Schönheit, die ein Werk der Architektur von einem bloßen Zweckbau unterscheidet, kann als eine solche Verweisungsstörung verstanden werden, die Welt aufleuchten läßt. So kann auch der griechische Tempel, dem Heidegger im Kunstwerk-Aufsatz eine Welt aufstellende Funktion zuschreibt, als auffällig-aufdringlich-aufsässiges Bauwerk verstanden werden. Wir werden der Schönheit eines solchen Werkes nicht gerecht, so lange wir sie als ästhetischen Zusatz verstehen. Der Kunstcharakter solcher Architektur will anders gedeutet werden: Als zweckgebundenes Bauwerk bleibt auch das Architekturwerk ins alltägliche Leben gebunden, dient diesem Leben; als Kunstwerk aber stört es die Stimmigkeit dieses Alltags, reißt ihn auf und wird eben dadurch nicht nur selbst sichtbarer, sondern läßt auch den Zusammenhang, in dem es steht, sichtbarer werden, stellt ihn in ein neues Licht und trägt so in den Alltag Hinweise auf eine mögliche tiefere Bindung, Spuren oder Ahnungen einer anderen Welt.
Ist es dann nicht doch die Schönheit, die ein Bauwerk auffallen läßt, die Absicht, Schönes zu schaffen, die den Architekten vom bloßen Baufachmann unterscheidet? Betrachten wir noch einmal die von der Ästhetik immer wieder betonte Nutzlosigkeit des Schönen. Ornament, gute Proportionen, oder auch nur eine ungewohnte Form, lassen das so geschmückte aus der Welt des alltäglich Vetrauten herausfallen, lassen uns auch das Altbekannte und Vertraute anders sehen. In diesem Sinne ist große Architektur aufsässig, d. h., trotzt dem vorgegebenen Zusammenhang, stellt sich ihm entgegen. Das meiste, das gebaut wird, scheut eine solche Konfrontation, soll sie scheuen: unaufdringlich fügt es sich in den vorliegenden Kontext. Aber eben deshalb verdient es auch nicht den Titel "Architektur". Von Anfang an bewegt sich die Geschichte menschlichen Bauens im Gegensatz von unauffälligen Gebäuden und auffälliger Architektur. Erst dieser Abstand, diese trotzige Auseinandersetzung gibt der Architektur ihre eigene Sprache.
Was soll eine solche Auseinandersetzung? Leicht zu verstehen sind die immer wiederkehrenden Angriffe auf die Architektur im Namen eines anspruchsloseren, der Nützlichkeit und Bequemlichkeit dienenden Bauens. Häuser sollen wohnlich, sollen gemütlich sein.(26)
Wie ich das Wesen der Architektur hier umrissen habe, ist es ihre Aufgabe, Abstand zu halten von allem alltäglichen Zwecken dienenden Bauen, aber nur um uns zu diesem zurück zu führen, aber nun mit offeneren Augen, offener auch für Werte, Ideale und Utopien, die, vom Alltag oft vorausgesetzt, dennoch verschüttet bleiben. Nicht die reine Schönheit, oder allgemeiner gefaßt, ein ästhetischer Zusatz, Dekoration im weistesten Sinn, unterscheidet ein Architekturwerk, das mehr ist als ein unsicher zwischen Kunst und Alltag hin- und herspringendes Gemächte, von einem bloßen Gebäude, unterscheidet, um Pevsners bekanntes Beispiel zu zitieren, die Kathedrale in Lincoln von einem Fahrradschuppen, sondern eine der Selbst-Repräsentation desb Gebäudes dienende Schönheit. Selbst-Repräsentation heißt hier auch Präsentation des Wesens eines Bauwerks, einer Kirche oder eines Hauses zum Beispiel, und diese wiederum hat eine ethische Funktion, spricht von Werten und Idealen. Wenn Heidegger vom griechischen Tempel sagt, daß er, die Gestalt des Gottes umschließend, ihn anwesen ließ, den heiligen Tempelbezirk ausbreitend und ausgrenzend, so gilt Analoges von der Anwesenheit Gottes in einer mittelalterlichen oder barocken Kirche, von dem Anwesen Gemeinschaft bauender Werte und Ideale in Grabmal und Denkmal.(27) Architektur ruft uns aus dem Alltag heraus, anderwohin, in die Richtung eines immer nur erahnten Ideals. In aller wirklichen Architektur steckt ein Stückchen Utopie.(28) Dieser utopische Aspekt der Architektur trotzt jedem nur den Bedürfnissen des Alltags dienenden Bauen.
Aber wie schon angedeutet, solche Gegenüberstellung von den Bedürfnissen des Alltags verpflichteten Gebäuden und utopischer Architektur setzt ein zu enges und darum falsches Verständnis dieser Bedürfnisse voraus. Nicht nur der Körper, auch der Geist hat Bedürfnisse. Dazu gehört das Bedürfnis, den Alltag mit Mythen und Geschichten zu umstellen und zu deuten. Von Anfang an war Arbeit am Mythos(29) Hauptaufgabe der Architektur; von Anfang an hatte Architektur eine mythopoetische, und das heißt auch, eine öffentliche und politische Funktion, warf ihr Licht in den Alltag, wobei Architektur konservativ oder revolutionär sein, d. h. alten oder neuen Göttern dienen kann.
Hat Architektur heute noch diese Funktion? Darf sie eine solche Funktion überhaupt noch haben? Verbietet sich nicht eine solche Architektur uns postmodernen, vom Alptraum des Mythos des 20. Jahrhunderts verschreckten, der Freiheit verpflichteten und doch verspielten Erben der Aufklärung? Müssen wir Hegel nicht folgen, wenn er von der Kunst sagt, und das gilt erst recht von der Architektur, daß sie "nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes sei"?(30) Ersetzt uns heute nicht die Arbeit der Vernunft die Arbeit am Mythos?
So verknüpft sich die Frage der Zukunft der Architektur mit der Frage der Reichweite und Grenzen der Vernunft. Hat Kunst, wie Hegel meint, aufgehört, höchstes Bedürfnis des Menschen zu sein? Zwar bliebe der Kunst, und auch der Architektur, nach dem Verlust ihrer einstigen ethischen Funktion das unendliche Reich des Ästhetischen: Kunst bedeutete dann im Grunde eine Flucht vor der Zukunft, Flucht aus der Wirklichkeit, die Zuflucht sucht im ästhetischen Konjunktiv, im unverbindlichen Spiel mit geistreichen Bezügen und Möglichkeiten. "Architektur zwischen Kunst uns Alltag" hieße dann, ein zwar an den Alltag gebundes Bauen, aber als Architektur immer wieder und immer wieder vergeblich Abstand suchend, Abschied nehmend von der Wirlichkeit, unfähig jedoch, den Abgrund, der sich erst jetzt, eben durch dieses Abschiednehmen zwischen Kunst und Alltag, öffnet, zu überbrücken, ohne den Willen oder die Kraft, ein Licht in unseren Alltag zu werfen.


Karsten Harries
Yale University


(1) Adolf Loos, Trotzdem. Innsbruck 1931, S. 93.

(3) Kant, Kritik der Urteilskraft, A 42 - 43.

(4) "Questions to Stella and Judd," Interview with Bruce Glaser, Minimal Art. A Critical Anthology, Hrsg. Gregory Battcock. New York l968, S. l57 - l58.

(5) Vgl. Emil Staiger, "Zu Einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger," in Martin Heidegger. Aus der Erfahrung des Denklens 1910 - 1976, Gesamtausgabe, Band 13. Frankfurt am Main 1983.

(6) Alexander Gottlieb Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Halle 1735, LXVIII.

(7) Vgl. Alfred Bäumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Mit einem Nachwort zum Neudruck. Darmstadt 1967, S. 108 - 122.

(8) Kant, Kritik der Urteilskraft, A 205.

(9) Ebd., A 49/ B 49. Vgl. auch Karsten Harries, "Laubwerk auf Tapeten," Idealismus mit Folgen: Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften, Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Pöggeler, Hrsg. Hans-Jürgen Gawoll und Christoph Jamme. München 1994, S. 87 - 96.

(10) Ebd., A 163-164/B 165-166.

(11) John Ruskin, The Seven Lamps of Architecture. New York 1974, S. 15-16.

(12) Ebd.. S. 17.

(13) Ebd., S. 15.

(14) Ebd., S. 115.

(15) Martin Heidegger, Sein und Zeit, 7. Auflage. Tübingen 1953, S. 410.

(16) Karl Marx, Das Kapital MEW, Band 23. Berlin 1962, S. 410.

(17) Heidegger, Gelassenheit. Pfullingen 1959, S. 25.

(18) Vgl. Rudolf Schwarz, "Das Anliegen der Baukunst," Darmstädter Gerspräch Mensch und Raum. Darmstadt 1951, S. 67.

(19) Georg Lukács, Ästhetik, Teil I, 2. Halbband. Neuwied/Berlin 1963, S. 453-454.

(20) Hermann Broch, "Hofmannsthal und seine Zeit," in Dichten und Erkennen, Bd. 1, Zürich 1955, S. 41.

(21) Ebd., S. 43.

(22) Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtziger Jahre, Werke, Hrsg. Schlechta, Band 3. München 1966, S. 832.

(23) Broch, "Hofmannsthal". S. 44.

(24) Nietzsche, Der Fall Wagner, Werke, Band 2. S. 917.

(25) Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 72 - 76.

(26) Vgl. Adolf Loos, "Architektur", Trotzdem. S. 107 - 109.

(27) Ebd. S. 107.

(28) Vgl. Ernst Bloch, "Bauten, die eine bessere Welt abbilden. Architektonische Utopien", Das Prinzip Hoffnung, Band 2. Frankfurt am Main 1980, S. 809 - 872.

(29) Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1979.

(30) Vgl. Heidegger, Holzwege. S. 66 - 67.

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