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Das Konkrete und das Abstrakte wurden vor allem durch Boethius (Kluge
1995) als Gegensatzpaar etabliert. Dies führt zu einer Symmetrie, die
zwar auf einer sprachlichen und gedanklichen Ebene gegeben scheint, aber
für die angestellten Überlegungen zum Architektonischen nicht hilfreich
ist. Aus diesem Grund ist es notwendig, die Begriffe des Konkreten,
Abstrakten und des Haptischen unter der Prämisse des Architektonischen
für diese Überlegungen neu zu fassen.
Das Konkrete
Auch wenn dieser Begriff im ersten Moment eingängig und mit dem
Architektonischen auf das Innigste verbunden scheint, so bedarf es einer
Erläuterung, die nicht ohne das Konzept des Abstrakten und der Bedeutung
des Haptischen auskommt. Das Konkrete ist das sinnlich Erfahrbare, das
nicht Reduzierbare, in all seinen Möglichkeiten Seiende. Das bedeutet,
es ist – als Objekt – außerhalb des wahrnehmenden Subjekts. Diese
Präsenz des Objekts ist per se nicht an das Subjekt gebunden. Aus Sicht
des Subjekts ist allerdings das Konkrete das Momentane, das Lokale, also
das Verständliche oder anders ausgedrückt das Greifbare – auch im Sinne
von begreifbar. Psychologisch betrachtet ist es die transmodale
Integration aller Sinneswahrnehmungen zu einer Gestalt, das
Zusammenwachsen, das concrescere der unterschiedlichen
Sinneswahrnehmungen bis zur Emergenz des Konkreten.
Das Konkrete sehe ich im Materiellen der Architektur verankert oder
anders ausgedrückt, das Materielle ist die Referenz zur Verortung des
Konkreten im architektonischen Objekt.
Das
Abstrakte
Das Abstrakte
ist das Abgezogene – von abstrahere abziehen –, es ist ein Teil des
Konkreten, ein Teil mit Spuren, Abdrücken. Ich möchte hier jedoch das
Abstrakte nicht als das genuine Abstrakte verstehen, die Essenz des
Konkreten, diese Reduzierung auf das Wesentliche, dieser Schritt hin zum
Allgemeinen, sondern als das, was vom Konkreten abgezogen wurde, um es
transportierbar zu machen. Diesem Abgezogenen fehlt das in allen sinnlichen
Dimensionen wahrnehmbare Gegenständliche. Dem Abstrakten ist somit ein
Verlust, ein Fehlen immanent, und dieses Fehlen ist in Bezug auf das
Konkrete vor allem das Greifbare, das Haptische.
Dieses Abgezogene gleicht und ist wie der fotographische Abzug, der die
konkrete Situation als Bild transportierbar gemacht hat. Es ist anfänglich
ein Abbild mit Referenz. Das Abstrakte ist in seiner Entstehung an das
Objekt gebunden, zum anderen ist es das, was sich vom Objekt löst. Erst das
vom Konkreten Abziehen macht das Konkrete als Abstraktes für den Geist
verwertbar, transportierbar. Damit kann das Abstrakte als Teil des Konkreten
– durch die Internalisierung der Wahrnehmung, insbesondere durch das Bild –
omnipräsent werden und ist nicht mehr an die Lokalität des Konkreten
gebunden. Dies hat auch zur Folge, dass es die Eigenschaft des Greifbaren
verliert und zu etwas Ungefährem und Vagem wird.
Dabei ist eigentlich dem Abstrakten eine Tendenz zur Konkretisierung im
Materiellen durch den menschlichen Verstand eigen, um es greifbar und
verständlich zu machen – und dies nicht nur im übertragenen Sinne.[1] Dieser Tendenz folgt im Architektonischen eine kulturelle Logik der
Raumproduktion. Man denke z. B. nur an die gläsernen Landtagsgebäude in
Stuttgart und Dresden bei denen die abstrakte Idee der Transparenz
demokratischer Entscheidungen durch die Verwendung von Glasfassaden
symbolisiert und konkretisiert wird.
Das dabei entstehende Paradox, dass das Konkrete in seiner nicht
reduzierbaren Komplexität für den menschlichen Verstand häufig greifbarer
erscheint als das Abstrakte – eine Kategorie des menschlichen Geistes – ist
dem menschlichen Sein geschuldet, dem Selbstzwang zur Suche nach dem eigenen
konkreten In-der-Welt-Sein.
Das Haptische
Das Haptische ist an das Subjekt gebunden, nur: es berührt und wird
berührt. Es ist das aktive Berühren, das Tasten zur Exploration der Umwelt.
Damit verbunden sind der Aufbau eines Körperschemas, einer inneren
Repräsentation des Selbst und die Begrenzung des Selbst. Die Haptik ist die
Exploration des Objekts in seinem materiellen Sein jenseits des Visuellen.
Es ist die Exploration von Form, Oberflächenstruktur, Härte, Wärme,
Wärmeeigenschaften, Gewicht und Größe, das Zusammenwachsen von Form und
Materialität durch einen Sinneskanal. Damit wird durch die Bündelung der
Wahrnehmung im Haptischen das Subjekt in seiner Form und Materialität als
authentisch und konkret erfahren. Es bringt das Subjekt in Relation zu sich
selbst und zum Objekt. Das Haptische sorgt dabei für die ständige
Kalibrierung des Subjekts und seiner Repräsentation in Bezug auf seine
Umwelt. Das Haptische verortet den Körper des Subjekts in der Welt der
Objekte – es trennt und es erweitert das Subjekt auf das Objekt hin; und es
verortet auch für das Subjekt das Konkrete im Materiellen, indem es das
Subjekt durch das Haptische teilhaftig werden lässt. Das Haptische ist die
sinnlichste und unmittelbarste aller Wahrnehmungen des Materiellen. Das
Konkrete ist für den Menschen das Greifbare und damit auch das Begreifbare,
das haptisch Wahrnehmbare.
Im Haptischen verbindet sich das Begreifen des Denkens – in abstrakten
Kategorien – mit dem Konkreten des Materiellen.
Die Sinneswahrnehmungen und das Haptische
Das Erleben der Welt beginnt für einen Menschen als Kind mit der Erforschung
der Umwelt durch das Sehen, Greifen und Drehen von Objekten. Das Haptische
und das Visuelle sind bei den ersten Wahrnehmungserfahrungen eng miteinander
verbunden (Siegler et al. 2005). Es findet eine transmodale Integration von
visueller und haptischer Wahrnehmung statt. Somit ist das Haptische eine der
grundlegenden Erfahrungen und Hypothesen für das spätere Leben und die
Wahrnehmung der Welt. Es scheint, als bestünde eine Symmetrie bei den ersten
Wahrnehmungserfahrungen zwischen dem Haptischen und dem Visuellen.
Diese Verbindung zwischen den einzelnen Sinnen ist für unsere Wahrnehmung
der dinglich-materiellen Welt wesentlich. Es ist deshalb bei der Exploration
der Umwelt durch die unterschiedlichen Sinne ein Mitdenken der anderen
Sinneseindrücke anzunehmen. Die Wahrnehmung nur durch einen Sinneskanal, wie
die heute überwiegend visuell geprägte Welt vermuten lässt, entspricht nicht
unserer von Kindesbeinen an verinnerlichten Art der Wahrnehmung. Bei der
überwiegend visuellen Wahrnehmung wird somit auch später immer das Haptische
mitgedacht. Somit liegt die Bedeutung des Haptischen für das
Architektonische nicht darin begründet, dass es eine spezifische Art der
Wahrnehmung ist oder für den Erwachsenen die wesentliche, sondern im
ständigen bewusst oder unbewusst Mitdenken. Das Haptische hinterfragt und
verkörperlicht von Kindheit an das Visuelle und wird dabei basal für die
Wahrnehmung.
Das Visuelle bedarf durch das Bild nicht der Präsenz des Objekts, während
das Haptische nur durch das Objekt begreifbar wird. Ohne das Haptische hat
das Visuelle keine konkrete materielle Referenz und bleibt nur virtueller
Eindruck mit dem Makel des noch nicht begriffen Seins. Dem rein visuell
wahrnehmbaren Objekt ist somit immer ein mitgedachtes Haptisches eigen.
Wenn einem Objekt keine haptische Eigenschaft zugeordnet werden kann, so
fehlt diesem Objekt etwas. Dem wahrgenommenen Objekt ist ein Mangel zu
Eigen, der sich darin ausdrückt, dass etwas, was zu seiner Konkretisierung
für den Menschen notwendig ist, fehlt. Ein Fehlen von etwas, der haptischen
Eigenschaft, die mitgedacht wird, der aber jegliche Möglichkeit genommen
ist, wahrgenommen zu werden.
Diese Dissonanz in der Wahrnehmung, dieses Fehlen einer ergänzenden, man
kann schon fast sagen komplementären Wahrnehmung, ohne die der Eindruck von
der Welt für den Menschen nicht vollständig erscheint, kann als Mangel an
Konkretheit verspürt werden. Dieser Mangel oder auch das Negieren des
Haptischen durch die Dominanz des Visuellen begründet die Bedeutung des
Haptischen. Denn dieser Mangel wird als Verlust verspürt, der einer
Kompensation bedarf, die jenseits einer Bedeutung liegt, die im Negieren und
Verdrängen des Haptischen verortet ist. Das Vergessen des Mitgedachten macht
das Haptische zu etwas Unbewusstem und unbewusst Bestimmenden, einer
Kompensation die sich im Bedürfnis nach einem haptisch wahrnehmbaren Objekt
ausdrückt.
Die heutige Welt ist visuell geprägt. Informationen über Objekte und auch
architektonische Objekte werden nicht mehr nur durch das Wort, den Bericht
weitergegeben und tradiert, sondern vor allem durch Visualisierung im Bild.
Die Symmetrie in der Erfahrung des Objekts durch die visuelle und haptische
Exploration der Welt beim Kind, wird beim Erwachsenen zu Gunsten des
Visuellen aufgegeben und somit eine Asymmetrie eingeführt.
Diese Verschiebung vom Haptischen zum Visuellen, wobei das Haptische als
unbewusst mitgedachte Referenz verbleibt, macht das Visuelle zur
Ersatzwahrnehmung und präkonfiguriert eine haptische Erwartung. Doch gerade
in dieser alltäglichen Negation liegt auch eine Bedeutung. Denn das
Visuelle, wie das Akustische, kommt, wie angeführt, nicht ohne das
mitgedachte Haptische aus. Der fast beliebigen Verfügbarkeit von Bildern und
der Verfügbarkeit fast jeden Objekts im Bild steht beim Haptischen eine
lokal an das Objekt und an den Menschen gebundene Wahrnehmung gegenüber. Der
Mensch ist dabei nicht wie beim Akustischen oder auch Visuellen ständig von
seiner Umgebung umhüllt, sondern muss bewusst durch das Berühren wahrnehmen
oder beim nicht berührten Objekt das Haptische mitdenken.
Die Bedeutung des Haptischen für den visuell geprägten Erwachsenen liegt
somit in diesem Mitdenken, in dem Nicht-ignorieren-Können des Haptischen und
in der Tatsache, dass nur das Objekt wirklich ist, das man berühren kann.
Das Haptische schließlich verifiziert das Visuelle als real existierend und
dient der Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit.
Die Bedeutung für das Architektonische
Nachdem nun versucht wurde, die Begriffe näher zu fassen, ist es
notwendig, die Beziehungen zwischen dem Konkreten, Abstrakten und Haptischen
näher zu untersuchen. Das Konkrete des materiellen Objekts ist das dem
Subjekt Gegenüberstehende, das was außerhalb liegt, wie ich vorher
ausgeführt habe. Das konkrete materielle Objekt ist nicht Spiegelbild oder
Abbild. Es ist die Rückversicherung der eigenen Existenz des Subjekts und
der Existenz einer Welt außerhalb des Subjekts. Das Konkrete als das
dingliche, materielle Objekt ist die Verortung des Subjekts in der durch das
Haptische als real angesehenen Welt. Das Objekt ist für das Subjekt der
Beweis der eigenen Existenz und damit von fundamentaler Bedeutung für das
Sein und das In-der-Welt-Sein.
Durch das Berühren wird das visuell Wahrgenommene aus der Sphäre des rein
Virtuellen in den Bereich des Materiellen verortet. Dabei ist das Materielle
der Rohstoff, aus dem das Objekt geformt wird, für das Subjekt die Essenz
des Wahren und Authentischen, des Unverfälschbaren. Das Subjekt leitet vom
Materiellen des Objekts das eigene konkrete und materielle Sein ab, es ist
örtliche und zeitliche Referenz, es ist der Beweis der eigenen
Authentizität. Das Objekt ist somit – oder wird als solches angesehen – Teil
einer unabhängig bestehenden und auch beständigen, aber nicht unwandelbaren
Welt außerhalb des Subjekts, ohne die das Subjekt seiner eigenen Existenz
nie habhaft werden könnte.
Durch das Haptische bemächtigt sich das körperliche Subjekt des Objekts. Es
nimmt nicht nur Verbindung auf, sondern eignet sich das Objekt körperlich
an. Das Objekt wird zur Extension des Körpers und Teil des Subjekts. Dadurch
erhofft sich das Subjekt am Konkreten des Objekts teilhaftig zu werden und
der Reduktion des Objekts zum Abstrakten durch die Wahrnehmung zu entgehen.
Im Gegensatz dazu scheint sich das rein Visuelle nur den optischen Eindruck
anzueignen, ohne die Möglichkeit, das Objekt dem Körper einzuverleiben. Das
Konkrete bleibt somit für das Visuelle das außerhalb Bestehende.
Das konkrete Objekt ist ja dem menschlichen Denken nur durch die Reduktion
zum Abstrakten zugänglich; durch das Haptische versucht das Subjekt dem
Konkreten in all seinen Dimensionen teilhaftig zu werden. Das Konkrete wird
somit zum Nachweis des eigenen In-der-materiellen-Welt-Seins. Das Abstrakte
als das vom Konkreten Abgezogene erhält durch die Möglichkeit des Haptischen
seine Referenz und Bedeutung, denn das Haptische ist die Rückversicherung
des Denkens in der Welt des dinglich Materiellen.
Konkretes und Abstraktes in der heutigen Welt
Doch in der heutigen Welt hat sich das Verhältnis zwischen dem Konkreten
und Abstrakten verändert. War früher die haptische Exploration der Umwelt,
der tägliche Umgang mit dem Materiellen vorrangig und bestand somit eine
Asymmetrie zu Gunsten des Haptischen, so dominiert heute das Visuelle.
Früher waren Bilder häufig individuelle Bilder der eigenen
Vorstellungskraft, jenseits einer allgemein zugänglichen Visualisierung,
eingesperrt im Individuum. Durch die Massenmedien ist das Bild vom Objekt
omnipräsent geworden und hat das reale Objekt als Grundlage der Wahrnehmung
scheinbar obsolet werden lassen.
Das Abstrakte als das transportierbar Gemachte des konkret Materiellen vor
allem in Form des Bildes hat somit eine weitere Asymmetrie in die Relation
abstrakt/konkret eingeführt zu Ungunsten des Konkreten. Das Abstrakte – als
das Abstrahierte – verliert dadurch allerdings seine Referenz im konkret
Materiellen und wird zu etwas Abstraktem ohne materielle Konsequenz.
Das ehemals auf Papier gedruckte Wort erscheint heute vor allem auf
Bildschirmen unter Glas und ohne haptische Eigenschaft. Das Zeichen – wie
das Bild – löst sich von seinem materiellen Zeichenträger, mit dem es fest
und dauerhaft verbunden war, und wird zu einer flüchtigen Erscheinung,
welche unsere Erfahrung in Bezug auf das Haptische grundsätzlich in Frage
stellt. Der konkrete reale Ort ist heute im digitalen Bild vervielfältigt
und weltweit omnipräsent im Internet. Bilder bestimmen unsere Wahrnehmung.
Die Visualisierung von Information, von abstrakten Daten oder
Entwurfsgedanken ist heute nicht nur Standard, sondern geradezu zwanghaft.
Das Bild erscheint der einzige Wahrheit erhaltende und vermittelnde
Informationsträger in einer visuell geprägten Gesellschaft zu sein. Das Bild
steht heute meist vor der tatsächlichen Wahrnehmung des Materiellen und wird
zum Ersatz desselben. Die digitale Fotografie hat das Konkrete zur
Unkenntlichkeit vervielfacht. Dieses verstehe ich als eine Verbildlichung
der Welt, einen Prozess des ständigen Abstrahierens des Konkreten. Das
inflationäre Bild verliert dabei allerdings die Referenz zum Materiellen.
Das Bild entwickelt ein Leben jenseits des Konkreten. Hier möchte ich auf
die Konzepte von Baudrillard zur Simulation und zum Simulacrum verweisen
(Baudrillard 2007; Original 1981).
Außerdem ist unsere materielle Umwelt, mit der wir überwiegend in Berührung
kommen, von „Kunststoffen“ durchdrungen, die ein beliebiges Material
imitieren. Bei Imitaten löst sich die Form von der ursprünglich materiellen
und damit auch haptischen Grundlage zu Gunsten eines visuellen Eindrucks.
Die Form steht hierbei nicht mehr für das Material, sie ist vom Materiellen
abgezogen und transportierbar gemacht. Die Form hat sich vom Material gelöst
und die Sphäre des Authentischen zerbrochen. Es stellt sich die Frage nach
der Übereinstimmung und Unversehrtheit der Beziehung von Form und Materie
beim Subjekt selbst – nach der eigenen materiellen Integrität.
Somit haftet dem Imitat der Mangel des Fehlens an, des Fehlens einer
wesentlichen Eigenschaft, der haptischen Übereinstimmung von Form und
Materialität. Das Imitat hat eben nicht mehr all die Eigenschaften des
Imitierten. Es wurde hier dem konkret Materiellen etwas abgezogen, und
dieser Verlust ist besonders auf der Ebene des Haptischen spürbar: Es sieht
zwar so aus wie etwas, aber es fühlt sich nicht so an. Trotz aller
technischen Raffinesse bei der Produktion: im Bereich des Haptischen lässt
sich das Subjekt eben nur schwer täuschen, weil das Haptische für das
menschliche Sein so wesentlich ist. Man denke hier nur an die Bedeutung des
Berührens und berührt Werdens für das Menschsein. Das Imitat manipuliert
unsere Wahrnehmung – unbewusst und schleichend, indem es den Bezug zwischen
dem Visuellen und dem Haptischen zerstört. Wird die haptische Erfahrung des
Materiellen durch das Imitat erst einmal als beliebig verstanden, verliert
der Bezug zwischen dem Haptischen und dem Visuellen allmählich seine
Bedeutung.
Das Imitat führt zunächst im Subjekt zu einem Konflikt zwischen dem
Haptischen und dem Optischen, welcher meist zu Gunsten des Visuellen
entschieden wird. Damit können – da mit dem Haptischen das Wesentliche aus
menschlicher Sicht verloren gegangen ist – weitere Abstraktionen bis zum
rein Virtuellen folgen. Das Konkrete im Materiellen verliert dabei seinen
Wahrheitsanspruch in Bezug auf das Materielle. Wirkt sich das Bild auf das
konkret Visuelle aus, zerstört das Imitat die Beziehung zwischen Form und
Material mit fataler Konsequenz für das Haptische und die Kalibrierung des
körperlichen Subjekts, was natürlich nicht ohne Konsequenz für das Objekt
bleiben kann.
Auch für das Zeichen – welches durch das Materielle des Zeichenträgers bis
jetzt in der Welt haptisch verortet war – ist dies von Bedeutung. So hat
sich vor allem durch die Medien und das Internet das Leben, die Präsenz des
Zeichens im materiellen Zeichenträger, zum Visuellen und Virtuellen hin
verschoben, und das kann nicht ohne Auswirkungen auf die Architektur und
ihren Zeichencharakter bleiben. Das Transportierbar-Machen des Konkreten und
damit die Abstraktion des Materiellen ist Grundlage der heutigen
Gesellschaft.
Die Bedeutung des Konkreten für das Architektonische
Bauen ist ein Wesenszug und ein Ausdruck des menschlichen Seins.
Heidegger verweist in seinem Vortrag Bauen Wohnen Denken auf die
etymologische Wurzel des Wortes Bauen:
„Bauen heißt ursprünglich
wohnen. Wo das Wort bauen noch ursprünglich spricht, sagt es zugleich, wie
weit das Wesen des Wohnens reicht. Bauen, bhu, beo ist nämlich unser Wort
bin in der Wendung: ich bin, du bist, die Imperativform bis, sei. Was heißt
dann: ich bin? Das alte Wort bauen, zu dem das bin gehört antwortet: ich
bin, du bist besagt: ich wohne du wohnst.“
(Heidegger 2000;
Vortrag 1951)
Die menschliche Existenz spiegelt sich im Bauen wieder. Das Bauen ist eine
Leistung des denkenden Menschen, ein Zeichen des In-der-Welt-Seins und nicht
ein bloßer Akt des „lebendig“ Seins. Hier sei auch auf die drei von Blumer
1973 formulierten Axiome des symbolischen Interaktionismus verwiesen, die
die Grundlage des sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus bilden (zitiert
nach Keupp 2001):
„1. Menschen handeln Dingen gegenüber auf Grund der Bedeutung, die diese Dinge für sie haben
2. Die Bedeutung entsteht in einem Interaktionsprozess
3. Die Bedeutung ist historisch wandelbar.“
Von diesem Standpunkt aus ist das Schaffen eines materiellen und damit als
konkret wahrnehmbaren Gebäudes von fundamentaler Bedeutung für das
menschliche Sein. Bauen wird zum Zeichen für das Konkrete der menschlichen
Existenz, insbesondere dann, wenn der Verlust an Konkretem im Alltäglichen
spürbar wird. Bauen kann man als das in Stein gemeißelte menschliche Denken
und Leben verstehen – die Konkretisierung des Abstrakten.
Das Konkrete im Materiellen der Architektur ist somit auch als eine
Rückversicherung der Existenz und gleichzeitig als Beweis der eigenen
Schaffenskraft jenseits des Gedanklichen zu verstehen. Hierbei spielt auch
die Beständigkeit des Gebauten jenseits der individuellen menschlichen
Existenz eine Rolle.
Die Architektur
ist dabei eine der letzten Domänen des Konkreten und unmittelbaren
Materiellen, des menschlichen In-der-Weltseins. Mit der Abnahme der Anzahl
von Beschäftigten im Bausektor, dem Fortschreiten der industriellen
Fertigung von Bauelementen, verliert das Bauen als körperliche Tätigkeit
immer mehr an Bedeutung. Somit geht das Bauen und damit das Gebaute als
alltägliche haptische Erfahrung in der Wahrnehmung der Gesellschaft immer
weiter verloren. Gleichzeitig beginnt sich das Materielle und damit das Konkrete in der
Architektur hinter dem Visuellen zu verstecken – und zwar nicht nur auf der
Ebene des Imitats. Die Konzepte der modernen Architektur beruhen großteils
auf der Idee der Entmaterialisierung und der Transparenz, wobei dem Begriff
der Transparenz in seiner letzten Konsequenz immer die Vermutung des nicht
Haptischen anhaftet. Neue Materialien ermöglichen adaptive Fassaden mit
veränderlichen optischen Eigenschaften, Videoleinwände bzw. LCD-Monitore
ermöglichen, die Wand zur Leinwand mit Blick ins digitale Nirwana zu
erweitern. Die Wand als Trennung zwischen innen und außen, zwischen privat
und öffentlich, wird dabei nicht aufgelöst, sondern jenseits des Materiellen
erweitert zu etwas nicht mehr Fassbaren. Hierbei wird die Wand, die
Begrenzung des Raumes, das Konstituierende des architektonischen Raumes als
materielle Grenze, durch das Visuelle negiert und ins Virtuelle verschoben.
Der dadurch entstehende virtuelle Raum degradiert, verleugnet und zerstört
die Materialität des Gebauten und auch den umgebenden Raum. Hierbei wird das
Dargestellte zu etwas jenseits dem Materiellen liegendes, zwar in einer
konkreten Situation, aber ohne eine als konkrete und verstehbare materielle
Referenz. Das Dargestellte verschwindet hinter der Scheibe Glas des Monitors
und beginnt ein digitales, visuelles Eigenleben jenseits des Haptischen,
verbunden mit einer oberflächigen haptischen Monotonie und Unbestimmtheit
des Glases. Die Materialität und Haptik des Architektonischen wird durch die
Unbestimmtheit und Flüchtigkeit des Optischen überlagert und unkenntlich
gemacht. Dieser Verlust der Grenze, bezieht man ihn wieder auf das Subjekt,
bedeutet den Verlust bzw. das Infragestellen der eigenen definierten und
begrenzten Körperlichkeit, ohne die das Subjekt weder im Körperlichen noch
im Geistigen existieren kann.
Selbstverständlich ist nicht alles Architektonische im wahrsten Sinne des
Wortes greifbar, man denke nur an das Gewölbe eines Kirchenschiffs. Doch
hier besteht, ich nenne es so – das Hypothetische des Haptischen –, also die
Möglichkeit und die gedachte Gewissheit der haptischen Erfahrung. Das
Hypothetische des Haptischen ist das Mitdenken und sich sicher Sein, dass
das Visuelle im Materiellen und Dinglichen real verankert ist. In einer
visuell und vor allem virtuell geprägten Welt entfällt das Hypothetische des
Haptischen zu Gunsten des Ungewissen und Unbestimmten des Haptischen. Das
Visuelle verliert hier seine Beziehung zum Haptischen, und damit verliert
das Materielle die Verankerung im Subjekt. Auf Grund des damit
fortschreitenden Bedeutungsverlusts des Konkreten und Materiellen zu Gunsten
des Abstrakten und Immateriellen durch die heutige Präferenz des Visuellen
im Alltäglichen, kommt es zum scheinbar letzten Aufbäumen des Konkreten im
Materiellen der Architektur. Das Materielle in Form des Haptischen verlässt
hier seine Rolle als „Zeichen“-Träger und wird zum tautologischen Zeichen
seiner eigenen haptischen Materialität.
Literatur:
Baudrillard, J.: Simulacra and Simulation (1981), Michigan 2007, S.
1f.
Cassirer, E.: Philosophie der Symbolischen Form,
Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), 3. Aufl.,
Darmstadt 1958, S. 24, 108f., 235.
Heidegger, M. zitiert nach Führ, E.: Bauen Wohnen Denken,
in: Theoretische Untersuchungen zur Architektur, 3. Bd.: Martin
Heideggers Grundlegungen einer Phänomenologie der Architektur …, hg. von
E. Führ, Münster 2000, S. 32.
Keupp, H.; Weber, K.: Psychologie. Ein Grundkurs,
Reinbek 2001, S. 49.
Kluge, F.: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache,
23., erw. Aufl., Berlin [u. a.] 1995, S. 9.
Siegler, R.; DeLoache, J.; Eisenberg, N.: Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, hg. von S. Pauen,
München 2005, S. 256f.
Anmerkung:
[1] Vergleiche hierzu Ernst Cassirer 1958, insbesondere auch die
Überlegungen zur symbolischen Prägnanz.
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