Thema
2. Jg., Heft 1
Mai 1997

Gert Kähler

Wohnung und Moderne.
Die Massenwohnung in den zwanziger Jahren

1 Die Architekturgeschichtsschreibung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war lange Zeit auf die Moderne fixiert: alles das, was in den zwanziger Jahren von Architekten wie Mies van der Rohe, Gropius, Scharoun, von Häring, May oder Taut gebaut worden war, galt als "gut" (durchaus mit dem damit verbundenen moralischen Unterton). Die stilistische Neuheit wurde mit sozialem Engagement und Fortschritt verbunden. Demgegenüber wurden andere Architekten vernachlässigt.

2 Inzwischen hat, seit ungefähr zehn Jahren, ein Umdenken stattgefunden, das die andere Seite der Medaille zum Teil ungebührlich preist; die konservativen Architekten werden, überspitzt gesagt, als die eigentlichen Modernen gefeiert. Beide Betrachtungsweisen sind vor dem Hintergrund des in den zwanziger Jahren Gebauten und Veröffentlichten nicht haltbar. Tatsächlich lassen sich eindeutige Zuordnungen zwischen stilistischer Ausprägung und politischer Gesinnung nicht bestimmen; tatsächlich waren "die Modernen" nie die eindeutige Gruppe, die gemeinhin suggeriert wird; tatsächlich ging die Diskussion um bestimmte architektonische oder städtebauliche Fragestellungen quer durch alle "Fraktionen", tatsächlich spielten die großen Architekten der Moderne wie Mies van der Rohe oder Gropius keineswegs eine dominierende Rolle in der Diskussion um Fragen des Wohnens und des Wohnungsbaus; und schließlich: tatsächlich ist die "weiße Moderne" der zwanziger Jahre etwas, das überhaupt erst nach 1925 im Wohnungsbau verwirklicht wurde - und weiß war sie häufig genug auch nicht.

3 Tatsächlich aber bildete der Massenwohnungsbau das zentrale Thema der Architekten-Diskussionen. Es gab eine Vielzahl von Zeitschriften, viel mehr als heute, die sich diesem Thema widmeten, es gab zum Tiel erhitzte Debatten, wie man unter dem Druck der wirtschaftlichen Bedingungen und dem Anspruch der Menschen auf eine bezahlbare Wohnung Lösungen finden könne, mit teilweise ins absurde gehenden Vorschlägen wie dem "fensterlosen Haus" eines Hugo Häring. Und es gab einen großen breiten "mainstream" des Normalen, dessen, was von Nord bis Süd gebaut wurde.

4 In städtebaulicher Hinsicht gab es auch ein gemeinsames Feindbild nicht nur der Reformer: das war die Großstadt des 19. Jahrhunderts und ihre Auswüchse, die mit Berlin als "Mietskasernenstadt" sprichwörtlich geworden war. Zu groß, zu eng bebaut, zu unsozial, zu sehr Angst verbreitend - das war die Großstadt, das war das Bild, wie es auch von offiziellen Stellen getragen wurde: "Es bedarf kaum eines Hinweises, daß die Mietskaserne die denkbar schlechteste Form zur Unterbringung von Kleinwohnungen ist (...). Das System der Mietskaserne bedeutet unsozialste Einstellung gegenüber dem Wohnbedürfnis der minderbemittelten, der ärmeren Bevölkerung. (...) Die durch die Mietskasernen bedingten unzulänglichen Wohnungsverhältnisse haben in gesundheitlicher, sozialer, sittlicher und ethischer Beziehung bedauerliche Folgen gehabt: sie haben bestimmend dazu beigetragen, den Arbeiter dem Staate zu entfremden."(1) - das alte Thema: durch die schlechten Wohnverhältnisse wird das Proletariat den Radikalen in die Arme getrieben; die Versöhnung zwischen Arbeiter und Staat muß aus wirtschaftlichen Gründen erfolgen; sie kann es nur, wenn dieser zugunsten der Arbeiter in den Wohnungsmarkt eingreift.

5 Die erste Phase des Wohnungsbaus nach dem Ersten Weltkrieg wurde geprägt durch die wirtschaftlichen Bedingungen mit der Inflation; die positiven Ansätze der Reformer - das "Recht auf Wohnung" war im Grundgesetz verankert, der Staat übernahm auch in der Finanzierung Verantwortung für den Wohnungsbau - konnten angesichts der finanziellen Lage nicht realisiert werden. Die "Kleinstwohnung" bot im Grundriß wenig Variationsbreite. In der Regel wurde sie in der "Heimstätte" am Stadtrand verwirklicht - weg von der Großstadt.

6 Auch kann man in diesem ersten Jahren nicht von einer nennenswerten stilistischen Bandbreite sprechen. Die Bauten lehnten sich in ihrer ästhetischen Erscheinung an die Vorkriegsarchitektur an, an das "Normale" der ländlichen Kleinhäuser, die es ja schon damals gegeben hatte. Eine Art "gemütvoller Heimatstil" war das Ergebnis. Die Frage der Ästhetik wurde auch nicht diskutiert; die Auseinandersetzung um das Neue Bauen setzte in Deutschland erst um 1923 ein. Die Frage, ob man nicht nach dem Krieg einen neuen "Stil" brauchte, eine Ästhetik für eine neue Gesellschaft, wurde zwar in einigen Künstlervereinigungen gestellt, wie dem 1918 gegründeten "Arbeitsrat für Kunst", es gab auch einige expressionistische Bauten, aber auf den Massenwohnungsbau selbst hatte das kaum Einfluß.

7 Es gab natürlich in den Jahren von 1919 bis 1923 auch den mehrgeschossigen Wohnungsbau; in den großen Städten konnte man nicht darauf verzichten, zumal das Wohnen am Stadtrand erhebliche Verkehrsprobleme für die Bewohner aufwarf, deren Arbeitsstätten in der Regel im Zentrum lagen. Eines der besten Beispiele war die Wohnanlage "Alte Haide" in München von Theodor Fischer (1862-1938). Sie ist deswegen so bemerkenswert, weil hier aus Gründen der Gleichheit der Bewohner ein reiner Zeilenbau angewendet wurde; es war also das erste Mal - und das von einem eher konservativen Architekten -, daß die gesellschaftliche Frage nach demokratischer Gleichheit in der Architektur ausgedrückt werden sollte, eine Siedlung "für 3000 bis 4000 Menschen (...), die alle unter denselben oder doch annähernd gleichen Lebensbedingungen stehen. Nichts anderes wollte der Baukünstler zum Ausdruck bringen"(2) .

8 Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Architektur, Wohnung und Gesellschaft aber war nicht auf Fischer beschränkt; sie wurde vom rechten bis zum linken Ende politischer Anschauungen diskutiert. Die einfachsten, kleinsten, und billigsten Kleinwohnungen als Eigenheime für Arbeiter entwickelte als Ergebnis der Überzeugung von der erhebenden Wirkung von Eigenheim und Scholle nicht ein Architekt, sondern ein Sanitätsrat Dr. Bonne, der mit dem Wohnungsbau die gesamte Volkswirtschaft sanieren wollte: "Wir haben seit 1918 (...) im ganzen rund 32 Milliarden RM. vertrunken, rund 12 Milliarden RM. verraucht; rund ebenso viel in Zuchthäuser und Krankenanstalten gesteckt, um alle die unglücklichen Opfer dieser beiden Laster unterzubringen, - im ganzen also 56 Milliarden verjuxt in acht Jahren! - Für dieses Geld hätten wir längst das ganze Wohnungselend - und gleichzeitig das ganze Arbeitslosenelend aus der Welt schaffen und unser Volk zu innerer und äußerer Gesundheit zurückführen können (...)"(3) .

9 Jenseits der konservativen Rhetorik verweist Bonne auf einen empfindlichen Punkt der bisherigen Bauten: Trotz Wettbewerben, Musterhäusern und Typenentwicklungen waren die meisten Bauten zu teuer, um von normalen Arbeitern bezahlt werden zu können.

10 Erst mit der Währungsreform im Jahre 1924 und mit den Milliardensummen, die durch den Dawes-Plan verfügbar wurden, kam der Wohnungsbau ernsthaft wieder in Gang. Nach rund 155 000 Wohnungen, die im Jahre 1922 entstanden, war der Wohnungsbau in den folgenden Jahren auf 115 000 Einheiten gesunken (1924). Erst von da an ging es wieder schnell bergauf; schon im nächsten Jahr wurden über 190 000 neue Wohnungen gezählt. Was ebenso wichtig war: die Zahl der durch Umbauten gewonnenen Wohnungen ging ebenfalls zurück, auf knapp sieben Prozent in den Jahren 1929/30. Das waren auch die produktivsten Jahre im Wohnungsneubau mit jeweils über 310 000 Wohnungen

11 Im Hinblick auf die Bebauungsform gibt es die gleiche Diskussionsbreite wie in den anderen Aspekten des Wohnungsbaus: Großstadt sanieren gegen den Bau von Trabanten, Geschoßwohnung gegen Reihenhaus am Stadtrand, Block gegen Zeile - und (wie bei Theodor Fischer gesehen) auch hier waren die ideologischen Positionen nicht eindeutig.

12 Eindeutig aber ist die unterschiedliche Aussage der beiden Grundformen Block und Zeile. Der Block stellt eine eigene Einheit über die des Hauses hinaus dar, aber er bleibt Teil der gesamten Stadt, indem er sich in das vorhandene Straßennetz einfügt. Das herausragende Moment des reinen Zeilenbaus dagegen, wie er sich unter dem Eindruck der Hygiene-Diskussion ausbildete, war die Loslösung von der bestehenden Stadt. Denn in der extremsten Form des Zeilenbaus wurden die Zeilen streng nach der Himmelsrichtung, nach der Sonne ausgerichtet. So schrieb Sigfried Giedion, kurz und bündig, "daß die Grundlage des Stadtbaus die Orientierung nach der Sonne sein muß"(4) und Walter Gropius: "Die relativ günstigste Blockführung für die Belichtung und Besonnung dürfte bei Berücksichtigung aller wirtschaftlichen und hygienischen Gründe der Zeilenbau in nord-südlicher Richtung liefern (...). Der Zeilenbau hat gegenüber der Blockumbauung den unstreitigen Vorteil, daß die Besonnungslage für alle Wohnungen gleichmäßig gut ausgenutzt werden kann, daß die Durchlüftung der Zeilen nicht durch Querblöcke behindert wird und daß die schlecht durchlüftbaren Eckwohnungen fortfallen."(5)

13 Der immanente Vorwurf saß: Die Architekten und Stadtplaner, die weiterhin am geschlossenen Block festhielten, modifizierten ihn auf unterschiedliche Weise, um ebenfalls "Licht, Luft und Sonne", den sprichwörtlich gewordenen Schrei nach Hygiene und Gesundheit in der neuen Architektur, in ihre Blocks zu lassen - überflüssigerweise, weil der reformierte Block der zwanziger Jahre die Nachteile des eng bebauten des 19. Jahrhunderts gar nicht hat. Teilweise wurden die Schmalseiten der Blocks nur mit Ladenzeilen und niedriger Bebauung geschlossen, teilweise die Ecken ausgespart. Aber wo Querlüftung der Wohnungen möglich ist, spielt auch die Ecklage einer Wohnung keine Rolle; wo der Hof groß genug ist für gemeinschaftliche Aktivitäten, da kommt auch belüftender Wind hinein, und eine Wohnung, die nach Norden geht, geht auch nach Süden, zur Sonne hin, wenn die Bebauungstiefe so gering ist, daß nur zwei Wohnungen an einem Treppenhaus liegen - was der Fall war. Deswegen kann angenommen werden - ohne daß das gesagt worden wäre - daß der andere Aspekt eine größere Rolle gespielt hat: Die Ablehnung der vorhandenen Stadt. Wer eine neue Stadt bauen will, darf auf die vorhandene keine Rücksicht nehmen.

14 Auch in der Diskussion um den reinen Zeilenbau aber gehen die Fronten quer durch alle vermeintlichen Lager. Am bekanntesten wurde die Diskussion um die Dammerstock-Siedlung von Walter Gropius, weil dort einer der scharfsinnigsten Theoretiker des "neuen bauens" das Wort ergriff, nämlich Adolf Behne, der die ironische Frage stellte, ob man "für romantische Spielereien einen Teil der Bewohner, (...) für ästhetische Mätzchen lebendige Menschen von Licht und Luft ausschalten"(6) könne?

15 Denn das war ja der Punkt der radikalen Architekten: Kann man aus abstrakten "städtebaulichen Gründen", für die vermeintliche Schönheit einer Raumform oder einer Ecklösung, Menschen, die ein Recht auf Gleichheit haben, ungleich behandeln? Die Frage ist immerhin berechtigt; aber Behne hat mit seiner Antwort aus heutiger Sicht dennoch recht, wenn er meint, der "Architekt ist heute leicht hygienischer als der Hygieniker und soziologischer als der Soziologe, statistischer als der Statistiker und biologischer als der Biologe. Aber er vergißt zu oft, daß Hygiene, Statistik, Biologie und Soziologie nur von Wert sind, wenn sie nicht den Wohnraum auffressen. (...) Indem er Leben zum Wohnen spezialistisch verengt, verfehlt dieser Siedlungsbau auch das Wohnen. Dies ist keine Miteinander, sondern ein Auseinander. Die ganze Siedlung scheint auf Schienen zu stehen. Sie kann auf ihrem Meridian um die ganze Erde fahren, und immer gehen die Bewohner gegen Osten zu Bett und wohnen gegen Westen (...)."(7)

16 Das war auch die Absicht der radikalen Architekten, und sie prägte letztlich sogar die Grundrisse. Zwar kann man bei den Zwei- oder Dreizimmerwohnungen für die Kleinfamilien nicht allzu viel variieren, wenn man von Querlüftung und der Lage des Bads an der Außenwand ausgeht. Eine Differenzierung aber gab es, die auch inhaltliche Bedeutung hat und bis heute nachwirkt. Die Grundlage war in beiden Fällen gleich: Zweispänner, Küche und Bad an der Außenwand. Der Unterschied jedoch liegt in der Aufteilung der Räume. Man kann diese Räume annähernd gleich groß machen und bietet damit - im Rahmen der geringen Größe - eine gewisse Wahlfreiheit in der Nutzung an; man konnte auswählen, welches Zimmer mit welcher Himmelsrichtung welche Nutzung haben sollte. Bruno Taut zum Beispiel war ein Verfechter dieses Prinzips.

17 Dagegen gab es eine Tendenz, wie sie in den Frankfurter Siedlungen Ernst Mays (aber nicht nur da) sehr konsequent verfolgt wurde; sie ging von den notwendigen Stellflächen für die Möbel aus und kam damit zu einer größeren Differenzierung der Räume; einem relativ großen Wohnraum standen kleine, zum Teil auf Kammergröße reduzierte Schlafzimmer (einschließlich der Kinderzimmer) gegenüber.

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18 Eine recht frühe Beschreibung dieses - in dem Aufsatz bereits so genannten - "Kabinensystems" schildert der Frankfurter Architekt Ernst Hiller, der im übrigen das System bereits 1911 vorgestellt haben will und jeglicher Zugehörigkeit zur Moderne unverdächtig ist: "Das Wohnbedürfnis der kleinbürgerlichen und bürgerlichen Familien ist fast vollkommen das gleiche: Schlafen, Kochen, Essen, gesellig Beieinandersein." Um diese immer gleichen Bedürfnisse zu befriedigen, bedürfe es des Typus' "ähnlich dem des Schiffes, des Automobils, des Luftschiffes". Hiller findet diese über die Mindestgrößen von Möbeln: "Bei Schlafräumen wird man sich fragen müssen, wie groß für einen erwachsenen Menschen ein Bett sein muß, welche Fläche es um sich und neben sich benötigt, um es bequem zu besteigen und zu verlassen und alle diejenigen Handlungen, die mit dem Zu-Bett-gehen verbunden sind, ausführen zu können. Ferner welchen Luftraum der Schlafende braucht (...)"(8) - die vollständige Funktionalisierung der Tätigkeiten innerhalb einer Wohnung, die das Wohnen gerade darum verfehlt.

19 Der Unterschied beider Typen ist keineswegs marginal, weil sich darin ein unterschiedliches Verständnis von Wohnen ausdrückt. Der große Wohnraum mit Schlafkammern läßt dem einzelnen Familienmitglied kaum eine individuelle Entfaltung, drängt aber auf gemeinschaftliches (Familien-)Verhalten. Die Aufteilung in ungefähr gleich große Einheiten bietet dagegen mehr individuelle Rückzugsmöglichkeit, insgesamt mehr Wahlmöglichkeiten, aber dafür muß das Wohnzimmer kleiner werden und läßt damit weniger Platz für gemeinschaftliche Akltivitäten.

20 Da man zur Bestimmung der Mindestgrößen von Räumen für die differenzierte Wohnung von den Möbeln ausging - "Es gibt nicht Natürlicheres als den planmäßigen Aufbau des Grundrisses aus dem Möbel"(9) -, enthält dieser Typ auch eine stärkere Tendenz zur Funktionalisierung des Wohnens; sein Thema ist, wie die Sätze Ernst Hillers zeigen, "Schlafen, Essen, Kochen", also alles eindeutig bestimmte Tätigkeiten; das Thema der anderen Wohnung ist, etwas überspitzt: "Wohnen". Die "Frankfurter Küche" ist ein Beispiel für die Funktionalisierung im Wohnbereich; das andere Indiz ist, daß die Wohnungsgrundrisse der "funktionalisierten" Wohnungen meist mit den Möbeln gezeichnet und veröffentlicht wurden, die Pläne der anderen Wohnungen dagegen ohne. Man kann eine pädagogische Absicht der Architekten darin sehen, daß die Wohnung bis zur Einrichtung hin vorgegeben wurde: Erziehung zur "neuen Geistigkeit".

21 Pauschalisierend kann man sagen, daß der Wohnungstyp aus annähernd gleichen Raumeinheiten den Reformtyp der Vorkriegswohnung reflektiert, der andere die Rationalisierungsbestrebungen von Ford und Taylor und damit die moderne Arbeitswelt: die Wohnung als Abbild des Fließbandes. In der größeren Eindeutigkeit der Nutzungen steckt eine Funktionalisierung sozialer Abläufe, die Wahlfreiheit tendenziell einschränkt. Das wurde auch in den zwanziger Jahren so gesehen; Bruno Taut zum Beispiel stellt seiner Wohnung "mit zwei und mehr Wohnräumen" einen Typ gegenüber "derart, daß jeder Winkel (...) in seiner Bestimmung vollkommen festgelegt wird, daß also ein Wohnzimmer zum Wohnen und Schlafkabinen zum Schlafen und für nichts anderes bestimmt sind (...) nach Art eines Ingenieurs, der die Normalfamilie mit drei Kindern als den Betrieb ansieht, für den er die Maschinen und die Fabrik konstruiert"(10).

22 Der differenzierte Wohnungstyp kann nicht eindeutig dem Neuen Bauen zugeordnet werden; die Typen-untersuchungen eines Alexander Klein nehmen zwar spätere Normenwerke voraus in ihrer funktionalistischen Zerteilung, aber die Bauten Kleins sind allenfalls biederer architektonischer "main stream" und nicht etwa der Avantgarde zuzurechnen; Bruno Taut ist ein Repräsentant dieses Neuen Bauens, verurteilt aber die überzogene Differenzierung. Auch hier gehen die Fronten quer durch alle ästhetischen Tendenzen.

23 Aber man kann in der Überlegung, wie man die Möbel in einer Wohnung unterstellen kann, auch eine Umwertung im Entwurfs-prozeß der Architekten erkennen, der für die gesamten zwanziger Jahre (und bis heute hin) gilt, nämlich die Auffassung, den Wert der Wohnung zum Ausgangspunkt des Entwurfs zu nehmen. Jetzt stehen nicht mehr, wie noch im 19. Jahrhundert, städtebauliche Überlegungen von Straße, Platz und Fassade im Vordergrund, sondern die einzelne Wohnung - ein Stück Privatisierung im Bau der Stadt, aber auch ein Stück Verwirklichung sozialer Absichten.

24 Am ehesten lassen sich politische Ideologien in den Fassaden der Bauten ablesen, in der Ästhetik dessen, was als das "neue bauen" in die Geschichte als Teils der Moderne eingegangen ist. Die eskapistischen Ganzheitsträume einer neuen Welt, wie sie die Architekten der "Gläsernen Kette" träumten, die Rückkehr zur mittelalterlichen "Bauhütte" in den Anfängen des Bauhauses - sie wurden schnell von einer Wirklichkeit eingeholt, die praktische Lösungen erforderte. Die "Masse" spielte jetzt eine Rolle, die "Gleichheit" wurde zum architektonischen Thema. Der amerika-faszinierte Blick auf eine Welt gesellschaftlichen Glamours und scheinbarer Freiheit machte den Pssagierdampfer für viele Architekten der Avantgarde zum Vorbild einer neuen Gesellschaft freier und gleicher Menschen - kleine Individualzellen (Kabinen) für jeden, große Gemeinschaftseinrichtungen für alle.

25 Über diese Fragen der Ästhetik wurde gestritten - tatsächlich mag der Anteil der "Moderne", des "Neuen Bauens", am gesamten Wohnungsbauvolumen aber nur bei fünf bis zehn Prozent gelegen haben. Es gab sozialdemokratische Bauverwaltungen, die sich mit dieser Architektur identifizierten, aber selbst in Städten wie Berlin war sie nicht allein vorherrschend. Es gab andere "Stile" daneben: In Hamburg und, von dort ausstrahlend im gesamten norddeutschen Raum, wurde ein Backstein-Regionalismus gepflegt, der über die Dominanz des roten Klinkers in der Fassade stilistische Unterschiede einzelner Architekten aufhob, so daß der dominierende Eindruck beim Massenwohnungsbau der zwanziger Jahre in Kiel, Lübeck, Neumünster oder Hannover der der Einheitlichkeit des Materials ist.

26 Im süddeutschen Raum dagegen dominierte ein reduzierter Heimatstil, der mit der "Stuttgarter Schule" eines Paul Schmitthenner eng verbunden ist; aber in München baute auch Hans Döllgast seine ersten Siedlungen, zwar mit ganz traditionellem figuralem Schmuck um die Eingänge, aber im übrigen mit reduzierten, glatten, "modernen" Fassaden. Und in Stuttgart fand die berühmte Wohnbau-Ausstellung moderner Architekten am Weißenhof statt, später wurde die Siedlung Wallner dort gebaut - Beleg dafür, daß alle diese Festlegungen nur (zu) pauschal gelten können.

27 Die radikale Avantgarde der Le Corbusier und Mies van der Rohe aber wurde nur äußerlich adaptiert, andererseits traditionalistische Architekturelemente in vereinfachter Form weiterverwendet: Die Extreme näherten sich an, auch wenn gegen Ende der zwanziger Jahre die Auseinandersetzung zwischen den Lagern heftiger wurde. Es gab einen breiten "Mainstream", auf den sich die meisten Architekten einigen konnten. Der Eklektizimus wilhelminischer Prägung allerdings spielte keine Rolle mehr; es gab keine Fortsetzung der gründerzeitlichen Formen.

28 In einer Berliner Revue sang man 1928:

"Fort mit Schnörkel, Stuck und Schaden! Glatt baut man die Hausfassaden! Nächstens baut man Häuser bloß, Ganz und gar fassadenlos. Krempel sind wir überdrüssig, Viel zu viel ist überflüssig! Fort die Möbel aus der Wohnung! Fort mit was nicht hingehört! Ich behaupte ohne Schonung: Jeder Mensch, der da ist, stört!"

29 In der kabarettistischen Verzerrung kommt auf den Punkt, wie der neue Baustil empfunden wurde. Die Moderne, die Architektur der Avantgarde war auf eine bestimmte Schicht großstädtischer Intellektueller begrenzt, die sie als Ausdruck ihres fortschrittlichen Lebensgefühls interpretierten. Für die meisten Menschen aber war sie eher eine Marotte der Architekten, über die man spotten konnte.

30 Die gegen Ende der zwanziger Jahre scharf geführte Auseinandersetzung zwischen den Vertretern konservativen und denen eines Neuen Bauens, die Auseinandersetzung zwischen der Vereinigung moderner Architekten "Der Ring" und der der konservativen "Der Block", war ideologisch gefärbt und hatte mit der gebauten Realität wenig zu tun; zudem ging es immer auch um Aufträge. Nur etwas überpointiert, kann man sagen: Es gab in den zwanziger Jahren eine charakteristische Wohnbauarchitektur, die im stilistischen Dreieck von Traditionalismus (Schmitthenner), Einfachheit (Tessenow) und Neuem Bauen (May) einherkam.

31 Ein wichtiges Moment gerade bei den fortschrittlichen Architekten war etwas anderes, nämlich der pädagogische Impuls des Architekten: Die Menschen mußten erzogen werden zum neuen Wohnen. Insofern waren eine für die zwanziger Jahre überaus charakteristische Form des Experiments und der Erprobung neuer Haus- und Wohn-formen die zahlreichen Ausstellungen und Grundsatzwettbewerbe. In verschiedenen Städten durchgeführt, von verschiedenen Trägern veranstaltet, wurden Siedlungen mit Musterhäusern errichtet, die den staunenden Besuchern unterschiedliche Wohnformen vorstellen sollten. In den Ausstellungen endet allerdings das friedliche Nebeneinander verschiedener Wohnvorstellungen; sie waren als programmatische Aussagen gedacht und entsprechend einseitig entweder von den "Modernen" oder den "Konservativen" durchgeführt - meist von den "Modernen".

32 Die bekannteste, wenn auch nicht diejenige, die wirklich brauchbare Lösungen für die "Wohnungsfrage" erbracht hätte, war die Weißenhof-Siedlung in Stuttgart im Jahre 1927. Schon die Bezeichnung ist eigentlich unzutreffend: Es handelt sich keineswegs um eine geschlossene Siedlung, sondern um die Summe von Einzelbauten verschie-dener internationaler Architekten. Ihr Leiter und Verantwortlicher für die städtebauliche Lösung war Ludwig Mies van der Rohe. Er lud gleichgesinnte Architekten aus verschiedenen Ländern ein, je ein Wohnhaus zu bauen. Da aber die inhaltlichen Vorgaben bewußt nicht präzise bezeichnet waren, waren die Ergebnisse nicht vergleich-bar; abgesehen von den Reihenhäusern J.J.P. Ouds drückten sich eher bürgerliche Wohnvorstellungen in den Grundrissen aus. Die Weißenhof-Siedlung war eine Architekturschau, keine Wohnbauausstellung, "das Werk einer Clique", wie es Julius Posener respektlos sagte(11) .

33 Immerhin: Dort gab es Bauten, die tatsächlich so etwas wie das "Wohnen von morgen" zeigten, ein Wohnen, das für einen anderen Menschen gemacht war; es waren das die Bauten von Le Corbusier und Mies van der Rohe. Letzterer schrieb im Vorwort zum Ausstellungskatalog über seine Vorstellung: "Das Problem der Rationalisierung und Typisierung ist nur ein Teilproblem. Rationalisierung und Typisierung sind nur Mittel, dürfen niemals Ziel sein. Das Problem der Neuen Wohnung ist im Grunde ein geistiges Problem und der Kampf um die Neue Wohnung nur ein Glied in dem großen Kampf um neue Lebensformen"(12) .

34 Das zeigt den anderen Ansatz; Mies ging es nicht um die Minimierung von Grundrissen, es ging ihm um eine Gesellschaft. Was andere Architekten des Neuen Bauens nur behaupteten - im Zweifelsfall auch nicht durchsetzen konnten, weil sie praktische Lösungen für konkrete Fälle bauen mußten, das suchte Mies exemplarisch in seinem Haus in Stuttgart durchzusetzen.

35 Stahlskelett, Wohnungstrennwand, Treppenhaus, Außenwand, festliegende Installationskerne für Bad und Küche sowie Boden- und Deckenplatte - das sind die Elemente, die den Raum für eine Wohnung im Mehrfamilienhaus definieren; alles andere kann nach individuellen Vorstellungen mit Hilfe leichter Trennwände aufgebaut werden. Zum ersten Mal wird also die Entscheidung dem Bewohner überlassen, wie er wohnen will - ob in der konventionellen Raumschachtel oder im sogenannten "freien Grundriß" ohne abgeschlossene Räume. Darin liegt eine entscheidende Erweiterung des Freiheitsspielraumes des einzelnen und ein Schritt zur Emanzipation. Denn Mies van der Rohe bietet in den gezeichneten Plänen genau die gleiche Raumbildung an, wie er sie in seiner großen Villa Tugendhat in Brünn (1930) verwirklicht; er bietet also dem Großbürger wie dem Arbeiter die gleiche Chance. Die prinzipiell gleiche Architektur für die Villa der Reichen und die Wohnung der Masse macht den emanzipatorischen Anspruch dieser Architektur deutlich. Zum ersten Mal in der Geschichte des Massen-wohnungsbaus wird nicht der Unterschied zwischen der allenfalls zufriedenstellenden Unterbringung der vielen und dem Recht der wenigen auf Selbstdarstellung durch das eigene Haus betont, sondern der Anspruch der Villa auf alle übertragen (wenn auch nicht deren Größe).

36 Die Vorschläge von Mies van der Rohe oder Le Corbusier waren für eine neue Gesellschaft gedacht; sie in der Massenwohnung der zwanziger Jahre anzuwenden, hätte die Bewohner überfordert. Dennoch ist es erstaunlich, daß die Architekten des Neuen Bauens, die im Massenwohnungsbau tätig waren, ihren Anspruch so einhellig auf Fassade und Bebauungsform reduzierten, sobald es um "Modernität" ging. Die großen Aussagen über die "neue Zeit", in der man lebte, fanden im Grundriß der Wohnung keine Entsprechung.

37 Das gleiche muß geradezu beispielhaft für eine andere Gegenüberstellung gelten. Im gleichen Jahr 1931 fand ein Wettbewerb für das sogenannte "Wachsende Haus" statt und die Berliner Bauausstellung mit dem Thema "die Wohnung unserer Zeit", die ebenfalls von Mies van der Rohe organisiert wurde.

38 "Der Grundgedanke der 'Wachsenden Häuser' ist, den Millionen von städtischen Arbeitslosen, die für lange Zeit keine Aussicht auf industrielle Beschäftigung mehr haben, für zusätzlichen ländlichen Arbeitsverdienst eine Unterkunft zu schaffen, die, zunächst primitiv und bescheiden, sich je nach dem Fortschreiten der Wirtschaftskraft des einzelnen wie der Gesamtheit zu einem soliden und wohnlichen Anwesen erweitern lassen könnte" schreibt der Architekt und spätere Entwickler von Typengrundrissen Ernst Neufert (1900-1986) in einem kritischen Bericht(13).1931 hatte ein Wettbewerb zu diesem Thema stattgefunden, an dem immerhin 1079 Architekten teilgenommen hatten; ein Jahr später wurden einige der Häuser ausgestellt - von Architekten wie Bruno Taut, Martin Wagner, Hans Scharoun, also Architekten des Neuen Bauens.

39 Die Bauten haben davon nichts, können es auch nicht nach der Aufgabenstellung: Es sind bessere Gartenlauben mit einer Grundfläche nicht über 25 Quadratmetern und einer Bausumme nicht über 2500 Mark. Dennoch kritisiert Neufert, "daß 90 vH aller Ausstellungsbauten weder für den Arbeiter geschweige für den Arbeitslosen in Frage kommen. Die Hausgrundrisse und der Charakter der hineingestellten Einrichtungen ist ganz auf das Gehaben der guten bürgerlichen Mitte zugeschnitten"(14) . Auf der anderen Seie nun die Ausstellung zum Thema der "Wohnung unserer Zeit" - nicht gebaute, sondern in Ausstellungshallen simulierte Häuser und Wohnungen: Ein Fest opulenter Grundrisse, eine Orgie feinster Materialien und modern-ster Möbel - und ein nicht überwindbarer Widerspruch zur Realität außerhalb der Hallen.

40 Das ist ausdrücklich nicht kritisch gemeint, sondern konstatiert einen Tatbestand, der das Auseinanderbrechen zwischen weitausgreifenden Überlegungen zum Wohnen einer neuen Gesellschaft morgen und den praktischen Bedürfnissen von sechs Millionen Arbeitslosen heute beschreibt. Das was auf der Ausstellung gezeigt wurde, war so etwas wie die Quintessenz des Wohngefühls der Moderne: Fast keine Einrichtung kam ohne Stahlrohrmöbel aus; die Möbel waren glatt und einfach auf höchstem Niveau, viele sind inzwischen Klassiker geworden: als Mensch von heute mit einem "modernen" Geschmack könnte man viele der Musterwohnungen der Zeit vor über sechzig Jahren unbesehen beziehen.

41 Es waren Wohnungen und Einrichtungen für den modernen Intellektuellen, den Großstadtmenschen - kulturell der Avantgarde zugeneigt, unabhängig, am besten ohne Familie; auffällig ist zum Beispiel, daß häufig auf das traditionelle Ehebett verzichtet wird, obwohl die Wohnungen nominell für Familien gedacht sind.

42 Am deutlichsten wird das am Beispiel des Hauses "für einen Sportsmann" von Marcel Breuer - der großstädtische, intellektuelle "Single" gehörte zu den Topoi der Avantgarde jener Zeit: "Der längliche Hauptraum dient dem Training und zum Wohnen (in dieser Reihenfolge! Anm. G.K.), wozu er bei zeitlichem Zusammenfall beider Funktionen gegebenenfalls durch eine Harmonika-Faltwand geteilt werden kann. Für Essen, Arbeiten, Schlafen, Baden, Umkleiden sind an den Hauptraum 5 Einzelkojen angehängt, die ebenfalls durch Schiebewände verschlosssen werden können."(15) Die Wohnung als Sporthalle mit Kletterwand, Sandsack und Fitnessgeräten, ein großer Gemeinschaftsraum den "Kojen" gegenüber gestellt: das signalisiert das Wohnen einer Freizeitgesellschaft, wie sie damals auf dem Passagierdampfer bestand (und wie sie heute als Wohnen eines "Yuppies" im Penthouse einer Wohnung in Manhattan oder Düsseldorf ebenfalls noch Glamour verbreitet - der Abstand zur normalen Wohnung hat sich in dieser Perspektive zwischen damals und heute nur geringfügig verändert).

43 Eine Ausstellung wie diese, Wohnvorstellungen wie diese wurden aber auch schon damals als "unzeitgemäß" kritisiert, und zwar nicht nur von der konservativen Seite. So schreibt Adolf Behne in einer beißenden Kritik: "Die Wohnungen (...) scheinen mir Wohnungen von gestern und vorgestern zu sein"(16) - und er meint damit nicht die wilhelminische Vorkriegswohnung, sondern die Ausstellungen in Breslau 1929 und Stuttgart 1927: "Gelöst ist die Wohnung als ästhetisches Problem und als Installation. Wir sahen in den Häusern und Wohnungen der Halle II wahrhaft vollendete Waschbecken, Badewannen, Duschen, Warmwasserapparate und an 100 W.C.'s von geradezu klassischer Schönheit. Ja, es scheint fast, als sei das W.C. zum ästhetischen Schrittmacher der modernen Wohnung geworden. (...) Und wer wollte bestreiten, daß unter den Kompositionen aus Glas, Stahl, Leder und Gummi - dieser manchmal in Form des lebenden Gummibaumes im Topf sehr reizvoll verwendet - ästhetisch ganz entzückende Dinge waren! (...) Der Anschluß an die besten Erfindungen der führenden Schneiderkünstler ist längst erreicht. Und auch der Nachweis, daß das Wohnen umso angenehmer, weiträumiger und behaglicher ist, je mehr Geld man dafür anlegen kann, darf ohnehin als schlüssig betrachtet werden". Und Behne resümiert - 1931! -: "Die Wohnung unserer Zeit - das ist in furchtbarer Dringlichkeit die Volkswohnung, die Wohnung des Arbeiters"(17) . Wie sieht also eine Bilanz dieser sagenumwobenen zwanziger Jahre aus, wenn man den Massenwohnungsbau betrachtet?

44 Die zwanziger Jahre - das war in städtebaulich-architektonischer Hinsicht die Zeit eines Umbruchs, der auf verschiedenen Ebenen stattfand. Zum einen mußte der Bau von Wohnungen von Staat oder Kommune organisiert werden und konnte nur mit Hilfe von Subventionen überleben - genauer gesagt: sozial verantwortlich überleben. Denn das war der zweite Punkt der Umwälzung: das verfassungsmäßige Recht auf Wohnung begründetete Ansprüche. Selbst wenn die nicht vollständig erfüllt werden konnten, bestanden sie dennoch als ständiger Druck auf die öffentliche Hand, der durch Wahlen sein Ventil fand.

45 Damit wurde der Wohnungsbau zur Aufgabe von Architekten. Der Maurermeister mit dem Bauvorlagenbuch in der Hand, der das Ornament eines gründerzeitlichen Wohnhauses nachzeichnete, genügte nicht mehr, weil die Massenwohnung nicht mehr als bloße Verkleinerung der bürgerlichen gesehen wurde. Wie sie aber "anders" sein sollte, war nicht klar; das Programm von "Licht, Luft und Sonne" war nur eines von mehreren. Der Wohnungsbau wurde durch die Intervention des Staates, mit Hilfe der Architekten, zur pädagogischen Aufgabe; wenn er schon das Geld gibt, dann hat der Vater das Recht, den (unmündigen) Kindern auch zu sagen, was zu tun, sprich: wie zu wohnen sei: "Modern zu wohnen wurde zu einer verpflichtenden Aufgabe, derer man sich nicht ohne theoretische Studien und moralische Vorsätze entledigen konnte"(18) wie es der schweizerische Architekturtheoretiker Peter Meyer ausdrückte. Das aber galt nicht nur für die "modernen" Wohnungen und Architekten. Grundsätzlich galt es für alle, nur daß die konservativen Wohnungsformen auf Bekanntes zurückgreifen konnten und so weniger des erhobenen Zeigefingers bedurften.

46 Verbesserung der hygienischen Bedingungen der Stadt des 19. Jahrhunderts und der Kampf gegen einen von bürgerlichen kulturellen Normen geprägten Wilhelminismus - das waren die gemeinsamen Ausgangspunkte von konservativ bis avantgardistisch; auch konservative Architekten wie Schmitthenner hatten keineswegs vor, das bürgerliche Sofa oder Büfett in der kleinen Wohnung oder dem Kleinhaus der "minderbemittelten Schichten" zu belassen, so daß sich - auch im Hinblick auf die Woh-nungseinrichtung - ein sehr breiter "main stream" gemeinsamer Anschauungen der Architekten ergab. Bruno Taut in einem Vortrag vor Hausfrauen (wobei allein die Tatsache, daß der Architekt vor Hausfrauen spricht, den pädagogischen Ansatz zeigt!): "Wenn aus einer Wohnung nach strengster und rücksichtslosester Auswahl alles, aber auch alles, was nicht direkt zum Leben notwendig ist, herausfliegt, so wird nicht bloß Ihre Arbeit erleichtert, sondern es stellt sich von selbst eine neue Schönheit ein" - "Strenge" und "Rücksichtslosigkeit" als Kriterien der Wohnungseinrichtung...

47 Gerade bei den Arbeitern gelang es jedoch nur selten, das Verständnis für Möbel und Dekorationen der "Neuen Sachlichkeit" oder auch nur einer gemäßigt modernen Einrichtung zu wecken, obwohl in vielen Siedlungen mit Musterwohnungen und Einrichtungsvorschlägen, in Frankfurt sogar mit einer eigenen Möbelfabrik, dafür geworben wurde. Ihnen wurde der Verzicht auf das Ornament abverlangt, der erst wirklich geleistet werden kann, wenn man sich das Ornament leisten kann. Die sich in den neuen Möbeln ausdrückende Askese konnte von ihnen nicht begriffen werden, so lange sie nicht den ersten Schritt: den zum Besitz getan hatten.

48 Das Mißverständnis, das darin zutage tritt, war vor allem darin begründet, daß Architekten und Wohnungs-reformer, selbst aus bürgerlichen Schichten stammend, als "Pädagogen" auftraten; sie stellten fest, was am besten für die anderen war. Selbst wenn sie dafür objektiv begründbare Empfehlungen gaben, so hatte der damit verbundene Eingriff in die Privatsphäre der Bewohner keine Durchschlagskraft; schließlich konnte er nicht befohlen werden (von ganz praktischen Erwägungen einmal ganz abgesehen wie der, daß die Bewohner beim Einzug in eine der schönen neuen Wohnungen sich gar keine neuen Möbel leisten konnten). Dennoch wurden die Bewohner als "Objekt" behandelt, denen zu sagen sei, was für die das beste sei.

49 Adolf Behne schrieb 1927: "Einfachheit - was ist sie letzten Endes? Sie ist Verzicht auf Verteidigungsstellung, auf Mißtrauen, auf Festungsbauten, ist Abbau der Barrieren. Sie ist menschliche Offenheit und menschliche Solidarität. (...) Entscheidend ist, daß der Mensch die Bauart sucht, die seiner neuen solidarischen Lebenshaltung entspricht."(19) Die Architekten gingen den umgekehrten Weg: Sie sagten ihren Bewohnern, was sie suchen sollten (auch die Einzeichnung von Möbeln in die Grundrisse ist bereits eine Festlegung in eine bestimmte, vorgegebene Richtung). Zudem nahmen auch die großen Bauträgergesellschaften, Genossenschaften oder gemeinnützige Baugesellschaften die neuen Massenmietverhältnisse der Großsiedlungen zum Anlaß, die Bewohner in großem Maße zu reglementieren - nicht nur über den Mietvertrag, sondern auch über Hausordnungen oder Siedlungs-zeitschriften - und auch das unabhängig von der Frage, ob "fortschrittlich" oder "konservativ" (besonders rigide ging es zum Beispiel in der "Borstei" in München zu, einer von einem Bauunternehmer in privater Initiative gebaute Anlage, in der sogar Loggien oder Balkone nicht gebaut wurden, weil die dort hängende Wäsche das einheitliche Bild stören würde(20). Henn, Ursula: Die Borstei. In: Baumeister 3/83). Das Ziel war eine Hebung der "Wohnkultur"; und die bisweilen architektonisch formulierte Gemeinschaftsidee (wie bei der Hufeisensiedlung) meinte nicht etwa gemeinschaftliches politisches Handeln.

50 Diese Vorstellung wurde von vielen Familien auch getragen und akzeptiert. Gerade vor dem Hintergrund der Altbausituation kann man verstehen, daß junge Familien die Neubauwohnung als ungeheuren Wohnfortschritt sahen: eigenes Bad, Elektrizität, helle, luftige Räume. Deswegen wollte man das neue Leben, das mit dem Umzug in die neue Wohnung beginnen sollte, auch durch besondere Sauberkeit und Sorgfalt zeigen. So waren letztlich die Architekten und Wohnungsreformer weniger im Hinblick auf Einrichtungen der "Neuen Sachlichkeit" erfolgreich, als mit der Durchsetzung bürgerlicher Ideale von Sauberkeit und Ordnung.

51 Ein weiterer Aspekt, der mit den neuen Siedlungen verbunden war, verstärkte ohnehin vorhandene strukturelle Tendenzen, nämlich die tatsächliche Monostruktur der Wohnstädte. Zwar gab es meistens Einrichtungen für die unmittelbare Versorgung der Haushalte, aber es wurde nur selten die Nähe zur Produktion gesucht - nicht zuletzt aus Gründen, die mit der Umweltbelastung der damaligen Fabriken zusammenhingen. In den Innenstädten konnte andererseits kein Wohnungsbau betrieben werden, weil die erforderlichen großen, zusammenhängenden Flächen nicht vorhanden waren und deren Grundstückspreise zu hoch lägen. Aber das Thema wurde auch nicht diskutiert, obwohl die langen Wege zur Arbeit den Mann belasteten und der Frau eine Tätigkeit neben der Erziehung der Kinder praktisch unmöglich machten. Die Stadtrandsiedlung aus dem Beginn der dreißiger Jahre verstärkte den Trend noch und fesselte die Frau endgültig an das Haus. Die Großstadtfeindlichkeit auf der konservativen wie auf der Seite der Avantgarde hatte zwar ganz unterschiedliche Ursachen, traf sich aber an diesem Punkt.

52 Der Widerspruch andererseits, der zwischen dem Bild der selbständigen, emanzipierten Frau lag, das die Medien propagierten, und der an Herd, Kinder und Garten gefesselten Hausfrau, der wurde nicht gelöst; begrifflich wurde er übertüncht, indem die Küche als "Laboratorium der Frau"(21) zum Arbeitsplatz gemacht wurde - unbezahlt, selbstverständlich.

53 Und dennoch ist eines bei einer Bewertung der zwanziger Jahre zu berücksichtigen, das die kritischen Anmerkungen überragt: Wohnung und Wohnungsbau wurden mit einer nie wieder erreichten Intensität und Bandbreite diskutiert und experimentell erprobt. Was in diesen zehn Jahren in dieser Hinsicht geleistet wurde, ist bis heute nicht nur nicht wieder erreicht worden, sondern das, was damals diskutiert und vorgeschlagen wurde, ist bis heute nicht einmal völlig aufgearbeitet.

Anmerkungen:

1) Hirtsiefer, H.: Die Wohnungswirtschaft in Preußen. Eberswalde 1929, S. 15

2)Gut, Albert: Zwei neue Kleinwohnungsanlagen in München.In: Zentralblatt der Buaverwaltung 69/19, S. 411

3)Bonne: Die wirtschaftlichen Vorteile des Kleinhaus, seine Herstellung und seine kulturelle Bedeutung für die gesamte Nation. In: Die Wohnung 1926, S. 284

4)Giedion, Siegfried: Befreites Wohnen. Zürich/ Leipzig 1929, S. 14

5)Gropius, Walter: Gross-Siedlungen. In: Zentralblatt der Bauverwaltung 12/29, S. 233

6)Behne, Adolf: Dammerstock. In: Die Form 6/30. Zitiert nach Schwarz, F. / Gloor, F. (Hrsg.): "Die Form". Stimme des Deutschen Werkbundes.Gütersloh 1969, S. 128

7)Behne, a.a.O.; S. 170

8)Hiller, Ernst: Das Kabinensystem und seine Anwendungsmöglichkeit im Wohnungsbau. In: Bauwelt 42/26, S. 1017

9)Rading, Adolf: Die Möbelnormung als Grundlage der Wohnkultur. In: Soziale Bauwirtschaft 19/29, S. 319

10)Taut, Bruno: Die Grundrißfrage. In: Wohnungswirtschaft 21-22/28, S. 314

11)Posener, Julius: Zur Weißenhofsiedlung. In: Baumeister 6/81

12)Mies van der Rohe, Ludwig: Vorwort zum amtlichen Katalog der Weißenhof-Ausstellung; zitiert nach: Neumeyer, Fritz: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Berlin 1986, S. 319

13)Neufert, Ernst: Wohnbauten der Berliner Sommerschau 1932. In: Zentralblatt der Bauverwaltung 32/32, S. 373

14)ebd.

15)Hoffman, Herbert: "Die Wohnung unserer Zeit" auf der Deutschen Bauausstellung Berlin 1931. In: Moderne Bauformen 7 und 8/31, S. 377

16)Behne, Adolf: Abteilung "Die Wohnung unserer Zeit". In: Zentralblatt der Bauverwaltung 48/31, S. 733

17)

18)Meyer, Peter: Situation der Architektur 1940. In: Das Werk 9/40, S. 243

19)Behne, Adolf: Neues Wohnen, neues Bauen. Leipzig 1927

20)Henn, Ursula: Die Borstei. In Baumeister 3/83

21)Bloch, Anna: Proletarische Wohnkultur. Prag 1928, S. 32

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