Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

___Claus Dreyer
Detmold
  Konkretismus in der Architektur

 

   

1. Das Konkrete und das Abstrakte

Die Rede vom Konkreten in der Architektur erscheint zunächst paradox: ist Architektur nicht per se die konkreteste aller Kunstformen überhaupt, sodass es tautologisch wäre über ihre Konkretion zu reden? Aber erfordert es nicht auch eine erhebliche Abstraktion, wenn man von der Architektur ein besonderes Konkretes abziehen und hervorheben will und redet man damit nicht gerade vom Gegenteil des Konkreten? Kann man nicht zugespitzt fragen: wird die Architektur konkreter, wenn sie abstrakt wird bzw. wird sie nicht abstrakt, wenn sie konkret wird?

Schon Hegel hatte in seiner Ästhetik der Architektur einen verhältnismäßig niederen ästhetischen Rang zugebilligt, weil er ihre Erscheinungen als zu konkret empfand, als zu materiell und als nicht genügend vom Geistigen durchdrungen:

„Sie ist der Anfang der Kunst, weil die Kunst in ihrem Beginn überhaupt für die Darstellung ihres geistigen Gehalts weder das gemäße Material noch die entsprechenden Formen gefunden hat und sich deshalb in dem bloßen Suchen der wahren Angemessenheit und in der Äußerlichkeit von Inhalt und Darstellungsweise begnügen muß. Das Material dieser ersten Kunst ist das an sich selbst Ungeistige, die schwere und nur nach den Gesetzen der Schwere gestaltbare Materie; ihre Form sind die Gebilde der äußeren Natur, regelmäßig und symmetrisch zu einem bloß äußeren Reflex des Geistes und zur Totalität eines Kunstwerks verbunden.“[1]

Mit dieser Schwere des Materials belastet muss die Architektur in Bezug auf die Veranschaulichung von Ideen für Hegel immer abstrakt bleiben:

„Das ursprüngliche Interesse geht darauf, die ursprünglichen objektiven Anschauungen, die allgemeinen wesentlichen Gedanken sich und anderen vor Augen zu bringen. Dergleichen Völkeranschauungen jedoch sind zunächst abstrakt und in sich selber unbestimmt, so dass nun der Mensch, um sie sich vorstellig zu machen, nach dem in sich ebenso Abstrakten, dem Materiellen als solchem, dem Massenhaften und Schweren greift, das zwar einer bestimmten, aber nicht einer in sich konkreten und wahrhaft geistigen Gestalt fähig ist.“[2]

Dieses Changieren zwischen Abstraktion und Konkretion, das für Hegel die Architektur zum Paradigma der ästhetisch niederen „symbolischen“ Kunstform macht, wird bei unseren weiteren Erkundungen über das Konkrete in der Architektur immer wieder in Erscheinung treten und es läge nahe, dabei an eine dialektische Vermittlung dieses Verhältnisses zu denken. Aber das Konkrete in der Architektur interferiert nicht nur mit dem Materiellen und Tektonischen, sondern auch mit so unterschiedlichen Phänomenen wie dem Realen, dem Sinnlichen, der Form, dem Ästhetischen, der Präsenz, dem „Wesentlichen“, dem Einfachen oder dem Performativen. Vor einer Klärung sollen einige Protagonisten der architektonischen Moderne befragt werden, denn die architektonische Konkretion ist ein genuines Thema der modernen Architektur bis auf den heutigen Tag, wie noch zu zeigen sein wird.


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Abb. 1:
Adolf Loos, Haus am Michaelerplatz, Wien 1911
 

2. Das Konkrete in der modernen Architektur

Schon bevor Theo van Doesburg 1930 das Programm einer „Konkreten Kunst“ verkündet[3] und einen Kreis von Gleichgesinnten um sich geschart hatte, gab es in der Architektur folgenreiche Ansätze zur Reduktion der formalen und konstruktiven Mittel auf das „Wesentliche“. Diese wollten eine neue Baukunst begründen, die dem Geist einer recht verstandenen Moderne entsprechen sollte, und als deren Meilensteine Adolf Loos’ Pamphlet über Ornament und Verbrechen (1908), das Bauhaus-Manifest von Walter Gropius (1919) und schließlich die Charta von Athen (1933) gelten können.[4] Bei aller Unterschiedlichkeit der Analysen, Diagnosen und Projektionen gibt es die gemeinsame Tendenz zur Reduktion und Konzentration der Mittel, zu Ordnung und Klarheit in der Erscheinung, zur strengen Orientierung der Gebäude an ihren Funktionen, zur Präferenz für Technik, Material und Konstruktion sowie maschinelle und industrielle Leitbilder und schließlich eine Tendenz zur Berücksichtigung der Natur als „Organismus“, diese meistens im Sinne von Hygiene, Gesundheit und Sport verstanden.[5]

Als Loos 1911 das Haus am Michaelerplatz in Wien direkt gegenüber der kaiserlichen Hofburg baut, trennt er im Fassadenaufbau sauber zwischen repräsentativen Geschäftsetagen im unteren Bereich und den vier Wohnetagen darüber. Nur im Geschäftsbereich gibt es an der Fassade eine reich gemusterte Marmorverkleidung, aufwendig gestaltete Fenster („Bay-Windows“) und einen Eingangsbereich mit markanten Säulen, die oberen Fassadenflächen sind einfach verputzt und auch sonst völlig ungegliedert und schmucklos, die Fenster sitzen wie Löcher darin. Das Gebäude besitzt eine dem trapezförmigen Grundstück angepasste einfache Kubatur, die erst im Inneren entsprechend der Funktion der Räume sehr differenziert gegliedert und reichhaltig gestaltet wird; wie schon bei der Fassade spielen kostbare Materialien und Oberflächen eine große Rolle.
Schon während der Bauzeit gab es wegen der strengen und schmucklosen Gestaltung des Hauses Proteste und Verfügungen, die fast zur Einstellung des Baus geführt hätten. Dabei hatte Loos nur das in die Tat umgesetzt, was er kurz vorher in einem seiner vielen geschliffenen Traktate formuliert hat:

„Und ich sah, wie die alten bauten, und sah, wie sie sich von jahrhundert zu jahrhundert, von jahr zu jahr vom ornamente emanzipierten. Ich musste daher dort anknüpfen, wo die kette der entwicklung zerrissen wurde. Eines wusste ich: ich musste, um in der linie der entwicklung zu bleiben, noch bedeutend einfacher werden.“[6]


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Abb. 2.1:
Ludwig Wittgenstein mit
Paul Engelmann, Villa Wittgenstein, Wien 1928
 

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Abb. 2.2:
Villa Wittgenstein, Speisezimmer

 

Diese Einfachheit der Gestaltung ist bei Loos kein Selbstzweck, sondern sie soll den Menschen befreien vom Lärmen und Rauschen einer sinnentleerten Formensprache zugunsten eigener produktiver geistiger und künstlerischer Beschäftigungen: „Wir gehen nach des tages last und mühen zu Beethoven oder in den Tristan“,[7] die Architektur sollte durch ihre Einfachheit (und bei Loos auch innenräumliche Noblesse) dazu den komfortablen Hintergrund abgeben.

Das konsequenteste Loos-Gebäude stammt aber gar nicht von Loos, sondern von dem Philosophen Ludwig Wittgenstein.[8] Er ist noch radikaler in seiner Reduktion auf das „Wesentliche“ in der Villa, die er zusammen mit dem Loos-Schüler und Architekten Paul Engelmann 1928 in Wien für seine Schwester und deren Familie entwarf und realisierte. Aufbauend auf den Vorentwürfen von Engelmann, die versuchten, das Konzept einer klassizistischen Villa mit den Lehren von Adolf Loos für eine kubisch schmucklose Architektur zu vereinen, griff Wittgenstein zunehmend in den Entwurf ein und unterzog ihn einer durchgreifenden Klärung. Die betrifft sowohl die Anordnung der einzelnen Baukörper, wie die Gliederung der Fassaden, die Zuordnung der Räume, die Platzierung von Fenstern und Türen, die Gestaltung des Plattenrasters aus Kunststein auf dem Boden der Haupträume und die Neukonstruktion einer ganzen Reihe von technischen Details. Dabei stand der Zweck des Hauses als großbürgerliche Villa durchaus im Vordergrund und wurde auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohner zugeschnitten. Auffallend sind jedoch die ästhetischen Korrekturen: der Verzicht auf jeden Schmuck im Sinne von Ornament und Dekoration, die Verwendung schlichter Materialien und haustechnischer Installationen (einfache Glühlampen als Deckenbeleuchtung) sowie eine strenge Ordnung und Proportionierung aus dem Geist der Geometrie und der Technik.

Dieser ästhetischen Klärung im Sinne einer möglichst einfachen, oft symmetrischen Ordnung und der Entwicklung zahlreicher mechanischer Details wie Griffe, Hebel, Verdunklungen, Radiatoren, Speiseaufzug, die ihre Funktion so deutlich wie möglich anzeigen sollen, war Wittgensteins Hauptbeschäftigung gewidmet. Der Perfektionismus ging dabei so weit, dass nach Fertigstellung des Hauses und kurz vor Bezug die Decke im so genannten Saal entfernt und um drei Zentimeter erhöht wieder eingebaut werden musste.[9]

„Wittgenstein erlaubte keine Teppiche, keine Lüster und Vorhänge: Dekorationsmittel, die mit der Klarheit und Strenge, mit den polierten und exakten Oberflächen dieser Architektur unvereinbar sind. Es sind das Zusammenspiel der wenigen Mittel und die genau studierten, aufeinander abgestimmten Proportionen, die der Architektur dieser Räume ihren entsubjektivierten, statisch-endgültigen Charakter verleihen.“[10]


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Abb. 3:
Ludwig Mies van der Rohe, Barcelona Pavillon, 1929
 

Wittgenstein hat selbst wenig über sein architektonisches Werk gesagt. Die Villa ist oft als Fortsetzung des Tractatus logico-philosophicus (1921) mit anderen Mitteln interpretiert worden, nämlich in dem Bereich, in dem man schweigen muss, weil man darüber nicht sprechen kann (Tractatus, Satz 7.0). Dies ist das Reich der Kunst, denn das „Kunstwerk will nicht etwas anderes übertragen, sondern sich selbst“,[11] und bezogen auf die Musik folgert er: „Die Melodie ist eine Art Tautologie, sie ist in sich selbst abgeschlossen; sie befriedigt sich selbst“.[12] Insofern kann man sagen, dass sich in dem Gebäude das

„allgegenwärtige Ringen um schweigende tautologische Formen [...] in der omnipräsenten formalen Reduktion wieder erkennen“ lässt und dass sich hier „das Abstrakte – die Idee – mit dem Konkreten – der architektonischen Form – gewissermaßen kurzschließen [lässt], nämlich aufgrund des Konzepts der Tautologie“,[13] d. h. diese Architektur „vermittelt sich uns selbst.“[14]

Es scheint zunächst ein ganz ähnlicher Ansatz zur Reduktion und Konzentration auf das Einfache und Wesentliche bei den frühen Entwürfen und Gebäuden von Mies van der Rohe vorzuliegen. Sein Pavillon für den deutschen Beitrag zur Internationalen Ausstellung 1929 in Barcelona ist von der Beschränkung auf wenige raumbildende Mittel gekennzeichnet: Hinter einer hohen Umfassungsmauer ist ein kubischer teilweise geschlossener und teilweise offener Bereich mit Flachdach gebildet, dessen Inneres durch einige frei stehende Wandscheiben gegliedert und durch großformatige Glasflächen verbunden wird, die sich zu einem Atrium und einem Hof mit Wasserbecken öffnen. Die konsequente Trennung von Stütze und Wand macht es möglich, räumliche Zonen zu bilden, die nicht im traditionellen Sinne abgeschlossen sind, sondern ineinander übergehen und ein Kontinuum bilden, das die Grenzen zwischen Innen und Außen sowie Offen und Geschlossen überspielt. Edle Materialien wie eine große Wand aus Onyx, eine andere aus farbigem Glas, Bodenplatten aus Travertin, in Hochglanz verchromte Stützen, spiegelnde Wasseroberflächen, sparsame und exquisite Möblierung ergeben eine noble Atmosphäre. Der Fülle der materialen Reize steht eine raffiniert einfache Anordnung der räumlichen Elemente gegenüber, die in ihrer strengen Orthogonalität die Einflüsse aus der Verbindung von Mies zur „Stijl-Bewegung“ nicht verleugnen können, und die dem Gefüge eine „Struktur“ geben, die nicht zuletzt durch die statischen und konstruktiven Erfordernisse gebildet wird. „Struktur“ wird für Mies bald zu einem zentralen Begriff für seine architektonische Konzeption: „Struktur ist für Mies Sinnträger, der Träger der letzten geistigen Inhalte“,[15] der in Mies’ weiterem Werk zunehmend mit dem Begriff der Konstruktion verschmilzt. So kann man sagen:

„Indem Mies seine Gedankengänge in dem Begriff der ‚Struktur’ zusammenfasst, liefert er eines der klarsten Konzepte der modernen Architektur. Struktur versteht Raum und Konstruktion als eine Einheit, die Verschiedenheiten zusammenbringen kann: Die Konstruktion gehört dem Bereich der Technik an und steht damit für Allgemeingültigkeit, Objektivität, Ordnung, Statik. Der Raum, den sie bildet, hat ihr gegenüber ‚Spiel’; er ist so wenig wie möglich festgelegt und steht damit für das Individuelle, Wandelbare, Lebendige, Dynamische. Die Konstruktion gibt dem Raum Struktur. Architektur so zu denken, ist eine Strategie der Versachlichung wie des Offenhaltens von Möglichkeiten und damit eine zutiefst moderne Idee“[16]

und, wie wir folgern können, eine der Möglichkeiten, architektonische Konkretion zu realisieren.


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Abb. 4.1:
Max Bill, Hochschule für Gestaltung, Ulm 1955
 

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Abb. 4.2:
Max Bill, „Ulmer Hocker“, 1954

 

3. Konkrete Architektur und konkrete Kunst bei Max Bill

Eine besondere Rolle bei allen Überlegungen zum Konkretismus in der Architektur kommt Max Bill zu, der mit seinen künstlerischen Wurzeln tief in der Bewegung der Konkreten Kunst haftet und seine Tätigkeit als Architekt, die er als seinen Hauptberuf ansah, in Korrespondenz dazu entwickelt hat.[17] Dabei muss jedoch sogleich festgehalten werden, dass Bill immer eine strikte Trennung zwischen Kunst und Architektur gemacht hat: Architektur ist für ihn immer zuerst für den praktischen Gebrauch bestimmt, während die Kunst ausnahmslos für den „geistigen Gebrauch“ bestimmt und daher autonom ist. Hier soll seine Hochschule für Gestaltung in Ulm (1953-55) als Beispiel dienen.

Bei dem Gebäudekomplex auf dem Ulmer „Kuhberg“ handelt es sich um eine Agglomeration von diversen größeren und kleineren „Kisten“, die sich „organisch“ in die Hanglandschaft einfügen und ohne eine erkennbare übergreifende Gestalt in einem sich um den Berg schlängelnden Band als „Rückgrat“[18] angeordnet sind. Die einzelnen Gebäude, die sehr unterschiedlichen Funktionen dienen, wie Werkstätten, Seminarräume, Ateliers, Mensa, Studentenwohnräume usw., beruhen auf einer flexibel handhabbaren Betonkonstruktion und sind alle mit den gleichen Fassadenelementen bekleidet.
Außen haben die Einzelbauten eine einfache kubische Grundform und ein einfaches, konstruktiv bedingtes Fassadenraster, im Gebäudeinneren werden die Räume gemäß ihren Funktionen erheblich differenziert und pragmatisch je nach Position im Gesamtzusammenhang angepasst, abgeteilt oder verselbständigt. Bis auf die grobe Gliederung in kantige und geschlossene Baukörper kann nichts von dieser komplizierten räumlichen Struktur an der Gebäudeoberfläche abgelesen werden. Die Materialien sind außen roh belassener Sichtbeton, innen kommen gelegentlich geschlämmter Backstein und unbehandeltes Naturholz hinzu. Sogar die Einrichtung wird auf einfache Grundelemente reduziert und zum Teil nach den Entwürfen von Bill in den hochschuleigenen Werkstätten hergestellt, wie der berühmte „Ulmer Hocker“. Alles ist einfach, ehrlich, praktisch, materialgerecht und demzufolge nach Bill auch „schön“, wobei Bill Schönheit einmal aus dem Zusammenwirken der genannten Faktoren hervorgehen sieht, zum anderen aber auch fordert, dass der Gestalter seine Mittel so lange zu klären und zu ordnen habe, bis die Schönheit konkretisiert ist:

„Die Massenkonsumgüter sollen derart gestaltet werden, daß nicht nur eine relative Schönheit aus ihren Funktionen entsteht, sondern dass diese Schönheit selbst zur Funktion wird.“[19]

Hinter dem Hang zur Vereinfachung und Versachlichung steht also auch eine ästhetische Motivation, die nach Ordnung und Klarheit drängt. Bill hat immer wieder seine Nähe zur Mathematik betont, die vor allem ihre Konkretisierung in seinem malerischen und plastischen Werk findet. In der Ulmer Architektur macht sie sich in der sehr präzisen Proportionierung der quadratischen Fassaden- und Fensterelemente bemerkbar, die nach einfachen klassischen Proportionen geteilt sind und zu harmonischen Figuren führen; diese werden in abgewandelten Maßen auf jedes Gebäude der Anlage übertragen und mit verschiedenen Konstruktionsprinzipien kombiniert.[20] Damit können in der formalen Komplexität der Einzelgebäude und der rohen Materialität subtile Ordnungsstrukturen gefunden werden, die zu einer ästhetischen Balance der heterogenen Teile beitragen und über einen simplen Funktionalismus hinausgehen.

Ein zentraler Begriff für Bills Ästhetik ist, ähnlich wie für den jungen Mies van der Rohe, der Begriff der „Struktur“, den er gelegentlich zum wesentlichen Faktor der konkreten Gestaltung erklärt hat,[21] und wonach in jedem Werk eine individuelle Lösung angestrebt werden soll, in der die „Struktur zur Gestalt“ werden kann. Dieses Prinzip ist sowohl für die autonome Kunst wie für die angewandte Gestaltung vorbildlich und ein Grund dafür, dass überhaupt von konkreter Gestaltung und konkreter Architektur gesprochen werden kann.[22] Bill hat den Zusammenhang zwischen Struktur und Kunst so erläutert, dass im Werk eine theoretisch gleichmäßige Verteilung von flächigen oder räumlichen Elementen in einem rationalen Akt der Wahl „limitiert“ und experimentell in eine neue Ordnung überführt wird, die als individueller Ausdruck einer persönlichen Erfindung ästhetisch reflektiert werden kann.[23] Dieses Prinzip kann auch in der architektonischen Gestaltung wiedergefunden werden, nur dass es dort in soziale, funktionale und technische Rahmenbedingungen eingebettet ist. Der Philosoph und Freund Bills, Max Bense, hatte darin Bills bedeutende Leistung gesehen, dass er derjenige Gestalter sei, dem es gelang, „eine Struktur-Idee in eine Gestalt-Idee“ zu übersetzen und der „wie kein anderer eine Synthese beider Arten der Konzeption“ erreicht habe.[24] Man könnte sagen, dass in dieser Methode der Synthetisierung von Struktur und Gestalt, der Vermittlung von „Vielheit und Einheit“,[25] von „Ordnung und Komplexität“ (Bense) und der Differenzierung der Elemente und der Organisation zu einem Ganzen bei äußerster Reduktion aller Mittel der wesentliche Beitrag von Max Bill zur Konkreten Architektur liegt.


4. Konkrete Architektur heute

Nach Jahren des ausschweifenden Schwelgens in architektonischer Opulenz wird seit einiger Zeit die Rückkehr zur „Neuen Einfachheit“ propagiert[26] und es scheint, als hätten besonders Max Bills eidgenössische Nachfolger auf diesen Ruf schon gewartet. Neben einigen anderen sind es zwei herausragende Büros, die mit ihren Entwürfen und Projekten internationale Aufmerksamkeit erregt haben: Herzog & de Meuron und Peter Zumthor.

Das Team von Herzog & de Meuron fiel schon in den Achtzigerjahren durch seine Verwendung ungewöhnlich einfacher Bauformen und unüblicher Baumaterialien auf, die von naturbelassen rohen bis zu High-Tech-Materialien reichen. Insbesondere spielen großflächige Verglasungen der Fassadenoberflächen eine herausragende Rolle, wobei alle möglichen technischen Neuentwicklungen von Spezialgläsern, Kunststoffen und Folien (wie zuletzt bei der Allianz-Arena in München) zum Einsatz kommen. Sehr häufig werden mattierte, geätzte oder bedruckte Gläser verwendet, die an Ornament und Dekor erinnern, aber eine jeweils bestimmte Funktion haben: schützen, filtern, trennen usw. Wie alle hier betrachteten Architekten lehnen Herzog & de Meuron eine Orientierung an Traditionen, Lehren oder Vorbildern ab; jede neue Bauaufgabe wird aus ihren eigenen Voraussetzungen und Bedingungen entwickelt, bis ihre funktionalen Aspekte geklärt und gelöst sind:

„Wir orientieren uns an der Natur und an dem, was vorhanden ist, nicht an einer Ideologie [...] All unsere Projekte basieren auf beobachtender und beschreibender Wahrnehmung. Die Lösungen für unsere Projekte haben wir sozusagen auf der Straße gefunden. Wir projizieren unsere Wahrnehmung auf unsere Architektur. Das ist auch der Grund, warum sich unsere Gebäude so sehr voneinander unterscheiden. Unser Blickwinkel ist nie derselbe und die Wahrnehmung deshalb immer wieder anders. Unsere Arbeit besteht im wesentlichen aus der Beobachtung und Analyse dessen, was vorhanden ist.“[27]

Der Bezug auf die Natur ist hier sehr elementar gemeint: er unterstellt eine Analogie zwischen organischen und gebauten Strukturen, die es aus der Analyse der Bauaufgabe freizulegen und in baubaren Raum zu übertragen gilt:

„Das Entwerfen und Detaillieren eines Gebäudes wird dadurch zum geistigen Trip ins Innere des Gebäudes. Das Äußere wird wie das Innere, und die Oberfläche wird zum Raum. Die Oberfläche wird ‚attraktiv’, d. h. während Du sie entwirfst, wirkt sie wie ein Attraktor. Du durchdringst geistig das Gebäude, um zu wissen, was das Gebäude werden will.“[28]


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Abb. 5.1:
Herzog & de Meuron, Medienzentrum BTU Cottbus 2005
 

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Abb. 5.2:
Medienzentrum BTU Cottbus, Innenraum

 

Die Oberfläche als „Attraktor“ wird zu einem wichtigen Gestaltungselement, weil sie zum Raum in einem „dialektischen“ Verhältnis steht: „Der Raum verdichtet sich zur Oberfläche, und umgekehrt geht bei den anderen Projekten die Tiefe der Oberfläche in den Raum über.“[29] Aber auch für die Gebäudeform hat die Oberfläche zentrale Bedeutung: „Häufig wählen wir dann einfache Baukörper, wenn wir die Aufmerksamkeit auf die Oberfläche lenken wollen. Selbst die geometrischen Grundformen sind uns zu symbolbeladen.“[30] Für solche Oberflächen ist besonders Glas das Mittel der Wahl, weil es sowohl räumliche Tiefe ermöglicht, wie auch die Körperform artikuliert und zugleich in Frage stellt. Dass Glas hier besonders in mattierter oder bedruckter Form zu Einsatz kommt, ist wiederum eine Spezialität von Herzog & de Meuron:

„Wir verwenden oft Ausdrucksmittel, die nicht unmittelbar der Architekur angehören, z. B. Siebdrucke oder Photos, Texte etc. Aber wir bearbeiten sie so, dass sie am Schluß nur noch Architektur sind. Wenn sie so transformiert sind, dass ihre ursprüngliche Herkunft kaum mehr spürbar ist, ist es am Interessantesten.“[31]

Ein schönes Beispiel für diese Konzeption ist die neue Hochschulbibliothek in Cottbus. Ein amorpher gläserner Monolith steht auf einem weiträumigen Platz im Hochschulgelände:

„Was auf den ersten Blick tatsächlich als rein zufällige Form erscheint, zeigt sich bei näherer Betrachtung als absichtsvolles Gefüge vielfältiger Bewegungsabläufe. Wir haben die Sequenzen der Bewegungsabläufe mittels Modellen entwickelt, und bezüglich ihrer Qualität, den städtischen Raum neu zu ordnen und zu strukturieren, überprüft.“[32]

Die gläserne Hülle ist mit Schichten von unleserlichen Texten so bedruckt, dass eine eigenartig gemusterte „Haut“ entsteht, die nach außen eine besondere Materialität verkörpert und nach innen Sichtschutz und Lichtfilterung bietet: „Diese Bedruckung bricht die Spiegelung, nimmt dem Glas seine Härte und dem Körper seine Homogenität.“[33] Im Inneren ist das Gebäude auf zahlreichen Ebenen entsprechend den räumlichen Möglichkeiten funktional gegliedert und mit einigen markanten Sonderelementen (wie der spiralförmigen Treppenskulptur) und grellen Farbakzenten gestaltet:

„Die Form des Baukörpers ermöglicht die Schaffung einer Vielzahl von unterschiedlich großen, nach verschiedenen Seiten orientierten Lesesälen, und dennoch ist die Bibliothek ein einziger, zusammenhängender Innenraum, ein Raumkontinuum. Einem orthogonalen Ordnungssystem folgend werden die einzelnen Geschoßplatten unterschiedlich zurückgeschnitten, so dass ein Spannungsfeld entsteht zwischen den geschnittenen Geschoßebenen und der kontinuierlichen Gebäudehülle.“[34] 

Obwohl hier beinahe eine rein funktionalistische Gestaltung suggeriert wird, können wir eine architektonische Konkretisierung erkennen, die darin besteht, die Bauform auf eine einfache, hier topologische Grundform zurückzuführen und die Gebäudehülle zu einer vielfältig les- und nutzbaren Schicht zu machen, die die Wahrnehmung aktiviert und die auch technologisch auf neustem Stand ist. Hans Frei drückt es so aus:

„Das Prinzip der Einfachheit besteht darin, die Fassade als möglichst betrachterfreundliche Schnittstelle zu gestalten, die aussagekräftig und allgemein verständlich ist. Die Hülle der Bauten wird Ort des letzten Widerstandes gegen reine Fiktion, für die Wahrheit des Sehens.“[35]

Nicht nur die Hülle und die Fassadenoberfläche, sondern auch das Innere der Räume und die Wirkung der raumgestaltenden Materialien bestimmt die Architektur des Schweizers Peter Zumthor, dessen Therme in Vals (1996), Kunsthaus in Bregenz (1997) oder EXPO-Pavillon in Hannover (2000) hohes Renommee genießen. Ihm kommt es besonders auf die unmittelbar sinnliche Wirkung „des Stofflichen, des Körperhaften, der Dinge, die mich umgeben, die ich sehe und berühre, die ich rieche und höre“ an.[36] Diese produzieren für ihn eine besondere „Atmosphäre“, die den Kern einer gelungenen architektonischen Situation ausmacht, und die auf der „Magie des Realen“[37] beruht:

„Die Magie des Realen, das ist für mich diese ‚Alchemie’ der Verwandlung von realen Substanzen in menschliche Empfindungen, dieser besondere Moment der emotionalen Aneignung oder Anverwandlung von Materie, von Stoff und Form im architektonischen Raum“.[38]

Um solche „Atmosphären“ zu erzeugen, bedient er sich konzeptueller Verfahren und Programme, von denen er einige folgendermaßen formuliert: Da ist zunächst die Vorstellung vom „Körper der Architektur“, der eine „Anatomie“ hat, aber auch eine „Haut, als Masse, Membrane, als Stoff oder Hülle, Tuch, Samt, Seide und glänzenden Stahl“, einen „Körper, den ich berühren kann und der mich berührt.“[39] Dann ist es eine zeitliche Komponente, die die Bewegung in den Räumen berücksichtigt und die zwischen Ruhen und Gehen („freies Schlendern“[40]) changiert:
„Hinführen, vorbereiten, anregen, freudige Überraschungen, Entspannung“,[41] das versucht er besonders in den genannten öffentlichen Gebäuden räumlich zu gestalten. Dann ist es die „Spannung zwischen innen und außen“,[42] die sich durch Öffnungen, Schwellen, unmerkliche Übergänge, aber auch transparente und transluzente Materialien ausspielen lässt, und die besonders durch das „Licht auf den Dingen“[43] gesteigert wird.

„Eine Lieblingsvorstellung ist die: Das Gebäude zunächst als Schattenmasse zu denken und erst nachträglich, wie in einem Aushöhlungsprozeß, Lichter zu setzen, Licht einsickern zu lassen [...]“ und dabei „die Materialien und Oberflächen bewusst ins Licht zu setzen.“[44]

Schließlich ist es die Arbeit an der Form, die sich aus der „Stimmigkeit“[45] aller genannten Faktoren ergibt und die insbesondere den Gebrauch zum Prüfstein macht:

„Daß Architektur eine Gebrauchskunst ist, ist meiner Meinung nach ihre vornehmste Aufgabe. Aber das schönste ist, wenn die Dinge zusammen gekommen sind, stimmig sind. Dann verweist alles aufeinander und Sie können es nicht auseinandernehmen: Der Ort, der Gebrauch und die Form.“[46]

Dabei ist für Zumthor wesentlich:

„Paradoxerweise arbeiten wir jedoch nicht an der Form, wir arbeiten zunächst an all den anderen Dingen: am Klang, an den Geräuschen, an den Materialien, am Körper der Architektur, der sich [...] aus der Konstruktion, der Anatomie, der Logik des Konstruierens zusammensetzt. Wir arbeiten an all diesen Dingen und schauen immer gleichzeitig auf den Ort und den Gebrauch.“[47]


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Abb. 6.1:
Peter Zumthor,
Poetische Landschaft –
Haus für ein Gedicht, Detmold 1999
 

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Abb. 6.2:
Haus für ein Gedicht, Innenraum
 

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Abb. 6.3:
Poetische Landschaft, Bibliothek

 

Diese Arbeit an der Stimmigkeit der Form darf dann aber auch zum „vermutlich letzten Ziel“ führen: „der schönen Gestalt“ (hier werden starke Parallelen zu Max Bills oben erwähnter „Schönheit aus Funktion und als Funktion“ deutlich[48]).

Ein gutes Beispiel für die Konkretisierung von Zumthors Architekturkonzeption ist der Entwurf für die „Poetische Landschaft“ in Ostwestfalen-Lippe, der 1999 im Rahmen des Beiprogramms zur EXPO 2000 in Hannover entstand und bisher nicht ausgeführt wurde. Dabei wurde für ein knapp zwanzig Kilometer langes und etwa zwölf Kilometer breites landschaftliches Areal östlich von Bad Salzufflen, das noch wenig zersiedelt ist, eine Gebäudestruktur entworfen, die aus zwei größeren Einzelgebäuden an einem zentralen Platz, einer Bibliothek und einem Auditorium sowie neun Einzelhäusern, die für jeweils bestimmte Orte über das ganze Areal verteilt sind, besteht. Die einzelnen Häuser dienen der „Behausung“ für ein Gedicht, das von jeweils einem renommierten Dichter eigens für diesen Ort und für diesen Anlass geschrieben wird; in der Bibliothek werden neun Sammlungsräume für diese Dichter, ihr Werk und ihr gedankliches Umfeld eingerichtet. Peter Zumthor beschreibt das Konzept für die „Gedicht-Häuser“ folgendermaßen:

„Die neun Häuser für die Texte der Poetischen Landschaft: klar geschnittene, geometrisch geformte Baukörper von hoher Künstlichkeit; fein ornamentierte Volumen aus Licht und Schatten, jedes mit seiner eigenen Farbe und Form, monochrom leuchtend, gebaut mit besonderen Steinen; die Steine, hergestellt aus zusammengepressten Farbpigmenten, wie ein Gewebe zur lichtdurchlässigen Wandtextur gefügt. Das Licht des Tages und das der Nacht dringt in die Körper ein und erhellt ihren Innenraum, der immer wieder anders, aber immer nach dem gleichen Prinzip wie eine endlose Schlaufe aus einer einzigen geschwungenen Linie geformt ist [...]. Seitlich im Raum, auf einer leicht geneigten Tischfläche, gut ins Licht gerückt, ist der Text zu lesen, der für diesen Ort geschrieben wurde, und der nur hier zu lesen ist. Text, Innenraum, Gebäude und Landschaft treten in Beziehung zueinander.“[49]

Die Architektur bewahrt in allem ihren eigenständigen Charakter und konzentriert sich auf ihre eigenen Mittel (wie Körper, Raum, Material, Farbe, Licht, Form), um eine „Atmosphäre“ zu erzeugen, die dem Gebrauch von Poesie dienen kann, ohne diese verbessern oder gar verändern zu wollen; im idealen Fall erklärt sich das Gebäude im poetischen Gebrauch selbst, wie Zumthor es einmal als sein Ziel formuliert hat,[50] und wird Partner der Poesie auf einer höheren Wahrnehmungsebene. In diesem Sinne möchte ich auch hier von einer architektonischen Konkretisierung sprechen.


5. Die Zukunft des Konkreten in der Architektur

Nach diesem Druchgang können wir noch einmal die verschiedenen Phänomene des architektonisch Konkreten, die wir gesehen haben, Revue passieren lassen: Bei Loos war es die formale Einfachheit und die Ornamentlosigkeit; bei Wittgenstein die strenge „logische“ Ordnung der Räume und Details; bei Mies die Klarheit der konstruktiven Struktur; bei Max Bill die Vermittlung der immanenten Strukturen von Aufgabe und gestalterischen Mitteln; bei Herzog & de Meuron die „attraktive“ Oberfläche einfacher Gebäude und bei Zumthor die „Magie des Realen“ in der baukörperhaften Materialität. Alle diese Phänomene weisen in die Richtung einer Fokussierung auf Material und Konstruktion in der Architektur, die verbunden ist mit einer starken Tendenz zur Betonung des Funktionalen (nicht des Funktionalismus!) und des Einfachen (und nicht des Minimalismus!). Dazu kommen noch einige andere Züge, die mehr oder weniger deutlich zum Vorschein kamen:

  • Die Verweigerung jeder Fiktionalität in der Gestaltung und die Betonung der Eigensinnigkeit jeder neuen Bauaufgabe und der Art und Weise, mit der sie gelöst wird;

  •  Die Selbstverständlichkeit der Selbstreferenz, mit der die Gebäude auftreten und den Anschluss an Traditionen, Lehren oder Ideologien negieren;

  •  In semiotischer Perspektive die Dominanz der syntaktischen Dimension über die semantische und die pragmatische Dimension;

  • Das demonstrative Vorführen von architektonischer Präsenz, die zumindest vordergründig jeden tieferen Sinn ablehnt und eher auf diskrete Wirkung oder rationale Deskription und Explikation Wert legt;

  • Der unverkennbare Hang zur Abstraktion, der durch Reduktion, Isolation, Konzentration oder Präzision auf ein Wesentliches, im Prinzip auch Allgemeines zielt, das im jeweils Besonderen zum Ausdruck kommen kann.

Gerade dieser letzte Aspekt führt noch einmal an den Anfang zurück, wo es darum ging, in welchem Verhältnis das Konkrete und das Abstrakte in der Architektur stehen. Max Bill hatte auf dem strikten Gegensatz zwischen diesen beiden Konzeptionen bestanden:

„Das Abstrahieren bedeutet: Absehen vom Besonderen und Zufälligen zugunsten des Allgemeinen, Wesentlichen, vermittels des analytischen Denkens.“[51]
Dagegen heißt es:
„Konkretion ist die ‚Gegenständlich-Machung’ von etwas, das vorher nicht sichtbar, nicht greifbar vorhanden war“ und „Zweck der Konkretion ist es, abstrakte Gedanken in der Wirklichkeit sinnlich erfassbar zu machen.“[52]

Damit wird nun allerdings doch ein Zusammenhang zwischen dem Abstrakten (Gedanke) und dem Konkreten (sinnlich fassbarer Gegenstand) nahegelegt, denn auch die abstrakte Kunst stellt ihre Ergebnisse als sinnlich fassbare Objekte dar. Bill versucht den Gegensatz am Verhältnis zur Natur festzumachen, nicht ohne dabei in eine gewisse Paradoxie zu geraten:

„Der Unterschied zwischen abstrakter Kunst und konkreter Kunst besteht darin, dass in der abstrakten Kunst die Bildinhalte von Naturbildern abhängig sind, während in der konkreten Kunst die Bildinhalte unabhängig von Naturbildern entstehen. Als Beispiel dafür diene ein Grenzfall der Malerei: auf einer weißen Leinwand befindet sich ein roter Punkt. Dieser kann auf zwei Arten entstanden sein: erstens kann es ein Sonnenaufgang im Nebel sein und ist somit als Abstraktion anzusehen, oder es kann, zweitens, ein roter Punkt sein, der einzig durch sein Verhältnis zur Fläche eine künstlerische Realität ausdrückt; in diesem zweiten Fall handelt es sich um die Konkretion eines abstakten Gedankens, also um konkrete Kunst.“[53]

Auf die Architektur lässt sich dieser Konflikt ohne weiteres übertragen, z. B. wenn man die Bibliothek in Cottbus einmal als organische Naturform oder aber anders als reines dynamisches Volumen auffasst. Ist es also nur eine Frage der inneren Einstellung des Rezipienten oder des Produzenten, ob ein Werk abstrakt oder konkret ist, oder handelt es sich um zwei komplementäre Teile einer künstlerisch-gestalterischen Realität, die sich gegenseitig bedingen (z. B. als Idee und Form)? Im letzteren Sinne könnte man die oben von Max Bense postulierte Vermittlung von Struktur und Gestalt im Werk von Max Bill verstehen, und generell ließe sich sagen:

„Beide Prozesse verdichten zusammen die Wirklichkeit eines Kunstwerks, indem sie dialektisch seine innere Ordnung mit dem Abbild einer äußeren Wirklichkeit verbinden.“[54]

Dabei kann mal das eine, mal das andere dominieren, sowohl in der Betrachtung wie in der Herstellung, aber gänzlich reduzieren ließe sich keine dieser beiden Seiten. Das gilt bis auf weiteres auch noch für die neue „virtuelle Architektur“, die sich zu ihrer Konkretisierung neuer Medien bedient, deren Materialität immer immaterieller wird und die zunehmend die sinnliche Wahrnehmung auf den optischen Sinn reduziert: aber auch das digitale Bild und die digitalen Räume sind medienspezifisch konkret, allerdings bei Vernachlässigung einiger gewohnter sinnlicher Dimensionen. Vielleicht ist die derzeitige Hochkonjunktur von konkreter Architektur im oben entwickelten Sinne eine Antwort auf diese Immaterialisierung der Räume durch die digitalen Medien, und vielleicht können wir deshalb auch weitere interessante Werke erwarten, in denen sich Architektur konkretisiert.

„Konkrete Gestaltung“ in der Architektur wäre demnach kein Stil, sondern eher eine kulturelle Strategie zur Gestaltung von räumlichen Formen, die sich eines Bündels von bestimmten Methoden und Techniken bedient, um signifikante Differenzen im gegenwärtigen Feld der (westlichen) Baukultur zu erzeugen und damit Aufmerksamkeit und Interesse zu erregen und zur Suche nach neuen Möglichkeiten der Gestaltung menschlicher Lebensumwelten einzuladen.



 



Literatur: 

Bense, Max: Aesthetica und Zivilisation (1958), wiederabgedruckt in: Max Bense: Aesthetica. Einführung in die neue Aesthetik, Baden-Baden 1965.

Bill, Max: Präzisierungen zur konkreten Gestaltung (1947), wiederabgedruckt in Hans Frei 1991, S. 265-270.

Bill, Max: Schönheit aus Funktion und als Funktion, in: Werk, August 1949, S. 272ff.

Bill, Max: Struktur als Kunst? Kunst als Struktur?, in: Kepes 1967, S. 150.

Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München 2006.

Conrads, Ulrich (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 1964.

Frei, Hans: Konkrete Architektur? Über Max Bill als Architekt, Baden 1991.

Frei, Hans: Neuerdings Einfachheit, in: Karin Gimmi u. a.: Minimal Tradition, Baden 1996, S. 113-131.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik II., Werke Bd. 14, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt/M. 1970.

Hensen, Dirk: Weniger ist mehr, Berlin 2005.

Herzog & de Meuron: Minimalismus und Ornament, in: Arch plus, H. 129/130, 1995, S. 18-24.

Herzog & de Meuron: IKMZ Cottbus, in: IKMZ. Informations-, Kommunikations- & Medienzentrum der BTU Cottbus, hg. vom Ministerium der Finanzen des Landes Brandenburg, Cottbus 2005.

Kepes, Gyorgy (Hg.): Struktur in Kunst und Wissenschaft, Brüssel 1967.

Krüger, Reinhard; Ohmer, Anja (Hg.): Konkretismus: Materialien, Stuttgart 2006.

Kruft, Hanno-Walther: Geschichte der Architekturtheorie, München 1991.

Leitner, Bernhard: Die Architektur von Ludwig Wittgenstein (1973), Reprint London 1995.

Loos, Adolf: Ornament und Verbrechen (1908), wiederabgedruckt in: Adolf Loos: Trotzdem, hg. von Adolf Opel, Wien 1982.

Loos, Adolf: Architektur (1909), wiederabgedruckt in: Adolf Loos: Trotzdem, hg. von Adolf Opel, Wien 1982.

Pehnt, Wolfgang: Deutsche Architektur seit 1900, München 2005.

Werner, Frank: Die „Neue Einfachheit“ – ein Problem für Architektur und Städtebau?, in: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, 9. Jg., H. 2, März 2005;
www.tu-cottbus.de/openarchive/wolke/deu/Themen/042/Werner/werner.htm (Stand 06.07.2009).

Wilk, Christopher (Hg.): Modernism 1914-1939, London 2006.

Wijdeveld, Paul: Ludwig Wittgenstein, Architekt, o. O. 1994.

Zumthor, Peter: Wörter-Häuser-Gegend. Zur Gestaltung der Poetischen Landschaft, in: Brigitte Labs-Ehlert (Hg.): Poetische Landschaft, Detmold 1999.

Zumthor, Peter: Atmosphären, in: Arch plus, H. 178, 2006, S. 30-35.






Abbildungsnachweis:


Abb.1, 4.2, 5.1, 5.2: Dreyer 2006
Abb. 2.1, 2.2: Margherita Krischanitz aus Wijdeveld 1994, S. 107, 124
Abb. 3: Internet
Abb. 4.1: Pehnt 2005, S. 279
Abb. 6.1, 6.2, 6.3: Zumthor 1999, S. XIII, 13, 1


 




Anmerkungen:

[1] Hegel 1970, S. 258f.

[2] Ebd., S. 273.

[3] Krüger, Ohmer 2006, S. 75.

[4] Alle Texte in Conrads 1964.

[5] Vgl. Wilk 2006, S. 249ff.

[6] Loos 1909/1982, S. 99.

[7] Ebd., S. 88.

[8] Kruft 1991 zitiert nach Hensen 2005, S. 29.

[9] Vgl. Leitner 1973 und Wijdeveld 1994.

[10] Leitner 1973/1995, S. 51.

[11] Wittgenstein zitiert nach Hensen 2005, S. 48.

[12] Ebd.

[13] Hensen 2005, S. 48, 51.

[14] Wittgenstein zitiert nach Hensen 2005, S. 48.

[15] Mies zitiert nach Hensen 2005, S. 75.

[16] Hensen 2005, S. 78.

[17] Vgl. dazu Frei 1991.

[18] Ebd., S. 94ff.

[19] Bill 1949 zitiert nach Frei 1991, S. 180.

[20] Vgl. Frei 1991, S. 176.

[21] Bill 1967 zitiert nach Frei 1991, S. 176.

[22] Ebd.

[23] Bill in Kepes 1967, S. 150.

[24] Bense 1958 zitiert nach Frei 1991, S. 197.

[25] Gomringer zitiert nach Frei 1991, S. 192.

[26] Vgl. kritisch dazu Werner 2005.

[27] Herzog & de Meuron 1995, S. 19.

[28] Ebd., S. 20.

[29] Ebd., S. 23.

[30] Ebd., S. 21.

[31] Ebd., S. 22.

[32] Herzog & de Meuron 2004, S. 17.

[33] Ebd., S. 18.

[34] Ebd., S. 17f.

[35] Frei 1996, S. 126.

[36] Zumthor 2006, S. 30.

[37] Ebd., zur „Atmosphäre“ vgl. Böhme 2006.

[38] Ebd.

[39] Ebd., S. 31.

[40] Ebd.

[41] Ebd., S. 32.

[42] Ebd., S. 34.

[43] Ebd.

[44] Ebd., S. 35.

[45] Ebd.

[46] Ebd.

[47] Ebd.

[48] Ebd.; vgl. Anm. 19.

[49] Zumthor 1999, S. 18f.

[50] Zumthor 2006, S. 35.

[51] Bill 1947 zitiert nach Frei 1991, S. 268.

[52] Ebd.

[53] Ebd.

[54] Frei 1996, S. 128.

 


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