Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1, Mai 2009

 

___Ulrike Seeger
Stuttgart
  Architektur der Wege –
Neue Wege der Architekturinterpretation am Beispiel des Stuttgarter Hauptbahnhofs

 

    Interpretationen historischer Architektur beziehen ihre Argumente im Wesentlichen aus zwei Informationsquellen. Die eine ist die spezifische Planungs- und Baugeschichte, die es aus Schrift- und Bildquellen herauszufiltern gilt. Die andere ist die vergleichende Analyse des Baus, deren Vorgehensweise stets subjektiv und zeitgebunden sein wird. Bei den Bauten des 20. Jahrhunderts kommen als dritte Quelle die kommentierenden Selbstzeugnisse der Architekten hinzu, deren Authentizität freilich oft dazu verleitet, sie als scheinbar erschöpfende Interpretationen überzubewerten. Aus der Sicht der Autorin wird bei historischer Profanarchitektur in den wenigsten Interpretationen die Quelle Bau ausgeschöpft. Meist wird der zu analysierende Bau nur partiell mit seiner Fassade und den einzelnen architektonisch gegliederten Innenräumen wie Vestibül (Foyer), Treppenhaus und Saal wahrgenommen. Architektur erfüllt die ihr zugedachten Funktionen jedoch nicht nur durch die Fassade und die architektonisch gegliederten Innenräume, sondern ganz wesentlich auch durch die Wegeführung und die fortlaufende Inszenierung der Räume als Raumfolge.

Im Folgenden soll am Beispiel des Stuttgarter Hauptbahnhofes, der 1914-28 durch Paul Bonatz (1877-1956) und Friedrich Eugen Scholer (1874-1949) errichtet wurde,[1] exemplarisch die Wegeführung und die Inszenierung von Raumfolgen analysiert werden, um dadurch die hohe funktionale und ästhetische Qualität des Baus zum Ausdruck zu bringen. Dabei erweist sich der Stuttgarter Hauptbahnhof in zweifacher Hinsicht als geeignetes Anschauungsobjekt. Zum einen ist er als Bahnhof in besonderem Maße Architektur der Bewegung und des Durchlaufenwerdens. Zum anderen ist er durch das Projekt „Stuttgart 21“ akut vom Teilabriss bedroht[2] und benötigt dringend Fürsprecher, die seine architektonischen Qualitäten eben nicht allein in der Fassade, sondern auch in den Wegen und Raumfolgen erkennen.


Planungsgeschichte und Vorgaben
 
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Abbildung 1:
Stuttgart, Hauptbahnhof,
Modell des Wettbewerbsentwurfs von Bonatz und Scholer, 1911
 
  Der Stuttgarter Hauptbahnhof hat vom Wettbewerbsentwurf von 1911 (Abbildung 1) bis zur Grundsteinlegung 1914 eine intensive Planungsgeschichte durchlaufen, in deren Verlauf der Außenbau und die funktionale Ausgestaltung der einzelnen Bereiche wesentliche Klärung erfuhren.[3] An der Formfindung wirkten außer den beiden Architekten die königliche Generaldirektion der württembergischen Staatseisenbahnen als Bauherrin und ein beratend tätiger „Eisenbahngeheimrat“ aus Berlin mit, den Bonatz in seinen Lebenserinnerungen erwähnt.[4] Die städtebaulichen und funktionalen Anforderungen an den Bau hatte die Generaldirektion in einem Vorentwurf dargelegt, der als anschauliche Grundlage der Wettbewerbsausschreibung beigegeben war.[5] Im Gegensatz zum alten, seit 1844 errichteten Bahnhof, der in Sichtweite zum königlichen Residenzschloss erbaut worden war und sich deshalb im Stadtzentrum befand, sollte sich der neue, nunmehr doppelt so große Bahnhof am Rand der historischen Innenstadt erheben. Städtebaulich übernahm er dadurch die Funktion eines Tores, durch das man die Stadt von auswärts kommend betrat, von innen kommend verließ.

Der neue Standort war so gewählt, dass die Gleistrasse des alten Bahnhofs beibehalten und zukünftig für die Nahverkehrszüge genutzt werden sollte. Die Beibehaltung der alten Gleistrasse, die zudem so lange funktionstüchtig bleiben musste bis der Neubau ihre Funktion übernehmen konnte, brachte einen abschnittsweisen Bauverlauf des neuen Bahnhofs mit sich. Zudem entfiel die Möglichkeit einer imposanten, alle Gleise überspannenden Gleishalle, wie sie im 19. Jahrhundert als großartige Ingenieursleistungen in Kopfbahnhöfen errichtet worden waren.[6]

Die von der Generaldirektion vorgeschlagene Dreiteilung der Gleishalle, die die nachträgliche Überwölbung der Nahverkehrsgleise zugelassen hätte, wurde von Bonatz und Scholer im Wettbewerbsentwurf zwar aufgegriffen,[7] dann aber nicht realisiert. Stattdessen sahen sie niedrige Hallen über jedem einzelnen Bahnsteig vor, was zwar nicht besonders repräsentativ aussah, sich dafür aber für den Bauverlauf und den Komfort der Reisenden als überaus zweckmäßig erwies. Die einzelnen Bauabschnitte konnten beliebig groß gewählt werden. Der Reisende war geschützt und zwar nicht nur vor Regen und Schnee, sondern auch vor dem rußigen Dampf der Lokomotiven, da dieser zwischen den Bahnsteigüberdachungen durch Rauchschlitze ins Freie entweichen konnte.[8] Die bei dieser Lösung erforderlichen Zwischenstützen standen auf den Gepäckbahnsteigen, so dass die Einstiegsbahnsteige frei blieben als Aktionsraum der Reisenden.[9]


Kubischer Außenbau
 
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Abbildung 2:
Stuttgart, Hauptbahnhof,
Planung bei Baubeginn
 
  Das funktionale Durchdringen der Bauaufgabe Bahnhof, das bei den Gleishallen zu einer noch ungewohnten Lösung geführt hatte, wirkte sich am Außenbau in der Reduktion auf geometrische Grundformen aus. Der zur Ausführung gelangte Bau besteht aus asymmetrisch gruppierten Kuben, die die drei Hauptrichtungen, nämlich Breite, Tiefe und Höhe in ausgewogener Weise in sich vereinen (Abbildung 2). Das breit gelagerte Empfangsgebäude, dessen Fassade im 25achsigen Mittelteil durch hohe Pfeilerkolonnaden in gleichmäßiger Abfolge gegliedert wird, wird von zwei Risaliten durchdrungen, die die Eingänge für Reisende des Fern- und des Nahverkehrs aufnehmen. Der gemäß seiner Bedeutung größere Risalit des Fernverkehreingangs überragt das Empfangsgebäude und setzt sich als eigenständiger Baukörper in die Tiefe fort. Der Risalit für den Eingang des Nahverkehrs bildet den in die Tiefe führenden Kubus hingegen zurückhaltender aus. Die dritte Dimension der Höhe vertritt der Bahnhofsturm, der sich als Schlussakzent der Stadtseite rechter Hand an den Risalit des Fernverkehrseingangs anschließt. Seine planvolle Stellung im Gesamtgefüge ist vor allem an der Nordseite[10] zu erkennen, wo er den Abschluss der langgestreckt in die Tiefe führenden Kopfbahnsteighalle bildet.

Die Hervorhebung des Fernverkehreingangs durch die größere Risalithöhe wird dadurch verstärkt, dass er symmetrisch von Zwischenachsen flankiert wird, deren Gestaltung für die drei südlichsten Achsen des Empfangsgebäudes übernommen wurde. Diese drei südlichsten Achsen sollten sich bei Baubeginn an den vier nördlichsten Achsen wiederholen. Die Stadtseite hätte dadurch eine symmetrische Rahmung erhalten. Als der nördliche Bauabschnitt erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs realisiert werden konnte, brachten Bonatz und Scholer hier jedoch eine Lochfassade zur Ausführung. Sie trugen damit dem Umstand Rechnung, dass sich hinter diesen Achsen das erst 1925 eingeplante Reichsbahnhotel befand,[11] mithin also eine andere Funktion untergebracht war als hinter dem entsprechenden Fassadenabschnitt an der Südseite.
 
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Abbildung 3:
Stuttgart, Hauptbahnhof,
Grundriss des ausgeführten Baus
 
  Die Verteilung der Funktionen (Abbildung 3) und damit die Anordnung der Baublöcke entwickelten Bonatz und Scholer aus städtebaulichen Vorgaben. Der Haupteingang für die Reisenden des Fernverkehrs lag knapp neben der Achse der von königlichen Nutzbauten flankierten Königstraße, die ihren weithin sichtbaren Abschluss im Bahnhofsturm erhielt. Der Eingang für die Reisenden des Nahverkehrs mit anschließender Kleiner Schalterhalle lag in der Achse der alten Gleistrasse und wurde durch die neu angelegte Lautenschlagerstraße erschlossen. Dennoch war seine Anlage keine Selbstverständlichkeit. Bis dahin waren Bahnhöfe mit nur einem Haupteingang errichtet worden, die Auftrennung der Reisenden erfolgte erst in der Empfangshalle.[12] Eingespannt zwischen den beiden Eingängen lagen das Empfangsgebäude und parallel dazu die Kopfbahnsteighalle mit allen damals erdenklichen Servicefunktionen. Für das Reichsbahnhotel, das das erste seiner Art war,[13] wurde die als vergleichsweise ruhig erachtete Nordecke gewählt. Verwaltungsfunktionen wurden entlang der Gleise untergebracht und zwar im Süden Diensträume, im Norden das Postzentrum.

Die Reduktion auf Grundformen und Hauptrichtungen bestimmt neben der Ausrichtung der Kuben auch die Gliederung der einzelnen Fassadenabschnitte. Das Empfangsgebäude, das zur Aufnahme seiner vielfältigen Funktionen vier Stockwerke umfasst, wird durch eine eingeschossige Fassadengliederung monumentalisiert. Hohe, drei Geschosse umfassende Rechteckstützen tragen als viertes Stockwerk eine durchlaufende Attika. Die sparsam eingesetzten Reminiszenzen an die Architektur der Säulenordnungen dienen zur Auszeichnung des Mittelteils und zur Tektonisierung der gewagten Proportionierung. Zudem erzeugt die dem Baukörper vorgelegte Pfeilerkolonnade eine Tiefe, die die Breitenlagerung der Fassade und die Höhe der Rechteckstützen im oben erläuterten Sinn ergänzt.


Menschenmaß und Übermaß als Leitmotiv der Wegeführung

Eine besonders für die Wegeführung wichtige Tiefenwirkung entfalten die hohen Rundbogenöffnungen der beiden Haupteingänge. Ihre Öffnungen sind verschattet, was ihre Monumentalität verstärkt und insbesondere am Eingang zu den Nahverkehrszügen einen höhlenartigen Eindruck hervorruft. Die starke Präsenz dieser Rundbogen-Öffnungen wurde von Anfang an mit der oben angesprochenen Stadttorfunktion des Bahnhofs assoziiert.[14] Für die Wegeführung besteht ihre Funktion in der Signalwirkung der Eingänge, die über die reine Durchgangsfunktion hinausgeht. Folgerichtig ist das transitorische Gegenstück, nämlich der Ausgang, am Außenbau gar nicht zu sehen. Er liegt hinter den drei mittleren Achsen der Pfeilerkolonnade und ist von außen als solcher nicht erkennbar.
 
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Abbildung 4
Stuttgart, Hauptbahnhof, Nordeingang (historische Aufnahme)

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Abbildung 5:
Stuttgart, Hauptbahnhof,
Große Schalterhalle von Westen (historische Aufnahme)
 
  Die Rundbogen-Öffnungen der Eingänge nehmen als Durchgänge jeweils drei gleichbreite zweiflügelige Türen von relativ geringer Höhe auf. Leitmotivisch wird diese Anordnung mehrmals variiert und zwar am Außenbau und im Inneren. Sie lebt vom Kontrast zwischen der übermenschlich hohen Rundbogenöffnung und den auf Menschenmaß abgestimmten Türöffnungen. Am Außenbau kommt das Leitmotiv Eingang ein weiteres Mal am Nordeingang vor (Abbildung 4). An dieser Seite, wo die Kopfbahnsteighalle zu ebener Erde betreten werden konnte, befand sich ursprünglich ein Platz mit Wendeschleife der Straßenbahn. Im Unterschied zu den beiden Haupteingängen der Stadtseite führte hier keine Straße auf den Eingang zu. Um auch diesem Eingang zusätzlich zur verschatteten Rundbogenöffnung zu einer Sogwirkung zu verhelfen, flankierten ihn Bonatz und Scholer mit den um eine Achse vor die Portalflucht tretenden Trakten von Reichsbahnhotel und Postzentrum. Der Eingang wirkt wie in eine Schlucht eingeklemmt, was gestalterisch als Ausgleich zu den Straßenschluchten der beiden anderen Eingänge gesehen werden darf. Ergänzt wird das Leitmotiv des Eingangs durch die Uhr, die sich in gleich bleibender Größe mit variierendem Anbringungsort über jedem der drei Eingänge findet.

Die an den Eingängen als Leitmotiv herausgearbeitete Kontrastierung von Übermaß und Menschenmaß findet sich im Inneren nicht nur in formaler Hinsicht wieder, sondern erweist sich dort sogar als wichtigstes Gestaltungsprinzip einer spannungsreichen Inszenierung der Raumfolgen. Besonders eindrücklich lässt sich dies anhand des Haupteingangs für den Fernverkehr und der dahinter liegenden Großen Schalterhalle erläutern. Der Kontrast zwischen Übermaß und Menschenmaß, der dem Reisenden zunächst nur als architektonische Gliederung bildhaft vor Augen steht, wird beim Passieren des Eingangs zum physisch-psychischen Erlebnis. Ganz im Gegensatz zur Großzügigkeit und Monumentalität, die in der Fernsicht von der von vertikalen Streben durchzogenen Rundbogenöffnung ausgeht, ist der Durchgang nieder und dunkel. Er wird von einem weit vorkragenden Schutzdach beschattet und führt zunächst in einen niedrigen Windfang, der durch tiefe Stützen in drei schmale Schiffe unterteilt ist. Erst dahinter öffnet sich die Große Schalterhalle, deren übermenschliche Höhe und monumentale Größe nach der bedrückenden Enge des Windfangs umso überwältigender wirkt (Abbildung 5).

Die Große Schalterhalle ist der am meisten repräsentative Innenraum eines Bahnhofs. Er hat Vestibülcharakter, da von ihm mehrere Wege abgehen. Im Stuttgarter Hauptbahnhof ist der wichtigste Weg, nämlich der zur Kopfbahnsteighalle und den Zügen, mit suggestiven Mitteln klar vorgegeben. Obwohl sich auch an den Schmalseiten große Rundbogen zu Gepäckannahme und Auskunft öffnen, findet sich das Leitmotiv Eingang nur auf dem Weg zur Kopfbahnsteighalle. Das Motiv ist in seiner Monumentalität insofern etwas zurückgenommen, als die Rundbogenöffnung nur im Bogenfeld durchfenstert ist. Damit wurde sie an die Blendgliederung der Kopfbahnsteighalle angeglichen, auf die sie zugleich vorbereitet. Da die Kopfbahnsteighalle über dem Straßenniveau der Stadtseite liegt, führt eine zentrale Freitreppe zum Durchgang.

Das Prinzip des niedrigen Durchgangs, auf den eine monumentale Halle folgt, wiederholt sich auf den Hauptverkehrswegen des Stuttgarter Hauptbahnhofes durchgehend. Es wiederholt sich beim Betreten der Kopfbahnsteighalle und zwar sowohl von der Großen und Kleinen Schalterhalle und dem Nordeingang aus als auch von den Bahnsteigen. Dadurch, dass die Gleise nicht von einer weit gespannten Eisen-Glas-Konstruktion überfangen sind sondern über die oben beschriebenen Einzelüberdachungen verfügen, sind die Öffnungen zwischen Kopfbahnsteighalle und Bahnsteigen verhältnismäßig niedrig, wenngleich sie freilich deutlich größer als die Türöffnungen der Eingänge sind.

Das Prinzip der Kontrastierung beschränkt sich im Stuttgarter Hauptbahnhof auf die Abfolge der Räume. Die einzelnen Räume hingegen haben eine ausgesprochen ausgewogene Gliederung erhalten. Beispielsweise betont in der Großen Schalterhalle die Sandstein-Quaderung der Wände die Horizontale und bildet ein Gegengewicht zum Höhenzug der schmalen hochrechteckigen Fenster. Außerdem wirkt die einst bemalte Balkendecke dem Höhen- und Tiefenzug des Raumes entgegen. Ähnlich verhält es sich in der Kopfbahnsteighalle, deren heute rot verputzten Wände ursprünglich steinsichtig in Backstein waren. Hier wirkte ebenfalls eine Balkendecke dem enormen Tiefenzug der 167 Meter langen Halle entgegen.
 
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Abbildung 6:
Stuttgart, Hauptbahnhof,
Ausgang von Westen (historische Aufnahme)

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Abbildung 7:
Stuttgart, Hauptbahnhof,
Ausgang von Osten

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Abbildung 8:
Stuttgart, Hauptbahnhof,
Kleine Schalterhalle von Osten (historische Aufnahme)

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Abbildung 9:
Stuttgart, Hauptbahnhof, Pfeilerkolonnaden des Empfangsgebäudes, Plafond

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Abbildung 10:
Stuttgart, Hauptbahnhof,
Cafésalon im vierten Turmgeschoss (historische Aufnahme)
  Einzig beim Ausgang (Abbildung 6) weicht die spannungsreiche Inszenierung der Raumfolgen durch die ständige Kontrastierung von Menschenmaß und Übermaß einer fließenden Bewegung. Das breite Treppenhaus, das von der Kopfbahnsteighalle hinaus in die Stadt führt, ist mit einer am oberen Ende der Treppe nieder ansetzenden Balkendecke flach gedeckt. Dadurch, dass die Stufen nach unten führen, wird der Raum für den Weggehenden kontinuierlich höher. Der angenehme Eindruck des sich aufweitenden Raums wird durch die kontinuierlich sich vergrößernde Lichtfülle verstärkt. Zwar erhält das Treppenhaus etwas Tageslicht durch je drei auf Lichthöfe geöffnete Rundfenster, doch bieten die mit Abstand größte Lichtfülle die drei über die gesamte Höhe der Pfeilerkolonnaden geöffneten Ausgänge (Abbildung 7).


Historistische Architekturfaszinationen

Den raffiniertesten, zugleich aber auch unruhigsten Mauerverband weist die Kleine Schalterhalle auf, wo in horizontalen Schichten Muschelkalk und Backstein rhythmisch aufeinander folgen (Abbildung 8). Der Raum bekommt dadurch einen merkwürdig in sich geschlossenen Charakter, der möglicherweise mit Planmodifikationen des zweiten, erst 1924 begonnenen Bauabschnittes zusammenhängt. Bonatz hat diese Planmodifikationen, zu denen beispielsweise auch die parabelförmige Stelzung des Eingangsbogens für die Nahverkehrsreisenden gehörte, mit seinem Streben nach Leichtigkeit und Entfernung vom Klassizismus begründet.[15]

In der Tat wurden bei der Eindeckung der Pfeilerkolonnade die antikisch inspirierten Steinkassetten aufgegeben (Abbildung 9). Was an ihre Stelle trat, nämlich freundlich helle Backsteingewölbe und Flachdecken über Backstein-Schwibbbögen, erinnert ebenso wie die Kleine Schalterhalle an italienische Bettelordenskirchen. Vermutlich hat sich Bonatz von der damals gängigen kunsthistorischen Auffassung der Bettelordensarchitektur als „Reduktionsgotik“ leiten lassen. Wohl nicht ganz zufällig waren die Bettelordenskirchen auch ein Thema der gleichzeitigen expressionistischen Kunstgeschichte, die die oft kargen Räume in ihrem ästhetischen Gehalt aufwertete, indem sie sie nicht als bloße Reduktion der Gotik, sondern als Wegbereiter der „entmaterialisierten“, im Expressionismus sehr geschätzten Spätgotik begriff.[16]

Am Buckelquaderverband des Außenbaus, der zusammen mit den vertikalen Streben der Rundbogenöffnungen als „Ritterburg- und Kathedralromantik“ angeprangert worden war,[17] hätte Bonatz hingegen auch nach 1924 noch festgehalten.[18] Der seit der Planung der Stuttgarter Weißenhofsiedlung spitzer werdenden Kritik zum Trotz schien ihm der monumentale Festungscharakter des Bahnhofs seiner Bauaufgabe nach wie vor angemessen. Durch die kriegsbedingt außergewöhnlich lange Bauzeit des Hauptbahnhofes wurden die beiden wichtigen Stuttgarter Bauprojekte des frühen 20. Jahrhunderts gleichzeitig fertig gestellt. Die Einweihung des gesamten Bahnhofs mit Reichsbahnhotel konnte am 22. Juli 1927 gefeiert werden,[19] also gerade rechtzeitig vor der Eröffnung der international ausgerichteten Werkbundausstellung „Die Wohnung“ am 23. Juli 1927.

Historisierende Gestaltungselemente prägen auch das Innere des Bahnhofsturms, der auf acht Geschossen Sitzungssäle und gehobene Gastronomie bot. Ursprünglich sollte auf dem Niveau der Kopfbahnsteighalle der Warteraum der königlichen Familie eingerichtet werden, doch war diese exklusive Nutzung nach dem Ende der Monarchie 1918 obsolet. Bonatz und Scholer widmeten den durch den Einbau von zwei Wendeltreppen und zwei Aufzügen kreuzförmigen Turmräumen große Aufmerksamkeit.[20] Die wohl raffiniertesten Raumeindrücke bot das Café, dessen Salons vom vierten bis zum sechsten Geschoss reichten, während die Speisen im siebten Geschoss zubereitet wurden. Weite kreisförmige Fußbodenöffnungen verbanden die Salons miteinander, so dass fünftes und sechstes Geschoss die Galerien des vierten Geschosses bildeten, in dem es ein Musikpodium gab (Abbildung 10). Der insgesamt 17 Meter hohe, schachtartige Raum lebte von einer spannungsreichen Lichtführung. Er erhielt nur bei Tag direktes Licht von den Seiten. Ansonsten dominierte das indirekte Licht von oben, das bei Nacht durch Lampen dramatisch gesteigert werden konnte. Derartige Lichteffekte, die Decken- und Fußbodenöffnungen in kleinen Zentralräumen erzeugen, erinnern daran, wie im Expressionismus die romanischen Doppelkapellen mit ihrer Erd- und Obergeschoss verbindenden Öffnung wahrgenommen wurden. Die Forscher waren damals vor allem von den Lichteffekten fasziniert, die sich um die Verbindungsöffnungen „ankristallisierten“.[21]


Raumfolgen zwischen Expressionismus und Moderne

Raumfolgen und Wegeführung des Stuttgarter Hauptbahnhofs stehen zwischen Expressionismus und Moderne. Der leitmotivische Wechsel von Menschenmaß und Übermaß ist in seiner starken Wirkung auf den Reisenden dem Expressionismus verhaftet. Die stringente Wegeführung hingegen, die klare, zweckmäßig Wege vorgab und die Raumbedürfnisse der Reisenden berücksichtigte, weisen auf die Moderne voraus. An dieser Stelle sind auch die verborgenen Wege zu erwähnen, wie die des Gepäcks, das vom Annahmeschalter linker Hand der Großen Schalterhalle unter der Kopfbahnsteighalle hindurch mittels Aufzügen zu den Gepäckbahnsteigen gebracht wurde,[22] oder die der Post, für die es einen eigenen Tunnel vom Postzentrum bis zum nördlichsten Gleis des Fernverkehrs gab.

Wie Bonatz in seinen Lebenserinnerungen schreibt, verdankte die Funktionsverteilung und Wegeführung des Bahnhofs sehr viel dem Gutachten des Berliner Eisenbahngeheimrates. Es handelte sich um den Geheimen Baurat Alexander Rüdell (1852-1920), der durch die Planung und zum Teil auch Errichtung der Bahnhöfe von Stralsund (1903-05), Luxemburg (nach 1902), Wiesbaden, Koblenz, Essen und Worms einschlägig erfahren war.[23] Im Oktober 1911 kam er nach Stuttgart, um die Pläne der Eisenbahnverwaltung und des Siegerentwurfs kritisch zu prüfen. Das Ergebnis fasste er in sechs Forderungen zusammen, die Bonatz dazu veranlassten „einen neuen Grundriß auf[zuzeichnen], der sich in etwa deckt mit dem heute ausgeführten“.[24] Derartige für die Zweckmäßigkeit und funktionale Umsetzung eines Baus einflussreiche Gutachten sind im 20. Jahrhundert mehrfach dokumentiert,[25] werden allerdings von der auf einzelne herausragende Architektenpersönlichkeiten fixierten Architekturgeschichtsschreibung in ihrer Bedeutung für die Formfindung meist ignoriert. Stellt man anstelle der Architekten den Bau in den Mittelpunkt der Untersuchung, eröffnen sich weitergehende Möglichkeiten der Analyse und Deutung, wie sie oben stehend am Beispiel des Stuttgarter Hauptbahnhofes ausgeführt werden konnten. Die Leistung von Bonatz und Scholer lag somit in der formal-räumlichen Umsetzung dieser theoretischen Forderungen durch einerseits die funktionshierarchische Gruppierung von Baukörpern[26] und andererseits die spannungsvolle Inszenierung der Wege.



 



Literaturverzeichnis:
 

Bonatz, Paul: Der Bahnhof in Stuttgart und andere Arbeiten der Architekten Paul Bonatz und F. E. Scholer, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 12 (1928), S. 145-152.

Bonatz, Paul: Leben und Bauen, Stuttgart 1950, S. 63-64.

Burkhardt, Berthold/Weber, Christiane: Das Arbeitsamtsgebäude von Walter Gropius in Dessau (1929-1999), in: Dessauer Kalender 2000, Dessau 1999, S. 2-17.

Dübbers, Peter: Werkverzeichnis Paul Bonatz. Arbeiten aus den Jahren 1899 bis 1956, in: Paul Bonatz 1877-1956 (Stuttgarter Beiträge, 13), Stuttgart 1977, S. 43-89.

Hegemann, Walter: Nachwort über die Arbeiten von Bonatz und Scholer und: Renaissance des Mittelalters?, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 12 (1928), S. 153-166.

Hofer, Sigrid: Reformarchitektur 1900-1918. Deutsche Baukünstler auf der Suche nach dem nationalen Stil, Stuttgart/London 2005, S. 66-71.

Roser, Mathias: Der Stuttgarter Hauptbahnhof. Ein vergessenes Meisterwerk der Moderne, Stuttgart 1987.

Schenkluhn, Wolfgang: Richard Krautheimer und die Architektur der Bettelorden, in: Hallesche Beiträge zur Kunstgeschichte, 5 (2004), S. 83-92.

Seeger, Ulrike: Oskar Schürer und das expressionistische Lichterspiel der romanischen Doppelkapelle, in: Hallesche Beiträge zur Kunstgeschichte, 5 (2004), S. 103-116.

Werner, Frank: Paul Bonatz 1877-1956. Architekt ohne Avantgarde, in: Paul Bonatz 1877-1956 (Stuttgarter Beiträge, 13), Stuttgart 1977, S. 7-36, hier 14-16.

65 Jahre Stuttgarter Hauptbahnhof 1922-1987, hg. von der Deutschen Bundesbahn, Bundesbahndirektion Stuttgart, Stuttgart 1987.


 


 
Abbildungsnachweis:


Abbildung 1: Dübbers 1977.
Abbildung 2: 65 Jahre Stuttgarter Hauptbahnhof.
Abbildungen 3 bis 6, 8 und 10: Archiv Autorin.
Abbildungen 7 und 9: Autorin.


 



A
nmerkungen:

[1] Die wichtigste Literatur: Bonatz 1928; Werner 1977; Roser 1987; 65 Jahre Stuttgarter Hauptbahnhof 1987; Hofer 2005, S. 66-71.

[3] Bonatz 1928; Werner 1977, S. 14; Roser 1987, S. 5-21; Hofer 2005, S. 66-67.

[4] Bonatz 1950, S. 63-64.

[5] Die Unterlagen zum Wettbewerb befinden sich im Staatsarchiv Ludwigsburg (StALB) E 78 II Bü 807, 810.

[6] Roser 1987, S. 21

[7] Dies geht aus dem Modell des Wettbewerbsentwurfs hervor (Abb. Dübbers 1977, S. 54).

[8] Bonatz 1928, S. 151, der als Parallelen die Bahnhöfe von Darmstadt und Oldenburg nennt. Wegen Materialmangel mussten die als Eisenkonstruktionen geplanten Gleishallen 1922 in Holz ausgeführt werden (ebd.).

[9] 65 Jahre Stuttgarter Hauptbahnhof 1987, S. 110.

[10] Der Bahnhof ist mit der Stadtseite nach Südwesten ausgerichtet. Den heutigen Bezeichnungen der Ausgänge folgend, wird der Einfachheit halber im Folgenden die Stadtseite als gewestet beschrieben.

[11] StALB E 79 II Bü 802, 808.

[12] Der Leipziger Bahnhof von 1915, der hinsichtlich der großen Kopfbahnsteighalle ein Vorbild für Stuttgart war (vgl. Werner 1977, S. 15), hatte zwar auch zwei Eingänge, die jedoch nach den Betreibern der Sächsischen und der Preußischen Staatsbahn unterschieden waren (Hofer 2005, S. 70). Die Forderung nach einer eigenen Schalterhalle für den Nahverkehr brachte der Berliner Eisenbahngeheimrat Alexander Rüdell ein (Bonatz 1950, S. 63-64, allerdings ohne den Namen zu nennen).

[13] 65 Jahre Stuttgarter Hauptbahnhof 1987, S. 123.

[14] Hofer 2005, S. 70-71.

[15] Bonatz 1928, S. 148.

[16] Zur stilgeschichtlichen Diskussion und expressionistischen Betrachtungsweise der Bettelordenskirchen gerade in den Jahren um 1922-1924: Schenkluhn 2004. In seinen Lebenserinnerungen bezeichnet Bonatz die Spätgotik als „Entmaterialisierung“ (Bonatz 1950, S. 126).

[17] So das Urteil des Herausgebers von Wasmuths Monatsheften für Baukunst Walter Hegemann (Hegemann 1928).

[18] Bonatz 1928, S. 148-151.

[19] Roser 1987, S. 26.

[20] Bonatz 1928, S. 151-152.

[21] Seeger 2004.

[22] Bonatz 1928, S. 151.

[23] StALB E 79 II Bü 814. Das Gutachten ließ sich in den von der Autorin durchgesehenen Archivalien nicht auffinden, doch haben sich zwei Entgegnungen der Stuttgarter Eisenbahnverwaltung erhalten, aus denen der Name des Gutachters hervorgeht.

[24] Bonatz 1950, S. 63.

[25] Ein gut dokumentiertes Vergleichsbeispiel ist das Arbeitsamt von Walter Gropius in Dessau, das sehr genau die theoretischen Ausführungen des Berliner Stadtbaurates Martin Wagner umsetzte. Siehe hierzu: Burkhardt/Weber 1999.

[26] Vgl. Frank 1977, S. 15 und Hofer 2005, S. 71.



 


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