Zum
Interpretieren von Architektur Konkrete Interpretationen 13. Jg., Heft 1, Mai 2009 |
___Jörn
Köppler Berlin |
Interpretation und
ästhetische Erfahrung, diskutiert am Beispiel der Niederländischen Botschaft in Berlin von OMA / Rem Koolhaas |
Einleitung
Versucht man zu definieren,
was eine betrachtende Interpretation von Architektur sein kann bzw. sein
soll, so ist es interessant zu beobachten, was diese, zumindest in der
professionellen Welt des gegenwärtigen Architekturdiskurses, in kaum einem
Fall ist. Weniges scheint heute abwegiger, als im Rahmen einer Gebäudeinterpretation
nach dem Sinngehalt des Betrachteten zu fragen. Nach dem also, was jene
existenzielle geistige Dimension des Menschen betrifft, welche Kant als
menschliches Fragen nach Zusammenhang („Was kann ich wissen?“), Moralität
(„Was soll ich tun?“) und Glauben („Was darf ich hoffen?“) beschrieb,[2]
was zusammengenommen nichts weniger als die Frage nach dem Menschen selbst
bezeichnet. Studiert man zeitgenössische Architekturinterpretationen beispielsweise
in Fachmagazinen oder auch Tages- und Wochenzeitungen, so wird man allerhand
zum technischen Gehalt des diskutierten Objektes, zu dessen Funktionalität
und entwurfshandwerklichen Qualität finden, aber wenig eben zu der Frage,
inwiefern ein Mensch sich in seinem Sinnfragen durch den Sinngehalt des
Gebauten reflektiert, d.h. aufgehoben und damit beheimatet fühlt. Dieses
allerdings verwundert kaum, da Sinn selbst in der Moderne unter den Generalverdacht
der Unmöglichkeit geraten ist. Was nicht nur heißt, dass Kants zitierte,
so bezeichnete „kanonische Fragen der Vernunft“ als nicht mehr beantwortbar
betrachtet werden, sondern dass zudem eine Beantwortung in der rationalitätsgläubigen
Fassung der Moderne auch als nicht mehr notwendig angenommen wird. Dass
allerdings auch die Fragen der Vernunft nach Sinn allein aus dem angenommenen
Grunde der Unmöglichkeit der Beantwortung mitverschwinden aus dem Selbstbild
des Menschen, blieb immer nur eine etwas pausbäckig vorgetragene Behauptung,
die durch die Erfahrung nicht gedeckt wird. Die Fragen vor allem nach
der Moralität und dem Glauben sind unausweichliche für unser Leben, wollen
wir dieses nicht als amoralischen und vollends enttranszendentalisierten
Funktionsablauf verstehen. Woher aber Moralität und Glauben nehmen, wenn
nicht stehlen, wie beispielsweise aus der christlichen Religion? Denn
deren moralische Grundlage der Nächstenliebe bildet unausgesprochen natürlich
das Fundament einer jeden intakten gegenwärtigen europäischen Gesellschaft.
Eine Grundlage, die man jedoch konsequenterweise nach rein rationaler
Lesart der Aufklärung zusammen mit dem Glauben als unbegründbare abschaffen
müsste. Und dass diese Unbegründbarkeit im Bereich des begrifflich Fassbaren
tatsächlich besteht, das zeigte bereits Nietzsche in seiner Philosophie.
Ebenso bei Nietzsche lässt sich jedoch auch der folgerichtig-rationale
Gedanke einer amoralisch vorgestellten Welt studieren, dessen Verwirklichung
im blutgetränkten 20. Jahrhundert gar nicht lange auf sich warten ließ.
Womit sich schlussendlich die von Adorno kritisierte Irrationalität einer
total verstandenen Rationalität zeigt, einer solchen also, die sich über
ihre Grenzlinien zum Transzendentalen nicht mehr bewusst ist und diese
zu überschreiten versucht. „In den (ach) so seltenen Momenten, da ich von der Innenwelt der Außenwelt denke: ‚Das muß ein Gesetz sein!’ (‚innen ist außen, und außen ist innen’), da schaut mich aus der Landschaft, den Häusern wie den Feldern, ein Gott an, im Sinn des: ‚Siehst du?’ – und einen Moment später ist er schon wieder ‚un-da’ (Blick von Muggia Vecchia hinüber zum Val Rosandra)“[3] Das Paradoxe an der
scheinbaren Schwierigkeit, einen Sinngehalt von Architektur diskutieren
zu können, ja den Sinngehalt eines ästhetischen Gegenstandes überhaupt
reflektieren zu können, liegt darin, dass wir wiederum nach Kant gar nicht
anders können, als in der ästhetischen Betrachtung von Gegenständen genau
dieses zu tun. In der „Kritik der Urteilskraft“ deduziert Kant die ästhetische
Urteilskraft des Subjektes als Vermögen, von einem einzelnen Gegenstand
der ästhetischen Erfahrung ohne Begriff auf ein sinnhaft, d. h. ideenhaft
gefügtes Ganzes schließen zu können.[4]
„Ohne Begriff“ meint dabei, dass die ästhetische Urteilskraft weder wie
die reine Verstandeserkenntnis auf Begriffe gegründet ist, noch dass sie
wie die Vernunftreflexion auf Begriffe, in diesem Falle Ideen, abzielt.
Beispielhaft formuliert könnte man sagen, dass die ästhetische Urteilskraft
rein betrachtend auf ein Verhältnis der Dinge zueinander sieht und nicht
auf deren physisch-gesetzmäßige Beschaffenheit, noch auf das Vorhandensein
einer erfahrbaren Idee in den Dingen. Eine singende Feldlerche als Einzelnes
in einer im späten Sonnenlicht stehenden Weide wird also weder im biologisch-naturwissenschaftlichen
Sinne der Funktion ihres Gesanges angesehen, noch im transzendental-religiösen
Sinne, dass ihr Gesang die verschlüsselte Botschaft eines oder mehrerer
Götter enthielte. Bezogen auf dieses Beispiel ist es vielmehr der Moment
des wahrnehmbaren harmonisch gefügten Zusammenhanges zwischen dem Einzelnen
der Feldlerche und der Weide, in der sie sitzt, in welchem sie das Nest
baute für ihre Jungen, – zwischen ihr und der Landschaft, in die Lerche
und Weide gleichermaßen eingelassen sind, eine Landschaft mit Flusslauf,
anderem Leben von Pflanzen und Tieren, der milden Luft, dem Sonnenlicht,
den am Himmel langsam ziehenden Wolken unter einem durchsichtig blauen
Firmament. Den Zusammenhang eines sinn- bzw. ideenhaft gefügten Ganzen,
den die ästhetische Urteilskraft hierin erkennen mag, bezeichnet Kant
nun als Wahrnehmung jener für die ästhetische Theorie so wichtigen „Zweckmäßigkeit
ohne Zweck“,[5]
womit in etwa die Wahrnehmung einer gleichsamen „Schöpfungsidee ohne Grund“
gemeint ist. Was aber ist diese „Schöpfungsidee ohne Grund“? Wiederum
in Bezug auf das genannte Beispiel wäre diese erfahrbar in der Präsenz
des Lebens selbst, auf dessen Entfaltung im Gesehenen alle physische Wirklichkeit
hin abgestimmt erscheint und welches das Physische in einem ewig scheinenden
Kreislauf ideenhaft zu durchringen scheint, was Adorno auch als „Urgeschichte
der Subjektivität“ bezeichnete, welche sich in der „Beseelung“ verwirkliche.[6]
Ideenhaft und damit als angenommene Schöpfungsidee (und nicht als naturwissenschaftliches
Gesetz[7])
wäre dieses Leben insofern zu bezeichnen, da es selbst-seiend die reine
physisch-naturgesetzliche Wirklichkeit zu überschreiten, d. h. zu transzendieren
vermag. Was anschaulich daran werden mag, dass jedes Lebende unter anderem
das Vermögen in sich trägt, das Kausalgesetz als eines der zentralen Gesetze
dieser physisch-naturgesetzlichen Wirklichkeit zugunsten einer Idee zu
durchbrechen: Von der Pflanze, welche die Idee zur Selbstbewegung in ihrem
Wachstum in sich trägt, diese Wirkung also in ihrem Grund nicht von einer
äußeren Ursache ausgelöst wird, wie das bei Wolken der Fall wäre,[8]
bis zum Tier, welches aus reiner Freude über seine eigenen Bewegungen
frei zu entscheiden mag, so beispielsweise die miteinander im Flug spielenden
und durch die Luft sich drehenden Krähen. Und schließlich bis zum Menschen,
der sich in der moralischen Handlung ganz frei von äußeren Ursachen zu
machen vermag und die Gefahren der Rettung beispielsweise eines Menschen
durch einen anderen zugunsten der moralischen Idee ignoriert und überschritten
werden können.[9]
Die Wahrnehmung einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ als Moment des möglichen
Schlusses von einem einzelnen ästhetischen Gegenstand auf ein sinnhaft
gefügtes Ganzes wird in Kants Gedankengang dabei als Erfahrung der Schönheit
bezeichnet, was zugleich das Ephemere dieser Erfahrung bezeichnet. Denn
die naturhafte Wirklichkeit zeigt sich natürlich nicht immer so, dass
dieser gesuchte Schluss auf ein nach einer Idee gefügtes Ganzes der ästhetischen
Urteilskraft möglich ist. Dem ephemeren Aufscheinen solcher Momente der
Schönheit stellt Kant in diesem Sinne die ästhetische Erfahrung des Erhabenen
entgegen, in welcher eben der Schluss auf jenes ideenhaft gefügte Ganze
dadurch nicht möglich ist, indem in den im Moment des Erhabenen sichtbaren
Beziehungen der Dinge und Lebewesen untereinander keine Ordnung, d.h.
keine Idee und kein Ziel feststellbar ist. So ist im Moment beispielsweise
einer Naturkatastrophe jener Schluss auf das Leben selbst als Sinnidee
der naturhaften Wirklichkeit dadurch ad absurdum geführt, dass das eben
noch von der Natur geschöpfte Leben im nächsten Moment ohne einen erkennbaren
Grund, ohne eine Idee also, gleich von dieser wieder genommen wird. Allein
eine ideenlose, rein naturgesetzliche Welt ohne jede Idee, allein eine
mechanistische Natur wird für die ästhetische Urteilskraft im Erhabenen
erfahrbar. Zurückgehend auf den Moment der Schönheit jedoch wird durch
diese Sinnerfahrung der ästhetischen Urteilskraft für Kant nun die zentrale
Fragestellung des Subjektes nach der Vereinbarkeit des „Freiheitsbegriffes“
des Menschen mit dem „Naturbegriff“ erst beurteilbar.[10]
Dabei umfasst der „Freiheitsbegriff“ des Menschen das Feld der bereits
zitierten kanonischen Fragen der Vernunft nach Zusammenhang, Moralität
und Glauben. Zu diesen Fragen mag nun das Subjekt zwar Ideen haben, dass
also ein mit einer Idee und Absicht geschöpfter Gesamtzusammenhang sei,
dass Moralität sei und dass Hoffnung für das Glück bestehe, wenn ich das
Gute verfolge. Das moderne Problem besteht nach Kant jedoch darin, dass
diesen Ideen aufgrund der Konstitution unserer Wahrnehmungsweise der Wirklichkeit
nie Erfahrungen in der Wirklichkeit entsprechen können,[11]
was plastisch darin werden mag, dass man weder eine Schöpfungsidee, noch
die Moralität und auch nicht einen Gott als physische Tatsachen im nächsten
Moment um die Ecke wird biegen sehen können. Womit diese Vernunftideen
als empirisch nicht beweisbare zu reinen Annahmen werden, die genauso
gut auch negativ formuliert wahr sein könnten: Das also keine Schöpfungsidee
sei, keine Moralität und kein Gott. Wie jedoch auch bereits dargestellt,
kann der Mensch auf die normativ belastbare Beantwortung dieser Fragen
gar nicht verzichten, was am deutlichsten eben in der Frage nach der Moralität
wird. Und aus diesem Dilemma heraus entwächst schließlich die Frage nach
der Vereinbarkeit des „Freiheitsbegriffes“ mit dem „Naturbegriff“, mit
der naturhaften Wirklichkeit selbst also, wie sie ist, da der Mensch nach
der Objektivation der nur subjektiven Sinnideen der Vernunft sucht. Diese
möchte der Mensch zwar gerne als positive für wahr halten können, er kann
sich jedoch in der reinen, also unobjektivierten Vernunftreflexion darüber
nicht sicher sein. Die Frage also der Vereinbarkeit nach Freiheits- und
Naturbegriff eine solche nach Sinnwahrheit ist. Hier nun schließt sich
der Kreis zu der ästhetischen Urteilskraft und der Erfahrung der Schönheit,
da eben in dieser sich eine solche gesuchte Sinnwahrheit zeigt. Und zwar
als eine nicht-subjektive der objektiv-naturhaften Wirklichkeit, die eben
nicht direkt als Idee selbst wahrnehmbar wird (was nicht möglich ist),
sondern nur als ästhetisch-begriffslose Wirkung und als Zusammenhang eines
über das physisch-naturgesetzliche Transzendierenden, welches sich im
Bild des Lebens selbst vermittelte. Zwar ist diese Wahrnehmung wie gesagt
nur eine ephemere, sie aber reicht aus, um das Vorhandensein einer Sinnidee
überhaupt zu zeigen. Warum auch das Gegenbild einer nicht-sinnhaft gefügten
Natur besteht, darüber kann der Mensch gar keine weiteren Aussagen machen,
was der Begriff der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ ebenso aussagt, es also
grundlos und ohne Möglichkeit der Erkenntnis bleibt, warum diese Zweckmäßigkeit
der Sinnidee des Lebens so und nicht anders sich in der naturhaften Wirklichkeit
zeigt. Die gesuchte Objektivation der Ideen zu Sinn des Subjektes anhand
der ästhetischen Erfahrung der Sinnidee der naturhaften Wirklichkeit im
Leben selbst wird durch Kants Argumentation in der Folge nun indirekt,
über eine Kongruenz-Erfahrung denkbar. Der Mensch hält gewissermaßen seine
subjektiven Ideen zu Sinn an die Sinnidee der naturhaften Wirklichkeit
und mag so entweder eine Kongruenz zwischen beiden feststellen oder auch
nicht. Sich als wahr also erweisen mag, welches sich als Sinnidee des
Subjektes zusammendenken lässt mit dem naturhaft-objektiven Telos
des Lebens in seiner individuellen, freien und harmonisch aufeinander
bezogenen Entfaltung. Die Kongruenz also, die sich beispielsweise zwischen
der inneren Sinnidee der Moralität und der äußeren des Lebens feststellen
lässt aufgrund jenes der Moralität innewohnenden Prinzips der Achtung
des Anderen um seiner Selbst willen, löst sich in der subjektiven Vorstellung
einer Sinnidee von Amoralität sofort auf. Wäre dieser Amoralität doch
eine Verletzung und nicht Beförderung und Schonung des Lebens immanent.
So zeigt sich schließlich die klassische Verknüpfung der Erfahrung der
Schönheit mit dem Guten bei Kant auf moderne Prämissen gegründet, d. h.
auf Prämissen der – wohlgemerkt: ästhetischen – Erfahrung. Wodurch die
ästhetische Erfahrung für den modernen Menschen zu einem Existenzial insofern
wird, als dass im Moment der Schönheit der Mensch eine indirekt-erfahrbare
Wahrheit der naturhaften Wirklichkeit und damit seiner Selbst erfahren
kann, seinem unausweichlichen Bedürfnis nach Sinnwahrheit also entsprochen
wird. Dass dabei jeder Einzelne ohne die „Leitung eines anderen“[12]
und allein aus seinem gegebenen Vermögen eben der ästhetischen Urteilskraft
heraus diese Sinn objektivierende Wahrheitserfahrung machen kann, kennzeichnet
einen weiteren spezifisch modernen Zug an jener, war und ist doch eine
solche Wahrheitserfahrung in religiös begründeten Weltbildern nur im theologisch,
also begrifflich vermittelten Bild Gottes aufgehoben. |
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Abbildung 1: Haus des Octavius Quartio in Pompeji, Peristylgarten mit Pergola Abbildung 2: Karl Friedrich Schinkel: Schloss Orianda, 1838, Blick in den Gartenhof Abbildung 3: Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff; Friedrich II: Schloss Sanssouci Potsdam, 1747 Abbildung 4: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Ansicht Süd Abbildung 5: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Lageplan Abbildung 6: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Grundriss Regelgeschoss Abbildung 7: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Süd-Ost-Ecke des Gebäudes Abbildung 8: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Eingangshof mit dem aus der Westfassade herausgeschobenen, schwarzen Besprechungsraum Abbildung 9: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Auffahrt zum Eingangshof von der Klosterstraße Abbildung 10: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Ostfassade mit herausgeschobenem „Trajekt“ Abbildung 11: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Innenansicht des „Trajekts“ Abbildung 12: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Veranstaltungssaal im Süden Abbildung 13: Karl Friedrich Schinkel: Kasino in Klein-Glienicke, 1824, Blick zur Havel aus der südlichen Kolonnade Abbildung 14: Mies van der Rohe: Farnsworth House, Plano, Illinois, 1945-1950, Treppen zum Terrassen-plateau und zur Eingangsloggia Abbildung 15: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Innenansicht des aus der Westfassade herausgeschobenen Besprechungsraumes Abbildung 16: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Innenansicht des „Trajekts“, Blick auf den Berliner Fernsehturm Abbildung 17: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Innenansicht des „Trajekts“ Abbildung 18: OMA / Rem Koolhaas: Niederländische Botschaft in Berlin, 2004, Ostfassade an der Klosterstraße Abbildung 19: Peter Cook, Colin Fournier: Kunsthaus Graz, 2003 |
Erklären
aber mag sich nun, warum überhaupt so zielsicher Bauwerke sowohl Laien als
auch Experten berühren, welche entweder symbolisch oder durch die architektonische
In-Werksetzung von Natur ihren Sinngehalt nicht allein subjektiv, aus sich
heraus konstruierten, sondern diesen erinnernd und von sich wegweisend aus
einer sich sinnhaft zeigenden naturhaften Wirklichkeit empfingen. Kann in
solchen Bauwerken doch überhaupt nur das Geistige des Menschen selbst reflektierend
und objektivierend aufgehoben sein. Was heißt, dass ein Moment von Sinnwahrheit
sich in den geglückten Fällen in deren Räumen ästhetisch dauerhaft zeigt,
welcher der existenziellen Frage des Menschen nach dem richtigen Leben und
seiner Selbst eine Dimension der Beantwortung zeigen mag. Was die Schönheit
bzw. den Schein von Schönheit beispielsweise eines Schlosses Sanssouci mit
seinen Gartenterrassen in Potsdam jenseits von stil- und machtgeschichtlichen
Fragen erklären mag: Ist dieses doch als ein ganz auf die Schönheit der
naturhaften Wirklichkeit gerichtetes Werk wahrnehmbar, welche sich in den
die Architektur bestimmenden Gärten dauerhaft in-Werk-gesetzt zeigt. (Abbildung
3) Womit ebenjene naturhafte Schönheit als Sinnmoment zum Sinngehalt auch
des architektonischen Werkes werden kann, deren Einsicht und Erkenntnis
wie gesehen gar nicht eine Frage der richtigen Interpretation ist, sondern
nur einer der möglichst freien Anwendung des Vermögens zum ästhetischen
Urteil durch den Betrachter. Zugleich zeichnet sich damit auch bereits ab,
wo die Probleme eines möglichen Sinngehaltes zeitgenössischer Architektur
zu vermuten wären, fragte man nach diesem in einer interpretierenden Betrachtung.
Hat doch jenes auch als „Zweite Moderne“ bezeichnete Bauen in seinem nach
der Postmoderne vollzogenen Rekurs auf das abstrakte Bauen der Klassischen
Moderne nicht nur alle sinngeleitete Reflexion der symbolisch-ornamentalen
Form beiseite gewischt,[15]
sondern haben die Mainstream-Architekten dieser Moderne in ihrer selbst
auferlegten, scheinbar weisen Enthaltung von allem Nachdenken über die Dimension
des Geistigen des Menschen die Angleichung an das sinnfreie, nur Physisch-Materielle
der vorherrschenden gesellschaftlichen Maxime betrieben, welche die Ökonomie
ist. Die Niederländische Botschaft Berlin
„SPIEGEL: Manche
Leute behaupten, wenn Architekten in ihren eigenen Gebäuden leben müßten,
sähen die Städte heute besser aus. Beginnt man mit der Betrachtung der Kategorie der Konstruktion der Niederländischen Botschaft, so ist bezogen auf deren möglichen Bezug auf eine objektiv-naturhafte Sinnordnung zu sagen, dass die avancierte statische Konstruktionsform im Zusammenspiel mit dem Material Stahl bzw. Aluminium nicht nur diesen Bezug, sondern einen jeden auf die naturhafte Wirklichkeit ausschließt. Ist doch der Gegenstand der statischen Konstruktion im Fall der Niederländischen Botschaft, die naturhafte Schwerkraft so erfolgreich überwunden, dass die Formen der Konstruktion von dieser Schwerkraft ästhetisch gar nichts mehr wahrnehmen lassen. Vom Veranstaltungssaal im Süden, der sich als scheinbar von aller Schwerkraft enthobener, schwebender Kasten präsentiert, über den herausgeschobenen Glasbodengang auf der Ostseite, der bei der Begehung sich als architektonische Jahrmarktsattraktion offenbart („Ich stehe in der Luft!“), bis zum schwarzen Besprechungsraum im Hof der Anlage, der ohne Stützkonstruktion einige Meter aus der Fassade herausgeschoben ist, – all dieses ist nur als Gegenbild zum ästhetischen Bild eines Bogens beispielsweise zu verstehen, in dem die naturhafte Schwerkraft als Negativabdruck in der Form des Bogens präsent bleibt. (Abbildungen 7 und 8) Was aber heißt das nun bezogen auf das ästhetische Urteil? Nichts weniger, als dass allein schon der Ansatz des Versuches, die Konstruktion des Gebäudes in einen objektiv-naturhaften Sinnzusammenhang zu stellen, scheitert, da alles die Konstruktion betreffende Naturhafte bereits ästhetisch getilgt ist aus der Erscheinung der Konstruktion. Da nun natürlicherweise auch keine symbolischen Formen die Konstruktion aus dem Kreis des verbliebenen nur Subjektiven heben, ist das, was als ästhetische Summe von dieser Konstruktion bleibt, die nur subjektiv-technische Erscheinung derselben. Diese Erscheinungsform der Konstruktion könnte man auch als abstrakte bezeichnen, da sie auf den allein noch zur Her- und Aufstellung des Gebäudes notwendigen Kern reduziert, d.h. abstrahiert ist. Eine solche Erscheinung abstrakten Bauens, die man in der Begrifflichkeit Böttichers eben auch als die reine Kernform des Gebauten bezeichnen könnte, kann nun zum einen, durch ihre sich nur zeigende Gemachtheit, durch ihre Subjektivität also sowieso keinen objektiven Sinngehalt aussagen. Zum anderen schließt eine solche abstrakte Erscheinung durch ihren nur technischen Charakter sogar jeden Sinngehalt offensiv aus. Was bereits in der Diskussion der ästhetischen Urteilskraft erwähnt war, dass aufgrund unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisstruktur der Wirklichkeit wir keine Ideen bzw. Sinnideen je direkt in der Erfahrung anzutreffen vermögen, heißt hier, dass die immanente Sinnfreiheit des Technischen darin begründet ist, dass das Technische als rein naturgesetzlich-physische Form die Gesetze allein von der verstandeskategorialen Erkenntnis des Subjektes empfing, deren Modalität nach Kant jedoch a priori Ideen- und damit Sinnfremd ist. Aufgrund der Wichtigkeit für die ästhetische Beurteilung abstrakten Bauens soll dieser Punkt hier kurz vertieft werden: Die von Kant postulierte subjektive Wendung im Denken der Moderne sagte aus, dass die Gesetze der physischen Wirklichkeit, die Naturgesetze also, in ihrer Form (nicht dem Grunde nach) nicht aus der Natur selbst, sondern aus uns selbst stammen. Unsere Erfahrung der Wirklichkeit ist demnach präformiert durch die sinnlichen Anschauungsformen Raum und Zeit sowie durch die auf diese angewandten kategorialen Begriffe des Verstandes, wie beispielsweise jene der bereits genannten Kausalität, der Einheit, der Realität usf. Nur deshalb können wir überhaupt eine beständige physische Gesetzesstruktur in der physischen Wirklichkeit der Natur erkennen, da sie a priori, also vor der Erfahrung in uns selbst angelegt und damit zugänglich der Erkenntnis sind. Betrachtet man nun diese Anschauungsformen und Verstandeskategorien genauer, so stellt man fest, dass die Gesetzmäßigkeiten, die aus ihnen heraus möglich sind, Sinnideen zu Zusammenhang, Moralität und Glauben ausschließen, womit jene also auch aus der Erfahrung ausgeschlossen sind. Anhand der Idee der Moralität war dieses auch bereits kurz erläutert, dass diese Idee der Verstandeskategorie der Kausalität (jede Wirkung hat eine Ursache et vice versa) nur widerspricht. Dürfte doch jenes Prinzip der Freiheit von physischen Ursachen in der moralische Idee nach dem Kausalgesetz gar nicht existieren, was im Beispiel der zugunsten der Moralität ignorierten physisch-äußeren Gefahren der Rettung eines in Not geratenen Menschen durch einen anderen deutlich wurde.[17] Ist nun aber ein technischer Apparat als reine Anwendung der verstandeskategorialen Naturgesetze zu betrachten, so ist eben auch keine Überschreitung dieser verstandeskategorialen Naturgesetze innerhalb desselben möglich, was bedeutet, dass keine Sinnidee in diesem vorkommen kann. Eine nur ingeniöse Konstruktion eines Gebäudes aber ist nun gar nichts anderes als ein solcher technischer Gegenstand, da auch in ihm sich allein die physisch-naturgesetzliche Wirklichkeit abbildet und nichts darüber Hinausgehendes in diesem erkennbar wird, wie das beispielsweise bei der architektonischen Konstruktion in symbolisch-ornamentaler Erweiterung noch der Fall war. Und so wäre also auch die auf ihren naturgesetzlichen Kern abstrahierte Konstruktion[18] der Niederländischen Botschaft in ihrer ästhetischen Erscheinung als sinnfremd zu bezeichnen. Was im Übrigen auch auf eine andere mögliche Lesart dieser abstrakten Konstruktion zuträfe, verstünde man nämlich die ästhetische Erscheinung dieser Konstruktion als selbst symbolische Form, als gewissermaßen modernes, also technisches Ornament. Denn auch hier gilt natürlich, dass der symbolische Verweis, der von dieser Konstruktion ausgeht, nur in jenes a priori Sinn ausschließende Reich des Verstandeskategorial-Technischen, in das also nur Physisch-Naturgesetzliche reicht. Was zusammen gesehen die Totalität der Abwesenheit von Sinn in der ästhetischen Gestalt der Konstruktion der Niederländischen Botschaft nur verstärkt, ist doch nicht allein kein Schluss von deren subjektiv-technischen Charakter auf eine objektiv-naturhafte Sinnordnung möglich, vielmehr scheint ein paradox-symbolisches „Und so soll es auch sein“ von der durchgängigen Anwendung des Prinzips des abstrakten Bauens auszugehen. (Abbildung 9) Und auch die in die ästhetische Kategorie der Konstruktion eingehende Kategorie der Materialität lässt im ästhetischen Urteil den Schluss auf ein objektiv-naturhaftes Sinnganzes nicht zu, betrachtete man diese Materialität der Niederländischen Botschaft für sich genommen. Analog zur avancierten statischen Konstruktion, welche die naturhafte Schwerkraft aus der Form der Konstruktion ästhetisch verschwinden lässt, ist es der avancierte technische Herstellungsprozess der in der Niederländischen Botschaft in erster Linie verwendeten Materialien Aluminium, Glas, Sichtbeton, Polycarbonat usf.,[19] der sowohl in der Außen- als auch der Innenwahrnehmung des Gebäudes jede Naturhaftigkeit in dieser ästhetischen Kategorie zum Verschwinden bringt. Nimmt man nur die Hauptmaterialen der Außen- und Innenfassaden, Aluminium und Glas, so ist an ihnen keiner der eigentlichen natürlichen Ausgangsstoffe mehr erkennbar. (Abbildungen 10 und 11) Sie sind demnach als absolut artifiziell zu bezeichnen. Weder das zur Aluminiumgewinnung benötigte, rötliche Mineral Bauxit, noch der zur Herstellung von Glas benötigte Quarzsand sind in den technisch verwandelten, also geschmolzenen, geschmiedeten, gewalzten usf. Baumaterialien noch erkennbar. Ganz im Gegensatz beispielsweise zum Ziegelstein oder Bauholz, in welchen noch der Ton bzw. der Baum ästhetisch ablesbar bleiben. Womit sich eben diesen letzteren Baumaterialien das bereits von Goethe und Semper[20] beschriebene Gleichnis des Stoffwechsels eingeschrieben zeigt, dass also der Mensch das Vermögen in sich trägt, die physisch-naturgesetzliche Wirklichkeit zu transformieren, jedoch dieses Vermögen sich in Form jener hier diskutierten sinngeleiteten Balance zwischen menschlicher Idee und der Wirklichkeit der Natur verwirkliche und nicht eines das andere deformierend unterdrückt. Letzteres aber geschieht im Falle von Aluminium und Glas, was übersetzt für das ästhetische Urteil heißt, dass auch hier bereits die Vorbedingung des Schlusses auf bzw. die Einordnung des betrachteten Gebauten in einen objektiv-naturhaften Sinnzusammenhang nicht erfüllt ist, da sich in der Materialität nichts Naturhaftes überhaupt (und sei es ein nicht-sinnhaft gefügtes Naturhaftes) mehr zeigt. Vielmehr ist ästhetisch in der Materialität der Niederländischen Botschaft fast ausschließlich subjektiv Hergestelltes wahrnehmbar, welches aber, bleibt es ohne jeden objektiven Bezug, nur unter das Diktum der Sinnfremdheit fällt. Schließlich und kaum verwunderlich zeigt auch die letzte der hier betrachteten ästhetischen Kategorien der Räumlichkeit der Niederländische Botschaft keine erkennbare Bezugnahme auf ein sinnhaft gefügtes, naturhaftes Ganzes. Sowohl in der Außenräumlichkeit als auch beim Durchschreiten des Gebäudes fällt keine besondere Perspektive, Einräumung oder auch nur In-Beziehungsetzung zur naturhaften Wirklichkeit wie beispielsweise dem Robinien- und Ahornhain auf der Südseite des Gebäudes auf. So ist der Blick aus dem Veranstaltungssaal im Süden auf diesen Hain ein gänzlich leerer, womit der Raum damit insgesamt allein von seiner diskutierten, abstrakten Sichtbeton-Aluminium/Glas-Polycarbonat-Ästhetik bestimmt ist, ohne jede Berührung dessen, welches sichtbar vor ihm liegt. (Abbildung 12) Wie dabei eine so die räumliche Ästhetik erweiternde Perspektive aussehen könnte, ließe sich beispielsweise an der bewussten räumlichen In-Werksetzung der Natur bei Schinkels Kasino in Klein-Glienicke oder auch bei Mies van der Rohes Farnsworth House in Plano studieren. (Abbildungen 13 und 14) Der Abschluss gegen ein jedes naturhaftes Außen wird darüber hinaus geradezu paradigmatisch deutlich in der vollständigen Klimatisierung des Gebäudes,[21] ist die im Moment der Begehung von den vor dem Haus blühenden Robinien erfüllte Luft eingetauscht gegen die inzwischen globale, sich selbst genügende Atmosphäre der immergleichen Begegnung des Subjekts mit sich selbst, die eingehüllt ist in das „stahlharte Gehäuse“[22] des leise summenden technischen Apparates. Eine Atmosphäre, welche den aus der Westfassade herausgeschobenen Besprechungsraum völlig auszufüllen und in seiner architektonischen Form zu bestimmen scheint. (Abbildung 15) Wie wenig die ästhetische Kategorie der Räumlichkeit der Niederländischen Botschaft einen Schluss im ästhetischen Urteil auf ein sinnhaftes Ganzes der naturhaften Wirklichkeit zulässt und diese damit als nur sinnfremde wahrnehmbar bleibt, ist schließlich gar nicht besser zu verdeutlichen als durch die Tatsache, dass die einzig erkennbare In-Beziehungsetzung der räumlichen Gestalt des Gebäudes auf das wiederum nur subjektiv Gemachte hinweist: den Berliner Fernsehturm. (Abbildung 16) Was noch anzumerken bliebe im Zusammenhang der Räumlichkeit der Niederländischen Botschaft, ist, dass auch die von Corbusier stammende Idee einer „promenade architecturale“, die von Koolhaas mit dem das Gebäude durchziehenden und durchschneidenden Weg, dem so genannten „Trajekt“ (niederländisch für Weg) aufgegriffen wird, – dass auch dieses das ästhetische Urteil des Sinnfremden der Architektur der Niederländischen Botschaft nicht zu korrigieren vermag. Erhebt dieses „Trajekt“ zwar ersichtlich eine Art von architektonischem Kunstanspruch, der über das rein ingenieurshafte des Gebauten hinausweisen soll und dieses von den meisten Kritikern auch als ein solcher positiv gewürdigt wird, so ist und bleibt ebenjener Anspruch in Bezug auf den im ästhetischen Urteil gesuchten Sinnzusammenhang, in den dieser Weg gestellt sein könnte, irrelevant. Durch die diskutierte ästhetische Abstraktheit der Konstruktion des Weges (fehlende Wahrnehmbarkeit der Schwerkraft), dessen Materialität (Aluminiumplatten auf dem Fußboden, an den Wänden und unter der Decke) und dessen Räumlichkeit (Klimaabschluss sowie die fehlende, bewusst in-Werk-gesetzte Perspektive auf ein naturhaftes Außen) bleibt dieser eben nur subjektiv-technisch, also sinnfremd in seinem ästhetischen Ausdruck. (Abbildung 17) In übertragenem Sinne könnte man sagen, dass auch eine in goldenen Lettern handwerklich kunstvoll, jedoch abstrakt gefasste mathematische Formel immer eine solche und damit eine Sinn-Ausschließende bleibt. Trotz des sinnlichen Affektes, den dieses Bild auf den Betrachter ausüben mag, ist, wenn dieser sinnliche Affekt nicht weitergeführt wird in eben die ästhetische Sinnreflexion, dieser Affekt für den Betrachter in der Konsequenz bedeutungslos. Man mag noch so sinnlich angeregt das „Trajekt“ auf- und abschreiten, fragt man nach dem Sinngehalt des Ganzen dieser Bewegung, so bleibt doch nur diese, die physische Selbst-Bewegung übrig, die gar nichts über eine Idee von Sinn aussagen kann, da sie noch nicht einmal eine solche darstellt. Fasst man also die Ergebnisse der Betrachtung der ästhetischen Kategorien der Konstruktion, Materialität und Räumlichkeit der Niederländischen Botschaft aus Perspektive des nach einem Sinngehalt fragenden ästhetischen Urteiles zusammen, so ist eine offensiv sich mitteilende Sinnfremdheit der abstrakten Architektur der Botschaft feststellbar. Eine Sinnfremdheit, welche durch den in allen ästhetische Kategorien manifesten, nur subjektiv-technischen Charakter des Gebauten begründet ist, der verhindert, dass dieses Werk in irgendeiner Weise in einen objektiv-sinnhaften Sinnzusammenhang aufzugehen vermag, indem auf einen solchen im ästhetischen Urteil geschlossen werden kann, (Abbildung 18) wodurch in Konsequenz dessen die Niederländische Botschaft in Berlin von OMA / Rem Koolhaas zu einem kreisförmig im Subjektiven sich drehenden, tatsächlich bedeutungslosen Gebäude wird, dessen Qualitäten allein in solchen Interpretationen sich erschließen mögen, die von vorneherein alle Fragen nach dem Sinngehalt von Architektur ausklammern. Schluss „Wenn die schönen Künste nicht nahe oder fern mit moralischen Ideen in Verbindung gebracht werden, die allein selbstständiges Wohlgefallen bei sich führen, so ist das letztere ihr endliches Schicksal. Sie dienen alsdann nur zur Zerstreuung, deren man immer mehr bedürftig wird, als man sich ihrer bedient, um die Unzufriedenheit des Gemüths mit sich selbst dadurch zu vertreiben, dass man sich immer noch unnützlicher und mit sich selbst unzufriedener macht.“[23] Dass man die Niederländische
Botschaft in Berlin durchaus als pars pro toto für das zeitgenössische
Bauen nehmen kann, wäre damit zu begründen, dass in ihr das mit der Zweiten
Moderne wieder eingeführte abstrakte Bauen mit dessen wie gesehen a priori
sinnfremden, subjektiv-technischen Ausdruck geradezu modellhaft verwirklicht
ist. Dabei zeigte sich jener Ausdruck gar nicht an bestimmte Formen des
Architektonischen gebunden, er begründet sich vielmehr in einer fehlenden
Bereitschaft, die ästhetischen Kategorien der Konstruktion und Materialität
sowie der Räumlichkeit des Gebauten zu öffnen für einen objektiv-naturhaften
Sinnzusammenhang. Insofern der hier denkbare Einwand nicht greift, dass
es auch eine gegenwärtige Bewegung neo-organischen Bauens, die Blob-Architektur
gäbe, welche durch ihre scheinbar natürlichen Formen dem Problem der Sinnfremdheit
entgehe. Denn diese Architektur scheint Natur sein zu wollen, anstatt
dass sie, als unverkennbares Kunstwerk des Menschen sich eben nur auf
die naturhafte Wirklichkeit bezogen zeigt bzw. auf diese hinweist.[24]
Natur jedoch kann kein Werk des Menschen je im Sinne seiner Objektivität
sein noch werden, womit das neo-organische Bauen so gesehen nur eine besonders
übersteigerte Version des subjektiv-ästhetischen Ausdrucks in der zeitgenössischen
Architektur darstellt. Zudem wäre es auch nicht irgendeine Natur, sondern
allein die schöne, sich sinnhaft gefügt zeigende Natur, auf die im Werk
verwiesen sein müsste, sollte ein Sinnschluss im ästhetischen Urteil des
Werkes möglich sein. In concreto aber scheint es vor allem die nur physisch-naturgesetzliche
Wirklichkeit und eben nicht jene ideenhaft belebte zu sein, die in den
Blob-Architekturen zitiert wird: Sei es in der Gesamtform, die im Beispiel
des neuen Grazer Kunsthauses sich als eine Art Tropfenform präsentiert,
sei es im technischen Ausdruck der nur abstrakten, durch Symbolformen
unerweiterten Konstruktion, was ebenfalls am Grazer Beispiel zu betrachten
wäre. (Abbildung 19) Eines sich so in der Summe zeigendes rundes maschinelles
Objekt jedoch ist in seiner Sinnfremdheit einem orthogonalen ganz gleich
und wäre schließlich auch als eine Modalität abstrakten Bauens zu bezeichnen. „Vielleicht
geht es letztlich nur noch darum, wer zuerst mit wem fertig wird, die
Natur mit der Menschheit oder die Menschheit mit der Natur. Und beides
ist eine Katastrophe für die Menschheit.“[25] Literatur: Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. 1969. – In: Ders.: Ders. Titel. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1980 Bötticher, Karl: Die Tektonik der Hellenen. 2 Bände: I: Einleitung und Dorika; II: Der hellenische Tempel in seiner Raumanlage für Zwecke des Kultes. Potsdam: Riegel, 1844-49. – Teilabdruck des ersten Bandes in: Oechslin, Werner: Stilhülse und Kern: Otto Wagner, Adolf Loos und der evolutionäre Weg zur modernen Architkektur. Zürich: gta-Verlag, 1994 Brinkmann, Ulrich: Kulisse, Objektiv und Projektor: Königlich Niederländische Botschaft in Berlin. – In: Bauwelt, 47, 2003, S. 12ff. Goethe, Johann Wolfgang: Baukunst. 1795. – In: Ders.: Goethes Werke: Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. Band 12. München: Beck, 1998. – Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. v. Trunz, Erich; Schrimpf, Hans Joachim Handke, Peter: Gestern unterwegs: Aufzeichnungen November 1987 – Juli 1990. Salzburg u. a.: Jung und Jung, 2005 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 1783. – In: Bahr, Ehrhard (Hrsg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam, 1996 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 1787 (2. Auflage). – In: Ders.; Königl. Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Kant’s Gesammelte Schriften (=Akademieausgabe). Band 3. Berlin: Georg Reimer, 1904; im Text zitiert als „KdrV“. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. 1793 (2. Auflage). – In: Ders.; Königl. Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Kant’s Gesammelte Schriften (=Akademieausgabe). Band 5. Berlin: Georg Reimer, 1908; im Text zitiert als „KdU“. Köppler, Jörn: Der Sinngehalt des Architektonischen: Modernes Bauen und die ästhetischen Erfahrungen des Erhabenen und der Schönheit. Dissertation: Graz, 2007 Koolhaas, Rem: SPIEGEL-Interview. – In: Der Spiegel, 13, Hamburg 2006 Müller, Heiner: „Jetzt sind eher die infernalischen Aspekte bei Benjamin wichtig.“: Heiner Müller im Gespräch mit Michael Opitz und Erdmut Wizisla. 1991. – In: Opitz, Michael; Wizisla, Erdmut (Hrsg.): Aber ein Sturm weht vom Paradiese her: Texte zu Walter Benjamin. Leipzig: Reclam, 1992 Pascal, Blaise: Pensées sur la Religion et sur quelques autres sujets. – Dt. Übersetzung in: Ders.: Gedanken über die Religion und einige andere Themen. Leipzig: Reclam, 1987 Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Aesthetik: Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. 2 Bände. Frankfurt am Main: Verlag für Kunst und Wissenschaft, 1860-1863. – Unveränderter Nachdruck: Ders.: Ders. Titel. 2 Bände. Mittenwald: Mäander, 1977 Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 1905. – In: Die protestantische Ethik. Band 1. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus Mohn, 1981
Bildnachweise: Abbildung 1: Giuntoli, Stefano: Kunst und Geschichte von Pompeji. Florenz: Bonechi, 2002 Abbildung 2: Schinkel, Karl Friedrich: Architektur, Malerei, Kunstgewerbe. Berlin: Staatliche Schlösser und Gärten, 1981 – Ausstellungskatalog, Hrsg. v. Börsch-Supan, Helmut; Grisebach, Lucius Abbildung 3: Badstübner, Ernst: Brandenburg. Ostfildern: DuMont, 2007 Abbildungen 4, 7 bis12, 15 bis18: Website der Niederländischen Botschaft: http://bln.niederlandeweb.de/de/content/Berlin/Neubau/Fotos/start_html Abbildungen 5 und 6: Bauwelt, 47, 2003 Abbildung 13: Domus Dossier, 3, 1995 Abbildung 14: Lambert, Phyllis: Mies in America. Montréal: Canadian Centre for Architecture u. a., 2001 Abbildung
19: Wettbewerbe Aktuell, 11, 2003 Anmerkungen: [1] Pascal 1987, S. 94 (Nr. 135). [2] Kant 1904 (KdrV), S. 522. [3] Handke 2005, S.197. [4] Siehe hierzu Kant 1908 (KdU), S. 179f. [5] Siehe hierzu a.a.O., S. 219f. [6] Adorno 1980, S. 172. [7] Siehe zur Struktur der physisch-naturgesetzlichen Wirklichkeit auch den Exkurs zur subjektiven Wendung des Denkens der Moderne im folgenden Abschnitt „Die Niederländische Botschaft“. [8] Also eine Beförderung des Wachstums bei Pflanzen durch äußere Ursachen wie Licht, Wasser usf. zwar stattfindet, diese aber nicht den Anlass desselben bilden. Dieser Anlass liegt in der Pflanze selbst, womit Ursache und Wirkung in der Pflanze im Sinne des Wachstums zusammenfallen, was im strengen Sinne des Kausalgesetzes gar nicht möglich sein kann. Was sich auch durch die Tatsache des Vorhandenseins eines genetischen Codes nicht ändert, da dieser zwar das Programm, nicht aber den Anlass des Sich-Selbstsetzenden des Lebens (gesetzt durch eben die Idee des Lebens der naturhaften Wirklichkeit) bildet. [9] Beispielsweise indem ein Ertrinkender in der stürmischen See von einem anderen Menschen zu retten versucht wird, ganz unabhängig davon, wie hoch die Wahrscheinlichkeit des eigenen Ertrinkens dabei ist. Die physische Ursache also des Sturmes, der Wellen usf. keinen Einfluss auf die wirkende Handlung des Menschen hat, der zur Rettung des Anderen in diese See springt. [10] Siehe Kant 1908 (KdU), S. 174-177. [11] Siehe hierzu ebenso den Exkurs zur subjektiven Wendung des Denkens der Moderne im folgenden Abschnitt „Die Niederländische Botschaft“. [12] Kant 1996, S. 9. [13] Bötticher 1994, S. 181f. [14] Siehe hierzu Köppler 2007. [15] Und so scheinen auch die aktuellen ornamentaler Bemühungen in allererster Linie einer optische Strukturierung des nur abstrakt gedachten Baukörpers zu dienen, was eben keine Reflexion einer symbolisch zum Ausdruck zu bringenden „Idealität“ (Bötticher 1994, S. 182) darstellt, sondern eine einfache formalästhetische Überlegung. [16] Koolhaas 2006. [17] Auch die Debatte über die von Neurowissenschaftlern bestrittene Existenz eines freien Willens ändert daran nichts. Denn selbst wenn es eine unbewusste Präferenz für eine Handlungsentscheidung gibt, so bleibt doch immer noch die bewusste Reflexion dieser Präferenz unter Zugrundelegung der moralischen Idee, was man Gewissen nennt, welche es in neurobiologischer Lesart gar nicht geben dürfte. Analog zur Widersprüchlichkeit der Sinnidee der Moralität mit der Verstandeskategorie der Kausalität ließe sich auch die Unvereinbarkeit der Sinnideen des Zusammenhanges und des Glaubens mit den die Erfahrung konstituierenden Anschauungsformen und Verstandeskategorien zeigen, die beide als Fragen nach dem Überzeitlichen und immer Existierenden außerhalb der Anschauungsformen Raum und Zeit liegen. [18] Wenn diese Konstruktion wie dargestellt auch das maßgebliche Naturgesetz der Schwerkraft ästhetisch zum Verschwinden bringt, ist sie natürlich doch auf dieses hin gerechnet und ausgeführt. So wie ein Computer nicht mehr die Gesetze seines Funktionierens zeigt und er trotzdem als technischer Apparat zu definieren ist, so bleibt also auch die avancierte Konstruktion der Niederländischen Botschaft eine nur technische. [19] Allein die Furnierholzplatten und der Travertinboden, die z. T. in den Versammlungsräumen zur Anwendung kommen, bilden hier die Ausnahme. In der Summe jedoch sind die im Text genannten Materialen ästhetisch bestimmend für die Innen- und Außenwahrnehmung des Gebäudes. [20] Siehe hierzu Goethe 1998, S. 35ff. sowie Semper 1860, I, S. 231f. [21] Einzig die ca. 15 cm breiten Belüftungsflügel in den Büros, die zwischen den nicht-öffenbaren Fensterprofilen angeordnet sind, geben Zugang zum Freien. Diese aber scheinen dauerhaft verriegelt zu sein (was bei der Besichtigung der Fall war), wohl damit die Klimaanlage des Gebäudes dadurch nicht gestört wird. [22] Nach Max Weber, u. a. in Weber 1981, S. 188. [23] Kant 1908 (KdU), S. 326. [24] Was Letzteres wie dargestellt beispielsweise durch jene die Konstruktion erweiternde Symbolformen denkbar ist, welche eben nicht zur Form der Konstruktion selbst werden und damit zu einer naturalistischen Chimäre, sondern die Konstruktion sichtbar als Werk des Menschen in deren Form belassen und diese nur in ihrem Sinngehalt bezeichnen.
[25]
Müller 1992, S. 361f. |
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