Zum
Interpretieren von Architektur Konkrete Interpretationen 13. Jg., Heft 1, Mai 2009 |
___Matthias
Korn Berlin |
Ein bescheidener Vorschlag zum Kennenlernen von Architektur:
Destruieren. Gordon Matta-Clarks Building Cuts. |
„... das destruktive Element wird in der Kunst zu sehr vernachlässigt.“ Jeder Interpret ist
zunächst einmal ein Vermittler. Doch zur Vermittlung bedarf es einer intimen
Kenntnis des zu Vermittelnden. Voraussetzung des Interpretierens von Architektur
– so meine Ausgangshypothese – ist somit das genaue Kennenlernen eines
Gebäudes, ein Prozess, den ich anhand der Arbeiten des Künstlers Gordon
Matta-Clark exemplifizieren möchte. Dessen Werk in einem Kompendium über
das Interpretieren von Architektur vorzustellen stellt sicher eine eher
unorthodoxe, wenngleich vielleicht gewinnbringende Annäherung an den Umgang
mit Architektur dar. Schenkt man Yve-Alain Bois Glauben, fungiert Matta-Clark
unter Architekturstudierenden immerhin als eine Art Säulenheiliger[1].
Im Zusammenhang seines Œuvres wird besonders zwei Aspekten Aufmerksamkeit
zu schenken sein: zum einen der Infragestellung von Architektur in ihrer
damaligen Form zu Beginn der Siebziger Jahre, zum anderen der Frage nach
den Bedingungen der Möglichkeit der Annäherung an ein Gebäude überhaupt.
Beide Fragen sollen anhand seiner Arbeit Splitting aus dem Jahr
1974 näher erörtert werden. |
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Abbildung 1: Gordon Matta-Clarks's participation with Oppenheim, 1969 Abbildung 2: Pipes, 1971 Abbildung 3: A W-Hole House (Entwurfsskizze), 1973 |
In Boston
legt Matta-Clark für eine Ausstellung die Gasleitung hinter einer Galeriewand
frei und dokumentiert per Fotografie das damit verbundene, sich hinter den
Wänden befindliche Rohrgedärm, das von der Straße bis in den Keller führt
(Pipes, 1971). In Manhattan öffnet er den Boden einer Galerie, um den Raum darunter von den enormen Gravitationskräften des Gebäudes zu befreien und pflanzt einen Kirschbaum in das Loch (Cherry Tree, 1971). In der South Bronx sägt er Löcher in Wände und Boden eines verlassenen Hauses, die Ausblicke in die danebenliegenden Zimmer und das darunter liegende Geschoss erlauben (Bronx Floors, 1972). In Italien schließlich schneidet er die Spitze des Dachfirstes eines Gebäudes mit viereckigem Grundriss sowie Teile aus dessen zentraler innerer Wandstruktur aus, um die Gesamtanlage des Gebäudes von Innen auf einen Blick erfahrbar zu machen ('A W-Hole House', 1973). Alle diese Arbeiten der frühen Siebziger Jahre arbeiten bereits mit dem für Matta-Clark so charakteristischen radikalen Destruktionsgestus. Diese wie die in der Folge entstehenden so genannten Building Cuts zählen sicher zu Matta-Clarks berühmtesten Arbeiten.[6] Dabei ist die Geste der Destruktion jedoch kein Zerstören der vorgegebenen Struktur, sondern ist vom lateinischen de-struere mit der Bedeutung abschichten, abtragen abgeleitet. Es geht somit um ein – ganz analog zum dem diesem Aufsatz vorangestellten Benjamin-Motto – gewalttätiges, aber darin behutsames Entfernen von Oberflächenschichten, um die bestehende Struktur zu verändern und dadurch andere Sichtweisen zu ermöglichen. In diesem Sinne ist Matta-Clarks Anliegen zu verstehen, wenn er sagt: "I do not want to create a totally new supportive field of vision, of cognition. I want to reuse the old one, the existing framework of thought and sight."[7] Dabei sind es im Besonderen die sozialen Bedingungen der Bewohner, die ihn interessieren: "By undoing a building there are many aspects of the social conditions against which I am gesturing: [...] to open a state of enclosure which had been preconditioned not only by physical necessity but by the industry that profligates suburban and urban boxes as a context for insuring a passive, isolated consumer – a virtually captive audience."[8] Matta-Clark zielt somit auf die Befreiung des Bewohners aus seiner in abgeschlossenen Boxen passiven, isolierten und konsumorientierten Gefangenschaft und fügt hinzu: "The fact that some of the buildings I have dealt with are in Black ghettos [South Bronx; Englewood, New Jersey (Splitting), M.K.] reinforces some of this thinking, although I would not make a total distinction between the imprisonment of the poor and the remarkably subtle self-containerization of higher socio-economic neighborhoods."[9] Gegen die erzwungene wie selbst gewählte Containerisierung proklamiert Matta-Clark einen Zugang, der die räumliche Betrachtung durch eine zeitliche modifiziert und ergänzt. Fokus seiner Arbeiten sei eine "perpetual metamorphosis, a model for peoples' constant action on space as much as in the space that surrounds them. Buildings are fixed entities in the minds of most – the notion of mutable space is virtually taboo – even in one's own house. People live in their space with a temerity that is frightening. Home owners generally do little but maintain their property. It's baffling how rarely the people get involved in fundamentally changing their place by simply undoing it."[10]
Ich-Destruktion als Bedingung der Möglichkeit von Kunst
Matta-Clarks phänomenal beschriebener destruktiver Gestus des Ein-, Aus-,
und Durchschneidens verweist jedoch auch auf einen innerpsychischen Prozess,
der im Werk nicht repräsentiert, aber mit Hilfe der Wahrnehmungspsychologie
als Ich-Destruktion, d. h. im Sinne eines Abschichten des Ichs, beschrieben
werden kann. Dem Menschen stehen zwei relativ gut voneinander unterscheidbare
Perzeptionssweisen zur Verfügung, wie sie der Wahrnehmungspsychologe und
Psychoanalytiker Anton Ehrenzweig in seinem Buch The Hidden Order of
Art bereits 1967 beschrieben hat.[11]
Ehrenzweig unterscheidet eine analytische Wahrnehmung, die einzelne
Objekte vor ihrem Hintergrund differenziert wahrnimmt und die besonders
für unsere alltäglichen Verrichtungen von großem Nutzen ist, von einer
synkretistischen Wahrnehmung, die diese Unterscheidung nicht trifft,
sondern bei der die Aufmerksamkeit frei schwebend über das Gesehene hinwegläuft
und dedifferenzierend dessen Gesamtstruktur auf einen Blick erfasst. Beide
Wahrnehmungsweisen spielen in den künstlerischen Schaffensprozess hinein,
wobei die letztere darin betont wird. Während die analytische Wahrnehmung
einen Prozess der Bewusstwerdung darstellt und dort zu finden ist, wo
man – psychoanalytisch betrachtet – den Sekundärprozess verortet, d. h.
im Ich, findet die synkretistische Wahrnehmung sich im Primärprozess,
dem ausgewiesenen Bereich des Unbewussten. Dieser Bereich gilt
in der klassischen Darstellung durch Freud als relativ unstrukturiert,
kennt das Unbewusste doch keinerlei Widersprüche und unterscheidet nicht
einmal zwischen unterschiedlichen Zeitebenen.[12]
Doch ist das Unbewusste nicht strukturlos, sondern in Wirklichkeit nur
undifferenziert und seine Struktur kann – aber eben nur synkretistisch
– wahrgenommen werden, wenn das Ich seine bewussten Vorstellungen zerstreut
und alles dedifferenzierend in gleicher und gleichzeitiger Gültigkeit
wahrnimmt. Der Eindruck von Chaos bei der Betrachtung des Unbewussten
entsteht auch nur insofern, so Ehrenzweig, als unser enges analytisches
Oberflächenbewusstsein dessen weiter umgreifende Struktur gerade nicht
erfassen kann. Die synkretistische Sehweise ist in ihrer Charakteristik
dabei durchaus mit dem Hören vergleichbar – für uns von Interesse in Analogie
zu Schellings klassischem Topos von "der Baukunst als erstarrter
Musik"[13]
–, einer Wahrnehmungsform, die nicht-fokussierend den Umraum auf integrale
Weise in sich aufnimmt. Da im kreativen Prozess die Möglichkeit der einzuschlagenden
Wege – analytisch betrachtet – unendlich groß ist, wählt das unbewusste
Prüfen, wie Ehrenzweig es nennt, aus dieser großen Zahl aus und ent-scheidet
(sic) sich, d.h. es hebt die Trennung zwischen Künstlersubjekt und Objekt
auf und akzeptiert unmittelbar – man kann auch sagen: intuitiv – bestimmte
Lösungsangebote. Dabei wird der Wahrnehmungsprozess zentriert und gestützt
durch die Berührung des eigenen Selbst, wenn Matta-Clark – in Anlehnung
des Konzeptes des Selbst bei C. G. Jung, das dieser gerade als
Nicht-Ich beschreibt – konstatiert, dass seine Arbeit "a constant
concern with the center of each structure" gewesen sei. Alle
Building Cuts seien "direct exercises in centering and
recentering" gewesen, bei denen er an das herangegangen sei,
was er als das Herz der räumlich-strukturellen Konstante ("the
heart of the spatial-structural constant") angesehen habe. Dieses
Herz jedes Gebäudes steht während des Arbeitsprozesses in unmittelbarer
Beziehung zu einer inner-personenhafte Geste ("an inner-personal
gesture"), die Matta-Clarks mikroskopisches Selbst mit dem Ganzen
verbindet ("by which my microcosmic self is related to the whole").[14]
Diese Verbindung findet jedoch jenseits der analytisch-bewussten Wahrnehmungsweisen
statt. Sie ist eher ein diffuses Gefühl als konkret in Worte zu fassen. I
have chosen not isolation from social conditions, Die
Generierung der Idee zu Splitting Liza
Béar: "Did you have a project in mind beforehand?" Matta-Clark bereitet also zunächst das Haus vor. Mit Freunden leert er die einzelnen Zimmer und bringt alle alten Einrichtungsgegenstände und anderen Hausrat in den Keller. Im Zeitraum dieser Wochen macht sich Matta-Clark Gedanken über die Ausmaße eines Schnittes. Dokument dieser Beschäftigung sollen einige Linienzeichnungen gewesen sein. "[…] I was […] very interested in how breaking through the surface creates repercussions in terms of what else is imposed upon a cut. That's a simple idea, and it comes out in some line drawings that I'd been doing."[21]
Matta-Clarks Zeichnungen aus der Zeit der frühen Siebziger Jahre sind
uns seit der großen Ausstellung über sein zeichnerisches Werk in Wien
zugänglich, die mehr als 600 Werke umfasste.[22]
Bei einigen von ihnen besteht die Möglichkeit, sie konkreten Projekten
zuzuordnen. Der Großteil jedoch ist undatiert und ohne Bezeichnung geblieben
und im Katalog vom Herausgeber als "vectors", "energy
forms" oder "arrows" betitelt worden. Sie zeigen
Matta-Clarks intensive Beschäftigung mit unsichtbaren Energie- und Kraftströmen.
Zu Splitting gibt es bisher in der Literatur keinerlei konkrete
Zuordnung von Zeichnungen, auch wenn es nach den oben von Matta-Clark
gemachten Äußerungen Vorarbeiten in Form besagter line drawings
geben müsste. "Weil er aus dem Verstand [intelletto] kommt, ist das Disegno [die Zeichnung] der Vater unserer drei Künste Architektur, Bildhauerei und Malerei. Es entwirft, auf der Grundlage der Anschauung vieler Einzelgegenstände, eine universale Anschauung [giudicio universale]. Diese entspricht einer wohlproportionierten Grundform oder Idea aller Naturgegenstände. […] Und aus diesem Gedanken heraus ist das Disegno entstanden: etwas wird im Geist aufgefasst und dann mit Hilfe der Hände zum Ausdruck gebracht."[24]. Wie Pamela Lee in ihrem Artikel über das Zeichnen bei Matta-Clark konstatiert, ist die Linie somit "ein Mittel oder Verfahren, dessen sich der Intellekt bediente, um den Gegenstand zu erkennen."[25] Was hier selbstredend auf die figürliche Zeichnung bezogen ist, ließe sich problemlos auch für die abstrakte Skizze sagen. Denn Skizzen, so Vasari,
Skizze ist abgeleitet vom italienischen schizzo, Spritzer, Fleck.
Skizzen stehen in einem dialektischen Verhältnis zum Verstand. Nicht nur
bespritzen sie diesen mit einer möglichen Anregung, sondern umgekehrt
sind sie – relativ schnell ausgeführt – Spritzer noch vager mentaler Vorstellungen,
die der Künstler, einmal auf dem Papier erschienen – mit den Worten Ehrenzweigs
– unbewusst prüfen und in der Folge als Projektionen der Psyche
entweder akzeptieren oder verwerfen kann. Skizzieren steht somit in engem
Kontakt zu den unbewussten Schichten des Selbst und vermag im besten Falle,
diesen eine manifeste bildliche Form zu verleihen. Vielleicht nicht ganz
uninteressant ist die Art und Weise, wie Matta-Clark diese Skizzen hervorgebracht
hat. Wie die Künstlerin Mary Heilman sich erinnert, arbeitete Matta-Clark
"[e]ven when he was making drawings, […] in a state of frenzy.
His face would get determined … and he'd do a little
devil dance. He'd take colored pencils, dig in, press real hard and fast,
and would scribble along. I loved those writing pieces. He would do that
automatic writing in a way that was otherworldly, mysterious."[27]
Das bei den Surrealisten als Zugang zum Unbewussten favorisierte automatische
Schreiben wird hier auf das Skizzieren übertragen. Für das analytische
Bewusstsein kann diese Form der Hervorbringung nur unverständlich sein.
Wie Pamela Lee scharfsinnig formuliert, versuchte Matta-Clark "statt
Dinge, die im Wandel begriffen sind, darzustellen, dem Wandel selbst eine
Form zu geben"[28].
Darüberhinaus, und ungleich wichtiger, arbeiten seine Zeichnungen "mit
Darstellungsverfahren, um Situationen sichtbaren Ausdruck zu verleihen,
die über keinerlei anschauliche Referenz verfügen"[29].
In diesem Sinne sind sie visionär. Für Matta-Clark selbst gaben diese
Skizzen "clues to certain kinds of spatial ideas"[30],
Hinweise, die er in Form seiner Building Cuts teilweise verwirklichen
sollte. |
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Abbildung 4: Untitled (arrows) 1973-74, divergierende Linien an einem Ort Abbildung 5: Untitled (arrows) 1973-74, sich verzweigende, vektorielle Energielinien Abbildung 6: Untitled (arrows), 1973-74, Entwurfsskizze, befreite Energielinien |
Die erweiterte
Wahrnehmung des Hauses samt seiner Geschichte der durch Grundstücksspekulation
vertriebenen Bewohner, so meine These, lassen Matta-Clark etwas Unsichtbares
spüren: divergierende Kräfte, die mit der Vertreibung der Bewohner das Haus
durchziehen, Spannungen innerhalb des Gebäudes, deren Darstellung ihm durch
vektorielle Kraft- und Energielinien im Zeichenprozess zu verbildlichen
gelingt. (Abbildung 4) "The shadows of the persons who lived in there were still pretty warm."[31] Diese Veränderung des Hauses durch die nur noch in Schattenform anwesenden Menschen wird im Folgenden eine bedeutende Rolle spielen. Matta-Clarks sich selbst gestellte Aufgabe war es, diese "internal changes in strong external images" zu überführen, wie es oben programmatisch hieß. Hier nähern wir uns dem entscheidenden Schritt des Kennenlernens. Bilden die vektoriellen Energielinien in der Abbildung 4 noch chaotisch durcheinanderlaufende Bewegungen ab, zeigen sich in Abbildung 5 bereits Tendenzen, wie sich diese Kräfte zu massiven Strömen ordnen. Die zunächst von links unten kommenden Kraftlinien teilen sich im Verlauf der Überquerung des Blattes immer mehr auf, um schließlich in der rechten oberen Ecke in zwei verschiedene Richtungen auseinanderzudriften. Übertragen wir diese Driftbewegung auf das Haus in der Humphrey Street, würde das bedeuten, dass Matta-Clark diese unsichtbaren, kaum spürbaren inneren Spannungen wahrgenommen und in eine visuelle, skizzenhafte Form überführt hat. Der Entwicklung eines Durcheinanders von Kräften hin zu relativ geordneten, auseinanderlaufenden Energieströmen folgt - in meiner imaginierten Entwicklungslinie - eine Zeichnung, die auf verblüffende Weise geradezu als eine illustrative Vorzeichnung zu Splitting erscheint (Abbildung 6). Die zu beiden Seiten weglaufenden Pfeile suggerieren fliehende Kräfte, die, wieder übertragen auf das Haus, nur durch seine äußere Hülle noch zusammengehalten werden und durch einen vertikalen Schnitt befreit werden könnten. Ganz offensichtlich schien Matta-Clark diese Skizze zu gefallen: die Idee war geboren, das Haus in der Humphrey Street in der Mitte zu teilen und daraufhin aufzuspalten. Die Ausführung von Splitting Mit der Generierung der konzeptuellen Idee zu Splitting ist die Arbeit des Kennenlernens jedoch noch nicht abgeschlossen. Der im Konzept entstandene enge Kontakt zwischen dem Herzen des Hauses mit Matta-Clarks eigenem Selbst soll bei der Ausführung des Durchsägens dabei weiter betrachtet werden, denn wenn dieser enge unbewusste Kontakt wirklich besteht, muss sich im Zuge der Ausführung an Splitting ein für den Künstler spürbarer gemeinsamer Gefühls- und Handlungsraum zwischen seinem Selbst und dem Herz des Hauses einstellen. In aufwendiger wochenlanger Handarbeit wird das Haus mit handlichen elektrischen Bausägen durch zwei parallele, sich im Abstand von einigen Zentimetern befindliche Schnitte in der Mitte geteilt. Dabei werden nicht nur die Außenwände samt Festerrahmen zersägt, sondern auch das Dach, der Boden der Zimmer sowie die sich im Haus befindliche Holztreppe samt ihres Geländers. Schließlich setzen Matta-Clark und seine Helfer am hinteren Teil des Hauses vier schwere mechanische Hebeböcke unter der Gesamtkonstruktion an, entfernen die oberste Schicht des Steinsockels der einen Haushälfte bzw. schneiden deren Steine schräg zu und lassen den hinteren Teil des Hauses dann langsam und gleichmäßig ab, bis er auf seinem neuen Fundament zum Liegen kommt. Die Folge dieser Arbeit ist die Spaltung und Öffnung des gesamten Hauses vom Boden bis zum Dach. Zuletzt wird der noch bestehende Spalt zwischen Holzkonstruktion und Steinsockel wieder zugemauert. |
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Abbildung 7: View of Splitting in progress Abbildung 8: Splitting, Color photograph Abbildung 9: View of Splitting, Innenansicht Abbildung 10: Splitting, Schnittkante, Collage |
Der ganze
Arbeitsprozess war dabei äußerst spannungsgeladen. "I
knew I could cut it in half easily enough, but wasn't sure, I could set
it back on its foundations. It was suspense-packed up to the last minute."[32]
Doch die Konstruktion des Hauses agierte wie geplant,
"responding to the
jacks and lowering process without a groan. She came down like a dream."[33]
Der Absenkungsprozess als solcher eröffnete
Matta-Clark dabei "new insights into what a house is, how solidly
built, how easily moved". Und überglücklich konstatiert
er schließlich: "It was like a perfect dance partner. I
can't wait to do it again [...]."[34]
(Abbildung 8) Die oben angesprochene dialektische Verbindung von
Künstlerselbst und Herz des Hauses führt dazu, dass beide, wie in einem
gemeinsamem Tanz, die gleiche Bewegung ausführen und dabei eine Form von
Befreiung erleben. Das lässt sich an Matta-Clarks Freude ablesen. Doch Befreiung
wovon? Von dem uns allen auferlegten Zwang, ein Individuum zu sein, das
sich einer Welt in Distanz gegenübersieht. Von der Statik dieses rationalen
Weltverhältnisses, dem ein dynamisches entgegengestellt wird. Von den ökonomischen
Interessen, die eine gewachsene Gemeinschaft auseinander reißt. In einem kurzen zweiseitigen theoretischen Text beschreibt Matta-Clark selbst sein Gefühl der Befreiung beim Destruktionsprozess alter Häuser durch den Schnitt: "What a relief to see old joints cracked free!"[35] Durch den Schnitt werden in der Folge zudem eine ganze Reihe von visuellen Informationen über das Haus zugänglich. Das Haus, nun lichtdurchflutet, beginnt, seinen Charakter zu ändern und wieder eine gewisse Faszination auf den Betrachter auszuüben (Abbildung 9). Man sieht hinaus in den Garten, in den Himmel. Matta-Clark interessiert sich jedoch weniger für die entstandenen Ein- und Ausblicke, die der Spalt nun gewährt, als für das Aussehen der Schnittkante: "Of course, there are visual consequences to cutting, certainly to removal, but it was kind of the thin edge of what was being seen that interested me as much, if not more than, the views that were being created."[36] Im
Kontext seiner Arbeit A W-Hole House in Genua spricht Matta-Clark
davon, dass diese dünne Kante den "autobiographic
process of its making"[37]
offenlege. Es sind diese freigelegten und zerteilten Schichten des Hauses
("the layering, the strata, the different things that are
being severed"), die offenbaren, wie eine gleichförmige Oberfläche
überhaupt entsteht ("how a uniform surface is established."[38])
(Abbildung10). "The hardest part of the whole project was getting to know the building. It seemed to take cutting through it with a chain saw to get to know it. Once the heavy slow process was performed on the surfaces, then the other ideas were simple. I mean, the more dynamic aspects of the piece happened quite easily. […] It gets so easily reduced to a simple sketch or summarized in a couple of notes."[39] Matta-Clarks skizzenhafte Vorzeichnungen stellten somit vielleicht zwar den wichtigsten Teil des Kennenlern-Prozesses dar, der jedoch erst durch die intensive dreiwöchige und körperlich anstrengende Arbeit am Haus ergänzt und zum Abschluss gebracht werden konnte. Der Schnitt als solcher geht dabei über die Arbeit an Splitting weit hinaus und würde unser Verständnis von Privatheit grundlegend verändern: "It would be very interesting translating cuts like this into still usable or inhabited places. It would change your perceptions for a while, and it certainly would modify privacy a great deal. You'd have to live on or as far away from the line as possible."[40] Matta-Clark zielt auf eine Art von "psychic alteration",[41] die er zunächst bei sich selber wahrnimmt. Seine künstlerische Verfremdungsarbeit, die unsere eigene Entfremdung gegenüber dem Wohnen sichtbar zu machen weiß, ist somit eine produktionsästhetische Stellungsnahme zum generellen Umgang mit Architektur. "The issue is change" beginnt Matta-Clark in einem frühen unveröffentlichten Interview, "but then rather than using a machine or device of technology to demonstrate change, I prefer that it becomes a mental experience and purely mind consciousness." [42]
Zeit und damit Veränderung in das Werk zu integrieren, zielt somit nicht
auf eine bloße Illustration des Intendierten, sondern versucht, tiefer
anzusetzen: bei den eigenen Wahrnehmungs-, Schaffens- und Erfahrungsprozessen
und bei den Veränderungen, die die Arbeit im Betrachter auszulösen vermag. "Dealing with the building as a clear, recognizable object, and distortions of that object as a direct train of thought in which the building's structure provides the vocabulary. If it weren't recognizable, it would be hard to use it. It works for me in direct progression to the amount I get to know it. The more I know a particular place and structure … the more I want to bow it."[43] Im
Gegensatz zu Matta-Clark ist es dem Interpreten sicher nicht darum zu
tun, das Objekt zu verändern. Aber es geht ihm im besten Falle darum,
die intime Kenntnis eines Gebäudes zu erlangen, sie weiterzugeben und
für ein zukünftiges Bauen herauszustellen: und so für andere nutzbar zu
machen.
Sontag, Susan: Gegen Interpretation (1964), in: dies., Kunst und Antikunst, München 1980. Barzman, Karen-Edis: Perception, Knowledge, and the Theory of Disegno in Sixteenth- Century Florence, in: From Studio to Studiolo, hg. v. Larry J. Feinberg, Seattle/ London 1991, 37-48. Bois, Yve-Alain: Threshole, in: Bois, Yve-Alain und Krauss, Rosalind E.: Formless. A User's Guide, New York 1997. Breitwieser, Sabine (Hg.): Reorganizing structure by drawing through it: Zeichnung bei Gordon Matta-Clark, Wien/ Köln 1997. Crow, Thomas: Gordon Matta-Clark, in: Gordon Matta-Clark, hg. von Corinne Diserens, New York, N.Y., 2003, 7-132. Diserens, Corinne (ed.): Gordon Matta-Clark, New York, N.Y. 2003. Ehrenzweig, Anton: Ordnung im Chaos. Das Unbewußte in der Kunst, München 1974. Ehrenzweig, Anton: The Hidden Order of Art, London 1967. Emigholz, Heinz: Goff in der Wüste, Filmgalerie 451, Stuttgart/ Berlin 2003. Freud, Sigmund: Das Unbewusste (1915), in: ders.: Gesammelte Werke Bd. X, Ffm 1999, 264-303. Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919), in: ders.: Gesammelte Werke Bd. XII, Ffm 1999, 227-268. Lee, Pamela: Dazwischenzeichnen/ Drawing in between, in: Breitwieser 1997, 18-32 Moure, Gloria (ed.): Gordon Matta-Clark: Works and Collected Writings, Barcelona 2006. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Vorlesungen über Philosophie und Kunst, 1802/1803. Sussman, Elisabeth (ed.): Gordon Matta-Clark: "You are the measure", New Haven 2007. Vasari, Giorgio: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei (1586). Berlin 2006. Vidler,
Anthony: unHEIMlich. Über das Unbehagen in der modernen Architektur,
Hamburg 2001 (engl. Ausgabe: The Architectural Uncanny:
Essays in the Modern Unhomely.
Cambridge/ London 1992).
Abbildung 1:
Abbildung 2: Abbildung
3: Abbildung
4: Abbildung
5: Abbildung
6:
Abbildung 7: Abbildung
8: Abbildung
9: Abbildung
10:
Vermerk: Werke
Gordon Matta-Clark © VG Bild-Kunst, Bonn 2009
[1] Bois 1997, 191. Bois spricht von "cult figure". [2] Vidler 2002. [3] Freud 1919. [4] Sontag 1964, 18. [5] Crow 2003, 25. Vgl. Oppenheims Erinnerung an diese Zusammenarbeit in Diserens 2003, 191. [6] Crow 2003 gibt einen guten Überblick über die Chronologie von Matta-Clarks Gesamtœuvre. [7] Matta-Clark1976 (Interview with Donald Wall Mai 1976), in: Diserens 2003, 185. [8] Matta-Clark (Interview with Donald Wall, Mai 1976), in: Diserens 2003, 182. [9] ebd., 182. [10] ebd., 185. [11] Ehrenzweig 1967. [12] Freud 1915, 286. [13] Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Kunst (1802/1803), Darmstadt 1976. [14] Alle Zitate Matta-Clark 1976 (Interview mit Donald Wall, Mai 1976), in: Diserens 2003, 182. [15] Holly Solomon, Interview zitiert nach: Crow 2003, 74. [16] Die Zeitangaben variieren leicht. Matta-Clark bekam das Haus irgendwann im März 1974 zur Verfügung gestellt, arbeitete dann aber zunächst einen Monat nicht daran. Vgl. sein Statement in: Moure 2006, 170 (Interview mit Liza Béar, 21. Mai 1974). [17] Matta-Clark, Gordon Matta-Clark's Building Dissections, Typewritten statement, undated, in: Moure 2006, 132. [18] Crow 2003, 44. [19] Gordon Matta-Clark: Work with abandoned structures (typewritten statement, ca.1975) in: Moure 2006, 142. [20] ebd. [21] Moure 2006, 166. [22] Vgl. Breitwieser 1997. [23] Barzman 1991. [24] Vasari: 1568, hier zitiert nach Lee 1997, 21, in: Breitwieser 1997. [25] Lee 1997, 21. [26] Vasari: 1568, 104. [27] Heilman hier zitiert nach: Breitwieser 1997, 11. [28] Lee 1997, 23. [29] Lee 1997, 24. [30] Matta-Clark 1970 (unveröffentlichtes Interview mit Cindy Nemser am 20. Juli und 21. September 1970), in: Sussman 2007, 16. [31] Matta-Clark 1974 (Interview mit Liza Béar, Mai 1974), in: Moure 2006, 173. [32] Matta-Clark 1974, in: Moure 2006, 170. [33] Matta-Clark 1974, in: Moure 2006, 175. [34] Matta-Clark 1974, in: Moure 2006, 175. [35] Matta-Clark: Work with abandoned structure, ca.1975, in: Moure 2006, 141. [36] Matta-Clark 1974, in: Moure 2006, 167. [37] Matta-Clark 1976, in: Diserens 2003, 184. [38] Matta-Clark 1974, in: Moure 2006, 167. [39] Matta-Clark 1974, in: Moure 2006, 176. [40] Matta-Clark 1974, in: Moure 2006, 167. [41] Matta-Clark 1974, in: Moure 2006, 174. [42] Matta-Clark 1970, in: Sussman 2007, 16. [43] Matta-Clark 1974, in: Moure 2006, 177.
[44]
Emigholz 2003. |
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