Thema 1. Jg., Heft 1
Oktober 1996

Bernhard Waldenfels



Architektonik am Leitfaden des Leibes



Architektur wird in den folgenden Überlegungen unter dem Blickwinkel einer Phänomenologie der Leiblichkeit und der Räumlichkeit betrachtet. Sie erscheint dabei als eine Form der Raumkunst, die teils im weiteren Sinne als Herstellungskunst, teils im engeren Sinne als künstlerische Form der Hervorbringung zu verstehen ist. Die Frage, wie Bautechnik und Baukunst aufeinander bezogen sind, wird unser besonderes Augenmerk finden. Zunächst geht es um den Aufweis eines allgemeinen Zusammenhangs zwischen Bauen als Raumbildung und Wohnen als Aufenthalt im Raum; es wird sich zeigen, daß dem Leib hierbei eine Schlüsselrolle zufällt. In der darauffolgenden historischen Zwischenbetrachtung geht es um den Übergang von einer vorästhetischen zu einer ästhetischen Kunst, der im Falle der Architektur zu einer Spaltung in Zweckbau und Kunstbau führt. Schließlich bietet sich eine Alternative an in Gestalt einer nachästhetischen Kunst. Ihr könnte es gelingen, das Schisma von Kunst und Alltag zu überwinden, ohne auf die ausgetretenen Pfade einer Wiederverganzheitlichung von Welt und Leben zurückzulenken.

1. Raumbildung: Bewohnbare und unbewohnbare Räume

Eine Rückbesinnung auf das griechische Ursprungswort zeigt, daß die 'Architektur' allgemeine Ordnungsvorstellungen ins Spiel bringt, die über das handwerkliche oder materielle Herstellen weit hinausgehen. Die zweite Worthälfte verweist auf das griechische , mit dem das Erzeugen und Herstellen im allgemeinen bezeichnet wird. Als wird sowohl der Tischler wie der Schiffs- oder Hausbauer bezeichnet. Eine Differenzierung ist erforderlich, wenn beim Bauen eines Hauses oder eines Tempels die Herstellung in verschiedene Teilvorgänge zerfällt und diese nach einer Koordination verlangen. So gesellt sich zum Handwerker () der Baumeister () als der Leiter und Lenker des Bauprozesses, der das Gesamtwerk plant und im Auge behält und dem Artistoteles (vgl. Met. I, 981 a 30 ff.) den Vorrang zuerkennt, da er weiß, warum man etwas so macht. Verglichen mit dem Benutzer, der vom Bauwerk Gebrauch macht, erscheint der Architekt als Hersteller im weiteren Sinne. In den Augen von Platon und Aristoteles, die bei der Herstellung primär an den Zweck denken, verkörpert jedoch der Gebraucher die entscheidende Instanz, da der Gebrauch über das Gelungensein oder Mißlungensein des Werks entscheidet. Der Hersteller beweist seine Sachkunde darin, daß er der Eigentümlichkeit des Stoffs gerecht wird, während der Gebraucher das Werk erst seinem Zweck zuführt(1). Der engere Begriff des Architekten als eines Bauplaners und Bauleiters läßt eine Steigerung zu. Die menschliche Architektur vollendet sich in einer göttlichen Architektur, hinter der Gott als der große Weltenbauer steht. Im Zuge einer Säkularisierung der Weltordnung geht die leitende Rolle an die Vernunft über, die nun ein "Gebäude der menschlichen Erkenntnis" errichtet, so bei Baumgarten und Lambert, und die schließlich mit Kant eine "Architektonik der reinen Vernunft" entstehen läßt.(2) Schon diese knappe Skizze macht deutlich, daß in der Tradition der Architektur bestimmte Formen der Weltdeutung beschlossen sind, die kosmologische, theologische, anthropologische und auch soziologische Komponenten aufweisen. Einer der mythischen Ahnherren der Architektur ist Dädalus, jener kunstreiche Erbauer des Labyrinths, dessen Embleme noch in mittelalterlichen Kathedralen zu finden sind. Ideen muß man der Architektur also nicht andichten, sie stecken von Anfang darin, nicht als ob Architektur aus angewandten Ideen bestünde, im Gegenteil: Architektur ist selbst bereit seine bestimmte Form des Denkens.

Begreifen wir Architektur traditionsgemäß als eine bestimmte Form der Herstellung, so fragt sich, was eigentlich in der Architektur hergestellt oder hervorgebracht wird.(3) Sicherlich hat der Bau eines Hauses oder einer Fabrik etwas mit der Herstellung von Raum zu tun, doch in welchem Sinne ist dies zu verstehen? Was die Architektur hervorbringt, ist nicht etwas im Raum. Backsteine, Holzbalken, Betonmassen, Eisenverschalung, Dachziegel und Fensterrahmen bilden Baumaterialien, woraus etwas gebaut wird, sie sind aber nicht das, was im Bauen hervorgebracht wird. Ebensowenig wird der Raum selbst gebaut. Der Raum ist nicht etwas, das sich durch bestimmte Eigenschaften von anderem abgrenzt, sondern er bedeutet eine Art und Weise, wie eines mit dem anderen vorkommt. Wäre der Raum ein Etwas, so könnte ich weiter fragen, wo der Raum ist; der Raum würde selbst eine weitere Räumlichkeit voraussetzen, innerhalb derer er mit anderem zusammengeordnet wäre. Wo-Fragen lassen sich nicht, wie schon Aristoteles wußte, auf Was-Fragen reduzieren. Die Frage, was im Bauen hergestellt wird, ist auf andere Weise zu beantworten. Architektur produziert raumbildende Dinge, das heißt Dinge, die Raum mit entstehen lassen. Solche raumbildende Dinge sind Wand, Fußboden, Dach, Fenster, Türöffnung oder Treppe. Diese Dinge bedeuten mehr als bloße materielle Dinge, denen man eine bestimmte Größe, Farbe oder Schwere zuschreiben kann. Vier Bretterflächen bilden nicht schon die Wände eines Zimmers, es sei denn, sie werden auf bestimmte Weise zusammengefügt. Der Innenraum entsteht durch Zusammenstellung. Bauen besagt Konstruieren, Zusammenfügen. Hinzu kommt die Möglichkeit, etwas auszusparen und wegzulassen, so daß beispielsweise Fenster- oder Türöffnungen entstehen. Die Öffnung entspricht der Leere des Kruges oder den Zwischenräumen eines Zauns. Das, was ausgespart wird, sind 'Dinge', die weniger sind als etwas, aber mehr auch als nichts - so daß Morgensterns Architekt auf den Einfall kommt, Zwischenräume aus dem Lattenzaun herauszunehmen und daraus ein Wolkenkuckucksheim zu bauen: "... und nahm den Zwischenraum heraus / und baute draus ein großes Haus". Haben wir in Palmström den Erfinder einer immateriellen, körperlosen Architektur vor uns?

Die leibhafte Räumlichkeit, die beim irdischen Bauen entsteht, verteilt sich auf verschiedene Raumregister.(4) An erster Stelle sind verschiedene Raumrichtungen zu erwähnen. Dies sind Dimensionen, die wir auf verschiedene Weise durchmessen. Bauen heißt, sich und die Dinge im Raum einrichten. Hierbei ergeben sich die Differenzen von oben und unten, von vorn und hinten, von rechts und links. Oben und unten finden ihre bauliche Gestalt in Dach und Boden, in Dachgestühl und Kellergewölbe. An der vertikalen Dimension gemessen bedeutet Bauen ein Aufbauen, das den Gleichgewichtsgesetzen der Statik folgt. Nur das, was sich in die Lüfte erhebt, kann zusammenbrechen. Bauten zeigen daher eine konstitutive Labilität, die in Erderschütterungen oder künstlichen Haussprengungen nur besonders drastisch zutage tritt. Die Dimension von vorn und hinten bekundet sich in der Differenz von Vorderseite und Rückseite, die sich von der Zugangsrichtung, aber auch von der Selbstdarstellung des Hauses her bestimmt. Einen "Giebel zur Straße hin" haben (vgl. Pensées, ed. Brunschwicg, Fragm. 45), ist zu den Zeiten Pascals das Wahrzeichen der Bürgerlichkeit. Fassadensteuern deuten an, daß der Platz an der Sonne des Marktes oder am Wasser der Gracht knapp ist. Schließlich bleibt der Richtungsgegensatz von rechts und links, der - wie schon beim menschlichen Körper - schwächer ausgebildet ist und eine leichtere Vertauschung zuläßt. Die Richtungsunterschiede werden insgesamt abgeschwächt, wenn der winklige oder gar rechtwinklige Bau, der den, der ihn betritt oder um ihn herumgeht, zum abrupten Richtungswechsel zwingt, dem Rundbau weicht, bei dem wir allmählich von einer Richtung in die andere hinübergleiten.

Neben den Raumrichtungen sind die Raumgrenzen zu nennen. Der bauliche Raum zerteilt sich in Drinnen und Draußen. Die Grenzziehung, die eines vom anderen abhebt, bedeutet keine pure Abgrenzung, keine bloße Demarkation, wie sie dem Architekten auf dem Reißbrett begegnet. Auf dem Reißbrett überblicken wir gleichzeitig mehrere Raumfelder, ähnlich wie der Schiedsrichter beim Tennis über den Fronten schwebt und das gesamte Spielfeld überblickt. Doch einen Raum bewohnen heißt nicht, ihn überblicken. Drinnen und Draußen entstehen nicht unter dem abgrenzenden Blick, sie entstehen im Prozeß einer gleichzeitigen Ein- und Ausgrenzung. Drinnen und Draußen lassen sich nicht auf ähnliche Weise umkehren wie rechts und links. Der Binnenraum setzt Ein-wohner voraus, die sich gegen Auswärtiges abschirmen und damit einen Eigenraum vom Fremdraum, einen Wohnort von seiner Umgebung absondern. Eine Wand ist niemals eine bloße Schutzvorrichtung, die reale Einwirkungen abhält, sondern sie ist immer auch eine symbolische Wand, die einen Eigenraum markiert. Nur weil es dieses asymmetrische Verhältnis von Drinnen und Draußen gibt, gibt es so etwas wie Türen und Fenster. Diese Vorrichtungen sind keine bloßen Löcher in der Wand, sondern Ein- und Ausgänge, die der Schritt oder der Blick durchquert. Im Übergang von draußen nach drinnen überqueren wir eine Schwelle, die in älteren Bauformen vielfach durch Schwellbalken markiert wird. Durch das Zögern des Schrittes wird der Ein- oder Austritt deutlich akzentuiert. Wer mit der Tür ins Haus fällt, mißachtet diese Schwelle. Portal und Fenster sind also keine bloßen Teile des Hauses, sie sind Embleme, in denen sich eine bestimmte Weise der Behausung bekundet. Das Vergessen der Fensteröffnungen ist einer jener Schildbürgerstreiche, der das Haus in eine lichtlose Höhle verwandelt.

Schließlich bleibt die Raumgliederung. Der jeweilige Gesamtraum zeigt eine Binnengliederung, die durch die Abgrenzung von Zimmern, aber auch durch das Anordnen von Dingen im Raum, durch Licht- und Schatteneffekte und durch das Ausbalancieren von Fülle und Leere geschaffen wird. Jeder Gegenstand, der in einem Raum untergebracht wird, verändert diesen Raum; er tritt in Wettbewerb zu anderen Gegenständen, macht ihnen den Raum streitig oder gewährt ihnen Raum. Der Raum kann sich weiten oder verengen. Unter diesen Umständen ist selbst der leere Raum kein bloßer Behälter, in dem sich nichts befindet, sondern er bedeutet den Grenzfall eines gestaltlosen Hintergrundes, einer Bühne, die auf das Schauspiel wartet. Die Leere kann sich bis ins Schweigend-Abgründige steigen. Einen Raum vollpfropfen heißt, die Leere des Raumes übertönen.

Räumlichkeit entsteht also mit dem Bauen. Doch die Räumlichkeit, die so entsteht, wirft weitere Fragen auf. Wie ist der Raum zu denken? Diese Nachfrage wäre müßig, wenn Räumlichkeit sich von selbst verstünde. Doch dies ist keineswegs der Fall, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Mit Beginn der Neuzeit tritt an die Stelle des kosmischen Weltenbaus der antiken Physis der Wirkzusammenhang einer berechenbaren und beherrschbaren Natur. Daraus resultiert eine Raumvorstellung, die sich vom Bebauen und Bewohnen des Raumes ablöst. In der Tradition von Galilei und Descartes, die bis zu Kant und darüber hinaus reicht, erscheint der Raum als Zwischenraum (spatium), der ein Ding vom anderen trennt, als Abstand (distantia) zwischen einem Ding und dem anderen und als Ausdehnung (extensio), die das Sein der Dinge selbst ausmacht, sobald man die Dinge von deren sogenannten sekundären, subjektiven Qualitäten wie Farbe oder Ton entblößt. Der residuale Raum, der so entsteht, reduziert sich auf das Schema eines leeren Raumes. In diesem Raum gibt es Raumstellen, doch die sind gleichförmig, gleichgültig gegenüber dem, was sie anfüllt. Es gibt Richtungen, doch diese sind gleichwertig. Oben ist dort, wo nicht unten, rechts ist dort, wo nicht links ist. Streng genommen gibt es also kein oben und unten, kein rechts und links; es gibt nur relative Differenzen im Raum. Ein derart homogener und isotroper Raum ist in der Tat nichts weiter als ein Behälter, der Personen, Lebewesen und Dinge in bunter Mischung aufnimmt, ohne daß eines von ihnen an seinem Platze oder umgekehrt fehl am Platze wäre. Natürlich läßt sich diese reduzierte Raumvorstellung rechtfertigen als methodisches Konstrukt, das die klassische Physik ermöglicht, das allerdings mit dem Aufkommen von Feldtheorien selbst im Ursprungsbereich der Physik nicht mehr unumschränkt gültig ist.5) Nimmt man, wie Husserl in der "Krisis" Galilei vorhält, für Sein, was bloße Methode ist, so entsteht ein Raum, der sich im strengen Sinne als unbewohnt und unbewohnbar erweist. Alles ist irgendwo im Raum, niemand und nichts hat seinen Raum. Es kommt hinzu, daß das reale Bauwerk sich in Form einer "gelebten Abstraktion" dem puren Container annähern kann. Dies hat zur Folge, daß der Mensch sich aufspaltet in ein Denkwesen, das den Raum konzipiert und ausmißt, und ein Körperwesen, das ihn okkupiert. Vergessen ist auf diese Weise der Leib, jener stille Genosse, der uns einen Aufenthalt im Raum gewährt. Nur als leibliche Wesen bewohnen wir den Raum.

Die erwähnten Raumregister mit ihren qualitativen Differenzen gäbe es buchstäblich nicht ohne die raum- und grenzbildende Kraft der Leiblichkeit. Dies gilt zunächst wiederum für die Raumrichtungen. Oben und unten verweisen auf den aufrechten Gang. Schon hier begegnen wir einer Labilität, die die Kehrseite unseres Stehvermögens ist. Nur weil der Mensch, der sich im Raum aufhält, stehen kann, kann auch das Haus, das er bewohnt einstürzen. Und nur weil der Mensch aufrecht geht, gibt es eine Schwerkraft, die nach unten, zum Boden hin zieht. Ohne den Menschen, der sich auf dem Erdboden bewegt, wäre der Erdboden Teil eines beliebigen Raumkörpers, der lediglich ein bestimmtes Kräftefeld um sich verbreiten würde.(6) Was vorn und hinten angeht, so erinnern Fassade und Rückwand eines Gebäudes sprachlich an das Gesicht und den Rücken des Menschen. Hierbei handelt es sich um keine bloß anthropomorphe Redeweise. Gäbe es niemanden, der das Haus betritt, so wäre die Vorderfront eine bloße Fläche, und die Tür wäre ein bloßes Loch. Ähnliches gilt schließlich für das Gegensatzpaar von rechts und links, das in der Nebenbedeutung des 'Rechten' oder des 'Linkischen' ebenfalls eine qualitative Differenz anzeigt und das in der Verschiedenheit von rechter und linker Gehirnsphäre einen physiologischen Rückhalt findet. Kurz gesagt, alle diese Richtungsunterschiede gäbe es nicht ohne die Bezugnahme auf ein leibliches Hier, auf einen Standort also, den jemand einnimmt, den er wechselt und der als Nullpunkt aller räumlichen Orientierung fungiert (Hua IV, 158).

Auch Raumgrenzen, die Drinnen und Draußen voneinander absondern, gäbe es nicht ohne ein Wesen, das sich im Raum aufhält und sich zum Raum verhält, indem es hier ist, dort war und woanders sein könnte. Die Differenz von Drinnen und Draußen entpuppt sich als ein "Phänomen des Spielraums", bezogen auf ein leibliches Wesen, das nicht im Raum bewegt wird, sondern sich selbst im Raum bewegt (vgl. Straus 1956, 247ff.). Drinnen und Draußen sind daher auch nicht denkbar, ohne daß ein individuelles oder kollektives Selbst seinen Eigenbereich von einem Fremdbereich absondert. Nicht umsonst zeigt das Haus von altersher einen sozialen Aspekt, der sich im Hausrecht der Bewohner bekundet, aber ebenso im Gastrecht, das Fremden gewährt wird. Jedes Haus hat Züge eines Gasthauses, das mehr oder weniger geöffnet und verschlossen sein kann.

Schließlich verweist auch die Raumgliederung auf eine leibliche Orientierung und Betätigung im Raum, die darüber entscheidet, ob etwas in Reichweite oder unerreichbar ist, ob es uns auf den Leib rückt oder Distanz hält. Der Raum, in dem wir uns aufhalten, zeigt verschiedene Bedeutsamkeitszonen, die der Vielfalt leiblicher Organe und erogener Körperzonen gleichen. Man lebt nicht einfachhin im Raum, sondern man tut es auf verschiedene Weise. Das bloße Einschlafen verwandelt den Raum in eine Dunkelkammer, in der wir uns beim Aufwachen wieder zurechtfinden müssen. Dies gelänge uns nicht, käme der Leib als 'Hüter des Vergangenen' uns dabei nicht zu Hilfe.(7)

Das Bauen ist also vom leiblichen Wohnen her zu denken, wie Heidegger, Merleau-Ponty und Levinas auf verschiedene Weise zu zeigen versuchen.(8) Mit einer Vorliebe für Bodenständigkeit hat dies wenig zu tun; wo diese Vorliebe auftritt, gehört sie zu den individuellen oder kollektiven Idiosynkrasien. Das Wohnen beginnt, sobald der Mensch der Höhle des Mutterleibes entweicht und einen Unterschlupf sucht. Genau so wie Nahrung, Kleidung und Fortpflanzung gehört auch die Behausung zu den ersten Errungenschaften der Kultur. Auch hier greift der Mensch auf natürliche Vorgegebenheiten zurück, indem er ihnen eine Form gibt, die in bestimmten Grenzen variiert, ähnlich wie Mimik, Gestik und Sprache in gewissem Umfange variabel sind. Bauen, das sich vom Wohnen her versteht, bedeutet niemals ein pures Herstellen von Etwas, sondern immer auch ein Ge-statten, ein Ein-räumen, das Raum gewährt (vgl. Heidegger 1954, 154 f.). Auch die Um-gebung zeigt Aspekte des Gegebenen und des Gebenden. Dabei stellt sich die Frage, ob nicht auch Lebewesen, selbst Dinge auf gewisse Weise den Raum gestalten, in dem sie leben oder vorkommen. Dazu wäre einiges zu sagen. Selbst für Dinge gilt, daß sie nicht einfach im Raum herumstehen oder herumliegen, sondern daß sie in einer Art von Ausstrahlung einen Raum um sich verbreiten(9), so wie die sprichwörtliche Zweiheit von Tisch und Bett einen Speise- und Schlafraum entstehen läßt, und sei es als Wiesentisch oder Wiesenbett. Die raumbildende Kraft der Dinge tritt besonders plastisch hervor in der sparsamen Ausstattung traditioneller japanischer Wohnräume mit dem flachen Tisch, der Blumenvase, der Schriftrolle und dem Familienaltar; diese Räume wirken deshalb nicht karg, weil der 'Leib der Dinge' zu sprechen beginnt für den, der Ohr und Auge für sie hat.

Solche emphatischen Formen der Raumbewohnung, in denen ein hohes Maß an Raumerfindung steckt, können allerdings nicht darüberhinweg täuschen, daß es Tendenzen zu einer Entleiblichung von Mensch und Raum gibt, die in unserer neuzeitlichen Zivilisation ein besonderes Ausmaß angenommen haben. Bauten verwandeln sich vielfach in bloße Gehäuse, die - gleich dem meßbaren leeren Raum - irgend etwas und irgend jemand aufnehmen. Der Zug zur Normalisierung und Homogenisierung macht auch vor dem Raum nicht halt. Raumbewohner degenerieren zu bloßen Raumbenutzern. Am Ende wäre es nur noch mein Körper, der im Zimmer, im Haus, in der Stadt sich aufhielte, und die Seele würde nicht mehr, wie die des platonischen Philosophen (vgl. Theaitet 173 e) in Muße den Kosmos durchstreifen, sie würde mit den artifiziellen Räumen medialer Welten vorlieb nehmen. Wenn wir davon ausgehen können, daß wir als leibliche Wesen mitgeprägt sind durch unser Hiersein und daß die Frage 'Wer bin ich' nicht beantwortet werden kann ohne Bezugnahme auf die Frage 'Wo bin ich?', so weitet sich die Normalisierung von Lebensräumen aus zu einer Normalisierung des Lebens selbst, derzufolge Differenzen eingeebnet und die Spannung zwischen Eigenwelt und Fremdwelt herabgesetzt wird. Raumbildung wird begleitet von den vielfältigen Schatten einer Raumverbildung.

II. Raumkunst: Weltbau, realer Raum und Kunstraum

Wie steht es nun mit der Architektur, wenn wir sie als Raumkunst, also im neuzeitlichen Sinne als ein Werk von Künstlern verstehen? Daß Architektur vielerlei Kenntnisse und Fertigkeiten voraussetzt, liegt auf der Hand. Folgen wir dem klassischen Traktat von Vitruv, so tragen Geometrie und Arithmetik ebenso zur Architektur bei wie Rhetorik und Philosophie, ganz zu schweigen von einem musikalisch genannten Sinn für Proportionen und Harmonie. Die Frage ist nur, wie die verschiedenen Komponenten sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Diese Frage stellt sich auf verschiedene Weise, je nachdem, in welchem Rahmen Kunst gedacht und getätigt wird. Dies läßt sich mit einer groben historischen Skizze verdeutlichen.

Blicken wir auf vormoderne Zeiten zurück, so können wir von einer vorästhetischen Kunst sprechen. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie in einen umfassenden Welt- und Lebenszusammenhang eingebettet ist. Der antike Kosmos ist so etwas wie ein Raum aller Räume, der durch kein Außen begrenzt ist und in dem alles, was ist und sein kann, sich zu einer Art kosmischer Architektur zusammenfügt. Auf repräsentativen Bauten wie Tempel, Palast oder Kathedrale ruht der Abglanz eines unvergänglichen Kosmos oder eines ewigen Jerusalem. Diese Bauten partizipieren an einer natürlichen Schönheit der Dinge, mit der die Schönheit menschlicher Werke wetteifert. "Die Kunst vollendet die Natur", heißt es bei Aristoteles. Eine solch umfassende Ordnung ist teils stufenförmig, teils konzentrisch angelegt. Ihr wohnt die Macht inne, jene artes serviles, die mit dem Notwendigen und Nützlichen beschäftigt sind, in Dienst zu nehmen. Ähnlich wie Skulptur, Glas-, Decken-, Wand- und Tafelgemälde innerhalb von Kathedrale oder Schloß und später auch innerhalb der Bürgerwohnung ihren gemäßen Platz finden, so finden diese Bildstätten ihrerseits ihren Platz in einer Natur-, Schöpfungs- oder Lebensordnung, deren Sinnbild sie darstellen. Hierbei handelt es sich um keine bloße Eigenart alteuropäischer Kultur, ähnliches findet sich beispielsweise in asiatischen Kulturräumen. Die Anlage eines buddhistischen Tempels bezieht die umgebende Natur mit ein und bleibt in sie einbezogen, seien es die Baumblüten, die im Frühling den Bau wie Festkerzen umstrahlen, seien es die Winde, die auf dem Gong spielen, oder seien es die Hügel, die das Blick- und Meditationsfeld umschließen.

Das Aufkommen einer ästhetischen Kunst hängt zusammen mit der Reduktion der antiken und mittelalterlichen Weltordnung auf eine bloße Natur, deren Kräfte man berechnet und nutzt. Als Kompensation, die diesen Verlust auszugleichen hat, bieten sich die schönen Künste an, die jenseits des Reichs der Nützlichkeit einen Bereich des schönen Scheins eröffnen. Der Bewohner dieser Welt spaltet sich in den Beherrscher und Benutzer dieser Welt und den Betrachter einer anderen Welt. Betritt der neuzeitliche Mensch die Festräume der alten Welt, so wird er zum Besucher. Man 'besucht' Kirchen und Schlösser, die man nicht mehr bewohnt. Lebensplätze oder Festorte werden zu bloßen 'Sehenswürdigkeiten', wenn sie sich vom Alltag ablösen. Dieser Wandel manifestiert sich in feinen Unterschieden. Der Besucher eines Schlosses unterscheidet sich dadurch vom Bewohner, daß er den Louis XV-Sessel nur betrachten, sich aber nicht auf ihn setzen darf. Der Umgang mit den Dingen degeneriert zu einem kulturellen Voyeurismus, wenn die ästhetischen Vorbehalte und Warntafeln überhand nehmen.

Die Welt der Kunst gewinnt eine ästhetische Autonomie, indem sie sich durch eine Grenze gegen die Zudringlichkeit der alltäglichen Wirklichkeit abschirmt. Diese "ästhetische Grenze" scheidet den "Kunstraum" von einem "Realraum" (Michalski 1932). Bleiben wir im Bereich der visuellen Kunst, so materialisiert diese Grenze sich im Bildrahmen, der die nötige ästhetische Distanz schafft. In den feinsinnigen Überlegungen, die Georg Simmel dem Bildrahmen gewidmet hat, erscheint das Bild als eine Insel, die sich aus dem Ozean des Nützlichen heraushebt.

    "Das Kunstwerk ist etwas für sich, das Möbel etwas für uns. Jenes, als Versinnlichung einer seelischen Einheit, mag noch so individuell sein: in unserem Zimmer hängend, stört es unsere Kreise nicht, da es einen Rahmen hat, d. h. da es wie eine Insel in der Welt ist, die wartet, bis man zu ihr kommt, und an der man auch vorüberfahren und vorübersehen kann. Das Möbelstück aber berühren wir fortwährend, es mischt sich in unser Leben und hat deshalb kein Recht auf Für-sich-Sein." (Simmel 1995, 104 f.).


Ernst Michalski kritisiert an dieser Auffassung, daß sie eine bestimmte autonome Kunstauffassung verabsolutiert. Für ihn gibt es autonome Kunst und "ästhetische Immanenz" nur dort, wo die Grenze zwischen Kunst und Realraum gewahrt wird, während heteronome Kunst und "ästhetische Transzendenz" dort zu finden sind, wo diese Grenze überschritten wird (1932, 12). Es fragt sich, ob diese Grenzziehung nicht selbst schon auf fragwürdigen, historisch entstandenen Voraussetzungen beruht. Es liegt auf der Hand, daß sie zumindest im Bereich von Architektur und Kunstgewerbe nicht funktioniert. Ein ästhetischer Raum wäre ein Raum, den man nicht betreten, ein ästhetisches Glas ein Glas, aus dem man nicht trinken kann. Hier hilft nur ein Verbot "Betreten, berühren verboten!"; beim gemalten Glas wäre dies Verbot überflüssig. Der ironische Bildkommentar "Ceci n'est pas une pipe" spielt lediglich mit dem Gedanken, man könne Bilder und Dinge verwechseln. Der schöne Schein wird durch den geeigneten Rahmen verstärkt, im übrigen schützt seine Irrealität ihn vor zudringlichen Berührungen. Dem Cyberspace könnte es gelingen, die Grenzen des Ästhetischen weiter hinauszuschieben. Bedeutet dies etwa, daß auch die Raumkunst dem schönen Schein verfällt? Dies wäre nur möglich, wenn die Person, die im virtuellen Raum perzipiert und agiert, sich selbst in eine Cyberperson verwandeln würde. Doch die Verwandlung von Welt und Leben in Fiktion würde den Schein, der nur in der Abhebung gegen die Realität Bestand hat, selbst zum Verschwinden bringen. "Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare Welt abgeschafft", heißt es bei Nietzsche.

Wird die 'ästhetische Grenze' aufrecht erhalten, so zerfällt die Raumkunst in die beiden Sparten des Zweckbaus und des Kunstbaus. Funktion und Form treten auseinander. Die Schönheit lebt nur noch fort als jene "anhängende Schönheit", von der in Kants Kritik der Urteilskraft (§ 16)die Rede ist. Die Schönheit, die einstmals als "Glanz des Wahren" der Sache selbst ihre Strahlkraft verlieh, sinkt herab zur Verschönerung des Nützlichen, und auch dies nur, solange sie sich nicht einfach den Gesetzen des Nützlichen beugt.(10) Diese Entwicklung entspricht der bereits erwähnten Spaltung des Raumbewohners in Raumbetrachter und Raumbenutzer. Suchen wir nach Alternativen, so geraten wir an eine nachästhetische Kunst, die auf neuartige Weise nochmals die leiblichen Voraussetzungen der Raumkunst ins Spiel bringt.

III. Raumbenutzung: Kunst als Überfluß

Raumkunst als nachästhetische Kunst bedeutet keine Heimkehr in ein festgefügtes Weltgebäude und keine Rückkehr zu einem allumfassenden Lebenszusammenhang, in dem alles seinen fest zugemessenen Ort hätte. Ein Raum, der wie angegossen säße, wäre das Gegenextrem zu einem Raumbehälter, der alles mögliche umfaßt. 'Verlust der Mitte' besagt Verlust dessen, was der Mensch nie eigentlich gehabt hat. Die 'exzentrische' Seinsweise des Menschen schließt aus, daß dieser auf eine eindeutige Mitte hingeordnet ist.

Nachästhetische Kunst kann allerdings auch nicht heißen, daß die 'ästhetische Grenze' einer totalen Entgrenzung weicht, als könnten Leben und Kunst sich vermählen und durchdringen, getreu dem Hegel parodierenden Motto: "Was wirklich ist, ist künstlich, und was künstlich ist, ist wirklich". Kunst und speziell Raumkunst in den Grenzen der Leiblichkeit und nach Maßgabe des Leibes bedeutet etwas anderes.

Grenzen werden gezogen; sie können auch anders gezogen werden, allerdings nicht ganz anders, sondern soweit die Spielräume der leiblichen Verfassung und der leiblichen Situiertheit es zulassen. Die Leiblichkeit ist in allen Stücken, auch in den erwähnten Registern der leiblich verankerten Räumlichkeit, natürlich und künstlich zugleich. Richtungen, Grenzen und Gliederungen des Raumes sind von Natur aus skizziert, die Raumkunst beginnt nicht an einem Nullpunkt. Doch Skizzen sind alles andere als fertige Vorlagen, sie lassen sich auf verschiedene Weise ausführen und weiterführen. Insofern haftet allen Ordnungen des räumlichen Wohnens und Bauens eine unwiderrufliche Kontingenz an. Wohnen und Bauen gründen nicht in einer Wesensordnung; Grenzen, die gezogen werden, bleiben beweglich. Das gilt beispielsweise für die verschiedenartige Betonung von Vertikale und Horizontale, die nicht nur Bauten der Gotik von Renaissancebauten, sondern auch die Weichbilder der Städte voneinander unterscheidet. So wird niemand das weithingestreckte turmlose Kyoto mit einer turmreichen Stadt wie München verwechseln. Ein anderes Beispiel sind die Raumgrenzen, ohne die es keinen Wohnbau gäbe. Diese Grenzen sind beim traditionellen japanischen Holzhaus durchlässiger und beweglicher als in europäischen Steinhäusern; Stellwände teilen den Raum improvisatorisch auf, und ebenerdige Schiebefenster, die den Raum zum Garten hin öffnen, lassen Düfte und Tropfgeräusche ins Hausinnere eindringen. Umgekehrt sind japanische Häuser zur Straße hin stärker abgeschirmt, vergleicht man sie etwa mit den holländischen Fensterfronten, die den Blick des Passanten ungehindert ins Hausinnere schweifen lassen, als wohne dort jemand, der nichts zu verbergen hat. Türen können dem Vorübergehenden offenstehen oder streng verschlossen bleiben, bis hin zur technischen Geheimnistuerei eines Türcodes. Für einen frühzeitlichen Autor wie Hobbes liefert der Schlüsselgebrauch das Indiz für ein fundamentales Mißtrauen gegenüber dem Fremden, der zum potentiellen Feind wird. Die Gastlichkeit eines Hauses läßt sich an der Bauweise ablesen. Bürgerhäuser verwandeln sich bisweilen in Wohnburgen, auch in Fluchtburgen.

All dies führt zu einer Revision der Trennung von Kunst- und Realraum. Einerseits gibt es keinen schlechthin realen Raum. Jeder Raum ist auf bestimmte Weise gelebt, strukturiert, gedeutet. Er dient als beweglicher Rahmen für Handlungsabläufe und dauerhafte Lebensläufe; Werkstatt, Kaufladen, Beratungsstätte, Pflegestätte oder Schlafplatz bilden eine Szene, auf der sich Leben abspielt. Dazu gehören Schwellen, die von einem Bühnenraum zum anderen führen; auf diesen Schwellen kann man verweilen. Dazu gehören ferner Hinterbühnen, verborgene Schauplätze im Hintergrund einer allgemein zugänglichen Öffentlichkeit. Was wir Alltag nennen, besteht räumlich betrachtet aus einer Fülle von Szenarien, die vielfach ineinander verschachtelt sind. Es können sich plötzliche Szenenwechsel ereignen, so wenn ein Schulklassenzimmer zum Kampffeld oder eine Straßenszene zum Tribunal wird. Architektur trägt auf ihre Weise zu jener Rahmenbildung bei, die Ervin Goffman in seiner Rahmenanalyse untersucht.

Wenn es keinen bloßen realen Raum gibt, so andererseits auch keinen reinen Kunstraum, der sich jenseits realer Räume und realer Gebäude befände. Vielmehr entpuppt sich das Künstlerische als Überschuß, der über normale Ordnungen hinausgeht, ohne das Feld der Normalität völlig zu verlassen. Der Kunstcharakter der Raumkunst besteht darin, daß die Räumlichkeit von ihr eigens modelliert, befragt, bearbeitet wird, ähnlich wie Malerei, Musik und Sprachkunst sich mit der Sichtbarkeit, der Hörbarkeit und Sagbarkeit als solcher befassen. Dabei werden gewohnte Formen gestört, verfremdet, gesteigert, überboten, bis hin zu einem Unsichtbaren, Unhörbaren und Unsagbaren, das innerhalb der gewohnten Ordnung keinen Platz findet. Im Bereich der visuellen Kunst beginnt die Unsichtbarkeit nicht jenseits des Rahmens, vielmehr betrifft sie den Rahmen selbst, der das Zu-Sehende ins Sichtbare hebt und selbst dabei in die Unsichtbarkeit zurücktritt.(11) Ähnlich wie Merleau-Ponty im Hinblick auf Paul Klee von einer "indirekten Malerei" spricht, die auf paradoxe Weise sichtbar macht, was unsichtbar ist und nie selbst sichtbar wird(12), könnte man auch von einer "indirekten Architektur" sprechen, die Ungebautes und Unbaubares mit entstehen läßt. Bilder sind nicht einfach im Raum wie etwas, das man an einer bestimmten Stelle sieht, vielmehr bilden sie das Medium, in dem und demgemäß wir Dinge im Raum und diesen Raum selbst zu Gesicht bekommen.(13) Ähnlich findet der architektonische Bau nicht einfach seinen Platz in einem anderen umfassenden Raum wie eine Teilmenge sich einer Gesamtmenge einfügt; denn das Gebäude, das künstlerisch erarbeitet wird, verändert den Raum und bildet neue Räume. Räumlichkeit zeigt sich als solche nur, wenn der Topik ein Moment der Heterotopie anhaftet, ein Anderswo, das die Kehrseite des Hierseins bildet. Eine Architektur, die nicht in der Normalität zur Ruhe kommt, hat Teil an einer Art von art brut(14), einer Art von 'Rohbau', der innerhalb der Funktionalität jene Momente akzentuiert, die in der Funktionalität nicht aufgehen. Funktionen, die in dieser Weise über sich selbst hinausweisen, sind nicht angewiesen auf eine Kunst am Bau, die von außen hinzutritt.

Ein zeitgenössischer Versuch, durch eine Architektur am Rande der Architektur Möglichkeiten der Architektur aufscheinen zu lassen, möge das Gesagte illustrieren. Ich denke an eine Erfindung des japanisch-amerikanischen Künstlerpaares Arakawa und Madeline Gins, den Yoro Park, der letztes Jahr nahe bei Nagoya am Abhang eines Waldhügels angelegt wurde. Dieses Werk besteht aus unbewohnbaren Gehäusen, einer halbkreisförmigen Ringmauer, pilzartigen Maueraufsätzen, abschüssigen Hängen, mühsam passierbaren Durchgängen, einem zusammengewürfelten Labyrinth, durchsichtigen Glasböden und ähnlichem. Dieses Arrangement aus Bauteilen vollführt eine permanente Abweichung vom Normalen. Es gibt schiefe Ebenen, schräge Wände, von der Decke hängende Tische, Türen, die nirgendwo hinführen, und Gleithänge, die zu wiederholten Anläufen verlocken. In dieser Bauwelt, die aus den Fugen geraten ist, kommen Fuß, Hand und Augen nirgendwo zur Ruhe. Das bloße Gehen wird zum Abenteuer. Die Selbstverständlichkeit leiblicher Orientierung und leiblicher Bewegung wird durchbrochen. Phänomenologisch könnte man von einer kinästhetischen Epoché sprechen, durch die unsere gewohnten Bewegungen außer Kraft gesetzt werden. Im Stolpern und Straucheln fährt das Staunen in die Beine. Was uns begegnet hat nicht Hand und Fuß. Dies erinnert an eine Geschichte aus der Urzeit der Philosophie. Thales stolpert und stürzt in eine Grube, die thrakische Magd lacht. Der japanische Architekt und seine Gefährtin lachen auch, aber über sich selbst. Daraus wäre zu lernen, daß wir den Raum nicht nur mit Augen und Ohren durchstreifen, sondern ihn leibhaftig durchqueren: Gehend, uns vorantastend, Wege suchend, Aufenthalt nehmend, ohne daß wir jemals völlig ganz bei uns selbst zu Hause wären.



Anmerkungen

1) Vgl. Aristoteles, Physik II, 194 b 2 ff., ferner schon Platon, Euthydem 280 c-d.

2) Vgl. die entsprechenden Nachweise im Artikel "Architektonik" des Historischen Wörterbuchs der Philosophie.

3) Von der wichtigen Frage, wie Planung und Ausführung zusammenhängen, sehen wir hier ab. Sie stellt sich auf neue Weise, seitdem der Bauprozeß sich auf Computerprogramme stützt, die niemand im Kopf und in den Händen hat.

4) Die folgenden Überlegungen orientieren sich vornehmlich am Hausbau; der Bau von Fabriken, Schulen, Brücken, Straßen und die Anlage von Plätzen oder ganzen Stadtvierteln würde weitere Fragen aufwerfen, die das Verhältnis von Wohnen, Arbeiten und Reisen berühren. Zur Phänomenologie der Räumlichkeit, die im folgenden skizzenhaft herangezogen wird, vgl. meine Aufsätze zur Landschaft und zur Heimat in:In den Netzen der Lebenswelt, Kap. 9 und 10, ferner meinen Aufsatz zum Phänomen der Grenze in: Der Stachel des Fremden, Kap. 2.

5) Zur Bedeutung der Feldtheorien über den physikalischen Ursprungsbereich hinaus vgl. meine Hinweise in: Ordnung im Zwielicht, S. 216.

6) Vgl. hierzu das beachtenswerte Nachlaß-Manuskript von Husserl: "Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur", erschienen in dem von M. Farber herausgegebenen Husserl-Band von 1940.

7) Vgl. dazu die Anfangspassagen in Prousts Recherche du temps perdu.

8) Vgl. Heideggers Aufsatz "Bauen Wohnen Denken", auf den ich mich im folgenden beziehe, ferner Merleau-Pontys Deutung der Leiblichkeit als einer Verankerung in der Welt (Phänomenologie der Wahrnehmung) und Levinas' Kapitel über die "Bleibe" (demeure) in Totalität und Unendlichkeit (1987), 217 ff.. Eine eindrucksvolle Charakterisierung der Leibbezogenheit des geschlossenen Raumes, der als vergrößertes Abbild des Körpers Wärme, Sicherheit und Bequemlichkeit gibt und der als verkleinertes Abbild der Welt eine zivilisatorische Wirkung hat, gibt E. Scarry, indem sie den geschlossenen Wohnraum mit dem weltauflösenden Gefängnisraum konfrontiert (vgl. Der Körper im Schmerz, S. 59ff.).

9) Das "Ausstrahlen" (rayonnement) des Sichtbaren ist ein Grundmotiv in Merleau-Pontys später Ontologie, vgl. L'œil et l'esprit S. 71, dt. 35.

10) Die Doppelheit von Schönheit und Nützlichkeit liegt auch noch den Bemühungen des Deutschen Werkbunds zugrunde; vgl. darin anschließend meine Überlegungen zum Thema "Spielräume von Kunst und Technik" (1991).

11) Vgl. dazu die phänomenologischen Überlegungen zur Rahmenauffassung von Iris Därmann (1995, 247 ff.).

12) Vgl. Merleau-Ponty, L'œil et l'esprit, S. 75, dt. 37). Zum Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem vgl. Merleau-Pontys gleichnamiges Werk.

13) Vgl. Merleau-Ponty, L'œil et l'esprit, S. 23, dt. 18.

14) Der von Jean Dubuffet verwendete eingeführte Begriff eines art brut wird von Merleau-Ponty aufgenommen und zu einem être brut ausgeweitet.



Literatur

Därmann, I.: Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte. München: Fink 1995
Goffman, E.: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977
Goldstein, K.: Der Aufbau des Organismus. Den Haag: Nijhoff 1934
Heidegger, M.: "Bauen Wohnen Denken", in: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen: Neske 1954
Husserl, E.: "Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur", in: Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl. Hrsg. von M. Farber. Cambridge (Mass.)1940
-, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Hua. IV). Den Haag: Nijhoff 1952
-, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hua. VI). Den Haag: Nijhoff 1954
Levinas, E.: Totalität und Unendlichkeit, übers. von. W. N. Krewani.
München: Alber 1987
Merleau-Ponty, M.: L'œil et l'esprit. Paris 1964. - Dt.: Das Auge und der Geist, übers. von. H. W. Arndt. Reinbeck bei Hamburg: Hamburg 1984
-, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von. R. Boehm. Berlin: de Gruyter 1966
-, Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. von R. Giuliani u. B. Waldenfels.
München: Fink 1986
Michalski, E.: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte. Berlin: Deutscher Kunstverlag 1932
Scarry, E.: Der Körper im Schmerz. Frankfurt/M.: Fischer 1992
Simmel, G.: "Der Bilderrahmen", in: Gesamtausgabe, Bd. 7. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993
Straus, E.: Vom Sinn der Sinne. Berlin: Springer 21956
Waldenfels, B.: In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt/M.: Suhrkamp1985
-, Ordnung im Zwielicht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987
-, Der Stachel des Fremden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990
-, "Spielräume von Kunst und Technik", in: Werk und Zeit, 39. Jg., 2/91, S. 6 -10

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