Zum Interpretieren von Architektur



Die beiden nächsten Hefte von WOLKENKUCKUCKSHEIM – CLOUD-CUCKOO-LAND – VOZDUSHNYI ZAMOK haben das Interpretieren von Architektur zum Gegenstand.

Das erste Heft wird Aufsätze zur Theorie des Interpretierens, das zweite konkrete Interpretationen versammeln. Zudem soll es ein Supplement* geben, in dem wir auf Vorschlag der Autoren dieser beiden Hefte klassische Ansätze des Interpretierens von Architektur bereitstellen, mit denen in Studium und Lehre gearbeitet werden kann.

Im Grunde kann sich das Interpretieren

- in aristotelischer Manier auf die Architekten eines Gebäudes richten, in der vermeintlich nur der Urheber, als Grund eines Werkes, dessen Identität und Sinn voll erfasst haben kann („Ich muss es wissen, schließlich habe ich es gemacht.“)
Dabei ist jedoch zu fragen, inwieweit der Plan einreichende Architekt eines Werkes tatsächlich Urheber allein ist? Hat nicht das gesamte Büro daran mitgearbeitet, zudem Statiker und Grünplaner (um nur einige zu nennen)? Entwirft ein Architekt nicht auch stets in vorgegebenen typologischen, funktionalen, bauindustriellen, juristischen, stilistisch-ästhetischen und gesellschaftlich-sozialen Zusammenhängen und übernimmt damit „fremde Muster“?

- auf die Rezipienten und Nutzer eines Werkes im Rahmen einer Rezeptionsanalyse oder einer Gebrauchsanalyse als Instanz der Generierung der Identität und der Bedeutung von Architektur richten. („Ich muss es schließlich wissen, ich lebe dort seit 30 Jahren.“) Denn sie sind es, für die Architektur intendiert ist.
Inwieweit aber führt das zu einer Willkür? Kann man jede irgendwie gefasste Meinung über ein Gebäude wirklich aufnehmen? Weiß ein Laie wirklich, wenn er ein Gebäude nutzt – als kurzfristiger Passant, als Bewohner oder Geschäftsmann, als Arbeiter in einer Fabrik – von den spezifischen fachlichen architektonischen Lösungen und bauingenieurlichen Anforderungen? Was weiß er von kunsttheoretischen, ästhetischen und philosophischen Positionen im Gebäude?

- direkt auf das Werk richten. Denn Architektur ist das Werk; im Entwerfen von Architektur sowie im Rezipieren von Architektur steht das architektonische Werk als Grund und Ziel der Interpretation.
Inwieweit ist aber das Werk als objektive Sache durch Interpretation erreichbar? Ist nicht jeder Interpretant eines Werkes – wenn er nicht der Entwerfer ist – notwendig wiederum ein Rezipient? Kann ein Werk ohne den Zugang des Interpretierens überhaupt präsent sein? Ist eine Interpretation eine Addition zum Werk oder die Bedingung der lebensweltlichen Existenz, des phänomenologischen Seins und der  Präsenz eines Werkes? Ist ein Werk vollendet ohne Interpretation? Ist es nicht stets „offen“, ist es nicht in seinem letzten Gehalt für jeden hermetisch verschlossen?

- auf die Architekturkritik als höhere Instanz und Richter zur Einschätzung der Identität eines Gebäudes bzw. zur Offenlegung von dessen Wahrheit hinter dem Schein der Abbildung und der verbalen Promotion der Architekten richten.
Inwieweit ist es eine Überheblichkeit der Architekturkritiker, die – seien es Architekten oder Kunsthistoriker – zumeist selten selbst gebaut haben, oder es gar nicht könnten, und aufgrund einiger Pläne oder eines kurzen Besuches vor Ort ihr Urteil fällen? Objektiver noch wäre es, wenn eine Interpretation von in gehöriger zeitlicher Distanz befindlichen Architektur- oder Kunsthistorikern vollzogen wird, da nur im Überblick aus der Distanz das Gesamtwerk und die Biographie des Architekten sowie der kulturelle und gesellschaftliche Kontext einbezogen werden können.

- auf den Prozess richten, zu dem die Materialität des Werkes nur eine verhältnismäßig unwichtige Basis bildet („Es kommt darauf an, was in und mit dem Gebäude geschieht.“) Bei diesem Ansatz ist die Materialität des Werkes nur sekundär. Architektur ist eigentlich Prozess, Aktion, Stimmung, Kontext und objektive Wahrnehmung. Für eine Interpretation bedeutet dies dann, dass alle diese Prozesse zu analysieren sind.
Aber bedeutet dies nicht, dass einerseits alle materiale Kultur und andererseits jede subjektive Bedeutung und jeder metaphysische Sinn verloren gehen? Wo ist die materiale Basis, wenn denn die Identität von Architektur das menschliche Handeln und Verhalten ist, für eine zuverlässige Interpretation?

- auf die Weise des Zusammenwirkens von Urhebern, Werk und Rezipienten richten. Architektur wird damit in gewisser Weise als Kommunikationsvorgang verstanden.
Wie aber vollzieht sich der Vorgang der Kommunikation zwischen Autoren, Werk und „Lesern“? Wie ist die Struktur der Kommunikation? Wer hat dabei welchen Anteil? Läuft das nicht doch wieder darauf hinaus, Architekten oder Rezipienten oder Werk als Basis zu nehmen? Wie verhält sich die Kommunikationsanalyse in historischem Kontext, wo die Autoren nicht mehr erreicht werden können, wo uns jede Äußerung fehlt? Ist der Interpret in die Kommunikationsstruktur integriert oder steht er ihr gegenüber?


Zusammenfassend lässt sich fragen: Was ist der Vorgang des Interpretierens? Meint Interpretieren, ein gebautes Werk in Sprache zu transsubstantiieren oder zu übersetzen? Ist der Vorgang des Interpretierens visuell, intellektuell, körperlich oder leiblich? Ist das methodische Ziel einer Interpretation Erklärung, Nachempfindung, „Lesen“, Rekonstruktion, Dekonstruktion oder Verstehen? Ist es Erfahrung, Aneignung, Gebrauch oder Wohnen?
Ist die subjektive Identität des Interpreten, dessen gesellschaftliche Verortung und die historische Perspektivität für eine Interpretation schädlich, oder ist sie die Bedingung der Möglichkeit der Interpretation?


Muss Interpretation in der Architektur sich nicht von den Analogien mit und von den Anleihen aus anderen Interpretationsdisziplinen befreien, da es sich bei Architektur um eine eigene Disziplin, um ein eigenes Medium und um ein spezifisches Praxisfeld handelt? Darf man Architektur auf ihre visuelle Erscheinung reduzieren, oder wäre hier nicht eher auf der Basis des Gebrauchs zu interpretieren? Lässt sich eine Interpretation methodisch verifizieren?

Muss man überhaupt interpretieren? Oder ist jede Interpretation eine willkürliche Zurichtung des Werkes bzw. subjektive Übersteigerung oder Sublimierung des faktisch Vorhandenen? Eine Art Immaterialisierung von Architektur?


Die Redaktion von WOLKENKUCKUCKSHEIM geht davon aus, dass in den einzelnen Beiträgen nur einzelne dieser Fragenkomplexe behandelt werden können.


Kuratoren:
Eduard Führ, BTU Cottbus
Robert J. Miller, CAC.C Clemson University


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* Supplement:

Wir hatten bereits erwähnt, dass wir zu den beiden Heften ein Supplement bereitstellen wollen, in dem wir in Auszügen klassische Interpretationsansätze zusammenfassen wollen. Dazu bitten wir die Autoren oder Interessierte, uns durch Vorarbeit zu unterstützen.

Wir bitten natürlich um den Titel und die bibliographischen Angaben des in Frage kommenden Werkes, um ein zusammenfassendes Abstract des theoretischen Ansatzes, um eine Kurzbiographie des Autors und entweder um einen Scan oder OCR-Recognition der zentralen Textstellen. Wir sind uns bewusst, dass damit auch für uns ein beträchtlicher Arbeitsaufwand verbunden ist, der sich aber lohnt, weil im Ergebnis ein Reader zu Interpretationstheorien in der Architektur entstehen wird.

Wie bei einer Anthologie üblich, werden die jeweiligen Bearbeiter natürlich aufgeführt.


PS: Die Vereinigung Wort akzeptiert seit Neuestem bei der Abrechnung auch Online-Artikel; dazu muss allerdings ein Zähl-Button installiert werden. Wir werden das dann für die kommenden Hefte so einrichten.



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Die neuen Hefte sollen im Sommer 2008 erscheinen. Als Deadline für die Abgabe von Beiträgen haben wir den 27. April 2008 (Heft 1) bzw. den 25. Mai 2008 (Heft 2) vorgesehen.

Wenn Sie sich beteiligen möchten, bitten wir um Rückmeldung bis zum 03. März 2008.
Reichen Sie dazu bitte ein Abstract (ca. 150 Wörter) und Ihre Kurzbiografie ein,
per E-Mail an wolke1@cloud-cuckoo.net

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Weiter führende Informationen zu unserer Internetzeitschrift, zum Lehrstuhl Theorie der Architektur der BTU Cottbus und zu unserem Digitalen Archiv von Texten und Schriften zur Theorie und Geschichte der Architektur (D.A.T.A.) entnehmen Sie bitte folgenden Links:
www.cloud-cuckoo.net
www.tu-cottbus.de/theo
www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/D_A_T_A/Startseite.htm

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Empfehlung eines wichtigen Grundlagentextes
 


 

letzte Aktualisierung:
11. Februar 2008 10:05
 

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