Das Konkrete und die
Architektur |
___Claus
Dreyer Detmold |
Konkretismus in der Architektur |
1.
Das Konkrete und das Abstrakte „Sie ist der Anfang der Kunst, weil die Kunst in ihrem Beginn überhaupt für die Darstellung ihres geistigen Gehalts weder das gemäße Material noch die entsprechenden Formen gefunden hat und sich deshalb in dem bloßen Suchen der wahren Angemessenheit und in der Äußerlichkeit von Inhalt und Darstellungsweise begnügen muß. Das Material dieser ersten Kunst ist das an sich selbst Ungeistige, die schwere und nur nach den Gesetzen der Schwere gestaltbare Materie; ihre Form sind die Gebilde der äußeren Natur, regelmäßig und symmetrisch zu einem bloß äußeren Reflex des Geistes und zur Totalität eines Kunstwerks verbunden.“[1] Mit dieser Schwere des Materials belastet muss die Architektur in Bezug auf die Veranschaulichung von Ideen für Hegel immer abstrakt bleiben: „Das ursprüngliche Interesse geht darauf, die ursprünglichen objektiven Anschauungen, die allgemeinen wesentlichen Gedanken sich und anderen vor Augen zu bringen. Dergleichen Völkeranschauungen jedoch sind zunächst abstrakt und in sich selber unbestimmt, so dass nun der Mensch, um sie sich vorstellig zu machen, nach dem in sich ebenso Abstrakten, dem Materiellen als solchem, dem Massenhaften und Schweren greift, das zwar einer bestimmten, aber nicht einer in sich konkreten und wahrhaft geistigen Gestalt fähig ist.“[2] Dieses Changieren zwischen Abstraktion und Konkretion, das für Hegel die Architektur zum Paradigma der ästhetisch niederen „symbolischen“ Kunstform macht, wird bei unseren weiteren Erkundungen über das Konkrete in der Architektur immer wieder in Erscheinung treten und es läge nahe, dabei an eine dialektische Vermittlung dieses Verhältnisses zu denken. Aber das Konkrete in der Architektur interferiert nicht nur mit dem Materiellen und Tektonischen, sondern auch mit so unterschiedlichen Phänomenen wie dem Realen, dem Sinnlichen, der Form, dem Ästhetischen, der Präsenz, dem „Wesentlichen“, dem Einfachen oder dem Performativen. Vor einer Klärung sollen einige Protagonisten der architektonischen Moderne befragt werden, denn die architektonische Konkretion ist ein genuines Thema der modernen Architektur bis auf den heutigen Tag, wie noch zu zeigen sein wird. |
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Abb. 1: Adolf Loos, Haus am Michaelerplatz, Wien 1911 |
2. Das Konkrete in der modernen Architektur „Und ich sah, wie die alten bauten, und sah, wie sie sich von jahrhundert zu jahrhundert, von jahr zu jahr vom ornamente emanzipierten. Ich musste daher dort anknüpfen, wo die kette der entwicklung zerrissen wurde. Eines wusste ich: ich musste, um in der linie der entwicklung zu bleiben, noch bedeutend einfacher werden.“[6] |
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Abb. 2.1: Ludwig Wittgenstein mit Paul Engelmann, Villa Wittgenstein, Wien 1928 |
Diese Einfachheit der Gestaltung ist bei Loos kein Selbstzweck, sondern sie
soll den Menschen befreien vom Lärmen und Rauschen einer sinnentleerten
Formensprache zugunsten eigener produktiver geistiger und künstlerischer
Beschäftigungen: „Wir gehen nach des tages last und mühen zu Beethoven
oder in den Tristan“,[7]
die Architektur sollte durch ihre Einfachheit (und bei Loos auch
innenräumliche Noblesse) dazu den komfortablen Hintergrund abgeben. „Wittgenstein erlaubte keine Teppiche, keine Lüster und Vorhänge: Dekorationsmittel, die mit der Klarheit und Strenge, mit den polierten und exakten Oberflächen dieser Architektur unvereinbar sind. Es sind das Zusammenspiel der wenigen Mittel und die genau studierten, aufeinander abgestimmten Proportionen, die der Architektur dieser Räume ihren entsubjektivierten, statisch-endgültigen Charakter verleihen.“[10] | |
Abb. 3: Ludwig Mies van der Rohe, Barcelona Pavillon, 1929 |
Wittgenstein hat selbst wenig über sein architektonisches Werk gesagt. Die Villa ist oft als Fortsetzung des Tractatus logico-philosophicus (1921) mit anderen Mitteln interpretiert worden, nämlich in dem Bereich, in dem man schweigen muss, weil man darüber nicht sprechen kann (Tractatus, Satz 7.0). Dies ist das Reich der Kunst, denn das „Kunstwerk will nicht etwas anderes übertragen, sondern sich selbst“,[11] und bezogen auf die Musik folgert er: „Die Melodie ist eine Art Tautologie, sie ist in sich selbst abgeschlossen; sie befriedigt sich selbst“.[12] Insofern kann man sagen, dass sich in dem Gebäude das „allgegenwärtige Ringen um schweigende tautologische Formen [...] in der omnipräsenten formalen Reduktion wieder erkennen“ lässt und dass sich hier „das Abstrakte – die Idee – mit dem Konkreten – der architektonischen Form – gewissermaßen kurzschließen [lässt], nämlich aufgrund des Konzepts der Tautologie“,[13] d. h. diese Architektur „vermittelt sich uns selbst.“[14] Es scheint zunächst ein ganz ähnlicher Ansatz zur Reduktion und Konzentration auf das Einfache und Wesentliche bei den frühen Entwürfen und Gebäuden von Mies van der Rohe vorzuliegen. Sein Pavillon für den deutschen Beitrag zur Internationalen Ausstellung 1929 in Barcelona ist von der Beschränkung auf wenige raumbildende Mittel gekennzeichnet: Hinter einer hohen Umfassungsmauer ist ein kubischer teilweise geschlossener und teilweise offener Bereich mit Flachdach gebildet, dessen Inneres durch einige frei stehende Wandscheiben gegliedert und durch großformatige Glasflächen verbunden wird, die sich zu einem Atrium und einem Hof mit Wasserbecken öffnen. Die konsequente Trennung von Stütze und Wand macht es möglich, räumliche Zonen zu bilden, die nicht im traditionellen Sinne abgeschlossen sind, sondern ineinander übergehen und ein Kontinuum bilden, das die Grenzen zwischen Innen und Außen sowie Offen und Geschlossen überspielt. Edle Materialien wie eine große Wand aus Onyx, eine andere aus farbigem Glas, Bodenplatten aus Travertin, in Hochglanz verchromte Stützen, spiegelnde Wasseroberflächen, sparsame und exquisite Möblierung ergeben eine noble Atmosphäre. Der Fülle der materialen Reize steht eine raffiniert einfache Anordnung der räumlichen Elemente gegenüber, die in ihrer strengen Orthogonalität die Einflüsse aus der Verbindung von Mies zur „Stijl-Bewegung“ nicht verleugnen können, und die dem Gefüge eine „Struktur“ geben, die nicht zuletzt durch die statischen und konstruktiven Erfordernisse gebildet wird. „Struktur“ wird für Mies bald zu einem zentralen Begriff für seine architektonische Konzeption: „Struktur ist für Mies Sinnträger, der Träger der letzten geistigen Inhalte“,[15] der in Mies’ weiterem Werk zunehmend mit dem Begriff der Konstruktion verschmilzt. So kann man sagen: „Indem Mies seine Gedankengänge in dem Begriff der ‚Struktur’ zusammenfasst, liefert er eines der klarsten Konzepte der modernen Architektur. Struktur versteht Raum und Konstruktion als eine Einheit, die Verschiedenheiten zusammenbringen kann: Die Konstruktion gehört dem Bereich der Technik an und steht damit für Allgemeingültigkeit, Objektivität, Ordnung, Statik. Der Raum, den sie bildet, hat ihr gegenüber ‚Spiel’; er ist so wenig wie möglich festgelegt und steht damit für das Individuelle, Wandelbare, Lebendige, Dynamische. Die Konstruktion gibt dem Raum Struktur. Architektur so zu denken, ist eine Strategie der Versachlichung wie des Offenhaltens von Möglichkeiten und damit eine zutiefst moderne Idee“[16] und, wie wir folgern können, eine der Möglichkeiten, architektonische Konkretion zu realisieren. |
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Abb. 4.1: Max Bill, Hochschule für Gestaltung, Ulm 1955 |
3. Konkrete
Architektur und konkrete Kunst bei Max Bill „Die Massenkonsumgüter sollen derart gestaltet werden, daß nicht nur eine relative Schönheit aus ihren Funktionen entsteht, sondern dass diese Schönheit selbst zur Funktion wird.“[19] Hinter dem Hang zur Vereinfachung und Versachlichung steht also auch
eine ästhetische Motivation, die nach Ordnung und Klarheit drängt. Bill
hat immer wieder seine Nähe zur Mathematik betont, die vor allem ihre
Konkretisierung in seinem malerischen und plastischen Werk findet. In
der Ulmer Architektur macht sie sich in der sehr präzisen
Proportionierung der quadratischen Fassaden- und Fensterelemente
bemerkbar, die nach einfachen klassischen Proportionen geteilt sind und
zu harmonischen Figuren führen; diese werden in abgewandelten Maßen auf
jedes Gebäude der Anlage übertragen und mit verschiedenen
Konstruktionsprinzipien kombiniert.[20]
Damit können in der formalen Komplexität der Einzelgebäude und der rohen
Materialität subtile Ordnungsstrukturen gefunden werden, die zu einer
ästhetischen Balance der heterogenen Teile beitragen und über einen
simplen Funktionalismus hinausgehen. „Wir orientieren uns an der Natur und an dem, was vorhanden ist, nicht an einer Ideologie [...] All unsere Projekte basieren auf beobachtender und beschreibender Wahrnehmung. Die Lösungen für unsere Projekte haben wir sozusagen auf der Straße gefunden. Wir projizieren unsere Wahrnehmung auf unsere Architektur. Das ist auch der Grund, warum sich unsere Gebäude so sehr voneinander unterscheiden. Unser Blickwinkel ist nie derselbe und die Wahrnehmung deshalb immer wieder anders. Unsere Arbeit besteht im wesentlichen aus der Beobachtung und Analyse dessen, was vorhanden ist.“[27] Der Bezug auf die Natur ist hier sehr elementar gemeint: er unterstellt eine Analogie zwischen organischen und gebauten Strukturen, die es aus der Analyse der Bauaufgabe freizulegen und in baubaren Raum zu übertragen gilt: „Das Entwerfen und Detaillieren eines Gebäudes wird dadurch zum geistigen Trip ins Innere des Gebäudes. Das Äußere wird wie das Innere, und die Oberfläche wird zum Raum. Die Oberfläche wird ‚attraktiv’, d. h. während Du sie entwirfst, wirkt sie wie ein Attraktor. Du durchdringst geistig das Gebäude, um zu wissen, was das Gebäude werden will.“[28] |
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Abb. 5.1: Herzog & de Meuron, Medienzentrum BTU Cottbus 2005 |
Die Oberfläche als „Attraktor“ wird zu einem wichtigen Gestaltungselement, weil sie zum Raum in einem „dialektischen“ Verhältnis steht: „Der Raum verdichtet sich zur Oberfläche, und umgekehrt geht bei den anderen Projekten die Tiefe der Oberfläche in den Raum über.“[29] Aber auch für die Gebäudeform hat die Oberfläche zentrale Bedeutung: „Häufig wählen wir dann einfache Baukörper, wenn wir die Aufmerksamkeit auf die Oberfläche lenken wollen. Selbst die geometrischen Grundformen sind uns zu symbolbeladen.“[30] Für solche Oberflächen ist besonders Glas das Mittel der Wahl, weil es sowohl räumliche Tiefe ermöglicht, wie auch die Körperform artikuliert und zugleich in Frage stellt. Dass Glas hier besonders in mattierter oder bedruckter Form zu Einsatz kommt, ist wiederum eine Spezialität von Herzog & de Meuron: „Wir verwenden oft Ausdrucksmittel, die nicht unmittelbar der Architekur angehören, z. B. Siebdrucke oder Photos, Texte etc. Aber wir bearbeiten sie so, dass sie am Schluß nur noch Architektur sind. Wenn sie so transformiert sind, dass ihre ursprüngliche Herkunft kaum mehr spürbar ist, ist es am Interessantesten.“[31] Ein schönes Beispiel für diese Konzeption ist die neue Hochschulbibliothek in Cottbus. Ein amorpher gläserner Monolith steht auf einem weiträumigen Platz im Hochschulgelände: „Was auf den ersten Blick tatsächlich als rein zufällige Form erscheint, zeigt sich bei näherer Betrachtung als absichtsvolles Gefüge vielfältiger Bewegungsabläufe. Wir haben die Sequenzen der Bewegungsabläufe mittels Modellen entwickelt, und bezüglich ihrer Qualität, den städtischen Raum neu zu ordnen und zu strukturieren, überprüft.“[32] Die gläserne Hülle ist mit Schichten von unleserlichen Texten so bedruckt, dass eine eigenartig gemusterte „Haut“ entsteht, die nach außen eine besondere Materialität verkörpert und nach innen Sichtschutz und Lichtfilterung bietet: „Diese Bedruckung bricht die Spiegelung, nimmt dem Glas seine Härte und dem Körper seine Homogenität.“[33] Im Inneren ist das Gebäude auf zahlreichen Ebenen entsprechend den räumlichen Möglichkeiten funktional gegliedert und mit einigen markanten Sonderelementen (wie der spiralförmigen Treppenskulptur) und grellen Farbakzenten gestaltet: „Die Form des Baukörpers ermöglicht die Schaffung einer Vielzahl von unterschiedlich großen, nach verschiedenen Seiten orientierten Lesesälen, und dennoch ist die Bibliothek ein einziger, zusammenhängender Innenraum, ein Raumkontinuum. Einem orthogonalen Ordnungssystem folgend werden die einzelnen Geschoßplatten unterschiedlich zurückgeschnitten, so dass ein Spannungsfeld entsteht zwischen den geschnittenen Geschoßebenen und der kontinuierlichen Gebäudehülle.“[34] Obwohl hier beinahe eine rein funktionalistische Gestaltung suggeriert wird, können wir eine architektonische Konkretisierung erkennen, die darin besteht, die Bauform auf eine einfache, hier topologische Grundform zurückzuführen und die Gebäudehülle zu einer vielfältig les- und nutzbaren Schicht zu machen, die die Wahrnehmung aktiviert und die auch technologisch auf neustem Stand ist. Hans Frei drückt es so aus: „Das Prinzip der Einfachheit besteht darin, die Fassade als möglichst betrachterfreundliche Schnittstelle zu gestalten, die aussagekräftig und allgemein verständlich ist. Die Hülle der Bauten wird Ort des letzten Widerstandes gegen reine Fiktion, für die Wahrheit des Sehens.“[35] Nicht nur die Hülle und die Fassadenoberfläche, sondern auch das Innere der Räume und die Wirkung der raumgestaltenden Materialien bestimmt die Architektur des Schweizers Peter Zumthor, dessen Therme in Vals (1996), Kunsthaus in Bregenz (1997) oder EXPO-Pavillon in Hannover (2000) hohes Renommee genießen. Ihm kommt es besonders auf die unmittelbar sinnliche Wirkung „des Stofflichen, des Körperhaften, der Dinge, die mich umgeben, die ich sehe und berühre, die ich rieche und höre“ an.[36] Diese produzieren für ihn eine besondere „Atmosphäre“, die den Kern einer gelungenen architektonischen Situation ausmacht, und die auf der „Magie des Realen“[37] beruht: „Die Magie des Realen, das ist für mich diese ‚Alchemie’ der Verwandlung von realen Substanzen in menschliche Empfindungen, dieser besondere Moment der emotionalen Aneignung oder Anverwandlung von Materie, von Stoff und Form im architektonischen Raum“.[38] Um
solche „Atmosphären“ zu erzeugen, bedient er sich konzeptueller Verfahren
und Programme, von denen er einige folgendermaßen formuliert: Da ist
zunächst die Vorstellung vom „Körper der Architektur“, der eine
„Anatomie“ hat, aber auch eine „Haut, als Masse, Membrane, als Stoff oder
Hülle, Tuch, Samt, Seide und glänzenden Stahl“, einen „Körper, den
ich berühren kann und der mich berührt.“[39]
Dann ist es eine zeitliche Komponente, die die Bewegung in den Räumen
berücksichtigt und die zwischen Ruhen und Gehen („freies Schlendern“[40])
changiert: „Eine Lieblingsvorstellung ist die: Das Gebäude zunächst als Schattenmasse zu denken und erst nachträglich, wie in einem Aushöhlungsprozeß, Lichter zu setzen, Licht einsickern zu lassen [...]“ und dabei „die Materialien und Oberflächen bewusst ins Licht zu setzen.“[44] Schließlich ist es die Arbeit an der Form, die sich aus der „Stimmigkeit“[45] aller genannten Faktoren ergibt und die insbesondere den Gebrauch zum Prüfstein macht: „Daß Architektur eine Gebrauchskunst ist, ist meiner Meinung nach ihre vornehmste Aufgabe. Aber das schönste ist, wenn die Dinge zusammen gekommen sind, stimmig sind. Dann verweist alles aufeinander und Sie können es nicht auseinandernehmen: Der Ort, der Gebrauch und die Form.“[46] Dabei ist für Zumthor wesentlich: „Paradoxerweise arbeiten wir jedoch nicht an der Form, wir arbeiten zunächst an all den anderen Dingen: am Klang, an den Geräuschen, an den Materialien, am Körper der Architektur, der sich [...] aus der Konstruktion, der Anatomie, der Logik des Konstruierens zusammensetzt. Wir arbeiten an all diesen Dingen und schauen immer gleichzeitig auf den Ort und den Gebrauch.“[47] |
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Abb. 6.1: Peter Zumthor, Poetische Landschaft – Haus für ein Gedicht, Detmold 1999 |
Diese Arbeit an der Stimmigkeit der Form darf dann aber auch zum
„vermutlich letzten Ziel“ führen: „der schönen Gestalt“ (hier
werden starke Parallelen zu Max Bills oben erwähnter „Schönheit aus
Funktion und als Funktion“ deutlich[48]). „Die neun Häuser für die Texte der Poetischen Landschaft: klar geschnittene, geometrisch geformte Baukörper von hoher Künstlichkeit; fein ornamentierte Volumen aus Licht und Schatten, jedes mit seiner eigenen Farbe und Form, monochrom leuchtend, gebaut mit besonderen Steinen; die Steine, hergestellt aus zusammengepressten Farbpigmenten, wie ein Gewebe zur lichtdurchlässigen Wandtextur gefügt. Das Licht des Tages und das der Nacht dringt in die Körper ein und erhellt ihren Innenraum, der immer wieder anders, aber immer nach dem gleichen Prinzip wie eine endlose Schlaufe aus einer einzigen geschwungenen Linie geformt ist [...]. Seitlich im Raum, auf einer leicht geneigten Tischfläche, gut ins Licht gerückt, ist der Text zu lesen, der für diesen Ort geschrieben wurde, und der nur hier zu lesen ist. Text, Innenraum, Gebäude und Landschaft treten in Beziehung zueinander.“[49]
Die Architektur bewahrt in
allem ihren eigenständigen Charakter und konzentriert sich auf ihre eigenen
Mittel (wie Körper,
Raum, Material, Farbe, Licht, Form), um eine „Atmosphäre“ zu erzeugen, die
dem Gebrauch von Poesie dienen kann, ohne diese verbessern oder gar
verändern zu wollen; im idealen Fall erklärt sich das Gebäude im poetischen
Gebrauch selbst, wie Zumthor es einmal als sein Ziel formuliert hat,[50]
und wird Partner der Poesie auf einer höheren Wahrnehmungsebene. In diesem
Sinne möchte ich auch hier von einer architektonischen Konkretisierung
sprechen.
Gerade dieser letzte Aspekt führt noch einmal an den Anfang zurück, wo es darum ging, in welchem Verhältnis das Konkrete und das Abstrakte in der Architektur stehen. Max Bill hatte auf dem strikten Gegensatz zwischen diesen beiden Konzeptionen bestanden:
„Das Abstrahieren bedeutet: Absehen vom
Besonderen und Zufälligen zugunsten des Allgemeinen, Wesentlichen,
vermittels des analytischen Denkens.“[51] Damit wird nun allerdings doch ein Zusammenhang zwischen dem Abstrakten (Gedanke) und dem Konkreten (sinnlich fassbarer Gegenstand) nahegelegt, denn auch die abstrakte Kunst stellt ihre Ergebnisse als sinnlich fassbare Objekte dar. Bill versucht den Gegensatz am Verhältnis zur Natur festzumachen, nicht ohne dabei in eine gewisse Paradoxie zu geraten: „Der Unterschied zwischen abstrakter Kunst und konkreter Kunst besteht darin, dass in der abstrakten Kunst die Bildinhalte von Naturbildern abhängig sind, während in der konkreten Kunst die Bildinhalte unabhängig von Naturbildern entstehen. Als Beispiel dafür diene ein Grenzfall der Malerei: auf einer weißen Leinwand befindet sich ein roter Punkt. Dieser kann auf zwei Arten entstanden sein: erstens kann es ein Sonnenaufgang im Nebel sein und ist somit als Abstraktion anzusehen, oder es kann, zweitens, ein roter Punkt sein, der einzig durch sein Verhältnis zur Fläche eine künstlerische Realität ausdrückt; in diesem zweiten Fall handelt es sich um die Konkretion eines abstakten Gedankens, also um konkrete Kunst.“[53] Auf die Architektur lässt sich dieser Konflikt ohne weiteres übertragen, z. B. wenn man die Bibliothek in Cottbus einmal als organische Naturform oder aber anders als reines dynamisches Volumen auffasst. Ist es also nur eine Frage der inneren Einstellung des Rezipienten oder des Produzenten, ob ein Werk abstrakt oder konkret ist, oder handelt es sich um zwei komplementäre Teile einer künstlerisch-gestalterischen Realität, die sich gegenseitig bedingen (z. B. als Idee und Form)? Im letzteren Sinne könnte man die oben von Max Bense postulierte Vermittlung von Struktur und Gestalt im Werk von Max Bill verstehen, und generell ließe sich sagen: „Beide Prozesse verdichten zusammen die Wirklichkeit eines Kunstwerks, indem sie dialektisch seine innere Ordnung mit dem Abbild einer äußeren Wirklichkeit verbinden.“[54]
Dabei kann mal das eine, mal das andere dominieren, sowohl in der
Betrachtung wie in der Herstellung, aber gänzlich reduzieren ließe sich
keine dieser beiden Seiten. Das gilt bis auf weiteres auch noch für die neue
„virtuelle Architektur“, die sich zu ihrer Konkretisierung neuer Medien
bedient, deren Materialität immer immaterieller wird und die zunehmend die
sinnliche Wahrnehmung auf den optischen Sinn reduziert: aber auch das
digitale Bild und die digitalen Räume sind medienspezifisch konkret,
allerdings bei Vernachlässigung einiger gewohnter sinnlicher Dimensionen.
Vielleicht ist die derzeitige Hochkonjunktur von konkreter Architektur im
oben entwickelten Sinne eine Antwort auf diese Immaterialisierung der Räume
durch die digitalen Medien, und vielleicht können wir deshalb auch weitere
interessante Werke erwarten, in denen sich Architektur konkretisiert.
Bense, Max: Aesthetica und Zivilisation (1958), wiederabgedruckt in: Max Bense: Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik, Baden-Baden 1965. Bill, Max: Präzisierungen zur konkreten Gestaltung (1947), wiederabgedruckt in Hans Frei 1991, S. 265-270. Bill, Max: Schönheit aus Funktion und als Funktion, in: Werk, August 1949, S. 272ff. Bill, Max: Struktur als Kunst? Kunst als Struktur?, in: Kepes 1967, S. 150. Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München 2006. Conrads, Ulrich (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 1964. Frei, Hans: Konkrete Architektur? Über Max Bill als Architekt, Baden 1991. Frei, Hans: Neuerdings Einfachheit, in: Karin Gimmi u. a.: Minimal Tradition, Baden 1996, S. 113-131. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik II., Werke Bd. 14, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt/M. 1970. Hensen, Dirk: Weniger ist mehr, Berlin 2005. Herzog & de Meuron: Minimalismus und Ornament, in: Arch plus, H. 129/130, 1995, S. 18-24. Herzog & de Meuron: IKMZ Cottbus, in: IKMZ. Informations-, Kommunikations- & Medienzentrum der BTU Cottbus, hg. vom Ministerium der Finanzen des Landes Brandenburg, Cottbus 2005. Kepes, Gyorgy (Hg.): Struktur in Kunst und Wissenschaft, Brüssel 1967. Krüger, Reinhard; Ohmer, Anja (Hg.): Konkretismus: Materialien, Stuttgart 2006. Kruft, Hanno-Walther: Geschichte der Architekturtheorie, München 1991. Leitner, Bernhard: Die Architektur von Ludwig Wittgenstein (1973), Reprint London 1995. Loos, Adolf: Ornament und Verbrechen (1908), wiederabgedruckt in: Adolf Loos: Trotzdem, hg. von Adolf Opel, Wien 1982. Loos, Adolf: Architektur (1909), wiederabgedruckt in: Adolf Loos: Trotzdem, hg. von Adolf Opel, Wien 1982. Pehnt, Wolfgang: Deutsche Architektur seit 1900, München 2005.
Werner, Frank: Die „Neue Einfachheit“ – ein Problem für
Architektur und Städtebau?, in: Wolkenkuckucksheim –
Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, 9. Jg., H. 2, März 2005; Wilk, Christopher (Hg.): Modernism 1914-1939, London 2006. Wijdeveld, Paul: Ludwig Wittgenstein, Architekt, o. O. 1994. Zumthor, Peter: Wörter-Häuser-Gegend. Zur Gestaltung der Poetischen Landschaft, in: Brigitte Labs-Ehlert (Hg.): Poetische Landschaft, Detmold 1999.
Zumthor, Peter: Atmosphären, in: Arch plus, H.
178, 2006, S. 30-35. Abbildungsnachweis:
Anmerkungen: [1] Hegel 1970, S. 258f. [2] Ebd., S. 273. [3] Krüger, Ohmer 2006, S. 75. [4] Alle Texte in Conrads 1964. [5] Vgl. Wilk 2006, S. 249ff. [6] Loos 1909/1982, S. 99. [7] Ebd., S. 88. [8] Kruft 1991 zitiert nach Hensen 2005, S. 29. [9] Vgl. Leitner 1973 und Wijdeveld 1994. [10] Leitner 1973/1995, S. 51. [11] Wittgenstein zitiert nach Hensen 2005, S. 48. [12] Ebd. [13] Hensen 2005, S. 48, 51. [14] Wittgenstein zitiert nach Hensen 2005, S. 48. [15] Mies zitiert nach Hensen 2005, S. 75. [16] Hensen 2005, S. 78. [17] Vgl. dazu Frei 1991. [18] Ebd., S. 94ff. [19] Bill 1949 zitiert nach Frei 1991, S. 180. [20] Vgl. Frei 1991, S. 176. [21] Bill 1967 zitiert nach Frei 1991, S. 176. [22] Ebd. [23] Bill in Kepes 1967, S. 150. [24] Bense 1958 zitiert nach Frei 1991, S. 197. [25] Gomringer zitiert nach Frei 1991, S. 192. [26] Vgl. kritisch dazu Werner 2005. [27] Herzog & de Meuron 1995, S. 19. [28] Ebd., S. 20. [29] Ebd., S. 23. [30] Ebd., S. 21. [31] Ebd., S. 22. [32] Herzog & de Meuron 2004, S. 17. [33] Ebd., S. 18. [34] Ebd., S. 17f. [35] Frei 1996, S. 126. [36] Zumthor 2006, S. 30. [37] Ebd., zur „Atmosphäre“ vgl. Böhme 2006. [38] Ebd. [39] Ebd., S. 31. [40] Ebd. [41] Ebd., S. 32. [42] Ebd., S. 34. [43] Ebd. [44] Ebd., S. 35. [45] Ebd. [46] Ebd. [47] Ebd. [48] Ebd.; vgl. Anm. 19. [49] Zumthor 1999, S. 18f. [50] Zumthor 2006, S. 35. [51] Bill 1947 zitiert nach Frei 1991, S. 268. [52] Ebd. [53] Ebd. [54]
Frei 1996, S. 128. |
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