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„Dem
Wissen ist eigen, weder zu sehen, noch zu zeigen, sondern zu interpretieren.“
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. S. 72.
Michel Foucault verweist auf das Verhältnis von Sprache und Bild als Korrelate:
Sprache
und Malerei verhalten sich zueinander irreduzibel: vergeblich spricht
man das aus, was man sieht: das, was man sieht, liegt nie in dem, was
man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern und Vergleiche
das, was man zu sagen im Begriff ist.
(Foucault 1999: 38)
Die sprachlichen
Möglichkeiten bis an die Grenzen belastend, reibt sich vergeblich auf,
wer sprechend oder schreibend die Stimmung und Atmosphäre einer Landschaft
erfassen möchte. Ebenso schwierig ist es, landschaftliche Situationen
zu beschreiben, für die keine Namen existieren: vor allem urbane Restflächen
müssen oft mühsam umschrieben werden, um sich auf sie beziehen zu können.
In einem Bild dagegen lassen sich Situationen bisweilen mühelos darstellen,
nur fehlt ihm wiederum die Präzision, das Gewünschte unmissverständlich
zu fassen. Verstehen zwei Menschen ein Bild tatsächlich gleich? Löst es
bei beiden eine identische Reaktion aus?
Bilder bieten Raum für Interpretationen, sie sind nicht eindeutig definiert.
Erst der Kontext, in welchem sie erscheinen – in manchen Fällen auch der
Kontext in welchem sie erstmalig erschienen sind und sich in das kulturelle
Gedächtnis einer Gesellschaft eingegraben haben – verleiht ihnen in der
konkreten Situation eine Bedeutung. Während die Malerei, wie Walter Benjamin
bemerkte, noch zur "frei schwebenden Kontemplation" einlud,
so lässt der Authentizitätswert der Fotografie diese zu "Beweisstücken
im historischen Prozess" werden (Benjamin 1977: 21). Voraussetzung
dafür, dass sie "richtig" verstanden werden kann, ist ihre zeitliche,
geografische und inhaltliche Einordnung. Dies geschieht oft durch die
Bildlegende, die "Beschriftung" (ebda.), doch hat die Geschichte
auch Super-Ikonen hervorgebracht, die in gewissen Kulturkreisen über limitierte
Zeiträume hinweg assoziativ eine gesellschaftsweite Kontextualisierung
erfahren haben: Das Bild der brennenden Zwillingstürme des World Trade
Centers in New York am 11. September 2001 ist sicherlich eine der Wichtigsten
dieser Ikonen.
Das Medium Film bietet eine Reihe anderer Formen der Kontextualisierung
von Bildern, die gleichfalls eine deutliche Bedeutungszuschreibung leisten
können.
Etwa wird jede Einstellung innerhalb einer Sequenz gelesen: Bilder werden
nicht nur durch spezifisch filmische Varianten der klassischen "Beschriftung"
kontextualisiert, etwa durch einen Off-Kommentar oder eine Texteinblendung,
sondern auch durch andere Bilder. In manchen Fällen, wenn sowohl
ein Kommentar als auch Texteinblendungen unterbleiben, stellen sie den
einzigen innerfilmischen Kontext dar, in welchem ein Bild interpretiert
werden kann. Die jüngsten Werke des amerikanischen Experimentalfilmers
James Benning, die aus mehrere Minuten langen, unbewegten und unkommentierten
Einstellungen bestehen, sind radikale Beispiele dafür.[1]
Natürlich ist nicht auszuschließen, dass jeder Zuschauer sein spezifisches
Vorwissen und seine Seherwartung mit in die Visionierung eines Filmes
hineinträgt und sich so noch ein weiterer Kontext für die Bilder bildet,
doch dieser ist in einem Ausmaß unkontrollierbar und kontingent, dass
er hier nicht betrachtet werden kann.
Die Einordnung von Bildern durch Bilder sowie von Bildern durch den Off-Kommentar,
eröffnet dem Film eine Interpretationsebene, die kaum ein anderes Medium
(abgesehen von der inzwischen etwas in die Jahre gekommenen Tonbildschau
und der moderneren Power-Point-Präsentation) zu bieten hat. Aber da die
"unbewegten Schnitte" (Deleuze 1989: 26) meist einzelne Momente
einer Abfolge darstellen, die in schneller Abfolge projiziert den Eindruck
von Bewegung hervorrufen, so ergibt sich für das einzelne, in der Projektion
allerdings nicht distinkt wahrnehmbare Filmkader darüber hinaus eine kontextuelle
Ebene, die ausschließlich dem Film und seinen Nachfahren vorbehalten ist:
Jedes der Bilder ist Teil der Repräsentation eines Entwicklungsprozesses
und kann als solcher nur verstanden werden, wenn es innerhalb des Dispositivs
des Kinos rezipiert wird.
Ein weiterer Kontext des Filmbildes ist der Ton, der außer aus dem Off-Kommentar
aus Geräuschen und Musik bestehen kann. James Benning beispielsweise verwendet
ungewöhnliche Sorgfalt auf die Tonspur seiner Filme. Er setzt sie aus
Umgebungstönen des jeweiligen Drehortes zusammen, die aber nicht zwingend
mit dem gezeigten Bild synchron sind. Gesprächsfetzen aus dem filmischen
Off können so die Wirkung des Ortes, wie er visuell dargestellt
wird, in Frage stellen: Außerhalb des kadrierten Bildes scheinen Dinge
vor sich zu gehen, die nicht mit dem Abgebildeten vereinbar sind. Der
britische Architekt und Filmemacher Patrick Keiller sagt dazu:
Sound
is a much more appropriate medium for representing space, as it isn’t
constrained by the frame.
(Pichler 1998: 52)
Als letzter Kontext
ist schließlich die Narration zu nennen. Fast jeder Film weist eine Form
von Narration auf und diese bestimmt maßgeblich, wie der Filmzuschauer
interpretiert, was er sieht. Der Filmtheoretiker David Bordwell hat sich
eingehend mit der Frage der Narration im fiktionalen Film befasst und
ist gar der Meinung, dass narrative Schemen die wichtigste Funktion des
Filmverstehens darstellen. Narrativ verknüpfte Informationen können besser
erinnert werden, als rein sequentielle (Bordwell 1985: 29ff.) und spielen
daher eine überragende Rolle dafür, wie ein Film wahrgenommen und wie
er in der Folge interpretiert wird.
Narrative Schemen des Filmverstehens – Modelle zur Voraussage, was in
einer Handlung als nächstes passieren wird – sind aber andererseits auch
dafür verantwortlich, dass der Zuschauer sich in der Handlung eines Films
quasi verliert und mit den handelnden Personen "mitlebt". Seine
Urteilsfähigkeit darüber, was er tatsächlich sieht, nimmt umgekehrt
proportional dazu ab, wie sehr er sich auf das narrative Verstehen einlässt,
das ihm laufend die Interpretation des Gesehenen weitgehend abnimmt. Am
Ende eines Films klafft oft weit auseinander, was der Zuschauer glaubt,
gesehen zu haben, und was tatsächlich auf die Leinwand projiziert wurde.
So weist das Lesen/Verstehen von Film und von Landschaft deutliche Ähnlichkeiten
auf: Auch der Blick auf die Topografie kann durch kulturell tradierte
Narrationen völlig verstellt werden. Wer bemerkt schon, wie Simon Schama
schreibt, dass der Parkplatz vor den Toren des Yosemite-Nationalparks
heute fast ebenso groß ist, wie der eigentliche Park? Starke Narrationen
strafen uns bisweilen mit kultureller Blindheit: Weiterhin geistert in
unseren Köpfen das Bild einer unberührten Wildnis herum, die keine Spuren
menschlicher Präsenz aufweist. (Schama 1995: 7)
Die beschriebenen Interpretationsebenen des Films machen das Medium zu
einem komplexen Repräsentationsinstrument, das zu Recht immer wieder als
manipulativ bezeichnet wurde. Nicht ohne Grund erhob Lenin den Film in
den Rang der wichtigsten Kunst (Kuchenbuch 1978: 63). Es bedarf folglich
einer präzisen formalen Lesart der filmischen Mittel, um verstehen zu
lernen, wie Filme Interpretieren. Nur so können Wirkungsweisen
im Detail analysiert werden, die dem inhaltlichen Blick des normalen Kinogängers
hinter Blicklust und narrativen Verstehen verborgen bleiben.
Wieso sich aber erst ein formales Verständnis der Filmsprache erwerben,
das keinen Zugriff auf die primäre Welt erschließt, sondern lediglich
eine gleichzeitig visuelle, sprachliche und auditive mediale Interpretation
neuerdings zu interpretieren erlaubt?
Für die Analyse von Landschaftsfilmen spricht ein gewichtiger Vorteil,
den das Bildmedium gegenüber sprachlichen Interpretationen auszeichnet:
Film interpretiert in Bildern. Die Filmmontage ist eine Form des
visuellen Denkens und schafft einen unverstellten interpretativen Zugriff
auf die sichtbare Welt.
Die Filmanalyse eröffnet damit die Möglichkeit, direkt dahin vorzudringen,
was Foucault mit schlichten Worten als das "was man sieht" bezeichnete.
England interpretieren
Elias Canetti beschrieb das Verhältnis der Engländer zu ihrer Heimat mit
der Metapher des Schiffs auf dem Meer. Das sich ständig verändernde Meer
muss von der Seefahrernation Großbritannien beherrscht werden, die Insel
dagegen ist der Komplementär: Ein sicherer und unveränderlicher Ort. (Canetti
1960: 193f.)
Die Qualitäten der Landschaften Englands sind als Schauplatz jahrtausendealter
kultureller Besitznahme oft beschworen worden: Von Institutionen wie dem
National Trust sorgfältig konserviert und mit historisierenden Erzählungen
erschlossen, wird sie als quasi ewige und unveränderliche Kulturleistung
wahrgenommen, deren Bestand jederzeit den Anspruch Englands als Kulturnation
zu unterstreichen geeignet ist. Im zweiten Weltkrieg wurde das Heart
of Britain, wie ein kurzer propagandistischer Film von Humphrey Jennings
betitelt ist (GB 1941), an der Heimatfront als Wert beschworen, den gegen
die deutschen Angriffe zu bewahren sich lohnt. Bilder sanfter Hügel, gewaltiger
Kathedralen und spektakulärer Felsenlandschaften dienen dem Film dazu,
beim Zuschauer den Bewahrungstrieb zu wecken und als Ansporn, die Hoffnung
angesichts der isolierten Situation im Meer eines von Deutschland beherrschten
Europas nicht zu verlieren.
Im Film Robinson in Space zitiert Patrick Keiller einige dieser
Bilder als Negativform für seine eigene Sicht des Kulturraums England:
Der Süden der Insel ist seiner Meinung nach längst zu einem postindustriellen
Konglomerat von Produktionsstandorten und Infrastrukturlandschaften geworden.
Die auffälligste Eigenschaft der Filme Patrick Keillers ist die sorgfältige
Kadrierung von Architektur und Landschaft. Der Autor war Architekt, bevor
er Filme zu drehen begann. Schon während des Studiums interessierte er
sich für die Architektur- und Landschaftsfotografie und reihte sich damit
in eine lange Tradition ein: Die Landschaft zu gestalten und abzubilden
ist in England seit jeher eine wichtige künstlerische Ausdrucksweise.
Während Keillers Studienzeit erhielt diese Tradition einen wichtigen Impuls
in einer bemerkenswerten Serie von Landschaftsfilmen. Filmemacher wie
Chris Welsby, William Raban und Jenny Okun schufen in den 1970er und 1980er
Jahren ein umfangreiches Korpus von experimentellen Filmen ("Struktureller
Film"), die sich ausschließlich mit der Landschaft auseinandersetzten.
Zu den wichtigsten Werken dieser von einer Ausstellung in der Tate Gallery
1975 zusammenfassend als "Avant-Garde Landscape Films" bezeichneten,
künstlerischen Bewegung gehören River Yar von Chris Welsby und
William Raban (Doppelprojektion, GB 1972), Chris Welsbys Seven Days
(GB 1974), William Rabans Surface Tension (GB 1974-76) und Jenny
Okuns Clouds (GB 1975).
Wenn eine Beeinflussung Keillers durch diese damals in London sehr bekannten
Filme auch möglich scheint, so sieht er sich selber doch nicht in ihrer
direkten Nachfolge (Pichler 1998: 52). Er nimmt für sich eher einen ironischen
Zugang zum Landschaftsbild in Anspruch, der mit der geplanten Zufälligkeit
und strengen Form der meisten der strukturellen Filme nichts gemein hat:
I
try to maintain an ironical attitude to the process of image making. I
always think "what is the most obvious way of making an image of
this subject?" and then do it.
(Pichler 1998: 52)
Die Zentralperspektive
kennzeichnet viele dieser "most obvious way(s)", doch fällt
Keillers Blick vor allem auf landschaftliche Situationen, die so alltäglich
sind, dass sie für die meisten Menschen – obwohl physisch vorhanden –
längst "unsichtbar" geworden sind. So widersprechen viele Einstellungen
inhaltlich der aus der Renaissance stammenden Bildtradition.
Vor Robinson in Space drehte Keiller den Film London (GB
1994), der eine identische Grundanlage aufweist: Ein von Paul Scofield
gesprochener Ich-Erzähler nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise, die
er mit seinem Freund und Wissenschaftler Robinson unternimmt. Zu Beginn
des ersten Films berichtet der Erzähler, dass Robinson von der Regierung
den Auftrag erhalten habe, das "Problem Londons" zu untersuchen.
Er glaubte, "that if he looked at it hard enough he could cause
the surface of the city to reveal to him the molecular basis of historical
events. And in this way he hoped to see into the future."
Die Stadt als Palimpsest, den es zu lesen gilt, und die Vergangenheit
als Quelle für die Entwicklungen der Zukunft – Keillers Robinson scheint
sich in der jüngeren Landschaftstheorie bestens auszukennen!
Seine Untersuchung betreibt Robinson in der Tradition der Peripatetiker,
indem er sich auf drei Fußwege durch London begibt. Dabei stellt er fest,
das "Problem Londons" sei die Angst der Engländer vor der Stadt
und vor allem die Leere in ihrem Zentrum: der Financial District, der
ziemlich genau den Ausdehnungen der ursprünglichen römischen Gründung
der Stadt entspricht. Hier wohnen nur gerade 6000 Menschen, und nach getaner
Arbeit entvölkert er sich Abend für Abend fast vollständig. Die eigentliche
Identität Londons, so der Erzähler, sei die Absenz jeglicher Identität:
"London was the first metropolis to disappear."
Zu Beginn von Robinson in Space überbrückt der Ich-Erzähler die
Jahre seit der Studie über London schnell und berichtet, dass Robinson
ihn kürzlich wieder kontaktiert habe. Eine bekannte, international tätige
Werbeagentur sei neuerdings mit dem Auftrag an ihn herangetreten, eine
"peripatetische Studie" zu verfassen, die sich diesmal aber
mit dem "Problem Englands" beschäftigt. Robinson nimmt den Auftrag
an, der Ich-Erzähler willigt ein, ihn abermals zu begleiten. Über allem
steht ein aus Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray entliehenes
Motto, das an jenes des vorherigen Films erinnert:
'It
is only shallow people who do not judge by appearances. The true mystery
of the world is the visible, not the invisible...' (Keiller 1999:
5)
Der Film will das Sichtbare
zeigen und das Mysteriöse der Welt lesen, das sich darin offenbart. Die
beiden Forscher unternehmen sieben Reisen durch das postindustrielle
England (und einen Abstecher über den Ärmelkanal), die sie immer weiter
in den Norden Englands führen.
Mit ihrer Bewegung nehmen sie eine Tätigkeit auf, die für die Bildung
der britischen Nation mitverantwortlich war, denn die Insel konnte erst
durch die literarischen Reiseberichte des 18. Jahrhunderts als Ganzes
wahrgenommen werden. Die Idee "England" aber auch die Idee "Großbritannien"
entwickelte sich erst als Folge dieser Beschreibungen (Burke 2006: 12).
Die Reisen Robinsons und seines Gefährten aber verlegen diese Tradition
nun in den Bereich des Visuellen. Wie vor ihnen Daniel Defoe für seinen
Reisebericht A Tour through the whole Island of Great Britain von
1724-1726 vermitteln sie in sowohl zeitlich als auch geografisch komprimierter
Form, was in der Realität weit auseinander und weitgehend unverbunden
zu Tage liegt. Bereits der berühmte Schöpfer von Robinson Crusoe war überzeugt,
dass das Reisen weit auseinander liegende, soziale und ökonomische Phänomene
verbindet, und gleichzeitig deren Integration in eine vertraute Erzählform
leistet – jene des Reiseberichts. Die wesentliche Eigenschaft der Reisebeschreibung
ist damit ihre Funktion als Kompressor: Sie erlaubt, Phänomene direkt
miteinander in Verbindung zu setzen, die im Alltag völlig unabhängig voneinander
wahrgenommen werden. So tauchen denn im Bild immer wieder ähnliche Situationen
auf, die sich nach und nach zu Typologien gruppieren lassen.
Reisen in Bildern
Die Bildebene von Robinson in Space ist reduziert: Es sind fast
ausschließlich starre Einstellungen, die der Film zeigt. Menschen rücken
kaum ins Bild, stattdessen stille Ansichten meist landschaftlicher Motive.
Die Kadragen sind mit größter Sorgfalt eingerichtet, so dass die Situationen
auch dort in ästhetischen Bildern gezeigt werden, wo kein klassisch schönes
Motiv vorhanden ist. Selbst Müllhalden und Abbruchhäuser erhalten eine
ansprechende, meist die Zentralperspektive unterstreichende Repräsentation.
Patrick Keiller erläutert hierzu in einem Interview seine Entscheidung,
den Film auf 35mm-Material zu drehen:
Having
made a number of short films in 16mm, I thought that a longer film ought
to put more emulsion on the screen. [...]
London was
the first film I had made in colour. We tried out a couple of emulsions,
but the Eastman stock selected produced fine detail, high contrast and
strong colour saturation.
(Pichler 1998: 52f.)
"To
put more emulsion on the screen": Das gegenüber dem für kleinere
Produktionen gängigeren, weil bezahlbareren, Super-16mm flächenmäßig fast
viermal größere Bild des 35mm-Films entspricht also einer bewussten Entscheidung
für ein möglichst opulentes Bild – Keiller beabsichtigte echte
Landschaftsbilder zu drehen. Auch Robinson in Space ist in 35mm
gedreht. Sein Schauwert ist wie jener seines Vorgängers hoch, und die
Starre sowie die relative Länge der Einstellungen geben dem Betrachter
genügend Zeit, die ästhetisch anspruchsvollen Ansichten zu studieren,
zu genießen und sich einzuprägen.
Für die Abbildung der Landschaft hat die starre Kamera vor allem eine
Konsequenz: Robinsons Reisen finden nicht im Bild, sondern
zwischen den Bildern statt (auch wenn der Kommentar in der zweiten
Reise den Kauf eines Gebrauchtwagens zur weiteren Fortbewegung bekannt
gibt, der aus der peripatetischen Studie im Grunde eine automotive Studie
macht, welche bewegte Reisebilder geradezu herausfordert). Keillers Einstellungen
zeigen keine Bewegung, nur Orte, die auf der Reise aus weitgehend unbekannt
bleibenden Gründen besucht werden.
Die eigentliche Reise vollzieht der Kommentar. Unablässig macht er zeitliche
und geografische Angaben, die es dem Zuschauer ermöglichen, die Routen
mit Hilfe einer Karte bei Bedarf recht genau nachzuvollziehen. Die reichliche
Nennung von Ortsnamen lässt keine Zweifel über die filmische Geografie
aufkommen und erdet die gezeigten Situationen immer wieder im realen England
der 1990er Jahre. Die Bildebene von Robinson in Space also präsentiert
Veduten und bemerkenswerte Details, die Bewegung in der Landschaft
aber wird erzählt.[2]
In der Tradition Defoes lässt Keiller seine beiden fiktiven Reisenden
gemäß der subjektiven und interpretativen Tätigkeit der Reise Berge statistischer
Daten aufbereiten. Der Zuschauer findet darin zunehmend Hinweise auf die
eigentliche Narration des Films: eine spezifische Typologie der Landschaften
Englands. Die schiere Akkumulation immer wieder ähnlicher, scheinbar zusammenhangsloser
sprachlicher Informationen schafft einen integrativen Rahmen für die ebenfalls
immer wieder ähnlichen und scheinbar zusammenhangslosen Bilder. Unversehens
bilden sich typologische Reihen, an denen nicht nur die Oberfläche, sondern
die Struktur der englischen Landschaft sichtbar wird: Vor Robinsons Auge
zeichnen sich die Konturen eines postindustriellen Landes am Ende einer
konservativen politischen Ära ab,[3]
zerrissen zwischen der noch immer gepflegten Logik einer romantisierten
industriellen Produktion viktorianischer Tradition und neuen Formen der
Wertschöpfung, die auf unsichtbaren, hoch technisierten und globalisierten
Prozessen und Produktionsformen beruhen.
Keillers Tätigkeit entspricht also weitgehend jener eines Wissenschaftlers:
Er liest Spuren im sichtbaren Universum der landschaftlichen Topografie,
ordnet sie und spannt nach und nach ein Netz von Beobachtungen und Hintergrundinformationen,
das sich am Ende des Films zu einem tragfähigen Argumentarium und einer
plausiblen Interpretation der zeitgenössischen Entwicklung der englischen
Landschaft verdichten lässt.
Besitzverhältnisse. Eine Typologie der "alten" und "neuen"
Landschaften Englands |
Bild 1
Bild 2
Bild 3
Bild 4
Bild 5
Bild 6
Bilder 1-6:
Seehäfen,
Stills aus Robinson in Space,
(courtesy BBC/BFI)
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Beispielsweise
die Seehäfen: Auf die Themsehäfen Londons folgen Bilder aus Sheerness, Ipswich,
Felixstowe, Dover, Southhampton, Bristol, Liverpool, Immingham, Hull, The
Tees und schließlich Barrow. Zu jedem dieser Häfen erhält der Zuschauer
Informationen betreffend des Verkehrsaufkommens, des Verhältnisses von Import
und Export, der hauptsächlich im jeweiligen Hafen gelöschten Güter, des
Ranglistenplatzes unter den englischen, europäischen oder gar globalen Häfen
oder der Besitzerkonsortien. Hingewiesen wird auch auf die Produktion von
Schiffen oder U-Booten vor Ort. (Bilder 1-6)
Ein weiteres, unzählig variiertes, visuelles Thema sind die Firmensitze
international operierender Unternehmen und deren Produktionsstätten, die
wiederum mit Bemerkungen zu ihrer Produktion, der Anzahl der Beschäftigten,
deren Anstellungsbedingungen sowie oft – auch hier – mit den Besitzverhältnissen
der Betreibergesellschaften bedacht werden.
Wiederum ist die Polarität von "alten" und "neuen" Landschaften
präsent: Besitztum spielt sowohl in den Einstellungen eine Rolle, in welchen
die alten Gemäuer feudaler Herrschaftssitze, aber auch neue Business-Parks
gezeigt werden. Die dazugehörigen Informationen sind im Grunde von derselben
Art: Sind es bei den Schlössern, Manors und Prunkgärten anekdotische Anmerkungen
zur feudalen Ordnung, zu Hochzeiten und zu Wegerechten, so berichtet der
Kommentar bei den modernen Businessparks von internationalen Mergers in
der Firmenwelt, von familiären Verstrickungen zwischen einzelnen Konzernen
und vom globalen Wettbewerb um Produktionsanteile.
Die Ansichten eines statuengesäumten Eingangs zu einem klassischen englischen
Landschaftspark werden vom Aufstieg der Familie Drax zu den Earls of Charborough
begleitet:
Towards
Dorchester, we passed Charborough Park.
Col Henry Drax left Yorkshire after the Civil War and settled in Barbados,
where, in a few years, from £300 in sugar plantations he acquired an estate
of £8'000 to £9'000 a year.
His successor married the heiress of the Earls of Charborough.
(Keiller 1999: 93)
Zu Bildern von Bautafeln
(erst für einen großen Science Park, dann für eine neue Beefeater-Filiale),
der Ansicht eines großen Fabrik-Komplexes, einer Frontalen der Oxford
Spiritualist Church und eines älteren, aber gut gepflegten Automobils,
schweift der Kommentar in einem ähnlich großen Bogen über die Weltgeschichte
hinweg zu einem ironischen Kommentar der privaten Verbindungen, die den
wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen maßgeblich mitbestimmen können:
On
the evening of June 12th, we arrived in Oxford, the King's headquarters
in the Civil War, and Hitlers preferred capital had he occupied England.
Most of what was once the Morris Motor Works at Cowley was demolished
in 1993, and the site is now a business park owned by British Aerospace,
who sold the Rover group to BMW in 1994.
There's been little made of the fact that Bernd Pischetsrieder, the chairman
of BMW is the great-nephew of the late Alec Issigonis, whose innovative
designs for Morris and its successors could probably have given the company
a ten-year lead over Volkswagen in the European mass market.
(Keiller 1999: 54ff.)
Früher wie heute lässt
der Kommentar die Landschaft Englands so als Territorium erscheinen, in
welchem Besitz- und Herrschaftsverhältnisse darüber bestimmen, wie es
entwickelt wird, und letztlich wie es aussieht. Oder, um es mit Pierre
Bourdieu zu sagen: Unter der Oberfläche des sichtbaren physischen Raums,
den die Kamera abbildet, entdeckt der Kommentar einen sozialen Raum, der
offenbar niemals von den Bewohnern angeeignet werden konnte, sondern immer
von gesellschaftlichen Machfaktoren bestimmt wurde. Ehemals war dies die
Aristokratie und die Politik; heute die globalisierte Ökonomie. Die früher
wie heute zu konstatierende Ohnmacht des Einzelnen, sich in einer dergestalt
verstrickten Welt den Raum physisch anzueignen, macht bereits der Frontispiz
deutlich, mit welchem sich der Kommentator erstmals zu Wort meldet:
Sitting
comfortably, I opened my copy of The Revolution of Everyday Life.
'Reality, as it evolves, sweeps me with it. I'm struck by everything and,
though not everything strikes me in the same way, I am always struck by
the same basic contradiction: although I can always see how beautiful
anything could be if only I could change it, in practically every case
there is nothing I can really do. Everything is changed into something
else in my imagination, then the dead weight of things changes it back
into what it was in the first place. A bridge between imagination and
reality must be built...'.
(Keiller 1999: 1)
Die
Peripherie des Sichtbaren |
Alte
und neue Machtrepräsentationen (Stills aus Robinson in Space)
Bild 7
Bild 8
Bild 9
Bild 10
Bild 11
Bild 12
Bilder 7-12:
"alte" Landschaften
© courtesy BBC/BFI
Bild 13
Bild 14
Bild 15
Bild 16
Bild 17
Bild 18
Bilder 13-18:
"neue" Landschaften
(courtesy BBC/BFI)
Bild 19
Bild 20
Bild 21
Bild 22
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Bild 24
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Bild 28
Bild 29
Bild 30
Bilder
19-30:
Unsichtbare"
Orte
"at the ends of roads"
(courtesy
BBC/BFI)
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Enttäuscht
von der Entwicklung Englands, doch mit der viel geschätzten britischen Ironie,
präsentiert der Film Bilder der Macht- und Besitzverhältnisse, welche die
Topografie im Wesentlichen bestimmen. Die unteren Schichten hatten nie wirklichen
Anteil an der Gestaltung ihrer Umwelt, doch einen entscheidenden Unterschied
zwischen der Jetztzeit und der klassischen Periode der englischen Landschaftsgestaltung
gibt es dennoch: Waren es einst sichtbare Machthaber, die die Landschaft
gestalteten, so ist es heute die mehrheitlich unsichtbar bleibende,
strukturell einflussreiche Ökonomie, die das Gesicht der Landschaft bestimmt:
The
Victory, Nelson's flagship, is preserved at Portsmouth and is the principal
Monument of the 18th century British navy, the largest industrial unit
of its day in the western world, on whose supremacy was built the capitalism
of land, finance and commercial services centred on the city of London,
which dominates the economy of the south of England.
Those of us aesthetes who view the passing of the visible industrial economy
with regret, and who long for an authenticity of appearance based on manufacturing
and innovative, modern design, are inclined to view this English culture
as a bizarre and damaging anachronism, but if so, it is not an unsuccessful
one. (Keiller
1999: 90)
Unterschiede
und Gemeinsamkeiten der beiden Herrschaftssysteme illustriert Robinson
in Space in vielen Einstellungen. Weit herum sichtbar, auf unbestreitbare
Weise materiell manifest, finden sich Zeugen der alten Machstrukturen
in Form von Manors, Schlössern und weitläufigen Gärten und Parks. Sie
sind für den Filmemacher heutzutage problemlos zugänglich, da säkularisiert
und meist vom National Trust als Museen verwaltet. (Bilder 7-12)
Die neuen "Herrscher" hingegen beschränken (wie ehedem die alten)
die Repräsentation ihrer Macht – wenn man von ihren überall zu findenden,
überall gleich aussehenden Fabrikations- und Lagergeländen absieht – im
Großen und Ganzen auf Werbe- und Hinweistafeln, die sie an den Zufahrten
zu ihren umzäunten, weitläufigen Firmengeländen aufgestellt haben. (Bilder
13-18) Sie zu betreten, das
heißt die repräsentativen Architekturen des 20. Jahrhunderts von nah zu
sehen, ist heute für den normalen Bürger ebenso schwierig, wie der Besuch
eines der Manors für einen Zeitgenossen des vorletzten Jahrhunderts. Noch
immer manifestieren die Herrschenden ihren Besitzanspruch durch die Besetzung
von Raum, doch auf die Repräsentation durch die Architektur wird heutzutage
an den raumgreifendsten dieser Besetzungen weit weniger Wert gelegt, als
dies in der alten Ordnung der Fall war. Die eigentliche Repräsentationsarchitektur
findet sich anderswo, in den urbanen Zentren, von wo aus die Geschicke
der Wirtschaft gelenkt werden.
Die Feststellungen
des Erzählers entbehren nicht des Witzes, etwa wenn er die Rolle der ehemals
viel einflussreicheren Politik heute als reines Steigbügelhalten abschreibt,
indem internationale Firmen mit Vergünstigungen, Zuschüssen und Steuererleichterungen
anzulocken versucht wird. Selbst für die Abgänger der altehrwürdigen Kaderschmiede
Eton scheint die Politik heute nicht mehr sonderlich attraktiv zu sein:
With
the departure of Douglas Hurd for the NatWest, there remained three Old
Etonians in a Cabinet of 23, about an eighth.
Between 1868 and 1955, of the 294 Cabinet ministers who held office, over
a quarter attended Eton, so that either Eton is no longer what it was,
or, more likely, government is no longer an occupation that is so necessary
for Etonians to be concerned with.
(Keiller 1999: 25)
Die Erwähnung Douglas
Hurds in dieser Passage birgt einen versteckten (und unbeabsichtigten)
Hinweis auf das oben erwähnte Motto, das Keiller seinem Film vorangestellt
hat. Hurd verließ seine Stellung als Minister für äußere Angelegenheiten
im Juli 1995 und ging zur National Westminster Bank Plc. (NatWest). Im
Zusammenhang mit Robinsons Besessenheit vom Unsichtbaren ist ein Ereignis
bemerkenswert, das sich erst nach der Premiere des Films ereignete: Im
Dezember 1997 wurde Hurd zum Vorsitzenden der International Financial
Services, London gewählt, einer privaten Organisation zur Promotion
des britischen Finanzsektors, die damals noch als British Invisibles
(!) firmierte. Sie war aus dem 1968 gegründeten Comittee on Invisible
Exports hervorgegangen.
Die Namensgebung dieses Verbandes der Finanzinstitute macht deutlich,
dass Robinsons Fixierung auf das Sichtbare und das Unsichtbare, sein Versuch,
das Unsichtbare sichtbar zu machen, nicht allein der Fiktion entspringt.
Vielmehr überträgt sie die real existierende Sprachregelung in Großbritannien
für die Wertschöpfung aus Serviceleistungen britischer Firmen im Ausland
in die Diskussion über die Landschaft: Banktransfers, Versicherungsleistungen
und Firmenbeteiligungen werden als "invisible exports"
bezeichnet. Sie sind, wie Keiller in Robinson in Space argumentiert,
(aus dem Hintergrund heraus) maßgeblich an der Gestaltung der englischen
Landschaft beteiligt.
Keillers Gebrauch des Begriffs des Unsichtbaren unterscheidet sich vom
offiziellen lediglich indem er neben den tatsächlich unsichtbaren "Waren",
mit welchen die moderne Ökonomie handelt, auch jene Produktionen mit einschließt,
die an der Peripherie der alltäglichen Wege angesiedelt lieber unsichtbar
bleiben wollen: Vor allem militärische Einrichtungen entfachen
im Laufe des Films mehr und mehr Robinsons Interesse.
Was Keiller mit London im ökonomischen Zentrum Englands begann,
führt er mit Robinson in Space in der Peripherie fort und erkennt,
dass es gerade die Randregionen sind, die in der neuen Ökonomie eine eminent
wichtige Rolle spielen. War es im ersteren Film die City, die als
reines Finanzdienstleistungszentrum einen Hang zur Unsichtbarkeit entwickelt
und damit die Idee der Stadt gründlich unterhöhlt hat, so sind es in
Robinson in Space die Orte "at the ends of roads" (Keiller
1999: 233), denen seine Aufmerksamkeit gilt. Hier stehen sie, die Produktionsstrassen
von Unternehmen, die sich mit ihren Erzeugnissen nicht ins Bewusstsein
der Endverbraucher drängen wollen (oder können) und deren soziales Gewissen
als Teil der globalisierten Wirtschaft etwa so weit ausgeprägt ist, wie
der Vegetarismus bei Raubtieren. Über eine Recycling-Firma im Südwesten
Englands beispielsweise weiß der Kommentar Folgendes zu sagen:
Co-Steel
Sheerness recycles scrap into steel rod and bar. The Canadian company
evangelises 'total team culture' in which overtime is unpaid and union
members fear identification.
(Keiller 1999: 48)
Wie
nachhaltig diese unsichtbaren Ökonomien sich im Landschaftsbild niederschlagen
zeigen die Häfen, Kraftwerke, Müllhalden, Abhöranlagen, militärischen
Sperrgebiete, Business Parks und Verteilzentren, die als Teil dieser neuen
"Industrie" funktionieren. Sie nehmen ausgedehnten Raum ein
– doch eine eigentliche Produktion, die sich der Reisende wünscht, an
der namentlich auch Menschen als Arbeiter beteiligt wären, rückt mit ihnen
nicht in Sicht. (Bilder 19-30)
Zwischen den beiden Polen, die in Robinson in Space abgebildet werden,
wird das von Robinson identifizierte "Problem Englands" im wahrsten
Sinne des Wortes sichtbar, welches er zu untersuchen beauftragt
worden ist: die Gespaltenheit Englands zwischen einer althergebrachten
industriellen und einer sich erst formierenden, grundlegend erneuerten,
postindustriellen nationalen Identität, in welcher die Politik nur noch
die Rahmenbedingungen stellen kann, sich aber dabei gleichzeitig in einem
globalisierten Wettstreit befindet, den sie oft nur noch reaktiv erlebt.
Letztlich entscheidet eine Firma wie Ford selber darüber, ob der Auftrag
für den Bau eines neuen Kleinwagens nach Dagenham bei London vergeben
wird, oder doch eher nach Valencia in Spanien – und damit gleichzeitig
über das Entwicklungspotential ganzer Regionen (Keiller 1999: 37).
Das Unsichtbare sichtbar machen
Robinson in Space erinnert in seiner Anlage an die Arbeit eines
anderen Briten, der sich eingehend mit dem Thema der Landschaft beschäftigt
hat: 1995 stellte Simon Schama in Landscape and Memory fest, dass
eine Landschaft erst wirklich erkannt werden kann, wenn man sich durch
die Ebenen der kulturellen Erinnerung hindurchgearbeitet hat, die über
die Jahrhunderte den Umgang mit und die Wahrnehmung der Landschaft geprägt
haben (Schama 1995: 3ff.). Für Robinson ist es die Blindheit, die durch
die allgegenwärtige Romantisierung des Englischen Erbes hervorgerufen
wird, die verhindert, dass das England nach fast zwei Dekaden Tory-Regentschaft
und der rigorosen Privatisierung der staatlichen Betriebe tatsächlich
wahrgenommen werden kann: "It's only shallow people who do not
judge by appearances". Oder sie schauen nicht genügend genau
hin.
So ist denn auch die nordwestenglische Stadt Blackpool mit seinem ausgedehnten
Vergnügungsangebot der Schlüssel zu seiner Utopie: "Blackpool
stands between us and Revolution." (Keiller 1999: 194) Denn hier
zeigt sich gewissermaßen im hell erleuchteten Stadtbild die wahre Natur
des Menschen, die sich nur zu gerne durch die Angebote der Konsumindustrien
einwickeln und blenden lässt.
Das polemische Motto vom Beginn des Films, wonach das wahre Mysterium
im Sichtbaren, nicht dem Unsichtbaren liege, hat sich auf seine Weise
bewahrheitet: Indem Robinson auf seinen Reisen Landschaft gewordene Spuren
"unsichtbarer Ökonomien" identifiziert und sichtbar nebeneinander
aufreiht, werden die richtigen Fragen augenscheinlich, die das Verständnis
der heutigen Gestalt Englands erweitern. Das unsichtbare Wesen der treibenden
Ökonomien zu identifizieren, ist dem menschlichen (oder dem Kamera-) Auge
nicht grundlegend unmöglich. Doch es ist der Ballast etablierter Narrationen
und die Entropie des landschaftlichen Raums, die es im Alltag schier unmöglich
machen, zu erkennen, was tatsächlich vorhanden ist. Diese bestimmenden
Narrationen und die Entropie zu überwinden, gelingt durch die Akkumulation
von Bildern, die das Unsichtbar-Sichtbare wieder sichtbar machen. Ihre
narrative Verdichtung gibt den Bildern wie den Gedanken durch die zeitliche
und räumliche Raffung eine Ordnung. Disparate Elemente der Landschaft
werden zusammengeführt und die offen zu Tage liegenden, aber gewissermaßen
im Rauschen des Alltags undeutlich gewordenen Strukturen der landschaftlichen
Entwicklung lesbar. Das tatsächlich Unsichtbare – und damit die eigentliche
Interpretation des Sichtbaren – steuert der Film mit den sprachlichen
Mitteln der Erzählung bei und spielt dabei seine doppelte Verfasstheit
als audiovisuelles Medium aus. So lässt sich die "molecular basis
of historical events" schließlich tatsächlich aus der Oberfläche
der sichtbaren Dinge lesen.
Literatur:
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main 1977. S. 7-44.
Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. University
of Wisconsin 1985.
Burke, Andrew: Nation, Landscape and Nostalgia in Patrick
Keiller's Robinson in Space. in: Historical Materialism, Vol.
14, Nr. 1. (2006). S. 3-29.
Canetti, Elias: Masse und Macht. Düsseldorf 1960.
Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt/Main
1989/1983.
Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/Main
1999/1966.
Keiller, Patrick: Robinson in Space. London 1999.
Kuchenbuch, Thomas: Film Analyse. Theorie Modelle Kritik.
Köln 1978.
Mitchell, W.J.T. (Hg.): Landscape and Power. Chicago
1994.
Pichler, Barbara: Landscapes of the Mind. The Idea of Landscape
in Patrick Keiller's London and Andrew Kötting's Gallivant. London
1998. (unveröffentlichte Diplomarbeit).
Schama, Simon: Landscape and Memory. New York 1995.
Die besprochenen Filme von Patrick Keiller sind auf DVD im Handel erhältlich,
ebenso die Filme von William Raban, Chris Welsby und Humphrey Jennings.
Alle Abbildungen stammen aus
dem besprochenen Film, mit freundlicher Genehmigung der BBC und des BFI.
Anmerkungen:
[1]
In der so genannten California Trilogy (El Valley Centro,
USA 1999; LOS, USA 2000; Sogobi, USA 2000) besteht jeder
der drei Filme aus 35 unbewegten und unkommentierten Einstellungen
von 2.5 Minuten Dauer. Erst am Ende des Films werden die gezeigten
Orte und der jeweilige Besitzer genannt. Radikaler noch sind seine
beiden folgenden Filme 13 Lakes (USA 2004) und 10 Skies
(USA 2004). Die Länge jeder einzelnen Einstellung beträgt bei beiden
10 Minuten. Gezeigt werden, wie die Titel andeuten, in starren und
kommentarlosen Einstellungen 13 große amerikanische Seen respektive
10 verschiedene Wolkenformationen am Himmel.
[2]
Patrick Keiller selber kommentiert hierzu: "Sound is a much
more appropriate medium for representing space, as it isn’t constrained
by the frame." (Aus dem oben genannten Interview, S. 52)
[3]
Wenige Monate nach der Premiere von Robinson in Space ist
die Tory-Regierung John Majors, die auf die 11-jährige Regierung Margret
Thatchers folgte, nach knapp sieben Jahren im Amt abgewählt worden.
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