Thema
2. Jg., Heft 2
November 1997

Christian Katti

Buchstäblichkeit und Struktur zwischen Architektur und Urbanismus

1»L’architecture commença comme toute écriture. Elle fut d’abord
alphabet. On plantait un pierrre debout, et c’était une lettre... «1

V. Hugo, Notre-Dame de Paris

2Buchstäblichkeit und Struktur im Zusammenhang mit Architektur und Wissenschaft auf dem problematischen Feld der Sprache — problematisch, weil die Sprache gleichsam zwischen Architektur und Wissenschaft aufgesucht werden muß — das klingt nach Dekonstruktion. Diese Erwartung muß jedoch vorderhand enttäuscht werden. Aber nicht als rundheraus getroffene Ablehnung ist diese Enttäuschung zu verstehen, sondern eher im wörtlichen Sinn des »desengaño«, dem Aufdecken der Täuschung, das dem »engaño«, der kunstvollen Täuschung zu folgen hat. Gerade im Zusammenhang von Buchstäblichkeit und Schrift, zwei Bezügen, die sich nicht aus der Dekonstruktion wegdenken lassen, muß Architektur im strengen Sinn ein Problem für die Dekonstruktion darstellen. Dieses Problem zeigt sich genauer, sobald der Begriff des Raumes ins dekonstruktive Spiel kommt. Dieser Begriff des Raumes ist im architektonischen und erst recht im urbanistischen Feld unumgänglich. Über die Brücke der Struktur wird versucht, den Raum in eine Ordnung zu bringen. Dabei bleibt zu fragen, wie sich der Raum der Architektur — ihre Verräumlichung — mit dem Raum des Urbanen zusammendenken läßt. Sprache wird hierbei sowohl als Modell gebraucht, als auch zum Übersetzungsmedium zwischen den jeweiligen Bereichen gemacht. Auf diesem fraglichen Ausweg, Sprache als Lösung der komplizierten Strukturverflechtungen zwischen Architektur und Urbanismus aufzufassen, soll später noch eingegangen werden. Wie sich dabei zeigt, muß dieses Modell von Sprache die Buchstäblichkeit, den Buchstaben, seine Möglichkeit und Wirklichkeit verdrängen, es muß Sprache in eine architektonisch-urbanistische Struktur zurück verwandeln, obwohl deren Struktur zuerst sprachlich aufgefaßt wurde.

3Ich möchte nun die methodische These aufstellen, daß es nicht notwendigerweise der Fall ist, daß architektonische und urbanistische Beschreibungsweisen direkt ineinander übersetzbar sind. Und wenn sie das sind, kann das die Folge weitreichender theoretischer Vorentscheidungen sein. Aus diesen theoretischen Vorentscheidungen entstehen möglicherweise ebenso weitreichende Folgen hinsichtlich dessen, was durch die Abgleichung der jeweiligen Theoriesprachen beschrieben werden kann und dessen, was dadurch gar nicht erst in den Blick kommt. Nicht ineinander überführbare Theoriesprachen von Architektur und Urbanismus können den Vorteil haben, partiell erfassungsmächtiger aber eben auch einseitiger zu sein. Ganze Problemfelder des urbanistischen Bereichs können mit einem gewissen architekturhistorischen Vokabular nicht einmal angemessen beschrieben, geschweige denn als Probleme formuliert und für mögliche Lösungsvorschläge zugänglich gemacht werden. Das sollte jedoch nicht gleich den einseitigen Beschreibungsüberschuß als wertlos brandmarken.

4Wir befinden uns in drei verschiedenen beteiligten Wissenschaftsbereichen, die konkurrierend um Kooperation bemüht sind, dabei aber einander gegenseitig auch auszuschließen drohen, die auf jeden Fall in einer spannungsreichen Beziehung zueinander stehen: die historische Wissenschaft, allgemein Kunstgeschichte, näher Architekturgeschichte; dann Sozialwissenschaften, es geht ja nicht um das Verhältnis leerer Gebäude zueinander, sondern um jeweilige Lebensräume; und schließlich eine Art oder verschiedene Arten von Architekturtheorie, die man vielleicht in ihrem theoretischen Gewand der Philosophie zurechnen kann, denn schließlich geht es dabei um eine theoretische Erklärung dessen, was Architektur ist und zwar bis hin zu einer sehr allgemeinen Ebene, nicht nur einer konkreten Beschreibung von architektonischen Einzelsituationen, sondern der Rolle der Architektur in einer abendländischen Tradition, die in ihrer Architektonik letztendlich metaphysisch ist oder war — und die in ihrer eigenen Metaphysikkritik ihre Architektonik zu verfeinern wußte.

5Es gibt zweifellos eine »Sprache der Architektur«. Und auch in urbanistischen Bezügen wird man Ansätze und Erklärungen anhand des Modells der Sprache und der Kommunikation ausgebildet finden. Es wäre naiv zu meinen, daß es sich hier um eine rein metaphorische Sprechweise handelt, die umgangen oder gar ersetzt werden könnte. Es gibt also eine Sprache der Architektur, ihr fehlt jedoch der materielle Bezug des Buchstabens im architektonischen Diskurs. Sie wird phonetisch vorgestellt, nicht schriftlich. Gleichwohl fehlt es nicht an Buchstäblichem in und an der Architektur, es fällt uns nur schwer, dieses auch von Seiten der Architektur her wahrzunehmen und architektonisch aufzufassen.

6Genausowenig, wie hinsichtlich der Sprache der Architektur, ist die Rede vom »Sprachbau«, von der Architektur und Bauweise der Sprache als äußerliche Metapher abzutun. Die Auffassung einer Architektur der Sprache und selbst noch die einer Architektur der Wissenschaften, beruht auf einer komplizierten Austauschbewegung, die tief in unserer Geschichte verwurzelt ist. Sie ist gleichsam in unsere historischen Fundamente eingemeißelt.

Illustration1:
links: Typographische Architektur: Schriftbild eines Trauergedichts in Form eines »Castrum Doloris«. Aus I. Rocaberti, Lagrimas Amantes de la excelentissima Ciudad de Barcelona ..., Barcelona 1701.
rechts: Architektur als Träger und Ordnungssystem von Inschriften: Holzschnitt einer »Turris Sapientiae«, Ende 15. Jahrhundert.

Illustration 2:
Jeffery Shaw, interaktive Installation »The Legible City«, 1988-91

7Doch zunächst zurück zu der eingangs beanspruchten Abgrenzung gegenüber der Dekonstruktion, in der wir gleichzeitig Schrift und Architektur zu exemplarischen Bezugsebenen gegenüber der abendländischen Tradition der Philosophie ausgebildet finden. Die Dekonstruktion hat gleichsam ein negatives Bild der Architektur entworfen und zu ihrem modus operandi gemacht: Erschütterung, Abbau und — in einem eigenartigen Sinn — Nachbau statt herkömmlicherweise Aufbau, Konstruktion und Rekonstruktion. Dabei ergibt sich jedoch ein Problem, will man diesen Diskurs direkt auf das Thema der Architektur anwenden. Mark Wigley bemerkt dementsprechend: »Architektur kann weder einfach das Thema des dekonstruktiven Diskurses sein noch von ihm ignoriert werden. Es kann keinen dekonstruktiven Diskurs ›über‹ Architektur geben, weil seine methodische Fragestellung von Anfang an architektonisch ist. Wenn Derrida einmal ›Dekonstruktion‹ beschreibt — was er selten, zögernd und unter vielen Vorsichtsmaßnahmen tut —, dann gewöhnlich mit architektonischen Begriffen. Das Zögern und die Vorsichtsmaßnahmen hängen damit zusammen, daß diese Begriffe architektonisch sind.«2

8Der vielgestaltige Begriff »Schrift« läßt sich in dekonstruktiven Termini als Konzept der Verräumlichung auffassen. Die Schriftverleugnung der Philosophie zugunsten des angeblich immateriellen, gesprochenen Wortes und seiner Präsenz läßt sich anhand ihrer Verräumlichungsstrategien, die immer mit Institutionalisierungen einhergehen, aufzeigen. Eine Kritik, der Derrida den Namen »Phonozentrismus« gegeben hat. Derridas Ausführungen müssen hierbei vor Heideggers Denken und dessen Kritik der »Seinsvergessenheit« der abendländischen Metaphysik verstanden werden; für Heidegger nimmt die Architektur und ihre Rolle in der Philosophie eine entscheidende Bedeutung ein.3

9Diese Rolle der Architektur, die über das Paradigma des seit dem Ende des 19. Jahrhunderts brüchig gewordenen Systemdenkens weiterhin bestehen bleibt, beschreibt M. Wigley für Derrida und Heidegger in der Art eines problematischen Bezuges. Dieser Bezug ist offensichtlich auf eine architektonische Begrifflichkeit ausgerichtet. So gibt Derrida selbst an, Heideggers Begriff »Abbau« durch den Neologismus »Dekonstruktion« übersetzen zu wollen. Wigley, dem ich hier folge, schreibt in einem anschließenden, längeren Zitat: »Statt Derridas Diskussion des Raumes auf die Architektur anzuwenden, sollte deren architektonische Bedingtheit genauer bestimmt werden. Architektur sollte nicht als eine Art von Schrift gedacht werden, wie dies so viele Lektüren der dekonstruktiven Theorie im architektonischen Diskurs unternommen haben; angebracht wäre es einmal, Schrift als eine Art von Architektur zu denken und die in Derridas Diskurs eingelassene Architektur aufzuspüren.

Illustration 3:
links: Symmetrische Figur und verdoppeltes Monogramm; architektonischer Grund- und Aufriß: Dedikationsprojekt an Chr. Friedrich Carl Alexander. Aus J. D. Steingruber, Architektonisches Alphabet, Schwabach 1773.
rechts: Buchstabenfigur und geometrischer Architekturgrundriß; Buchstabe »Q«. Aus J. D. Steingruber, Architektonisches Alphabet, Schwabach 1773.

Illustration 4:
links: Buchstaben und Schrift als konstitutive Elemente des Architekturmodells: Fortunato Depero, »Padiglione del Libro« für die III. Biennale in Monza, 1927.
rechts: Fortunato Depero, »Padiglione Campari«, 1933.

Es geht vor allem darum, ob sich Derrida von Heidegger absetzt, indem er die Unterordnung des Raumes im allgemeinen und die der Architektur im besonderen überdenkt. Weil die traditionelle Funktion der Architektur im philosophischen Diskurs eine durch fortgesetzte Repression hervorgebrachte Identifikation ist, stellt sich zusätzlich die Frage, ob, wenn sich Derrida so ausführlich auf Heideggers Werk bezieht, um sich schließlich von ihm abzusetzen, dies auf gleiche Weise geschieht, wie Heidegger sich ausführlich auf Architektur bezieht, nur um sich schließlich von ihr abzusetzen. Setzt sich Derrida an dem gleichen Punkt von Heidegger ab, an dem sich Heidegger von der Architektur absetzt? Läßt sich Derridas Denken als Fortsetzung des Neudenkens der Architektur auffassen, welches Heidegger vorzeitig abgebrochen hatte? Wenn man sich diesen nur zu leicht vermehrbaren Fragen nähern will, muß man die Funktion des Raumes für Derridas Denken sorgfältig aufspüren und diese von seinem Denken über den Raum getrennt halten. Das Verhältnis zwischen der Verräumlichung und dem traditionellen architektonischen Bild muß bestimmt werden, das heißt zwischen Verräumlichung und dem architektonischen Raum. Dies kann nur ein einzigartig kompliziertes Verhältnis sein. Weil das Bild des Architekturgebäudes bereits die fortgesetzte Herrschaft der gesprochenen Sprache über die Schrift darstellt. Architektur scheint bereits für die Unterdrückung der Verräumlichung zu stehen. Sie scheint nur dadurch zu erscheinen, daß sie unterdrückt. Sie wäre die Erscheinung der Repression selbst.«4 Es ließe sich leicht zeigen, welche Rolle in diesem Diskurs der Verräumlichung der Begriff der Struktur spielt und wie in dieser Rolle gerade der Strukturalismus problematisierbar wird, weil die Struktur ihr Zentrum immer ausschließen muß.5 Das Zentrum der räumlichen Struktur kann gerade nicht selbst räumlich sein; die Verräumlichung befindet sich notwendigerweise außerhalb der Struktur. Ich kann hier nicht in zu Gebote stehender Gründlichkeit auf diese schwierigen Zusammenhänge eingehen. Auch kann hier nicht der Raumbegriff in dem geforderten Ausmaß thematisiert werden,6 sondern der Begriff der Buchstäblichkeit in der Architektur soll im folgenden untersucht werden.

Illustration 5:
Daniel Libeskind, Duisburg Community Center, Deutschland 1996, Arbeitsmodelle (mit Aleph).

Illustration 6:
Roberto M. Behar und Rosario Marquardt, axionometrischer Lageplan für »M«, Miama ca. 1925.

Wigleys Warnung zufolge werden wir nicht Architektur und Schrift parallelisieren, noch Architektur als eine Art von Schrift denken, sondern Schrift in einer buchstäblichen und textuellen Bedeutung in der Architektur untersuchen. In einer dreigefächerten Perspektive werden Buchstäblichkeit und Architektur, bzw. urbanistische Bezüge in der Erweiterung auf die Begriffe »Text« und »Struktur« ins Blickfeld kommen.

Nämlich:
- einmal Lettern als Architektur; dazu werden zwei Beispiele behandelt;7

Illustration 7:
Daniel Libeskind, Duisburg Community Center, Deutschland 1996, Lageplan und axionometrische Übersicht.

Illustration 8:
Roberto M. Behar und Rosario Maquardt, »M«, Miami, Photographie von Roberto M. Behar, 1996.

- dann Lettern und Schrift an Architektur;8

Illustration 9:
Robert Cottingham, »Orph«, 1972, Farblithographie, 51,1/76,2 cm.

Illustration 10:
Dennis Keeley, Vier Photographien von Los Angeles, ca. 1990.


- und schließlich Architektur als buchstäblicher wie auch struktureller Text.9

Illustration 11:
Jeffery Shaw, interaktive Installation »The Legible City«, 1988-91.

Illustration 12:
Dennis Keeley, Photographie von Los Angeles, ca. 1990.

10Bevor ich zum Ende meines Vortrags komme, möchte ich diese Bemerkungen mit drei weiteren Punkten abrunden. Der eine Punkt ist der offensichtliche Tatbestand in dem sowohl Architektur als auch Sprache in unserer Kultur das Soziale strukturieren.10 Der andere Punkt ist die problematische Vermittlung von Architektur und Urbanismus, die mit Hilfe der Begriffe »Text« und »Struktur« versucht wird.11 Schließlich mache ich noch ein paar kurze Bemerkungen über die Metapher der Architektur im Diskurs der Philosophie, namentlich bei Kant und Wittgenstein.

11Die logische und ästhetische Struktur eines Gebäudes, nach der seine Funktion aber auch seine Ansicht geordnet ist, kann als »Text« beschrieben werden. Was vorderhand wie eine bloße Metapher wirkt, beruht auf theoretischen Voraussetzungen, die weitreichende Folgen haben. Der Architektur wird dabei eine sogenannte »Sprache« zuerkannt. Diese Ausdrucksweise findet sich quer durch das Metier verbreitet. Obwohl diese Sprache kulturell oder national gefärbt sein kann, muß sie nicht an das jeweilige nationalsprachliche Idiom gebunden sein. Auch läßt sie sich nicht in einer herkömmlichen Weise schreiben oder ausbuchstabieren und doch ist sie angeblich mehr oder weniger allgemein verständlich und »sichtbar«. Der dekonstruktive Trend in der Architektur — der vielleicht nicht ohne den philosophischen denkbar ist — läßt sich als Reflexion eines erweiterten Textbegriffes sowie in diesem Sinne auch Sprachmodells und eines nachklassischen Schönheitskonzeptes auf diese allgemeine Auffassung interpretieren.

12Sieht man ein Gebäude als Text, so läßt sich der Übergang von der Architektur zum Urbanismus mühelos herstellen. So wie ein Text keine endgültigen Grenzen hat, weil er immer mit anderen Texten in Verbindung steht, sozusagen kommuniziert, so steht Architektur auch immer mit anderer Architektur in Verbindung. Woraus sich die oder eine urbane Struktur ergibt, ob nun geplant oder in angeblich »freizügiger Zufälligkeit« der Konvention.
Der Textbegriff ermöglicht also die Zusammenziehung des architektonischen mit dem urbanistischen Diskurs. Ohne behaupten zu müssen, daß sie immer schon zusammengehören, oder — entgegengesetzt — gar nichts miteinander zu tun haben, zeigt sich so eine Verbindung, die eher einem Streit der Fakultäten gleicht, und die in diesem Widerstreit mehr Produktivität freisetzt, als einzelne Hierarchisierungen das vermögen — und dementsprechend die herkömmlichen Grenzen verwischt.

13Diese Gleichzeitigkeit von Bruch und Übergang ist in einer philosophischen Traditionslinie anhand eines metaphorischen Modells von Architektur nachgebildet, das sich nicht darauf herausreden kann, nur zufällig zu sein. Wittgenstein erweitert Kants methodische Metaphorik von der architektonischen Gestalt der Vernunft auf die nämliche ergänzende Art. Er spricht vom urbanen Charakter der Sprache. Das Sprachspiel wird von seinen historischen sowie sozialen Komponenten mit einer städtischen Struktur verglichen. Es ist gleichsam gewachsen, so wie Städte gewachsen sein können. Das hybride Selbstvertrauen städteplanerischer Großentwürfe im späten 19. und frühen 20. Jh. berührt sich mit den positivistischen Forderungen eine metaphysikfreie Wissenschaftssprache zu konzipieren. Die Anwendung von Sprachspielen wird beim späten Wittgenstein als Bauvorgang beschrieben. Natürlich nur im Sinne eines Beispiels. Das Beispiel funktioniert jedoch ähnlich wie ein architektonisches Modell, ein Modell, das in Verkleinerung einen Überblick ermöglicht und uns mit einer Bewegung in die Vogelperspektive katapultiert.12

14Was eine wissenschaftsgeschichtliche Epochenwende über die Wasserscheide des linguistic turn hinweg darstellt, der Übergang von alteuropäischer kritischer Philosophie zu sprachphilosophischer Analytik, vermag sich am selben Metaphernkreis zu ernähren. Daß hierbei Skepsis gegenüber der Metapher angebracht ist, versteht sich von selbst, daß »Abbau« und »Dekonstruktion« hierbei skandalträchtige Erfolge im Wissenschaftsgeschäft hatten, ebenso.13 Was das für eine Theorie der Architektur bedeuten kann, muß sich dabei erst noch herausstellen.14

15Theoretisch beziehe ich mich vor diesen Ausführungen zuletzt auf eine Arbeit von Werner Oechslin.15 Oechslins Hauptargument ist die historisch weitreichende Auswertung, daß sowohl Architektur als auch die Gestaltung des Alphabets auf gemeinsamen geometrischen Prinzipien und zugehörigen analytischen Voraussetzungen, was die mögliche Konstruktion der jeweiligen Formen von Buchstaben und Gebäuden anbelangt, beruhen. Diese geometrisch und analytisch geprägte Wechselwirkung belegt er auf beeindruckende Weise vom Humanismus bis zur Aufklärung und noch in die Moderne hinein. Vereinfachend läßt sich sagen, daß der Auffassung von Architekturgestaltung sowie der Auffassung von Schriftgestaltung hierbei eine kulturgeprägte Auffassung von Raum und Zeit zugrunde liegen, die sich in einer Illustrationlektik zwischen der herstellbaren Gegenständlichkeit von Gebäude und Buchstabe und ihrer symbolischen Lesbarkeit, die sich dem Gegenständlichen überhebt, entfaltet. Es wäre jedoch ein Vergleich angebracht, wie sich die Ausprägungen von Schrift und Architektur kulturspezifisch unterscheiden. Wie sich also in unterschiedlichen Kulturen Schrift und Architektur zueinander verhalten?16

16In seinem theoretischen Ansatz und der dazu geleisteten historischen Deutung ist die Geometrie und ihre Vorstellung von Raum und Planbarkeit das Verbindungs- und Übersetzungsmedium zwischen Architektur und Alphabet. Beide sind im Sinne der Geometrie konstruierbar und planbar. Hinsichtlich der Behauptung, daß auch Mathematik eine »Sprache« ist und Geometrie gleichsam ein besonderer Teil von ihr und, daß das »Buch der Natur« nach einem berühmten Zitat »in der Sprache der Mathematik geschrieben« ist, läßt sich nach dem Zusammenhang der mathematischen, mit der alltäglichen Sprache fragen. Hierbei läßt sich zwar aus der Sicht der Wissenschaften eine grundlegende Übersetzbarkeit postulieren. Die »Wahrheiten« der Mathematik lassen sich notwendig in jeder anderen Sprache formulieren. Anders ausgedrückt, jede Sprache kann mathematische Theorien interpretieren. Jedoch sind Sprachen an jeweilige Weltbilder gebunden und es steht zu bezweifeln, daß sich die »Wahrheit« der Mathematik in jedes andere Weltbild übersetzen läßt. Auch wenn Mathematik davon abstrahiert, basiert sie auf einer kulturellen und historischen Entwicklung. Sprache generell ist historisch. Der historische Diskurs und der mathematische befinden sich an zwei extrem gegenüberliegenden Seiten der Skala der Wissenschaften. Oder sollten wir nicht lieber die Antwort offen lassen und fragen, ob sie sich überhaupt auf der selben Skala befinden? Der Umstand, daß die Architektur unzweifelbar seit der Renaissance Geometrie und Mathematik als Hilfswissenschaften erwählt hat und sich darin ihre Sprache äußert, ist als historischer in der Geschichte des Abendlandes verankert. Durch diese Option ergibt sich ein verdrängter Bezug zur vielgestaltigen »Buchstäblichkeit« der Architektur, der gerade an den Bruchkanten ihrer Struktur aufscheint.

17Oechslins These, daß Alphabetgestaltung und Architektur seit dem Humanismus auf dem gleichen Fundament stehen, nämlich dem der Geometrie, läßt sich noch um eine weitere Verallgemeinerung radikalisieren. Es ist eine landläufige Meinung und Vorstellung vom Raum, die dieser Geometriesierung von Alphabet und Architektur zugrunde liegt. Ich möchte nicht so weit gehen, zu behaupten, daß darin eine Vergegenständlichung beschlossen liegt, da der Geometrie die Idealität ihrer ›Gegenstände‹ als theoretisches Problem der Darstellbarkeit durchaus bewußt ist. Dennoch läßt sich eine common-sense Vorstellung des Raumes, die ihn gerade durch seine Allgemeinheit und Kontinuität ausgezeichnet sieht, nicht leugnen. Die Sprache, deren corpus das Alphabet gleichsam bildet, ist beiweitem nicht so bruchlos mit dieser Raumvorstellung in Übereinstimmung zu bringen.17

Anmerkungen

1 Paris: Ed. Gallimard, 1975, S. 175. »Die Architektur begann wie alle Schrift. Sie war zuerst Alphabet. Man setzte einen Stein aufrecht, und das war ein Brief/Buchstabe.«

2 M. Wigley, Architektur und Dekonstruktion: Derridas Phantom, übers. v. Ch. Rochow, Basel, Berlin, Boston: Birkhäuser, 1994, S. 47. Zuerst als ders., The Architecture of Deconstruction: Derrida’s Haunt, Cambridge, Mass.: MIT, 1993. Nochmals Wigley in der deutschen Ausgabe, S. 93: »Die Architektur verdeutlicht offenbar den Gegensatz zwischen materiellem Objekt und immateriellem Diskurs, wenn sie als Paradigma der Philosophie fungiert, Derrida kann diesen Gegensatz nur dadurch aufbrechen, indem er das Bild von Architektur aufbricht, das diesen Gegensatz konstituiert und nicht von diesem produziert wird.«

3 Als Einstieg kann auf den Aufsatz »Bauen Wohnen Denken«, in: M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske, 1954 u. ö. verwiesen werden, obwohl der Diskurs der Architektur in weiten Bereichen von Heideggers Werk verstreut ist. Siehe auch: M. Wigley, »Heidegger’s House: The Violence of the Domestic«, in: Columbia Documents in Architecture and Theory, 1 (1992), S. 91-121.

4 M. Wigley, Architektur und Dekonstruktion: Derridas Phantom, übers. v. Ch. Rochow, Basel, Berlin, Boston: Birkhäuser 1994, S. 81f.

5 J. Derrida, »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, S. 422-442. In diesem Sinne ließe sich fragen, ob der Ausschluß des Zentrums in der Stadt nicht eine ähnliche Problematik hat? Obwohl Stadtplanung natürlich oft um das Zentrum kreist, ließe sich problematisieren inwieweit die Befestigung der Stadt, also die Stadtmauer ihr eigentliches Zentrum darstellt? Das herkömmliche Stadtzentrum, in dem sich meißt eine weltliche oder geistliche Macht repräsentiert, wird erst durch die Befestigung der Stadt ermöglicht. Also wäre das Stadtzentrum nur eine Repräsentation der Stadtmauer. Ökonomische Strukturen können natürlich die Funktion dieser Befestigung übernehmen.

6 Für diese Problematik verweise ich auf Wigley, dem ich mich in der Problematisierung des Raumbegriffes bei Derrida anschließe. L. c., S. 164: »Es gilt, die kritische, aber kaum je anerkannte Funktion des Raumes in der Dekonstruktion aufzuspüren und zu zeigen, daß überall und für jeden [für die Anhänger und Kritiker der Dekonstruktion, C. K.] die Konstruktion des Raumes auf dem Spiele steht, eine Konstruktion, die in ein bestimmtes Bild von Architektur eingebunden ist. Eine solche Lektüre ist nötiger denn je, da in den letzten Jahren der Diskurs zwar begonnen hat, die Frage der Architektur aufzuwerfen, jedoch in einer so defensiven Weise, daß er tatsächlich das Schweigen bezüglich des Raumes aufrecht erhält, anstatt es zu brechen. Die Lautstärke dieses Schweigens zeigt, welch hoher Einsatz mit dem Raum verbunden ist.«

7 In einer längeren Version dieses Vortrages wird ausführlich auf zwei Buchstabenarchitekturen eingegangen. Einmal auf ein in Miami realisiertes (45 feet) großes »M« von Robert M. Behar und Rosario Marquardt von 1996. Dann auf den Entwurf eines jüdischen Gemeindezentrums in Duisburg von Daniel Libeskind von 1996, das nach einem Aleph entwickelt wurde. Aus Zeitgründen konnte dieser Teil nicht auf der Konferenz vorgetragen werden.

8 Siehe: R. Venturi, D. Scott Brown, S. Izenour, Learning From Las Vegas: The Forgotten Symbolism of Architectural Form, revised edition, Cambridge, Mass.: MIT, (14. Aufl.) 1996. In dieser Hinsicht und mit Blick auf die Fokussierung der Buchstäblichkeit ist auf diese exemplarische Studie zu verweisen. Der Rückgang des symbolischen Ausdrucks in der Architektur des 20. Jahrhunderts führt nach dieser Untersuchung zur Verselbständigung der Schilderarchitekturen, der »billboards« und Reklameaufbauten. Vereinfacht man die Thesen von Venturi, Scott Brown und Izenour, so ergibt sich im Licht historischer Sedimentierung folgende Entwicklung. Je mehr die Architektur den Wortschatz ihrer »symbolischen Erscheinungsformen« durch erhöhe Differenzierung, Pluralisierung und Kommerzialisierung zurücklassen mußte und sich auf angeblich »funktionalistische Erscheinungsweisen« beschränkte, desto deutlicher ergibt sich eine verselbständigte Wucherung von Schildern und Beschriftungen, welche die Gebäude begleiten und umlagern. Dieser Zuwachs des Buchstäblichen zeigt sich nicht vordergründig als Teil der Architektur oder gar mit ihr verschmolzen, sondern appliziert und eigenständig. Wo sich tatsächlich Formen der Verbindung einschleifen, werden sie nicht als besonders wertvoll erachtet. Die Nutzung motiviert jedoch die Verbindungen bis zu einem Grad, der sich den Anschein des Selbstverständlichen gibt. Im extremen Beispiel von Las Vegas schließlich hat sich das Verhältnis umgedreht, Zeichen von selbst wieder architektonischer Größe überlagern die Architektur. Die Heraldik der Schilder und Zeichen dominiert das optische Erscheinungsbild der Stadt. Das Versailler Schloß benötigt keine monumentale Leuchtreklame, die bei Tag und Nacht ausweist, daß es sich hier um das Schloß handelt. Ein großes Kaufhaus des 20. Jahrhunderts könnte dagegen alles mögliche sein, würde uns nicht sofort durch die Heraldik der Firmenbeschriftung sein Name entgegenblicken. Die Konkurrenz und kommerzielle Strategien lassen diese Heraldik nun ins Gigantische wachsen.
Die Verdrängung des Buchstäblichen aus der Architektur bedeutet, das Buchstäbliche, das Geschriebene nicht in der Architektur selbst wahrnehmbar werden zu lassen. Es wird als appliziert, als angefügt ausgegeben. Ebenso wie Namensschilder an Gebäude angefügt, äußerlich angefügt werden, um anzuzeigen, wer in dem Gebäude wohnt. Alle Formen der Beschriftungen werden als Ersatz des Symbolischen angesehen. Als wäre die Architektur auch ohne diese Beschriftungen möglich. Der urbane Raum des Sozialen, des Austausches, des öffentlichen Verkehrs ist wiederum von der Architektur strukturiert, nicht von den Beschriftungen und Bezeichnungen, die ebenso wieder nur als hinzugefügt betrachtet werden. Daß die Architektur die Ordnungsstruktur dieser Beschriftungen vorbildet und zugänglich macht, heißt eher, daß sie sie imitiert, daß sie sie wiederholt. Gleichzeitig werden sie jedoch in dieser Imitation und Wiederholung unterdrückt und als äußerlich erklärt.
Architektur ohne Beschriftung wäre solche ohne räumliche Bindung. In der Tat ist eine nomadische Unterkunft nicht in der Weise an die Beschriftung gebunden. Sie befindet und bewegt sich außerhalb der Adresse; und ebenso außerhalb der Stadt, selbst wenn sie innerhalb des Stadtraumes verbleibt. Ist es diese Offenheit gegenüber den räumlichen und zeitlichen Bezügen die der nomadischen Unterkunft die Zugehörigkeit zur Architektur abspricht? Ist sie deshalb nicht in den Bereich der Architektur eingeschrieben?

9 Aus semiotischer Perspektive lassen sich sowohl Sprache, als auch Architektur als Zeichensystem beschreiben. Siehe: U. Eco, »C. Funktion und Zeichen (Semiotik der Architektur)«, in ders., Einführung in die Semiotik, München: Fink/ (6. Aufl.) 1988. Bzw. sehr kurz und allgemein: W. Nöth, »Architektur«, in: ders., Handbuch der Semiotik, Stuttgart: Metzler, 1985. Ja, das ganze Gefüge der Kultur kann in diesem Deutungsansatz untersucht werden. Siehe z. B.: R. Posner, »Kultur als Zeichensystem: Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe«, in: Kultur als Lebenswelt und Monument, Hg. A. Assmann & D. Harth, FfM: Fischer TB, 1991. — Die rekursive Selbsttransparenz ist in der Semiotik, der Wissenschaft von den Zeichen, Voraussetzung ihrer nachmetaphysischen Selbstdefinition. Betrachtet man den jüngsten Einmarsch der »Cultural Studies« in die Literaturwissenschaften, so wird man feststellen, daß die Begriffe »Kultur« und »Text« an vielen Stellen methodisch synonym verwendet werden.
Als anschauliches Beispiel, obgleich auf das Feld der Medienkunst verschoben, möchte ich in dieser letzten Gruppe auf Jeffery Shaw’s interaktive Installation »The Legible City« von 1988-91 verweisen, die sich in der Sammlung des Medienmuseums des ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe befindet. Sozusagen als low- tech- Version kann man sich einfach mit dem Bus durch den Buchstabenwald einer spätmodernen Metropole wie Los Angeles Bewegen, was Ill. 8 sugeriert.

10 Sprache und Architektur strukturieren in unserem Verständnis auf beispielhafte Weise das Soziale. In beidem schlägt sich das, was man Kultur nennen kann, so direkt lesbar nieder, daß sie zu den wichtigsten Speichermedien unser historischen Selbstverortung gehören. Selbst die ungelösten Probleme und die Schattenseiten des Sozialen, das Verdrängte, Unbewußte und Ungerechte sedimentieren sich hier und bleiben einem deutenden Bezug zugänglich. Auch wenn Architektur eine andere »soziale Rolle« — und sicher mehr als nur eine — in unserer Lebenswelt spielt als z. B. bildende Kunst generell, ist ihre Beschreibung an ähnliche strukturelle Probleme gebunden, wie die Beschreibung von Bildern oder Plastiken. Obwohl die ästhetische Funktion wahlweise nicht als das vortreffliche Zentrum von Architektur begriffen werden muß — wie exemplarisch bei A. Loos — , ist ihre soziale Funktion kulturell vermittelt. So daß es nicht genügt, die Architektur zu verändern und damit eine nachhaltige Änderung des Sozialen bewirken zu können. Dieser Wunsch entspringt einem romantisch revolutionärem Denken, das sozialen Wandel nach dem Modell von Kunstwerken vorstellt. Die Architekten der klassischen Moderne hatten ihre urbanistischen Utopien noch aus diesem romantischen Modell gespeist. Doch man macht es sich ebenso zu einfach, will man sie als zwar schlechte Urbanisten aber vorzügliche Architekten retten, wie man es sich zu einfach macht, wenn man sie als Repräsentanten eines gescheiterten Projekts schlechthin verdammt. Die klassische Moderne — die ich hier nicht aburteilen möchte — war, was urbanistische Probleme anbetrifft, nicht nur grausam naiv und auf eine verhängnisvolle Weise utopisch, sondern hat die hier eingezogene Differenz zwischen Urbanismus und Architektur gar nicht auf einer streng analytischen und funktionalen Grundlage gemacht. »Soziale Effekte« wurden als Wirkungen von architektonischen Planungen und Utopien aufgefaßt. Das urbanistische Manko der Moderne läßt sich nicht einfach architektonisch korrigieren. Hier zeigt sich die »postmoderne Überwindungsgeste« ebenso naiv, wie der von ihr angeklagte Delinquent.

11 Die Tradition der Architektur hat von ihrem Metier zwei Grundauffassungen ausgebildet: einmal Architektur als Raumsystem; zum anderen eine Auffassung von Architektur als Symbolsystem. Die beiden Auffassungen lassen sich nicht nur miteinander verbinden, sondern sie lassen sich gar nicht wirklich voneinander trennen, obwohl es sehr schwer bleibt sie wirklich miteinander zu vermitteln und in dieser Vermittlung den Prozeß ihrer Ausdifferenzierung zu belegen.
Faßt man Architektur als Raumsystem auf, so ergibt sich eine Art ›natürlicher‹ Funktionalismus, der für die Strukturierungsordnung des Raumsystems herangezogen wird. Nun hat aber gerade diese funktionale Architektur auch ein symbolisches Gesicht. Ironischerweise war es oft so, daß der Funktionalismus besser auf symbolischer Ebene ›funktioniert‹ hat, als auf der angewandten Ebene der Funktion. Also die Gebäude sahen eher funktional aus, als daß sie auch wirklich in einem urbanistischem Kontext so funktioniert hätten, wie man sich das auf der Ebene der utopischen Planung vorgestellt und gewünscht hatte.
Den architektonischen Phänomenen scheint »Sprache« nicht auf der selben primären Ebene inhärent, wie dem explikativen Bezug der Geschichte. Nicht daß das Phänomen der Architektur sich ganz gegen sprachliche Ordnung sperren würde, aber sie scheint ihm »nicht schon immer«, sondern erst durch Analyse inhärent. Andererseits wird man zugeben können, daß sowohl architektonische Phänomene als auch sprachliche Ordnungen durch eigenlogische und starke Strukturierungen gekennzeichnet sind. Über diese Strukturierungen ist eine überführende Beschreibung — gleichsam eine Übersetzung — möglich, der die jeweilige Ordnung, die dabei beschrieben wird als auch die Ordnung, die für die Beschreibung wenn nicht vorausgesetzt, so doch verwendet wird, nicht entgegengesetzt und äußerlich bleibt. Über den Begriff der Struktur wird nicht versucht einen leidlich hierzulande bemühten wissenschaftlichen »-ismus« wieder salonfähig zu machen, sondern die Übersetzungsprobleme zwischen Architektur und Urbanismus werden aufgedeckt.

12 Der architektonische Bezug formiert dreierlei : die Art des Beispiels als Bauvorgang, seinen Modellcharakter als übersichtliche Verkleinerung und sein Anwendungsfeld nämlich den urbanen Charakter der Sprache. Im Thema der babylonischen Sprachverwirrung, die hier nicht eingehend untersucht werden kann, wird eine wichtige lebensweltliche Voraussetzung der Architektur gezeigt: daß nur da gebaut werden kann, wo sprachliche Verständigungsmöglichkeiten bestehen; und daß eine eklatante Forderung nach Verständigung, also mithin nach Übersetzung auch nach der Sprachverwirrung bestehen bleibt, ja erst im starken Sinn zur Aufgabe wird. Wittgenstein, um zu unserem Beispiel zurückzukehren, transformiert diesen Zusammenhang auf instruktive Weise. Um das Funktionieren von Sprachspielen — in den Verwirrungen der Alltagssprache — aufzuzeigen, wählt er Beispiele, die Sprecher bei gemeinsamen Bauarbeiten zeigen (Philosophische Untersuchungen , FfM: suhrkamp, 1988,§ 2ff). Um zu zeigen wie Sprache funktioniert, werden Bauvorgänge sprachlich simuliert: gleichsam eine Art Anti-Babel wird entworfen. Der fiktionale Bauvorgang in seiner Analyse und durch seine Analyse »übersetzt« die babylonische Sprachverwirrung, die durch Hybris und metaphysische Spekulationen in die Sprache und in die Welt kam, gleichsam in die pragmatische Einsicht zurück, wie Sprache wirklich funktioniert: »denk nicht, sondern schau!«(ebd. §66) — Laß dich nicht verwirren, sondern bau! läßt sich immanent ergänzen. Wittgensteins Betrachtungsweise der Sprache als Bauvorgang, um das Funktionieren der Sprache zu untersuchen — »denk nicht, sondern schau«, dabei schaut er aber nicht, sondern denkt und konstruiert ein Beispiel —, ist nicht nur zufällig. Da sich Wittgenstein auch als Architekt betätigt hat, was hinlänglich bekannt ist.

13 Siehe den Artikel »Architektonik, architektonisch« im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Sp. 502 ff.

14 Vergleiche dagegen den Artikel »Architektur« im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, Hg. G. Ueding, Tübingen: Niemeyer 1992 ff., der nicht die Geschichte der rhetorischen Architektonik, sondern tatsächlich die Geschichte der Architektur referiert.

15 Siehe hierzu: W. Oechslin, »Architektur und Alphabet«, in: Architektur und Sprache: Gedenkschrift für Richard Zürcher, Hg. Carlpeter Braegger, München: Prestel, 1982, S. 216-254.

16 Diese Frage so zu stellen ist natürlich alles andere als unschuldig. Die westliche Kultur mit ihrer »Technik« der Schrift und der Architektur — aber auch mit ihrer Tradition der Wissenschaft — befindet sich in einer nur schwer einordenbaren (macht)politisch-ökonomischen Vorrangstellung gegenüber ›anderen‹, dadurch in die Exotik oder Marginalisierung gedrängten Kulturen. Diese Entwicklung wird heute landläufig mit »Globalisierung« bezeichnet. Hinter den Versprechungen kultureller Vielfalt und Differenzierung breitet sich eine auf Konsum gerichtete Monokultur aus, auch und gerade in Schrift und Architektur. Diese Betrachtungen sollen jedoch nicht in eine verflachende Kulturkritik konjugiert werden.

17 Diskontinuierliche Räume oder, mit Foucault zu reden, »andere Räume« lassen sich in dieser geometrischen Ordnung nur schwer darstellen. Ja sie lassen sich, Foucault macht das deutlich, in erster Linie als Kritik des homogenen Raumes auffassen. Zum Begriff der Homogenität und der Heterogenität von Räumen siehe M. Foucault, »Andere Räume«, in: Kat. Idee Prozess Ergebnis: Die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt, Berlin 1984, S. 337-340.

Bildnachweis

Bild 1, Bild 3 und Bild 4:
Aus: W. Oechslin, »Architektur und Alphabet«, in: Architektur und Sprache: Gedenkschrift für Richard Zürcher, Hg. Carlpeter Braegger, München: Prestel, 1982, S. 216- 254, S. 235, S. 231.
Bild 2 und Bild 7:
ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe, Medienmuseum.
Bild 5:
Berlin, Kupferstichkabinett, SMPK.
Bild 6 und Bild 8:
Aus: Corboz, André, Looking for a city in America: down these mean streets a man must go, Santa Monica: Getty, 1992, o. S.
Bild 9, Bild 10 und Bild 11:
Von R&R Studios, Miami Beach.
Bild 12 und Bild 13:
Aus: El Croquis, 80, 1996 , S. 182, S. 186.

 

 

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