Thema
2. Jg., Heft 1
Mai 1997

Modernität der Architektur

Eine kritische Würdigung

Gottfried
Schlüter

(Cottbus)

Pruitt- Igoe, die Dritte.

Vor 25 Jahre wurden in Saint- Louis die ersten drei Blocks des Wohnungskomplexes Pruitt- Igoe gesprengt. Der Versuch, die marode amerikanische Stadt mit einfachen Rezepten zu sanieren, endete in einem Desaster.
Daß populäre oder vielleicht „postmoderne" Gestaltung nicht geeignet war, die Stadt zu retten, zeigte sich in umittelbarer Nachbarschaft. Laclede Town, Mitte der sechziger Jahre heimelig und bunt geplant, verfügte über passable Wohnungen und eine ausgezeichnete Infrastruktur. In den 70er Jahren erfolgte der Niedergang, der 1990 mit dem Totalabriß endete.
Neben dem bis heute unbebauten Areal von Pruitt- Igoe wird mittlerweile die erste vollständig abgerissene Siedlung in den USA wiederaufgebaut.
Dabei rückt nicht die Frage nach einer „Moderne" oder „Postmoderne" in den Mittelpunkt, sondern die Suche nach einer nachhaltigen urbanistischen Strategie. Daß nach den gescheiterten Hoffnungen der Architektur eine bescheidene Rolle zugewiesen wird, darf nicht wundern.

WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE ANMERKUNGEN

Erhard John

(Leipzig)

Modern - Moderne - Architektur und Kunst.
Zu Begriffen, Beziehungen und Problemen

Jedes Nachdenken über moderne Architektur und deren Position im Spannungsfeld von Kunst und Wirklichkeit sowie über Beziehungen von Architektur und "Moderne" haben es - philosophisch gesehen - einerseits mit komplizierten Sachverhalten in der Realität, andererseits mit Differenzen in Begriffsbildungen und sprachlichen Bezeichnungen zu tun.
Als "Epochenbegriff" verwendet, gerät die "Moderne" dann, wenn ihr Beginn bereits in Renaissance oder Aufklärung angesetzt wird, angesichts der vielfältigen Stilepochen in der europäischen Baukunst seit dem 19. Jahrhundert in ernste Schwierigkeiten.
Einfacher liegen die Dinge bei der Bezeichnung "modern" für ein jeweils gegenwärtig Neuestes und Zukunftsträchtiges. Doch auch hier gibt es Probleme.
Über die Stellung von Architektur im Spannungsfeld von Kunst und Leben nachzudenken verlangt, auch im deutschsprachigen Raum die zwiefache Bedeutung der Bezeichnung "Kunst" zu berücksichtigen. Als Kunst wird einerseits jegliche meisterhaft ausgeübte Tätigkeit bezeichnet (von der Kochkunst bis zur Staatskunst), andererseits eine besondere, nämlich die ästhetische Form des gesellschaftlichen Bewußtseins. Kunst als Meisterschaft und Kunst als Ausdruck geistiger Beziehungen von Menschen zur Realität können teilweise (bei hervorragenden Künstlern) zusammenfallen, müssen es nicht.

THEORETISCHE POSITIONEN

Hans-Jürgen
Ketzer

(Loebstaedt)

Die kulturhistorische Betrachtung der modernen Architektur als Beitrag zur Selbstaufklärung der Moderne

Für den Kulturhistoriker erscheint die zunehmende Komplexität der vom Menschen hervorgebrachten Gegenstände und Sachverhalte als ein wesentliches Charakteristikum der Moderne. Die moderne Architektur hingegen ist gerade durch eine radikale Reduktion von Komplexität gekennzeichnet: Die Baukörper werden auf geometrische Grundfiguren zurückgeführt, Ornamente verbannt, gleichartige Bauelemente in Serie verwandt; die konstruktiven Elemente werden bewußt betont. Diese selbst werden durch den Übergang vom handwerklichen zum industriellen Bauen bestimmt. Die Komplexitätsreduktion betrifft auch den konstruktiven Bereich selbst, insofern die multifunktionale Verknüpfung der Baugruppen (wie z.B. beim vormodernen Fachwerkbau typisch) durch deren monofunktionalen Bezug abgelöst wurde.
Dies alles provoziert die Frage, wieso es auf diesem einen Gebiet modener Kultur zu einer derart abweichenden Tendenz kommt.

Diese Frage kommt in der herkömmlichen Perspektive kaum auf: Die Moderne wird allenthalben als kulturelle Formation betrachtet, die weithin durch die Herrschaft von Rationalität und Funktionalität gekennzeichnet sei. Dies bestimme auch die Moderne in der Architektur und drücke sich auf radikale Weise in den Bauwerken und Entwürfen der klassischen Moderne, etwa im Bauhaus, bei den Konstruktivisten etc. aus. Eine derartige Erklärungsweise bleibt freilich innerhalb der Grenzen des Selbstbildes, das die Moderne von sich besitzt.
Wer der Frage nach den Besonderheiten der Architekturmoderne folgt, leistet mithin einen Beitrag zur Selbstaufklärung der modernen Kultur.

Claus Dreyer

(Detmold)

Zur Ästhetik der architektonischen Moderne nach der Postmoderne

Lange wurde die architektonische Moderne nach dem Diktum der Funktionalismuskritik einseitig verurteilt (Adorno, Mitscherlich) oder, unter anderen Vorzeichen, als sinnliche Erscheinung sozialer Utopien oder konstruktiver Phantasien einseitig gefeiert ( Gideon, Joedicke). Erst nach dem Durchgang durch die Postmoderne kann man die "klassische" architektonische Moderne als eine umfassende ästhetische Bewegung wahrnehmen, die sich z.B. als "Internationaler Stil" in den zwanziger Jahren verbreitet.

Die Ästhetik der Moderne erscheint jetzt als eine formale Ästhetik, die geprägt wird, z.B. durch

- die demonstrative Gestik der abstrakten (kubischen) Formen;
- die ordnende Geometrie der formalen Komposition;
- die fluktuierende Anordnung der transparenten oder offenen Räume;
- die exponierte Verwendung neuer Materialien und Technologien.

Vernachlässigt wird eine inhaltliche Ästhetik, die in der Postmoderne wiederbelebt wird, z.B. durch
- die "Thematisierung" der formalen Elemente (Ungers);
- die "Fiktionalisierung" des bildhaften Arrangements (Klotz);
- die Semiotisierung und (plurale) Codierung der Formen und Elemente (Jencks);
- Kontextualisierung, Regionalisierung und Historisierung der architektonischen
Sprache (Frampton).

Die Ästhetik der klassischen Moderne wird in der Postmoderne vorausgesetzt und um die o.a. Phänomeme erweitert. Damit wird der Kunstcharakter von Architektur wiedergewonnen, gegen den die klassische Moderne sich zu wehren versucht hatte (ohne ihn allerdings ganz abstreifen zu können oder zu wollen).

Gegenwärtig droht dieser Kunstcharakter der Architektur in einen vordergründigen Ästhetizismus umzuschlagen, gegen den die zurückgenommene Ästhetik der klassischen Moderne als Korrektiv gehalten wird (z.B. als "Neue Einfachheit" bei Lampugnani). Daraus resultiert die Annahme einer unhintergehbaren "Dialektik von Moderne und Postmoderne", die eine gründliche Klärung und Weiterentwicklung der architektonischen Ästhetik bewirken kann.

Svetozar
Zavarihin

(St.- Petersburg)

Der Avantgardismus als Phänomen des 20. Jahrhunderts

"Die Revolution der Avantgarde" zu Beginn des 20. Jahrhunderts befreite das Schöpfertum von den festen Regeln und brachte eine Reihe neuer Richtungen hervor, die in der Gesamtheit das Phänomen des Avantgardismus prägen.
Die allgemeine Ideologie des technologischen Optimismus bestimmt die Spezifik der konkreten Formen und die Tendenz ihrer Entmaterialisierung. Der Avantgardismus akzentuiert die globale Tendenz des Ersetzens der Kultur durch die Zivilisation und akzentuiert den Übergang der Architektur aus der Gruppe der "schönen Künste" in die Gruppe des ästhetischen Umweltdesigns. Dabei wird die traditionelle Kategorie der Komposition ersetzt durch die Kategorie der Formenbildung.

KONKRETE KONZEPTE

Gerd Kähler

(Hamburg)

Die Massenwohnung in den zwanziger Jahren. Wohnung und Moderne.

Die Architekturgeschichtsschreibung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war lange Zeit auf die Moderne fixiert. Inzwischen hat ein Umdenken stattgefunden, das die konservativen Architekten zum Teil ungebührlich preist. Beide Betrachtungsweisen sind vor dem Hintergrund des in den zwanziger Jahren Gebauten und Veröffentlichten nicht haltbar. Tatsächlich lassen sich eindeutige Zuordnungen zwischen stilistischer Ausprägung und politischer Gesinnung nicht bestimmen; tatsächlich waren "die Modernen" nie die eindeutige Gruppe, die gemeinhin suggeriert wird; tatsächlich ging die Diskussion um bestimmte architektonische oder städtebauliche Fragestellungen quer durch alle "Fraktionen", tatsächlich spielten die großen Architekten der Moderne wie Mies van der Rohe oder Le Corbusier keineswegs eine dominierende Rolle in der Diskussion um Fragen des Wohnens und des Wohnungsbaus.

Nur etwas überpointiert, kann man sagen: Es gab in den zwanziger Jahren eine charakteristische Wohnbauarchitektur, die im stilistischen Dreieck von Traditionalismus, Einfachheit und Neuem Bauen einherkam.

Das entscheidende aber ist: Wohnung und Wohnungsbau wurde mit einer nie wieder erreichten Intensität und Brandbreite diskutiert und experimentell erprobt. Was in diesen zehn Jahren in dieser Hinsicht geleistet wurde, ist bis heute nicht aufgearbeitet.

Hans
Joachim
Harloff,
Raffaela
Blöink

(Berlin)

Die ökologische Wende in der Stadtplanung
Forderungen der Psychologie an den Wohnungs- und Siedlungsbau der Industriegesellschaft.

Ausgehend von der ökonomischen Dauerkrise unserer Wirtschaft mit

  • langfristig 10%iger und höherer Arbeitslosenquote einerseits sowie
  • dem Druck, die Leistungen sowohl an Rentner und Sozialhilfebezieher als auch an Kranke, Alte und Behinderte nicht in der bisherigen Höhe aufrechterhalten zu können

und der

  • Forderung nach Nachhaltigkeit (= sustainability) des Konsums auch von Wohnraum

kommen wir zu zwei Forderungen, deren Erfüllung nicht nur helfen würde, die oben genannten Probleme zu lösen, sondern darüberhinaus geeignet wäre, Nachhaltigkeit des Konsums generell zu fördern und somit die Ausbeutung (a) armer Länder durch die reichen und (b) künftiger Generationen durch die heute lebenden zu lindern.

Die erste Forderung betrifft das Wirschaftssystem: Die Regelarbeitszeit von jetzt ca. 40 h pro Woche müßte auf 20 h gekürzt und die vorhandene marktwirtschaftliche Ordnung um eine "quartäre Selbstversorgungsstruktur" (Einführung einer dualen Wirtschaftsordnung) ergänzt werden.

Die zweite Forderung betrifft den Wohnungs- und Siedlungsbau: Sie müssen die Bildung "Kleiner Netze" und das Entstehen von "Ökosiedlungen" begünstigen. In dieser selbstverwalteten quartären Ergänzungsstruktur wird für die Bewohner alles hergestellt und von ihnen konsumiert, wofür (1) Eignung und Bedarf vorhanden ist und wofür (2) die Vertrautheit, das Sichmögen und das Verantwortungsgefühl in der funktionierenden Nachbarschaft eine gute Grundlage bilden.

Es werden erste Anregungen entwickelt, wie die vorhandenen baulichen und sozialen Strukturen nach und nach in nachhaltige, ökologische umgewandelt werden können.

KRITIK DER KRITIK DER MODERNE

Olaf Weber

(Weimar)

Die 815. Moderne.
Nieder mit dem Beschleunigungsgesetz!

Die These von der zweiten Moderne (Heinrich Klotz) widerlegt den Epochenanspruch der Postmoderne und zugleich den phänomenologischen Ansatz der zeitgenössischen Architekturtheorie. Jencks hatte den Termin für den "endgültigen und vollständigen" Tod der modernen Architektur schon auf das Jahr 1972 festgelegt. Nun erleben wir ihre Auferstehung als "Zweite Moderne". Wie das Sterbedatum scheint auch der Geburtstermin nicht zu stimmen, denn der Eklektizismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte bereits viele Elemente der industriellen Ästhetik, deren Grundmuster bis heute gelten, also Postmoderne, Dekonstruktivismus und 815. Moderne einschliessen.

Die Beschleunigung und Amplitudisierung der ästhetischen Prozesse vermodet immer mehr die Architektur. Die Moderne ist die Epoche der Moden: Alles ist entweder altmodisch oder neumodisch. Die aktuellen Beschleunigungsgesetze des Staates verflachen in einem unbekannten Maße die Anforderungsstruktur des Entwurfes. Bauen wird immer mehr ein anonymes Ereignis, wobei die Abstraktheit der Beziehung aller am Bau Beteiligten der abstrakten Formensprache der "Zweiten Moderne" entspricht, in der sich die Gestaltungsprinzipien des Industriezeitalters noch einmal exzessiv entfalten. Konkrete Architektur wäre eine Architektur der Nähe, eine Utopie.

Ulrich
Hartung

(Cottbus)

Feindbild Moderne

Im aktuellen Diskurs zur Architektur- und Planungsgeschichte in Deutschland verstärkt sich die Tendenz, Konzepte und Realisationen des Neuen Bauens nach den Maßstäben postmoderner Geschichtsrevision zu be- und entsprechend abzuwerten.Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob sich die Autoren selbst diesem Argumentationszusammenhang zurechnen oder nicht; auch die Grenzen zwischen feuilletonistischer Saloppheit und wissenschaftlicher Seriosität verschieben sich. Folge ist u. a., daß die Aussagen in bezug auf die Intentionen der Verfasser (Stadtvorstellungen, Menschenbilder)um so viel aussagekräftiger werden, wie sie in bezug auf die Moderne an erklärerischem Wert verlieren. An drei Themenbereichen der Beziehung von Walter Gropius zum frühen "Werkbund", zum Begriff des "Modernen" im Nationalsozialismus und zum Städtebau der "klassischen"- und Nachkriegsmoderne in Berlin wird diese Verschiebung von Sachaussagen zu moralisch-axiomatischen "Beurteilungen" dargestellt.

KRITIK DER MODERNE

Alberto
Pérez-Gómez

(Montréal)

Moderne Architektur, Abstraktion und das poetische Vorstellungsvermögen

Das Erzeugen einer architektonischen Ordnung kann nicht mehr einfach Mimesis eines Kosmos sein. Der Kosmos als die „große Kette des Seins" ist für immer dahin; wir sind dazu verdammt, in der Abwesenheit von Göttern zu leben. Die „Komposition" architektonischer Elemente oder Fragmente mit den damit vermuteten absoluten semantischen Inhalten ist somit eine trügerische Darstellungsform geworden. Eine Architekur, die den Anspruch hat, unsere kulturelle Krise zu überwinden, muß nach wie vor in erster Linie zu Projekten führen, die implizit in Frage stellen, daß aus wirklichen Konstruktionen „wirkliche Gebäude" werden. Um dem unausrottbaren symbolischen Status von Architektur zu genügen, müssen sich diese Projekte zudem als Mimesis von Geschichte darstellen, einer Geschichte, deren Funktion genau darin besteht, Möglichkeiten für die Zukunft zu eröffnen. Bedeutungsvolle zeitgenössische Architektur darf sich nicht auf die Ordnung der „Natur" beziehen, die letztlich dem Menschen fremd bleiben wird, sondern auf die Ordnung in der Geschichte, einer Ordnung, die ungefragt in dem evident wird, was die Menschheit schon vollbracht hat, was man wirklich wissen kann.

Die abgedruckten Texte sind für die nächsten 6 Monate Diskursangebote. Anmerkungen, Anregungen und Kritiken durch Leser können zu den jeweiligen Texten geäußert werden. Die Texte werden dann gegebenenfalls in den 6 Monaten von den Autoren überarbeitet. Am Ende des Diskurszeitraums wird der Artikel dann eingefroren, ist aber weiter zugänglich.

Die Redaktion behält sich alle Rechte, einschließlich der Übersetzung und der fotomechanischen Wiedergabe vor. Auszugsweiser Nachdruck mit Quellenangabe: (Wolkenkuckucksheim, vozdushnyj zamok, Cloud-Cuckoo-Land >/theoriederarchitektur/Wolke/<) ist gestattet, sofern die Redaktion davon informiert wird.


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