Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1, Mai 2009

 

___Katharina Lehmann
Lüneburg
  Der gebaute Raum in seiner Wirkung für Rezeption und Wahrnehmungserfahrung

 

    Die Aufschlussfähigkeit ästhetischer Rationalität bei Martin Seel und Gilles Deleuze als Schlüssel zu Wahrnehmung und Interpretation von Architektur am Beispiel des Toten Hauses Ur von Gregor Schneider

Die ästhetische Aufmerksamkeit bei der Betrachtung von Phänomenen ermöglicht dem wahrnehmenden Rezipienten, Zugang zu Aspekten wahrgenommener Objekte zu erhalten, die mittels gängiger Alttagswahrnehmung nicht oder nur marginal auffassbar sind.

Dabei ist die Art und Weise des ästhetischen Zugangs jedoch von breitem Unterschied und lässt sich zunächst in die beiden Kategorien des sinnlichen Wahrnehmens und des reflektorischen Wahrnehmens einteilen. Am Beispiel des Toten Hauses Ur, dem architekturbezogenen Hauptwerk des Künstlers Gregor Schneider, lässt sich deutlich zeichnen, auf welche Art und Weise das Heranziehen ästhetischer Wahrnehmungsweisen eine Interpretation von Architektur begünstigt, die tiefere Gründe und Ebenen des Erfassens anschaubar ermöglicht.

Gregor Schneiders Totes Haus Ur ist als ein Bau bekannt, der einen ähnlichen Entwurf des umgebauten Elternhauses des Künstlers im deutschen Pavillon der Biennale 2001 in Venedig darstellt. So ist in dem in Rheydt gelegenen Ursprungsbau, dem Inneren eines Einfamilienhauses in der Nähe Mönchengladbachs, ein Werksprozess entstanden, der durch Umformungen und Verschachtelungen herkömmlicher Raum-Dimensionen bezeichnet ist. Räume werden an Drehmechanismen angeschlossen, die jedoch erst bei Verlassen des Raumes bemerkt werden, Fenster, die aber nicht tatsächlich den Blick nach draußen freigeben, erwecken durch künstliches Licht den Eindruck einer Außenwand. Immer wieder eröffnen sich Zwischenräume, Durchbrüche und Kriechgänge, Wände sind verschiebbar, führen in Räume, die wiederum in andere Räume eingebaut sind. Selbst des Bodens, auf dem der Betrachter steht, kann er sich nicht sicher sein: einige Böden sind verschiebbar, ebenso manche der Decken. Manche Räume scheinen akkurat, rechtwinklig und gewöhnlich, doch immer gibt es ein Attribut, das die Wahrnehmung irritiert. Mal ist es eine besonders kleine Türe, die den Betrachter zwingt, in den nächsten Raum zu kriechen, mal öffnet sie sich gar nicht, wenig später aber doch. Manchmal gibt es kein Fenster, oder es ist keines, das nach draußen blicken lässt. Häufig befindet sich hinter einem Fenster ein weiteres, wie auch hinter einigen Wänden eine weitere ist. Ausgänge befinden sich oft nicht dort, wo man sie vermutet. Türen lassen sich nicht öffnen, nur eine Öffnung im Boden führt in den nächsten Raum. Kein Raum scheint Anfang oder Ende zu haben, keiner scheint „fertig“, denn die Räume des Hauses Ur befinden sich im Zustand des ständigen Umbaus, sie unterliegen in ihrer immerwährenden Veränderung einer ständigen Prozessualität. Jeder Raum kann jederzeit zu einem anderen Raum umgestaltet werden. Es ist Wesen dieses Werks, kein gestalterisches Endziel zu verfolgen und niemals zu Ende gebracht zu werden. Einige Räume sind nur kriechend erreichbar, andere erfordern das Hinabsteigen durch Löcher im Boden oder das Begehen dunkler, feuchter Gänge, die in unerwartet helle, saubere Räume führen. Dem Betrachter eröffnet sich so ein komplexes Raumsystem, in dem alles seine Wirkung hat, sichtbare und unsichtbare Dinge, wie auch der Betrachter selbst.

Im Folgenden sollen auszugshalber der ästhetische Ansatz von Martin Seel sowie, ebenfalls im anwendungsorientierten Sinne, der Ansatz von Gilles Deleuze im Hinblick auf die Interpretation von Architektur veranschaulicht werden.


1. Strukturelle Gestalt der Wahrnehmung bei Seel

Für Seel ist neben dem kantianischen Wahrnehmungserlebnis, das die sinnenhafte Erkenntnis eines Phänomens ermöglicht und die Bewusstwerdung der eigenen sinnlichen Gestalt fördert, überdies der Zeit-Charakter der ästhetischen Wahrnehmung von besonderem Wert. Der besondere Vollzugscharakter, der sich im Modus des Verweilens abspielt, setzt eine nicht- ästhetische Wahrnehmensfähigkeit voraus und stellt eine Modifikation derselben dar. Der Sinn der ästhetischen Wahrnehmung liegt zunächst darin, sich von anderen Wahrnehmungsweisen abzuheben[1]. Des Weiteren ist „in der Bestimmung ästhetischer Wahrnehmung als eine Wahrnehmung, der es um die Zeit bei und mit dem ästhetisch Wahrgenommenen geht, das Charakteristikum ihrer Selbstbezüglichkeit schon enthalten (….). Selbstbezüglich ist daher alle ästhetische Wahrnehmung in dem schon genannten Sinn, dass es ihr nicht um das jeweils Wahrgenommene, sondern um den Akt der Wahrnehmung selbst geht.“[2] Deutlich werden hier in besonderem Maße der Prozesscharakter sowie die Selbst-Gewahrwerdung des Wahrnehmenden, denn in der ästhetischen Wahrnehmung ist man sich selbst als Wahrnehmender gegenwärtig, bildet eine spürbare Gegenwärtigkeit des Wahrnehmungsvollzugs, reflektiert die Wahrnehmungsleistung aber nicht selbst und gibt sich einer Art der Wahrnehmung hin, bei der es gleichermaßen um die Wahrnehmung und das jeweils Wahrgenommene selbst geht, wodurch sich eine besondere Zeit und ein besonderer Raum öffnet, der auf verschiedenartigste Weise in einen Zustand erfüllter Freiheit gegenüber den alltäglichen, pragmatischen Orientierungen versetzt.[3]

Dieser Nicht-Zweck, also nicht praktische Zweck der ästhetischen Wahrnehmung, stellt so zugleich ihren Sinn dar: die gesamte Orientierung der Sinne und des Kognitiven auf ein Objekt stellt ein vollständiges Sich-Hingeben des Subjekts dar, das eine erkennende, aber auch eine Lust-Erfahrung beschreibt.


2. Die Aufschlussleistung der ästhetischen Wahrnehmung nach Seel in der Rezeption des Haus Ur

Zunächst werden nun die Strukturen der Wahrnehmung bei Martin Seel im Hinblick auf ihre ästhetische Aufschlussfähigkeit in Bezugsetzung zum Toten Haus Ur untersucht. Begegnet man dem Werk Schneiders vor dem Hintergrund der Seelschen Wahrnehmungsmethodik, so ist das Haus Ur zuerst in seiner reinen Dimension des Erscheinens zu betrachten, das heißt in der Art und Weise, wie es augenblicklich auf die Sinne des Betrachters wirkt. Implikation Seels ist es hier, als Besucher des Werks über die Wirkung der Räume mit der eigenen sinnlichen Konstitution in Kontakt zu geraten und selbst wenn dies nicht aktiv vom Besucher beabsichtigt ist, ereignet sich die ästhetische Erfahrung hier mit so einer derartigen Intensität, dass sie jedweden Rezipienten, auch passiv, in die ästhetische Erfahrung zwingt.[4] Seit Baumgarten und Kant, so zeigt Seel auf, ist die Existenz einer sensuell ausgerichteten Wahrnehmung weithin anerkannt worden. Inwieweit jedoch ist diese im Sinne Seels für die Rezeption des Hauses Ur anwendbar und aufschlussreich? Zunächst lassen sich einige Aspekte der Wahrnehmungsmethodik Seels auf Wahrnehmungsvorgänge im Haus Ur übertragen, die als Grundvoraussetzungen zur Rezeption des Werks dargestellt werden können: so wird der Besucher dem Zeit-Charakter der Wahrnehmungspraxis bei Seel entsprechen und sich ohne die Verfolgung eines praktischen Zwecks der synästhetischen Öffnung seiner Sinne der Haus-Besichtigung widmen. Die Wahrnehmung im Haus Ur ist dabei in jeder Hinsicht von selbstbezüglicher Art, handelt es sich bei dem Haus Ur doch um ein Werk, das als „wahrnehmungschoreographisches Objekt“ eigens für den Vollzug der Wahrnehmung geschaffen ist.[5] Überdies wird der Besucher modifizierten Dimensionen von gewohnten Raum- und Zeit-Verhältnissen unterworfen und ist genötigt, sich von seiner Alltagswahrnehmung abzuwenden und nach neuen Formen des Aufschlusses zu suchen. Nach Seel wäre ein hermeneutischer Zugang zum Haus Ur über das Wahrnehmungserlebnis hinaus aber nicht erstrebenswert, da es bei Seel, im Sinne von Kant, nicht Ziel der Wahrnehmung ist, von erkenntniserzeugender Beschaffenheit zu sein. Im Vordergrund steht, auch für das räumliche Wahrnehmen eines Haus Ur, die Begegnung mit den Alltagsdimensionen und ihrer Modifikation im sodann künstlerischen Kontext als Bewusstwerdung der eigenen Sinnenhaftigkeit. Die sinnlich orientierte Wahrnehmungsmethodik bei Seel macht in Bezugnahme des Werkes von Gregor Schneiders deutlich, dass Voraussetzung jeder Rezeption des Haus Ur eine Öffnung der Sinne ist. Der intensive Bezug zwischen dem ästhetischen Subjekt und dem Haus Ur als ästhetischem Objekt generiert ein ästhetisches Ereignis, das sich sodann keiner Begriffsfixierung mehr öffnet. Nach Seel wäre der Versuch einer begrifflichen Fixierung und Darstellung schon unrichtig, weil auf die sinnliche Präsenz des Objekts verzichtet wird und nur seine unveränderliche Erscheinung Darstellung findet, die aber den sinnlichen Kern des Gegenstands und im Haus Ur den Gegenstand überhaupt, nicht zu fassen vermag. Mittels Seel wird hieran deutlich, wie unzureichend die Aussagekraft sprachlicher Rationalität an dieser Stelle ist, denn die Erscheinensweise des Haus Ur ist von so intensiv sinnes-beeindruckender Art, dass nur sinnliche Aufmerksamkeit der Atmosphäre und dem Wesen des Werks überhaupt gerecht werden kann. Wie bei einem klaustrophobischen Raumerlebnis ein Gefühl der erstickenden Enge nicht mehr durch Attribute der Sprache zum Ausdruck gebracht werden kann, ist es im Haus Ur so, dass sich die Wirkung der Räumlichkeiten des Werks einer sprachlichen Fassung entzieht. Annähernd möglich ist die Mitteilbarkeit noch durch poetische Sprach-Darstellungen, wie Seel sie bei Phänomenen der Natur als Darstellung des ästhetischen Sehens darstellt.

Seel beschreibt die ästhetische Wahrnehmung als eine Wahrnehmung von ständig im Wandel befindlichen Zuständen, wie sie auch im Haus Ur spürbar sind. Der transitorische Charakter des ästhetischen Objekts ist im Falle des Haus Ur aber nicht durch den Sinn des Sehens wahrnehmbar, er erschließt sich nur über eine raumsinnliche Gesamtaufmerksamkeit des Besuchers, die ihm in subtiler Weise deutlich macht, dass gewisse Wirkungen des Raums nicht mit der Alltagsästhetik übereinstimmen. Wahrend bei Seel die Veränderlichkeit der Zustände aber auf den gewöhnlichen Einfluss von Naturereignissen zurückgeht, sind die Veränderungen im Haus Ur nicht mehr sichtlich wahrnehmbar. Der Besucher begegnet dem Haus Ur zwar mit gesamter Synästhesie, seine räumliche und zeitliche Orientierung wird dabei aber immerfort in beharrlicher Weise irritiert und getäuscht. Der ästhetische Schein, von Seel als eine Form des Fortgangs der ästhetischen Wahrnehmung dargestellt, ist für das Haus Ur in dem Sinne relevant, dass es in jeder Hinsicht von Effekten des Scheins und der damit einhergehenden Irritation lebt. Das Haus Ur ist somit nicht mehr auf der Ebene der reinen Kontemplation rezipierbar, sondern erfordert, insofern man den über die reine Erscheinensweise hinausgehenden Aufschluss erreichen möchte, das Bedeutungsverständnis des Scheins. Da bei Seel aber geäußert wird, dass der Schein nur ein weiteres Element des Erscheinens ist und ihm gegenüber Gleichgültigkeit zu bestehen habe, wird deutlich, dass im Sinne Seels keine Sinn-Vermutung über die bloße Erscheinungs- und Erscheinensweise eines Haus Ur hinaus angezeigt ist. Da das Haus Ur aber durch Bedeutung des Scheins erst seinen Sinn erhält, ist dem Sinn des Haus Ur mit der Wahrnehmungsmethodik Seels nicht vollständig beizukommen. Erreicht werden kann allein die über die sinnenfällige Kontemplation mögliche Intensivierung der eigenen sinnenfälligen Wahrnehmung und die daraus erwirkte Intensivierung des Bewusstseins über die eigene sinnliche Gestalt. Ein aber doch weiterführender Zugang zum Gehalt des Haus Ur lässt sich mit Seel über die Ebene der Imagination erreichen, wobei die Wahrnehmung mit außergegenwärtigen Attributen des Objekts „angefüllt“ werden kann und durch die Linse anderer Zusammenhänge, gleich der Strategie des Diskurswechsels von Foucault, betrieben werden kann. Hier eröffnen sich Interpretationsansätze und Sinnen-Steigerungen, welche die Aufschlusskraft des Ästhetischen in der Weise verdeutlichen, dass sie sich im Erleben des Betrachters zuträgt. Seel aber verzichtet auf die Zuschreibung eines Wirklichkeitsgehaltes durch die ästhetische Wahrnehmung und verbleibt auf der klassischen Ebene der rein sinnenfälligen Anschauung, die den Betrachter ein Sinnenerlebnis gewahr werden lässt. Das Haus Ur aber vermittelt durch seine extreme räumliche Wirkung mehr als ein bloßes Sinneserlebnis, das mit kontemplativer Sinnenfälligkeit erfasst werden kann. Das irritierende Moment, das den Besucher erfasst, verursacht eine innere Neu-Ordnung der eigenen Sinnengestalt, deren Wandel durch die ästhetische Erfahrung charakterisiert ist und ihre Aufschlusskraft veranschaulicht. Udo Kittelmann erklärt hierzu: „Gregor Schneiders Raumkonstruktionen und Raumschichtungen können, ja müssen erlebt werden. Auf das System der Räume von ‚Haus Ur / Totes Haus Ur’ bezogen, bedeutet dies, dass nicht so sehr die Betrachtung und die Sinne die Grundlage für ihr Verstehen kodieren, sondern vielmehr die von diesen ausgehenden Affekten.“[6] Es wird also deutlich, dass der Wahrnehmungsvorgang Seels breite Anfänge zur Aufschlussmöglichkeit bereit hält, jedoch der Brückenschlag zu den Gefühlsregungen, die sich beim Besucher ereignen, fehlt, da dieser eine Grenzbewegung am Rande der Erfassbarkeit und weitestgehend schon jenseits sprachlicher Darstellbarkeit ist.

Insofern lässt sich hier resümieren, dass in einem solchen, wie bislang geschilderten Sinne, immer nur von einer sprachlichen Annäherung an die Interpretation von Architektur die Rede sein kann.


3. Das Tote Haus Ur in seinen Bezügen zu Gilles Deleuze Thematik der Falte

In Hinwendung zur Leibnizschen Philosophie stellt Deleuze dar, dass die cartesianische Trennung von Leib und Seele, die bei Leibniz lediglich als Unterscheidung gefasst wird, auch in der Variante der Falte gefasst werden kann, die einen bindenden Unterschied zwischen Leib und Seele definiert. Mit dem Begriff der Falte ist dabei nicht nur eine abgrenzende Trennlinie dargestellt, sondern auch ein bewegliches Element der Verbindung. Die menschliche Seele, bei Leibniz dargestellt als die Monade, beschreibt eine in sich geschlossene Gestalt, die weitergeführt in einem Entwurf von Deleuze, einem Haus gleicht, das in seinem oberen Stockwerk die Seele beherbergt und in seinem unteren Bereich den Leib wohnen lässt, der, im Gegensatz zur Seele, Verbindungen, bzw. Fenster nach außen, zulässt. Der Bereich der Seele ist dabei nach außen hin abgeschlossen, gleicht einem Raum ohne Fenster und Türen und lässt die äußere Welt nur in Form aktualisierter innerer Vorstellungen, die über das Leibliche transportiert werden, in sich hinein. Die gesamte Einheit der Monade ist dabei von bereits angelegten Vorstellungen des Äußeren ausgekleidet, die in verschiedenen Formen der Falte auftreten, sie bilden unterschiedliche Faltungsweisen und stellten Viel-Faltungen dar, die in ständig sich verändernden Zuständen der Faltung und Entfaltung miteinander verwoben sind. In unterschiedlichen Stufen der Schattierung, Deutlichkeit und Klarheit findet die Falten-Bewegung statt, die es in ihrer ständigen Bewegtheit mit sich bringt, dass immer nur ein Bereich in der Monade beleuchtet wird, also ent-faltet wird und sich anschaubar macht. Der bezeichnende Unterschied im Wesen der Monade ist der Bereich der Seele und des Körperlich-leiblichen, der in dem Bild eines Hauses durch unterschiedliche Stockwerke veranschaulicht ist. Dennoch sind die beiden Bereiche niemals voneinander scheidbar, da sie untrennbar miteinander zusammenhängen und jede Unterscheidung nur eine weitere Falte darstellt, die Grenzen aufzeigt, aber immer bestehende Verbindungselemente darstellt. So sind auch die beiden Hauptbereiche des Deleuzeschen Hauses durch eine Falte voneinander unterschieden, die als eine der Art einer ‚trennenden Verbindungskraft’ anzusehen ist.

Das Haus Ur kann in vielerlei Hinsicht als eine konkretisierte Verwirklichung des Gedankenentwurfs der Deleuzeschen Monade verstanden werden, treten an ihm doch Gestaltungsweisen zutage, die in ihrer baulichen Art der gedanklichen Figur dem Struktursystem der Monade gleichen.[7] Das Haus Ur  kann demnach zunächst als ein Bau betrachtet werden, der, gleich der Monade, einen nach außen abgeschlossenen Raum darstellt, der seinem Besucher die Möglichkeit bietet, sich im Inneren zu reflektieren. Die Schattierungen, die in der Lichtführung des Haus Ur insbesondere im Obergeschoss vorzufinden sind, kann übertragen werden auf die Schattierungen der Falten in der Monade. Im Haus Ur stellen sie Kontraste dar, die, repräsentiert als Falten, die Seele des Betrachters in einen Wahrnehmungsmoment führen, in dem ein Entfaltungsmoment wiederum in seiner Seele ermöglicht und angeregt wird. Die Falten im Obergeschoss, im `Seelengeschoss´ der Monade, können im Schattenspiel der Lichteinfälle wieder erkannt, bzw. als Umsetzung der Faltenwürfe betrachtet werden. Sie stellen ein Stimulationsmoment dar, der die Vorstellungs-Faltungen des Äußeren repräsentiert und an denen sich die bereits angelegten seelischen Faltungen des Betrachters ent-falten und ihn, aufgrund der Abgeschlossenheit nach außen, in einen Bewusstwerdungszustand führen, die den Ent-faltungsmoment in der Seele des Betrachters für ihn selbst spürbar macht und ihn sich des Prozesses der Ent-faltung in seinem Inneren gewahr werden lässt.

Udo Kittelmann, der Gregor Schneider zur Biennale nach Venedig einlud, verglich das Haus mit einem lebenden Gehirn, „mehrfach gefaltet, sodass fern voneinander liegende Gebiete sich sehr ähnlich sind[8] und nennt hier ebenfalls Faltungen, die dem Konzept der Deleuzeschen Falte entsprechend gesetzt werden können.

Deleuze stellt daneben weiter dar, dass Seelen einen Körper haben können. Er stellt die klarste und deutlichste Projektions- und Ausdrucksform der Seele dar. Der Körper ist dabei jedoch nicht als materielle Kraft in der Seele zu verorten, sondern er bleibt ihr äußerlich, sodass der Körper die Seele nicht prägen kann, zwischen ihnen aber eine Faltungsverbindung besteht. Übertragen auf das Haus Ur kann dies so verstanden werden, dass über die körperliche Wahrnehmung die Seele angesprochen wird, die sodann, angeregt durch die körperlich-sinnlich an sie herangetragenen Informationssignale, die ihr inhärent liegenden Vorstellungsfaltungen entfaltet. Sodann sendet die Seele, gleich einer Antwort, wieder Rücksignale an das Leibliche, die für den Betrachter als Wahrnehmungsstimmungen spürbar werden. Es geschieht dadurch eine Fortentwicklung der Vorstellungen in der Seele, die neue Vorstellungspotentiale entstehen lässt und zur Genese neuer Faltungen führt. Es wird also deutlich, wie die Inflexionslinie als Berührungszone zwischen Körper und Seele in konstanter Bewegung befindlich ist. Im Haus Ur, so man die Unterteilung der Räumlichkeiten als einen Seelenbereich im Obergeschoss und einem Körper-Bereich im Untergeschoss versteht, wird es dem Besucher möglich, dem Berührungsmoment von Körper und Seele an der Inflexionslinie gewahr zu werden. Jeder Versuch Seele und Leib, also Geistig-Vernünftiges und Leiblich-Körperliches voneinander weiter zu unterscheiden setzt sich dabei aber, wie oben erwähnt, nur in der Bestimmung einer weiteren Falte fort. Dieser Vorgang kann unendlich weiter fort getrieben werden, da der Unterschied niemals aufgehoben werden kann, sondern sich nur in unendlichen Falten weiter vollziehen lässt.

Die ewige Verbindung lässt sich auch an der Gestalt des Haus Ur  wieder erkennen, da man im Keller stehend dem Infiltrationsmoment der Seele gewahr werden kann, indem sich ein Verlangen, eine Art der Sehnsucht nach dem Hellen und Klarem, dem also was im Obergeschoss vorzufinden ist, einstellt. Umgekehrt gilt dies auch für die Verwobenheit in anderer Richtung, denn die klare Linienführung und überwiegende Weißheit und Helligkeit im Obergeschoss entsprechen damit der Seele, die nach ihrem körperlich-leiblichen Anknüpfungspunkt strebt. So wie man in den hellen Räumen oben hauptsächlich das Dunkle wahrnimmt, geschieht im Untergeschoss eine Suche nach dem Hellen. Es wird somit im Haus Ur deutlich, wie die Wahrnehmung von Nicht-Sichtbarem die gemeinsame Gestalt von Seele und Leib veranschaulicht.
Die einzige Orientierung die sich in der Unendlichkeits-Bewegung der Faltungsbildung bietet, besteht, so Deleuze, in der Ähnlichkeit zwischen den sich ständig fortsetzenden, ewig sich reproduzierenden Faltungen. Diese Ähnlichkeit erweist sich als das organisierende, übergeordnete Ordnungsprinzip, das einen konstitutiven Indifferenzpunkt darstellt und versucht, nicht lediglich ein einziges übergreifend geltendes Ordnungsprinzip gelten zu lassen, sondern viele unterschiedliche Ordnungen in Form sich ähnelnder Falten bestehen zu lassen. Ein Anschluss an das transversale Denken von Welsch scheint hier passend, da auch dieses das Konzept eines übergreifenden Prinzips verfolgt. Der Vernunftbegriff von Welsch entspricht hier in der Hinsicht verbindender, unterschiedlicher Ordnungssystematik dem Begriff der übergreifenden Ähnlichkeit von Deleuze, der das Falten verbindende Element darstellt.

Jede Falte ist in ihrer Existenz an einen ständigen Vorgang der Faltung und Entfaltung gebunden wie es auch der französische Ausdruck der Falte veranschaulicht: „le pli“ ist eng gebunden an das Verbum des ex-pli-zierens, was den Vorgang der ständigen Entfaltung aufzeigt. Auch im Haus Ur  lässt sich dieser ständige Auffaltungsvorgang nachvollziehen, da es physische Falten darbietet, die sinnlich-seelisch wahrgenommen werden und es ihr ermöglichen, eigene Faltungen in unendlich vielfacher Variabilität weiter zu entfalten. Es ereignet sich so auch im Haus Ur ein „geistiges Abenteuer“[9] für den Besucher. Deleuze stellt damit das begriffliche Denken als ein Verstehen von Faltungen dar, das sich im Geschäft der Draperie mit dem Begreifen und Erforschen von Faltungsvorgängen befasst. In dieser Auseinandersetzung wird es der Seele ermöglicht, in ihr eigenes Falten-Repertoire neue Vorstellungs-Falten aufzunehmen. Deleuze verdeutlicht, dass der Vorgang dabei so vor sich geht, dass mit der Seele gelesen und mit dem Leib gesehen wird. Das Lesen der Seele ist hier als ein Differenzierungsvorgang der Wahrnehmung zu verstehen, bei dem der sehende Körper der sodann lesenden Seele die sinnlich erlebte Wahrnehmungsinformation zuträgt.

Die Gestaltungskräfte von außen treffen dabei auf ein rezipierendes Element im Inneren, das die Wirkung von Äußerem im Innern spürbar macht und die Formgebung der Falte mitkonstituiert. Falten und Entfalten kann hier jedoch nicht als ein eindimensionaler Vorgang von Anspannen und Entspannen begriffen werden, sondern stellt ein Geschehen des Umhüllens und Auswickelns dar, das in mehrdimensionaler Art auftritt und ein Rezeptor bedingt.[10] Im Haus Ur kann die Seele des Besuchers bis ins Unendliche Falten generieren und Faltungsbewegungen ausführen, körperlich-leiblich sind dem Betrachter jedoch durch die Begrenztheit der sinnlichen Wahrnehmung Grenzen gesetzt, sodass nicht jeder Neu-Faltungsvorgang vegetativ spürbar ist.[11]

Wird im umgekehrten Sinne der Körper aber zum Empfänger von seelischen Vorgängen, so drückt sich dies wiederum in anderen Arten der Faltungsbildung auf der Körperebene aus. Deleuze spricht hier von der „Zwiefalte“[12], die durch die Wirkungskette Außen – Innen – Außen entsteht. Im Werk Schneiders ist es so ebenfalls auch die Seele, die die Materie prägt und den Besucher sinnlich-körperlich wahrnehmen lässt, was eine Entfaltung auf der seelischen Ebene bedingt und vorgeformt hat, jeweils unter der Beeinflussung des Vorstellungs-Repertoires der Seele. Die Ausdruckskraft der seelischen Vorstellungsfalten wird auch im Haus Ur erkennbar deutlich, so man sich ihre Eindruckskraft auf das Physisch-Organische des Betrachters vor Augen führt.


Resümee

Das sinnliche Wahrnehmen, wie es von Martin Seel dargestellt wird, geschieht um seiner selbst willen und bereichert den Rezipienten mit einer sinnlich greifbaren Erweiterung seiner Wahrnehmung. Das zusätzlich Wahrgenommene entzieht sich dabei dem sprachlich Fassbaren und es wird deutlich, dass nicht alles, was erfahrbar ist, auch sprachlich darstellbar ist. Insbesondere im Haus Ur tritt der Rezipient in eine geistige Sphäre ein, die nicht über verstandesmäßigen Zugang erreichbar ist. Das Haus Ur lässt sich so nur mit ästhetischer Aufmerksamkeit rezipieren, es verlangt sie von seinem Besucher und bezwingt ihn gleichsam. Gregor Schneider ist es mit dem Haus Ur gelungen, ein Werk zu schaffen, das ein jeden seiner Besucher in die ästhetische Aufmerksamkeit bringt und ein Selbst-Gewahrwerden unentrinnbar herbeiführt. Dem Rezipienten eröffnen sich so Dinge, die durch kognitives, reflektorisches Nachdenken nicht erschließbar sind.

Es wird hier weiterhin auch deutlich, dass das, was sich dem Rezipienten in seiner Empfindung mitteilt und dort spürbar wird, nicht in ein verstandesbezogenes Denken transportierbar ist. Da es sich beim Denken und Empfinden um zwei verschiedene Kategorien der aktiven, bzw. passiven menschlichen Geistestätigkeit handelt, scheint die Transposition eines sinnlich Empfundenen in Sprache immer nur annäherungsweise, aber niemals gänzlich möglich. Welsch versucht es jedoch in seiner Aristoteles-Rezeption deutlich zu machen, dass jegliches sinnliches Wahrnehmen ein von Grund auf reflexives Phänomen sei, das seinen Anfang in der Empfindung und seine Vollendung in der Reflektion nehme. Der Preis einer vollendeten Wahrnehmung, die Sinnliches und Kognitives dann in sich verbindet, aber ist die sprachliche Mitteilbarkeit, die sodann nicht mehr möglich ist. Das Haus Ur verdeutlicht jedoch, dass eine Trennlinie dieser Art nicht überwunden werden kann, zeigt es sich hier doch mit besonderer Deutlichkeit, wie sehr Empfundenes sich häufig dem Verstandesmäßigen entzieht und nicht vollständig kognitiv greifbar ist. Die Verklärungsform von Architektur zeigt weiterhin, hindurch durch verschiedene historische Epochen bis hin zu neueren Formen postmoderner Architektur, dass häufig nur durch Verhüllung, bzw. durch die Deformation des Eigentlichen das Wesentliche eines Baukörpers erfasst werden kann. D.h., erst die Verschleierung der gewohnten Dimension eröffnet dem Betrachter die sinnenfällige Aufmerksamkeit für weitere Dimensionen, denen er sich öffnet, weil sie eine Irritation des Gewohnten darstellen. Mittels dieser Irritation ist sodann der Anreiz geschaffen, sich dem Neuen, aber hier vor allem dem zu öffnen, was sich dem Kognitiven und direkt sensuell Wahrnehmbaren nicht erschließt. Die gleichsam geschehende Ausschaltung des Verstandes, wie es sich im Haus Ur zum Teil zuträgt, erwirkt dabei beim Besucher die Öffnung einer inneren Dimension, die neue Formen des Denkens und Wahrnehmens, insbesondere des Empfindens, anregt. Im Sinne von Deleuze generieren sich hier neue Falten als Formen des Empfindens und Wahrnehmens, die dann ein Empfinden ermöglichen, dass die besondere Aufschlussfähigkeit der ästhetischen Wahrnehmung, nämlich die der Neu-Genese von Empfindungsstruktur und Empfindungsgut, ermöglichen. Dabei handelt es sich aber nicht um ein denkendes Empfinden der Art, dass sich Empfundenes denkend nachvollziehen ließe, sondern um Formen der Empfindung, die jenseits der Kategorien des Kognitiven und Sinnenfälligen stehend sind. Vielmehr spielt sich hier ein geistiges Wahrnehmen ab, das sich im Inneren des Betrachters ansiedelt und dessen Darstellung nicht im Außen mündet.

In vollständiger Art scheint die im Haus Ur hervorgerufene Irritation aber nicht lösbar zu sein. Damit wirft das Werk des Haus Ur im Spannungsfeld von Kunstwahrnehmung, Kunsterfahrung und Sprachbewegung eine neue perzeptive Fragestellung auf. Mit seiner fragmentarischen Wahrnehmbarkeit eröffnet es die Frage nach neuen Auseinandersetzungsformen mit Gegenständen der Kunst und ihrer Durchdringung durch die Philosophie, mittels derer es jenseits kognitiver Diskursivität oder sinnlicher Kontemplation Ansätze und Wege zu suchen gilt, die das ästhetisch Wahrnehmbare auf neue Art zu erfassen versuchen. Die Herausforderung eines Sprachaufbruchmoments, die Gregor Schneider mit seinem Werk stellt, stellt dabei einen Ausgangspunkt dar, den es künftig weiterzuentwickeln gilt.


Die Arbeit Gregor Schneiders stellt mit ihrem Erreichen von Wahrnehmungsgrenzen dar, dass über die Darstellung des Ungewohntem und unter dem Schleier des vermeintlich Gewohnten Wahrnehmungsereignisse zutage treten, die dem Betrachter auf keine gängige, tradierte Weise erschließbar sind. So ist dem Besucher des Haus Ur offen gelassen, sich von der lähmenden Normalität des Kaffeezimmers einnehmen zu lassen, oder aber in einem der Kelleräume zu versinken und kein Entrinnen mehr zu finden. Mit der Thematik extremer Raumeindrücke bleibt Schneider so auch in den Folgearbeiten des Haus Ur verhaftet; die ausgestellten Einzelteile aus dem Haus Ur oder auch die Doppelung eines Hauses, 2004 in London installiert, führen den Besucher an extreme Grenzen seiner eigenen Person. Die so fühlbare Wirkung dessen, was unkenntlich, aber doch überaus deutlich wahrnehmbar ist, zeigt sich auch an den Standort-Komplikationen der Errichtung des schwarzen Kubus Schneiders, erinnernd an die Kaaba, der 2007 in Hamburg zu sehen war. Ein weißer Kubus, aufgestellt mit der Blickrichtung nach Afrika an der Südspitze Spaniens, konnte hingegen ohne Hindernisse durch die öffentliche Verwaltung aufgestellt werden. Die Werke Schneiders eröffnen damit auch Fragen der Wahrnehmung von Bauten im allgemeinen Sinne sowie dem an den Akt des Bauens per se, der in seiner Funktion, behagliches Wohnmittel zu sein, von Schneider in ins Gegenteil verkehrt wird. Martin Heidegger legt die ursprüngliche Bedeutung des Bauens ja folgendermaßen dar:

Die Art wie du bist und wie ich bin, die Weise nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Bauen, das Wohnen. Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt wohnen. Das alte Wort bauen (…)sagt, der Mensch sei, insofern er wohne…“[13]

Schneider wendet sich mit seiner Arbeit so an eine der Urbedingungen menschlichen Befindens, verkehrt tief- und abgründiges nach dem Außen und zwingt den Betrachter zu seiner Selbstbeobachtung: „Man läuft immer tiefer um sich selbst- bis man irgendwann im Keller landet und nicht mehr herauskommt.“[14] Im Keller des Haus Ur steht man bezeichnender Weise am Ende eines der verwinkelten Gänge vor einem Spiegel; der den Spiegel der Seele, von dem häufig in der Schneider-Rezeption gesprochen wird, darstellen mag und die Konfrontation des Betrachters mit seiner eigenen Person so noch gesteigert ins sichtbar Visuelle überführt.

So ist der Besucher im Haus Ur völlig durch den Moment der Rezeption eingenommen. Wie es sich im Übrigen auch mit allen anderen Werken Schneiders verhält, ist man in dem Moment, wo man das Haus Ur betritt, völlig von der äußeren Umgebung abgeschnitten. Man vergisst sie sogar sofort. Keinen Moment lang ist man sich der räumlichen Umgebung des Werkes mehr bewusst. Die starke Wirkung, die Haus Ur auf seine Besucher hat erwirkt ein derartiges Eingenommen sein von der Arbeit, dass sich während des gesamten Besuches kaum eine reflexives Moment des Nachdenkens einstellt. Der Besuch ist so ein durchwegs emotionaler, sodass der Betrachter lediglich gefühlsbegleitet das Werk erlebt. Es handelt sich hier nicht um ein von außen gestelltes Betrachten eines Werkes; auch nicht einem Nach-Erfahren von Stofflichkeiten und Landschaft, wie aus der Land Art oder aus den Arbeiten Christos und Jeanne-Claudes bekannt, sondern um ein absolut wirkliches und neu gesetztes, erstmaliges Erleben einer Werkssituation. Dabei stößt der Betrachter nicht auf bewusst nachzuspürende Momente eines Enge- oder Freiheitsgefühls (Walter de Maria / Lightning Field), oder ein zu gewahr werdendes Moment des Erhabenen im Naturschauspiel, sondern auf Momente noch stärkerer Intensität, die sich aber einzig und allein in ihm selbst abspielen.

Schneider geht damit einen entscheidenden Moment weiter als bisherige, raumgreifende Arbeiten der Kunst, da er den Moment des Ungreifbaren, dessen, was sich auf tiefem Grund menschlichen Bewusstseins befindet, anschaulich macht. Das Nach-Außen-Kehren dessen, was sich sonst nur in einem Inneren oder verborgenen Winkel des Bewusstseins befindet und dessen Betrachtung man sich im Alltagsbewusstsein, bzw. in der Alltagswahrnehmung verweigert, tritt hier mit unweigerlicher Radikalität direkt an den Betrachter heran. All jenes, wo rum man sonst gerne eine Mauer schlägt, sei es der `Keller´ der eigenen Person, die Liebeslaube oder, wie derzeit in Bremen inszeniert, das große und kleine Wichsen, kehrt Schneider, hinführend über die entrückt gesetzte Inszenierung des Gewohnten, direkt vor das Auge des Betrachters und reißt dadurch jedwede Mauerbildungen des Bewusstseins ein.

Gregor Schneider erreicht diese Wirkungen seiner Werke durch ihre perfekte, nahtlos gesetzte Inszenierung. Bezeichnend ist hier schon die Art, wie er Besucher an seine Werke heranführt. Das ursprüngliche Haus Ur in Rheydt beispielsweise, ist nur von einigen wenigen Personen überhaupt besucht worden. Schneider lässt seine wenigen Besucher dann aber nur nachts anreisen und lädt sie zu später Stunde zu Kaffee und Kuchen in sein freundlich wirkendes Kaffeezimmer ein, das sauber und aufgeräumt wirkt. Der von Rest- und Müllgegenständen übersäte Flur und das nach Bohnerwachs riechende Treppenhaus sind dabei entrückte Elemente des Gewohnten, die man durchquert, deren Entrückung man aber, wenn überhaupt, erst nach dem Besuch gewahr wird. Gregor Schneider ist überdies kein unterhaltsamer Gesprächspartner für die Interessenten seines Werks. Er sagt und spricht sehr wenig, doch auch dies scheint bewusst gesetzt, denn die Sprache seines Werks ist die der räumlichen Inszenierung selbst. Man befindet sich hier an einem Moment, das jenseits von Sprache in ihrem gängigen Sinne liegt. Denn die Sprache der Werke Gregor Schneiders ist eine andere. Man bedenke die nächtliche Uhrzeit, zu der Gregor Schneider in sein Haus einlädt. Man bedenke die spät einsetzende Bemerkung dessen, dass bei einem nächtlichen Gespräch im Kaffeezimmer Tageslicht zum Fenster herein tritt. Betritt man Orte wie das Letzte Loch, riecht es dort, wie in einem feuchten, modrigen Keller. Und das auch im Toten Haus Ur in Venedig, wo es bekanntermaßen keine Keller gibt, ein jeder Besucher sich aber dessen sicher ist, sehr weit in einen Keller hinunter geklettert zu sein. Doch diese Irritationen erschließen sich dem Betrachter erst nach dem Verlassen des Werkes, vieles tritt auch gar nicht in ein reflexives Bewusstsein hinüber.

Die Wirkung des Haus Ur im Unterbewussten des Besuchers ist damit so exakt geplant und gearbeitet, so voll Atmosphäre gesetzt, dass der Betrachter keine Möglichkeit hat, sich einer direkten Auswirkung in seiner Emotion zu entziehen. Insbesondere die ungreifbaren Zwischenräume zwischen seinen Wänden, die nicht erfahrbar sind, von denen aber die Wirkung im erfahrbaren Raum ausgeht, sind hier wirksam. Mit extremerer Radikalität als bisher aus künstlerischem Arbeiten bekannt, zeigt das Haus Ur, dass ein jeder Bereiche in sich trägt, die er nicht bewältigen kann. In der Konfrontierung damit im Haus Ur setzt sodann der Moment des Erschreckens ein. Die Frage danach, was genau man bei einem Werkbesuch einer Schneiderschen Arbeit erlebt hat, lässt sich aber oftmals nicht beantworten, da sich neben der sprachlichen Un-Fassbarkeit eine Wieder-Zusammensetzung des Erlebnisses über die kognitive Ebene nicht gänzlich ermöglicht wird. Das Werk verlangt es so, sich auf etwas einzulassen, dessen man nicht habhaft werden kann.

An diesem Aufbruchsmoment des Kognitiven Bewusstseins ginge es nun darum, das ahnbare Andere näher zu betrachten und Wege eines Umganges zu bahnen, die sich dem an der Schwelle des Habhaften befindlichen nähern und seine Wirkung, insbesondere in der Kunst-Rezeption, untersuchen.

Methodisch wären dazu auch andere Gegenstände der Wahrnehmung, bzw. Raumwahrnehmung einzubeziehen, um Wahrnehmungsmechanismen genauer auszuloten und Grenzbereiche des in Sprache nicht mehr fassbaren, doch stark Wirkenden zu untersuchen. Neuere Werke Schneiders, wie der schwarze Kubus, der das Raumverständnis von Schneider, das Nach-Außen-Kehrens eines dunklen Unkenntlichen in seiner öffentlichen Wirkung darstellt, können hier näher beleuchtet werden, aber beispielsweise auch Räume des öffentlichen Lebens, die ebenfalls durch ihre jeweilige Betätigungspraxis aufgeladen und für eine Wahrnehmung darin erfassbar sind. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die Wahrnehmung und Wirkung dessen zu legen, was Orte in ihrer Wahrnehmbarkeit prägt, aber nicht mehr oder noch nicht stattgefunden hat. Die Frage danach, was ein Raumerleben prägt, bzw. welche Formen der Praxis Wirkungen an einem Ort hinterlassen, die auch nach ihrem Geschehen wahrnehmbar sind, verlangt nach einer weiterführenden Klärung, die auch psychologische Positionen mit einbezieht und das räumliche Wirken, dem man sich, wie im Haus Ur deutlich, nur durch ahnendes Vermuten nähern kann, beleuchtet. Die Ästhetik Martin Seels ist dafür in ihrer Bedeutsamkeit der ästhetischen Kontemplation von besonderem Wert, da sich mittels der ästhetischen Wahrnehmung von Seel eine Gewahrwerdung des nur Ahnbaren einstellt. Die Berücksichtigung von Atmosphäre und Wahrnehmung von Sinneseindrücken ist dabei von besonderem Wert. Die Übertragung des Wahrgenommenen sodann in ein reflexives Moment, wie sie in der Ästhetik von Welsch und im aristotelischen Erkennen vorgeschlagen ist, ist ein weiterführender Schritt, der in seinem Zulassen auch von sich verweigernder Intersubjektivität ein Baustein der Aufschlussfähigkeit des Ästhetischen darstellt. Das auch „Für-wahr-nehmen“ dessen, was sich dem empirisch Habhaften entzieht, gilt es somit zu untersuchen und insbesondere die Wirkungen der Elemente erkenntlich zu machen, die nachweislich geschehen oder vorhanden sind, sich aber nur vermutend wahrnehmen lassen und die Handlungsweise und Befinden des Subjekts aber bedeutsam beeinflussen.


 



Literatur:

Böhringer, Hannes: Attention im Clair-obscur. Die Avantgarde. In: Aisthesis. Leipzig 1990.

Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt am Main 1995.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1993.

Kittelmann, Udo: Seiner Seele ein Haus bauen.
In: Kat. Ausst. Gregor Schneider.
Totes Haus Ur. La Biennale di Venezia 2001. Ostfildern-Ruit 2001.

Rühle, Alex: Wer reinkommt, ist draußen. Süddeutsche Zeitung Nr. 39/2003. München 2003.

Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/Main 1993.

Stecker, Raimund: Nichtraumarchitekturen. In: Impulse Nr. 17, Galerie Löhrl Mönchengladbach 1997.
 


 


Anmerkungen:

[1] Seel 1993 S. 17.

[2] Ebd. S. 21.

[3] Seel 1993 S. 17 und 36.

[4] Veranschaulichend hierzu auch das Kommentar Udo Kittelmann dem Kurator der Venediger Ausstellung:
Der Aufenthalt im Haus ist grundsätzlich nicht zu trennen von Stimmungen, Gefühlen und Affekten und ist daher zuallererst eher emotional als rational erfahrbar, wie dies ja auch für so gewöhnliche Erfahrungen wie Weite und Enge, Aufhellung und Verdunkelung gilt.“

Kittelmann, Udo: Seiner Seele ein Haus bauen. In: Kat. Ausst. Gregor Schneider. Totes Haus Ur. La Biennale di Venezia 2001. Ostfildern-Ruit 2001. S. 15.

[5] Vgl. dazu Kittelmann 2001: „Schneiders 'Totes Haus ur' ist in vielerlei Richtungen lesbar: Es ist Sinnbild und Bildentwurf, begehbare Geschichte und Psychogramm in einem. (…) Die Kunst aber braucht bekanntermaßen die Differenz gegenüber der Wirklichkeit, gegenüber dem Leben.“

[6] Kittelmann 2001, S. 15.

[7] Vgl. hierzu: „Gregor Schneiders äußeres Sehen ist verbunden mit dem inneren Sehen der Körpergefühle.“ (Kittelmann 2001, S. 18) Damit ist das Eindringen in einen Raum ermöglicht, das wesentlich weiter reicht, als Kunstwerke dies normalerweise ermöglichen. Die Bewegung in diesem Raum erzeugt Effekte, die den Faltungsprozessen in der Monade in vielerlei Hinsicht entsprechen, da Haus Ur den Rezipienten direkt berührt und nicht über symbolische  Ebenen agiert.

[8] Kittelmann, Udo zit. in: Rühle 2003. S. 12.

[9] Deleuze S. 49.

[10] Ebd. S. 20.

[11] Vgl. dazu: „In dem Maße, wie die Kunst ins Leben drängt, wird das Leben zur Kunst. Indem sich das Systems öffnet, verschließt es sich. Die Transparenz steht im Zwielicht der Durchsichtigkeit und des selbst erzeugten Scheins. Diese Indifferenz von Hell zu Dunkel, Aufklärung und Verschleierung ist die größte Herausforderung für die Diskretion des Aufmerksamkeit.“
Böhringer, Hannes: Attention im Clair-obscur. Die Avantgarde. In: Aisthesis. Leipzig 1990. S. 31.

[12] Deleuze S. 53.

[13] Heidegger, Martin. Zit. in: Stecker 1997.

[14] Gregor Schneider zit. in Rühle 2003.

 

 


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