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In der aktuelle Architekturdiskussion scheint die Verwendung
von geschichtlichen Referenzen und Zitaten, die weitgehende Adaption
geschichtlicher Formen und Typen im Entwurf nicht mehr auf die Weise
tabuisiert zu sein, wie das bis vor wenigen Jahren der Fall war. Doch werden
die Möglichkeiten, solche Referenzen für die architektonische Konkretion zu
nutzen, nicht ausgeschöpft. Auf der Basis des Projekts Rokokorelevanz soll gezeigt werden, inwiefern architektonische Konkretion sich aus
geschichtlichen Referenzen gewinnen lässt und wie unter der Nutzung und
Weiterentwicklung von Prinzipien wie von formalen Anleihen aus Bauten der
Architekturgeschichte eine unmittelbare atmosphärische und performative
Präsenz entstehen kann.[1]
Im Projekt Rokokorelevanz wird nach den Themen gesucht, die in der Regel für
die Verwendung als formale Anleihen im Entwurfsprozess ausgeschlossen
werden. Die übliche Praxis der Referenzen bezieht sich auf Vokabulare, deren
Verwendung sich auf eine Weise etabliert hat, dass deren Bedeutungen im
öffentlichen Diskurs anerkannt sind. Die Gedanken von Richard Rorty zu
Kontingenz, Ironie und Solidarität[2] beziehen wir nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf architektonische
Ausdrucksformen.[3] Dann ist die Entwicklung eines eigenen, individuellen Vokabulars in der
Architektur nicht nur möglich und legitim, weil es die Basis zu einer
individuellen Selbsterschaffung gibt.
Rorty zeigt, dass individuelle Vokabulare das Potenzial besitzen, in einem
Sprachspiel der Öffentlichkeit einen Platz zu bekommen, eine Rolle zu
spielen, eine Bedeutung zu gewinnen, nämlich die, „phantasievollere
Beiträge zur Wirklichkeit zu bekommen.“ [4] Akzeptiert man den Transfer dieser Argumentation in die Architektur, dann
kann die persönliche Reaktion auf bestehende architektonische Vokabulare zum
Ausgangspunkt der Entwicklung eines neuen werden, dessen Möglichkeiten vor
seiner Entfaltung noch nicht erkannt werden können: „Das neue Vokabular
macht die Formulierung seines Zwecks erst möglich.“[5]
Die persönliche Aversion kann ein Hinweis auf ein tabuisiertes Potenzial
sein. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns im Projekt Rokokorelevanz auf das, was bei uns selbst Aversion hervorruft. Eine solche Aversion kann
Hinweise liefern, auf die Beschränkungen in der Entfaltung eines eigenen
Vokabulars sowie auf die Erforschung von Möglichkeiten der Konkretion, weil
persönliche Entwurfsrituale an die Erwartungen des Umfelds gekoppelt und
durch sie konditioniert sind.
Bei Entwurfsprozessen, die darauf zielen, akzeptiert zu werden und eine
Chance auf Realisierung zu haben, sind Tabus Teil eines ritualisierten
Entwurfsablaufes, Teil eines optimierten Gestaltungsvorgangs. Ein solcher
Prozess ist wegen seiner Effizienz hilfreich in einer Situation, in der die
Randbedingungen für das Entwerfen stabil sind, in der vom Ergebnis eine An-
und Einpassung in einen stabilen Kontext erwartet wird. Das Tabu garantiert
gesellschaftliche Akzeptanz, weil es bestimmte Vokabulare ausschließt und
beugt der Verschwendung von Energie dort vor, wo die Erfahrung gelehrt hat,
dass sie zu keinem Ergebnis führt. Durch neue Entwurfs- und
Produktionswerkzeuge, durch veränderte gesellschaftliche Randbedingungen hat
sich das Entwerfen in den letzten Jahren stark verändert und wird sich noch
weiter verändern. Das Tabu bremst die Erkundung der neuen Möglichkeiten.
Wir vertreten die These, dass die Referenz auf Geschichte helfen kann, Tabus
zu hinterfragen und ein eigenes Vokabular zu entwickeln. Dazu muss man
Geschichte auf eine andere Weise rezipieren, als dies im aktuellen Diskurs
der Fall ist. Wir vertreten die These, dass trotz der scheinbar gestiegenen
Bedeutung von geschichtlichen Referenzen im architektonischen Entwurf die
Verwendung der Referenzen einem Prozess unterworfen ist, der deren
Historizität leugnet. Wir glauben zeigen zu können, dass das Potenzial der
Referenz dann besser genutzt werden kann, wenn man die Historizität der
Referenz nicht leugnet, dass aber im Gegenteil das Nichtanerkennen von
Historizität Tabus aufbaut oder bestehende stabilisiert. In einem Exkurs zu
aktuellen Diskursthemen möchten wir zeigen, wie die Frage nach den
Möglichkeiten geschichtlicher Referenzen durch solche Tabus eingeschränkt
wird.
Projektbeispiel 1: Gartensaal 05
Eines der ersten Projekte von Rokokorelevanz soll hier unser Vorgehen
und die Ziele, die wir damit verfolgt haben, zeigen. Diese Ziele bildeten
die Basis weiterer Auseinandersetzungen.
Am Anfang des Projekts stand die Faszination für einen Ort, den Gartensaal
der Würzburger Residenz, und das Interesse, sich ausgehend von diesem Ort
mit der Brauchbarkeit von Geschichte als Entwurfsreferenz zu beschäftigen.
Aversion wurde in diesem Projekt zum ersten Mal als Indikator für
persönliches Entwicklungspotenzial getestet. Zum einen setzt das Projekt
sich mit dem Widerspruch auseinander, der zwischen der Begeisterung für eine
bestimmte historische Architektur und der Unmöglichkeit, die darin erkannten
Prinzipien in die eigene Arbeit zu integrieren, besteht.
Unsere Arbeit war bis dahin, wie bei den meisten Architekten unserer
Generation, vor allem geprägt durch einen anerzogenen Hang zum Pragmatischen
und zur Reduktion. Die Würzburger Residenz stellt genau die Wertung dieser
Entwurfsqualitäten in Frage. Das Dogma einer ehrlichen und aufrichtigen
Architektur spielt hier keine Rolle, oder wenn, dann höchstens als dessen
Negation. Ihre Planer waren vor allem an der Wirkung ihrer Arbeit auf den
Betrachter und an der Effizienz der erzeugten Bilder interessiert. In der
Behandlung der Oberflächen wird dies sichtbar: Sie sind von
Steinimitationen, Ornamenten und Bildern geprägt. Die Oberflächen selbst
sind zu doppelt gekrümmten Flächen verformt. |
Abb. 1:
Die Installation Gartensaal 05
in der Würzburger Residenz
Abb. 2:
Im Innern der Installation
Gartensaal 05
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Erstaunlicherweise waren die Faszination und die Erkenntnis der
Unvereinbarkeit mit dem eigenen Schaffen in der spätbarocken Residenz genau
dort konzentriert, wo auch bei der Arbeit mit dem Computer Probleme
auftauchten. Der hatte schon längst angefangen, unsere Arbeit zu verändern,
schränkte sie aber durch dieselben Faktoren ein, die auch die Adaption des
Barock erschwerten. Einer der Punkte, der uns in der Würzburger Residenz am
meisten interessierte, war die Parallele zwischen der Geometrie der Rocaille
und Balthasar Neumanns Gewölben einerseits und den Versprechungen des
Computers andererseits.
Realisiert wurde eine Installation.[6] Sie besteht aus vier sich durchdringende Kammern, die Haut
ist zweischalig und besteht aus leichter Ballonseide und robusterem
Airbaggewebe im Bodenbereich. Die zwei Membranen bilden eine Luftkammer. Die
Außenform, die entsteht, spiegelt die Geometrie der erwähnten Gewölbe
Balthasar Neumanns, während das Innere die räumlichen Qualitäten der
Augsburger Ornamentstiche reflektiert. In Wachsmuths Stichen wird nicht
zwischen Boden, Wand und Decke differenziert, Raumgrenzen werden
verschliffen und fragmentiert. Die Wahl von Material und Konstruktion der
Installation wurde so getroffen, dass die Möglichkeiten des direkten Zitats
eingeschränkt und die Entwicklung eigener Formen durch die Kopie von
Elementen aus dem Gegenstand der Auseinandersetzung nahezu ausgeschlossen
werden kann.
Den Unterschied zwischen der Methode, in der eigenen Arbeit Geschichte als
Potenzial zu nutzen und der Art, wie im Architektur- und Stadtdiskurs
Bedeutung der Geschichte als Potenzial gesehen wird, sehen wir dabei auf
zwei Ebenen. Zum einen formulieren wir mit der Arbeit einen Anspruch auf
radikale Subjektivität. Dabei richtet sich Rokokorelevanz gegen ein
Geschichtsverständnis, das Geschichte auf Brauchbares im Dienste einer
eigenen, bereits vorgefassten Auffassung über die Möglichkeiten und
Notwendigkeiten von Architektur untersucht und dabei auf eine Weise
selektiert, die das geschichtliche Werk seiner Komplexität beraubt, es
isoliert und so zu einem Museumsstück macht. Geschichte wird dabei zur
Illustration eines ‚richtigen‘ Verständnisses von Architektur und Städtebau,
die Notwendigkeit, sie in ihrem komplexen Strukturgefüge von Gesellschaft,
Ökonomie und Politik zu sehen, entfällt. Aber auch, wenn man diese
Auffassung von Geschichte ablehnt, ist es nicht möglich, die Komplexität der
geschichtlichen Referenz zu adaptieren. Anstatt dann aber Geschichte so für
den Entwurf zu verwenden, dass ihre Komplexität reduziert wird, weil man den
vergangenen Kontext nicht simulieren oder wiederherstellen kann, versuchen
wir, Geschichte zum Ausgangspunkt zu nehmen, um eine eigene Komplexität zu
generieren.
Zum andern vertreten wir die These, dass das Potenzial, das die Nutzung von
geschichtlicher Referenz im architektonischen Entwurf bietet, in der
architektonischen Konkretion nicht ausgeschöpft werden kann, wenn nicht
eingestanden wird, dass auf Geschichte referiert wird.
Exkurs: Geschichtliche Referenz in der aktuellen Stadtdebatte
Ende November wurde der Wettbewerb zum Neubau auf dem Berliner
Schlossplatz, das so genannte Humboldt-Forum, entschieden. Wichtige
Entscheidungen über die Kubatur und die drei repräsentativen Fassaden wurden
bereits im Vorfeld getroffen. In diesem wie in anderen Fällen aktueller
Rekonstruktionsvorhaben muss man Zweifel haben, dass es sich dabei wirklich
um Auseinandersetzung mit Geschichte handelt. Wenn ja, dann handelt es sich
zumindest um eine Auseinandersetzung in Ausschnitten, die andere Teile
ausblendet.[7] Auch in Berlin sollen nur drei Fassaden rekonstruiert werden. Nicht
berücksichtigt wird paradoxerweise genau die, die die Geschichtlichkeit des
Schlosses vor seiner Zerstörung am besten gezeigt hatte, die
spätmittelalterliche Bauteile und solche aus der Renaissance aufwies. Sie
hätte, so Wolfgang Pehnt, mehr zu sagen gehabt, „über das schwierige
Verhältnis von Stadt und Stadtherrschaft [...] als die drei soviel
repräsentativeren, barocken Seiten.”[8]
In gleicher Weise wird in Abrede gestellt, dass es sich bei der
Auseinandersetzung mit den architektonischen und städtebaulichen Formen der
1950er und 60er Jahre um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Architektur-
und Stadtbaugeschichte handelt.[9] So wird im Planwerk Innenstadt die Baugeschichte Berlins als
kontinuierlicher Entwicklungsprozess gedacht, der durch die städtebaulichen
Planungen der Nachkriegszeit empfindlich gestört wurde. Gestört werden kann
ein solcher Prozess aber nur, wenn er auf ein Ziel gerichtet ist – und
irgendwann abgeschlossen sein wird. Für die Stadt wird also hier das Bild
des Organismus gesetzt: Im natürlichen, maßvollen Wachstum, dem in der
gleichen Metaphernebene die „Wucherungen“ (und demnach also krankhaften)
Bebauungen am Stadtrand entgegengehalten werden, vollzieht sich der Sinn des
Organismus; ihm hat sich auch ein Neubau unterzuordnen.[10] Die Entwicklung der Stadt erhält damit den Charakter
naturgesetzmäßiger Notwendigkeit.
Was damit geleistet wird, fasst der Soziologe Andreas Pott zusammen: Eine
auf ein begrenztes städtisches Territorium bezogene Semantik stelle
„der Alltagserfahrung des Verlusts der räumlichen Integration der
Gesellschaft und dem Unsicherwerden von Konzepten wie dem nationalen
Territorialstaat oder der Stadt als einer territorial begrenzten
sozial-räumlichen Einheit räumliche Übersichtlichkeit und Eindeutigkeit
gegenüber.“[11]
Brüche, Lücken und Unstimmigkeiten im entwickelten und kommunizierten Bild
sind für diese Kompensationswirkung ebenso schädlich wie uneinheitliche
räumliche Konstruktionen, weswegen das „historische“ Zentrum auch in der
Regel die günstigste Voraussetzung für eine solche Konstruktion bietet. Denn darum handelt es sich: um Konstruktionen, die aus Geschichte,
kultureller Wertzuschreibung und baulicher Substanz den Ort des Tourismus
erst aufbauen. Für die Funktionstüchtigkeit eines touristischen Konzepts
sind Ansprüche an Korrektheit von Namen und räumlichen Zusammenhängen daher
nachrangig, sowohl im Hinblick auf Rekonstruktionen von Gebäuden, als auch
im Hinblick auf das Erzeugen von touristisch vermarktbaren Atmosphären.
Geschichte wird hier benutzt, um ein einheitliches und homogenes Stadtbild
zu legitimieren. In diesem Bild wird bereits der ideale, nicht mehr zu
verändernde Zustand erkennbar. Das Bild dieser Stadt verspricht Stabilität,
Sicherheit, Ordnung und Geborgenheit.
Doch das Bild der einheitlichen Stadt zu inszenieren, die wenn nicht jetzt,
so doch irgendwann ihren idealen Zustand erreichen könnte, hat einen hohen
Preis: Architektur als Teil einer Kontinuität, die den permanenten
Veränderungen entgegengesetzt wird, verspricht nur dann Stabilität, wenn sie
die Bedrohung, die Geschichtlichkeit eigentlich mit sich bringt, leugnet.
Nämlich dem Einfluss der Zeitlichkeit ausgesetzt zu sein, sich unter dem
Einfluss der Bewohner und der Nutzung zu verändern, Risse zu bekommen,
Schaden zu nehmen, aber eben auch, unter dem Einfluss veränderter
Rahmenbedingungen wieder zu verschwinden. Dies schränkt das
Ausdruckspotenzial von Architektur in ihren konkreten Formen ein.
Architektur muss suggerieren, dass die Bedrohung, sich in der Zeit zu
verändern, nicht besteht, indem sie sich den präzise lesbaren Referenzen
verweigert, die einer Epoche oder einem Stil zugeordnet werden können. Denn
nur wenn die Gebäude in ihren Formen nicht präzise zugeordnet werden können,
lassen sie sich als Teil einer scheinbar naturgesetzmäßigen Entwicklung
lesen. Es entsteht ein paradoxer Anspruch, der einer vorgeblich
geschichtlichen Kontinuität ohne das konkrete Zeichen, das auf Geschichte
verweist; das Konkrete verstanden als das Material, das unsere Sinne reizt,
bevor wir es mit Bedeutungen koppeln und als Repräsentation verstehen.
Projektbeispiel 2: Lampshade The Fall of The Damned
An dieser Stelle
scheint es angebracht, zur Ausgangsthese zurückzukommen. Wir glauben, dass
der Exkurs deutlich machen konnte, dass es bei der Referenz auf Geschichte
darum geht, die Deutungshoheit dafür in Anspruch zu nehmen, was als
geschichtliche Referenz im Architektonischen für die Gesellschaft akzeptiert
werden darf und was nicht. Das setzt voraus, dass man in Distanz zur
Geschichte tritt und sie gleichsam von außen betrachtet.
Geschichtliche Distanz wird in dem Zusammenhang dafür genutzt, den
Standpunkt des Involvierten aufzuheben. Es ist dann möglich, beispielsweise
Rubens oder Bernini zu achten, ohne dabei den Anspruch zu erheben, genau
das, was man an deren Kunst schätzt, für die eigene Arbeit überhaupt nutzen
zu wollen. Die bewunderte Arbeit wird als grandios eingeschätzt, ihr wird
aber ein Platz in der Geschichte zugewiesen, der sie von der Relevanz für
aktuelle Gestaltung trennt. Solange dieser Platz in der Geschichte fixiert
ist, wird die Komplexität des historischen Umfelds zu einer Barriere, die
die Verwendung der Referenz ausschließt. Um verwendet werden zu können,
müssen die Zitate, die verwendet werden, zuerst ungeschichtlich werden: Nur
dann können sie sich von einem Platz in der Geschichte lösen, der sie daran
hindert, auf aktuelle Gestaltung übertragen zu werden. Das setzt einen
Glauben an eine Wahrheit an sich für Architektur und Stadtplanung voraus,
die hinter den geschichtlichen Formen zu finden ist. Geschichte wird
so unter der Hand zu einem Prozess, der die hinter den Erscheinungen
liegende Wahrheit sichtbar macht – und erst dann gibt es einen
gestalterischen und gesellschaftlichen Fortschritt, der etwas anderes ist
als eine Abfolge von Epochen und Ereignissen, die zu untersuchen uns
verstehen hilft, warum wir bestimmte Dinge heute so und nicht anders tun,
verstehen, auffassen, sehen.
Die Idee eines gestalterischen und gesellschaftlichen Fortschritts
impliziert, dass das Niveau der vorgefundenen Kunst längst überwunden und
die Überlegenheit des Betrachters von heute garantiert ist. Der distanzierte
Blick auf die Geschichte folgt ähnlichen Mechanismen wie die erwähnten
Entwurfstabus. Geschichte, die nicht als ein Prozess der fortschreitenden
Wahrheitsfindung interpretiert wird, zwingt und befreit erst dann dazu, die
eigenen Entwurfsabläufe in Frage zu stellen, wenn man historische Zeugnisse
auf seine eigene Arbeit bezieht, wenn man sie konsequent auf ihre
Brauchbarkeit als Referenz überprüft. Dieses Aufheben der Distanz erfordert
und ermöglicht eine radikal subjektive Betrachtung der Geschichte. Die
Untersuchung der Geschichte wird dann zu einem Instrument, mit dem ein nach
Automatismen ablaufender Entwurfsprozess in Frage gestellt wird. Geschichte
wird im Projekt Rokokorelevanz also dazu gebraucht, die Routine des
alltäglichen Arbeitsablaufs in Frage zu stellen, eine Routine, die blind für
das macht, was auf seine Eignung für den Entwurf noch nicht befragt wurde.
Stattdessen soll die Neigung, Bekanntes zu wiederholen, hinterfragt werden,
um damit technische Neuerungen besser ausnutzen zu können. Wir interessieren
uns nicht für Fortschritt, sondern für eine Architektur, die auf das
aktuelle Umfeld reagiert und die ihr zur Verfügung stehenden technischen
Möglichkeiten nutzt. Die Gefahr dabei besteht darin, die Routine der
alltäglichen Gewöhnung durch eine Routine des Modischen zu ersetzen. Auch
dagegen sollen geschichtliche Referenz und der Umgang mit eigenen Aversionen
wappnen. |
Abb. 3:
Die Lampe The Fall of The Damned |
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Um dies zu verdeutlichen, möchten wir als zweites Beispiel an dieser Stelle
die Lampe The Fall of The Damned[12] vorstellen, als eine jener Arbeiten, in denen Geschichte als gestalterische
Referenz reaktiviert wird. Die Lampe verstößt gegen eine Reihe von Tabus,
die im 20. Jahrhundert der Gestaltung auferlegt wurden. Sie ist figurativ,
ornamental und narrativ. Die (individuelle, persönliche) Überwindung, die es
kostet, einen figurativen Gebrauchsgegenstand zu entwerfen, bildet den
Ausgangspunkt für die Lampe. The Fall of The Damned ist eine Studie
zum Potenzial des Narrativen. Das Bild verschmilzt mit technischen Problemen
wie Material, Konstruktion, Produktion und ist auch Ausdruck dieser
Parameter.
Der Lampenschirm, scheinbar eine schwebende Ornamentmasse, opulent und
bombastisch, löst sich beim Nähertreten auf. Es werden einzelne,
angstverzerrte Körper sichtbar, die wie im Sturz eingefroren scheinen. Die
räumliche Komposition aus Körpern bezieht ihre Anregungen aus Arbeiten von
Giambologna, Bernini und Rubens. Ihre rhythmische Anordnung irritiert. Sie
erst macht die Körper zum Ornament. Weich, als seien sie aus Fleisch,
brechen die Körperteile, Beine und Bäuche das Licht. Weil sie vom Dunkel der
Eigenschatten verdeckt werden, sind von den Körpern immer nur Teile im
Vordergrund sichtbar. Auch der helle Innenbereich der Lampe ist nur
fragmentiert wahrnehmbar. Die Einblicke in den hellen Kern verändern sich
stark, wenn der Betrachter sich bewegt. Die starren Körper bekommen dadurch
ihre Dynamik.
Der Wechsel zwischen Ornamentalem und Figurativem in Abhängigkeit von der
Entfernung des Betrachters von der Lampe, die Assoziationen an den Sturz der
Verdammten, das Bild für Schuld und Strafe, machen die Lampe zu einem
ambivalenten Werk: Ist die Lampe moralische Botschaft, formalistischer Akt,
oder beides? Angereichert wird diese Mehrdeutigkeit auch durch eine aktuelle
ikonographische Referenz, die die Unsicherheit in der Dechiffrierung des
Objekts noch vergrößert: die der Falling Men des World Trade Centers. Die
Deutungsmöglichkeiten bleiben offen – es ist eine Metapher, der (noch) keine
eindeutige Rolle im Sprachspiel, keine Bedeutung zugewiesen wurde, die die
Vielzahl von Bedeutungen, die durch assoziative Bilder ständig in unserem
Alltag in uns aktiviert werden, beschreibt.
Diese Untersuchung der gestalterischen Möglichkeit eines Objekts wird durch
ein neues Verständnis von Technik ermöglicht. Technik generiert nicht mehr
die Form, sondern forciert durch ihre enorme Bandbreite von Möglichkeiten
gestalterische Freiheit und fordert zur Entscheidung, die auch mit der Wahl
des Materials und der Verarbeitungstechnik allein nicht mehr gefällt ist.
Wir antworten darauf nicht mehr mit einer bislang üblichen, inzwischen
freiwillig auferlegten gestalterischen Selbstbeschränkung, sondern verlieren
uns in dieser Freiheit und liefern uns der Virtuosität der Maschine aus.
Insofern ist die Arbeit auch als eine Reflexion der Situation des Gestalters
selbst interpretierbar.
Die Lampe wird in einem Verfahren hergestellt, das Selective Laser
Sinthering (SLS) genannt wird. Beim SLS wird Polyamidpulver Schicht für
Schicht angeschmolzen. Wie beim Schichtmodell aus Pappe entsteht aus dem
geschmolzenen Polyamid die gewünschte Form. Mit der Lampe wird versucht, den
Moment festzuhalten, in dem eine neue Technik existiert, aber noch so
unbekannt ist, dass mit ihr erzeugte Produkte überraschen. In diesem
Zusammenhang verstehen wir die geschichtliche Referenz als eine notwendige
Form von Subversion, die dazu provoziert, neue Bedeutungszuordnungen zu
finden und anzuerkennen, dass Bedeutungszuordnungen nicht fixiert sind,
sondern sich ändern können. Bedeutungen von architektonischen Elementen
können vergessen werden, sie können durch andere ersetzt werden. Dadurch
öffnen sie sich einer Neuinterpretation, einer spielerischen Anverwandlung.
Solchen Neuinterpretationen von historischem Material können Bedeutungen
erst noch zugeordnet werden, diese Zuschreibungen bleiben vorerst noch
offen.
Insofern sind sie subversiv, politisch, wenn die Deutungshoheit über solche
Zuweisungen in Anspruch genommen wird, von wem auch immer. The Fall of
The Damned operiert dabei mit einer Provokation, die die Provokation des
Entwerfers selbst mit einschließt. Diese Provokation wird dadurch größer,
dass die in kleinen Stückzahlen produzierte und nur zu einem hohen Preis zu
erwerbende Lampe wie ein Luxusgut des Kunstmarkts ein elitäres
Konsumverhalten in Widerspruch zur Mahnung an Vergänglichkeit und Verdammnis
setzt. So wird auf die Gleichheit aller im Angesicht des Todes verwiesen;
eine Mahnung, die um so eindringlicher wirkt, wenn von einem Verständnis von
Geschichte ausgegangen wird, das Leistungen im Hinblick auf einen Endpunkt
der Geschichte addiert.
Fassen wir das Gesagte zusammen. Wir verstehen Bedeutungszuweisungen als
prinzipiell offen; Offenheit kann gezielt forciert werden. Sie ist eine Form
der Subversion, weil sie geltende Schemata der Bedeutungszuweisung in Frage
stellt. Damit es solche Subversion nicht gibt, wird in der herrschenden
Praxis darauf hingearbeitet, auf die Verwendung von entzifferbaren
historischen Elementen weitestgehend zu verzichten, am besten, indem man
behauptet, es gehe nicht um Geschichte. Mit dieser Prämisse verarmen
architektonische Ausdrucksformen.
Wenn dagegen Geschichtlichkeit in der Architektur auf eine Form quasi
naturgegebener Ordnung eines scheinbar immer schon existierenden Idealbilds
von Architektur und Stadt reduziert und damit idealisiert wird, dann werden
die Potenziale, Architektur und Stadt im Zusammenspiel von symbolischem und
konkretem Gehalt zu entfalten, verkürzt. Dann wird das Symbolische dem
Konkreten vorangestellt und dominiert es als Prämisse, die auch im Ergebnis
das Konkrete in den Hintergrund drängt.
Abbildungsnachweis:
Abb. 1, 2:
Fotos: Luc Merx
Abb. 3: Gagat
international, Aachen und Materialise.MGX
Anmerkungen:
[2] Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität,
Frankfurt/M. 1992.
[3] Diese Freiheit der Übertragung legt Rorty selbst nahe. Vgl. Richard
Rorty: Vom Nutzen der Philosophie für den Künstler, in: Arch plus, H. 156, 2001, S. 40-44, hier S. 43
[6] In Zusammenarbeit mit Core (Alexander Buchop, Holger Grobe, Petra
Langer, Holger Leibmann, Sascha Querbach, Marcellus Schwarz), TU
Darmstadt.
[7] Vgl. Bartetzko, Dieter: Potsdamer Stadtschloss. Wer Geschichte
nachbaut, muss ihr treu sein, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 26.01.2009.
[9] Stimmann, Hans: Wohngebirge für die
neue Gesellschaft, Megastrukturen und Eskapismus: Was bleibt von der
Architektur der 68er?, in: Die Welt, 28.03.2008.
[10] Vgl. Hennecke, Stefanie: Berlin soll „wachsen“ – Kritik am
organischen Stadtmodell, in: Spielarten des Organischen in
Architektur, Design und Kunst, hg. von Annette Geiger, Stefanie
Hennecke, Christin Kempf, Berlin 2005, S. 149-163.
[11] Pott, Andreas: Orte des Tourismus. Eine raum- und
gesellschaftstheoretische Untersuchung, Bielefeld 2007, S. 182.
[12] Lampe Fall of The Damned. Materialise.MGX. Entwurf: Gagat
international, Luc Merx.
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