Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

__Michael Steigemann
Bielefeld

  Abstraktion und Konkretion in Architektur und bildender Kunst der beginnenden Moderne

 

   

Zu Hegels Theorie des Kunstschönen

Der Begriff des Geistigen wird von Hegel als zentrales Moment seiner Theorie des Kunstschönen entfaltet.

„Die Idee als das Kunstschöne aber ist die Idee mit der näheren Bestimmung, wesentlich individuelle Wirklichkeit zu sein, sowie eine individuelle Gestaltung der Wirklichkeit mit der Bestimmung, in sich wesentlich die Idee erscheinen zu lassen.“
(Hegel 1832/1986, 104)

„Nur in der höchsten Kunst sind die Idee und Darstellung in dem Sinne einander wahrhaft entsprechend, dass die Gestalt der Idee [...] die an und für sich wahre Gestalt ist, weil der Inhalt der Idee [...] selber der wahrhaftige ist. Dazu gehört [...], dass die Idee als konkrete Totalität bestimmt sei und dadurch an sich selbst das Prinzip und Maß ihrer Besonderung und Bestimmtheit der Erscheinung habe [...]. Wo diese Bestimmtheit nicht Totalität ist, [...] bleibt sie abstrakt [...]. Die in sich konkrete Idee dagegen trägt das Prinzip ihrer Erscheinungsweise in sich selbst und ist dadurch ihr eigenes freies Gestalten. So bringt erst die wahrhaft konkrete Idee die wahre Gestalt hervor, und dieses Entsprechen beider ist das Ideal.“
(Hegel 1832/1986, 106)

Für die Theorie des Kunstschönen haben die Attribute abstrakt und konkret wertende Eigenschaften. Sie sind bestimmend für die von Hegel aufgestellte Klassifizierung der Verhältnisse der Idee zu ihrer Gestaltung. Die erste Kunstform ist demnach die symbolische“ (Hegel 1832/1986, 107). Denn der Gehalt der Kunstgestalten ist noch unbestimmt:

„Ihre Abstraktion und Einseitigkeit lässt die Gestalt äusserlich mangelhaft und zufällig. Die erste Kunstform ist deshalb mehr ein bloßes Suchen der Verbildlichung als ein Vermögen wahrhafter Darstellung. Die Idee hat die Form noch in sich selber nicht gefunden und bleibt somit nur das Ringen und Streben danach. Wir können diese Form im allgemeinen die symbolische nennen.“
(Hegel, ebd.)

„Das vollständige Beispiel aber für die Durcharbeitung der symbolischen Kunst, sowohl ihrem eigentümlichen Inhalte als ihrer Form nach, haben wir in Ägypten aufzusuchen.“
(Hegel 1832/1986, 456)

Die zweite Kunstform,

„welche wir als die klassische bezeichnen wollen, [...]“ (Hegel 1832/1986, 109) ist die „freie, adäquate Einbildung der Idee in die [...] zugehörige Gestalt, mit welcher sie deshalb in freien, vollendeten Einklang zu kommen vermag. Somit gibt erst die klassische Form die Produktion und Anschauung des vollendeten Ideals [...]. Die Eigentümlichkeit des Inhaltes besteht im Gegenteil im Klassischen darin, dass er selbst konkrete Idee ist und als solche das konkrete Geistige. Denn nur das Geistige ist das wahrhaft Innere. Für solchen Inhalt sodann ist unter dem Natürlichen dasjenige zu erfragen, welches für sich selbst dem Geistigen an und für sich zukommt [...] Diese Gestalt, welche die Idee als geistige [...] an sich selbst hat, [...] ist die menschliche Gestalt.“
(Hegel, ebd.)

Auf der dritten Stufe, der romantischen,

„macht die freie konkrete Geistigkeit, die als Geistigkeit für das geistige Innere erscheinen soll, den Gegenstand aus. Die Kunst, diesem Gegenstande gemäß, kann daher einerseits nicht für die sinnliche Anschauung arbeiten, sondern für [...] das Gemüt, die Empfindung, welche als geistige zur Freiheit in sich selber hinstrebt [...]. Diese innere Welt macht den Inhalt des Romantischen aus [...]. Die Innerlichkeit feiert ihren Triumph über das Äussere und lässt [...] an demselben diesen Sieg erscheinen, durch welchen das sinnlich Erscheinende zur Wertlosigkeit herniedersinkt.“
(Hegel 1832/1986, 113)

In Hegels Verständnis korreliert das Abstrakte mit dem Minderwertigen, sei es das „bloße Suchen der Verbildlichung“ der Ägypter (Hegel 1832/1986, 110), bezeichnet als symbolische Kunstform, sei es, dass der nun in der Romantik „vollendete Geist sich der entsprechenden Vereinigung mit dem Äusseren entzieht“ (ebd., 114). Das Konkrete bleibt allein dem Klassischen vorbehalten. Allein der „griechische Götterglaube macht den wesentlichen und angemessenen Inhalt für die klassische Kunst aus. In dieser ist der konkrete Inhalt an sich die Einheit menschlicher und göttlicher Natur [...].“ (ebd., 111).

Im Anschluss an die Entfaltung der Kunstformen geht es Hegel um eine „Welt verwirklichter Schönheit in den Künsten und deren Werke“ (Hegel, 1832/1986, 115). Die „schöne Architektur ist die erste der besonderen Künste“, der Hegel sich widmet (ebd., 116).

„Ihr [der Architektur] Material ist selbst das Materielle in seiner unmittelbaren Äusserlichkeit als mechanische schwere Masse, und ihre Formen bleiben die Formen der organischen Natur, nach den abstrakten Verstandesverhältnissen des Symmetrischen geordnet. Da in diesem Material und Formen das Ideal als konkrete Geistigkeit sich nicht realisieren lässt, [...] so ist der Grundtypus der Baukunst die symbolische Kunstform. Denn die Architektur bahnt der adäquaten Wirklichkeit des Gottes erst den Weg und müht sich in seinem Dienst mit der objektiven Natur ab, um sie aus dem Gestrüppe der Endlichkeit und der Missgestalt des Zufalls herauszuarbeiten [...].“ 

Im Prinzip stellt Hegel sie, die Architektur, damit aufgrund mangelnder Einheit von geistigem Inhalt und äußerem Ausdruck, auf die Stufe der „Ägypter“. Hegel streitet für die Architektur in toto ab, dass sie zur Repräsentation hoher und höchster Ideale fähig ist, Ausnahmen gibt es allenfalls da, wo der Übergang zur Skulptur gegeben ist.


Kritik der Kunst, Kritik der Wahrnehmung

Das Ideal des Kunstschönen, so wie Hegel es formuliert, stellt nicht den Aufbruch zu einem neuen Versuch der Aneignung antiker Tradition dar (Gombrich 1967, 388), sondern markiert einen Umbruch. Gombrich sieht mit dem

„Abreißen der Tradition zur Zeit der Französischen Revolution, dass sich die Lage des Künstlers und der Kunst von Grund auf ändern musste. Das Akademien- und Ausstellungswesen, die Kunstkenner und Kunstkritiker hatten es dahin gebracht, dass sich eine Kluft zwischen den Schönen Künsten und dem Handwerk aufgetan hatte [...]. Das Abreißen der Tradition befreite die Künstler von allen Bindungen und gab ihnen unbeschränkte Möglichkeiten [...]. Erst so wurde die Kunst zum ersten Mal zum vollkommenen Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers [...].“
(Gombrich 1995, 499-503)

Zugrunde liegt Gombrichs Darstellung die Erkenntnis, dass „der Gedanke, dass es der wahre Zweck der Kunst sei, der Persönlichkeit Ausdruck zu geben, erst aufkommen konnte, als die Kunst jeden anderen Zweck verloren hatte.“ (Gombrich 1995, 503)

Die revolutionäre Bewegung in den Künsten setzt Anfang des 19. Jahrhunderts ein, in Frankreich etwa mit Eugène Delacroix, der gegen die idealistisch geprägte Akademie rebelliert, mit Gustave Courbet, der mit seinem Realismus schockiert, durch Édouard Manet

„und sein[en] Kreis, die eine Revolution in der Wiedergabe der Farbe herbeiführen, denn sie entdecken, dass wir in freier Natur den einzelnen Gegenstand gar nicht in seiner charakteristischen Farbe sehen, sondern ein buntes Gemisch von flimmernden Farben, die in unserem Auge verschmelzen.“
(Gombrich 1995, 513)

Cézanne ist beunruhigt über die Ergebnisse dieses Konzepts. „Er sieht seine Aufgabe darin, [zwar auch] nach der Natur zu malen, das heisst, sich der Entdeckungen der Impressionisten zu bedienen und dennoch gleichzeitig die innere Gesetzmäßigkeit wieder zu gewinnen, die die Kunst Poussins darin auszeichnet.“ (Gombrich 1995, 539), dass in der Ordnung seiner Bilder Maß und Klarheit der französischen Klassik ihre Vollendung fanden. Cézannes Bilder repräsentieren ein Experimentieren mit der Erkenntnis, dass es die Tiefenillusion zerstört, wenn man größere Flächen in einfachen, ungemischten Farben anlegt. Von hier aus führt einer der Wege zur Abstraktion der Neuen Kunst.

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Abb. 1:
Wassily Kandinsky,
Komposition VI, 1913

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Abb. 2:
František Kupka, Blaue und rote vertikale Pläne, 1912

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Abb. 3:
Piet Mondrian,
Composition No VII, 1913

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Abb. 4:
Piet Mondrian, Komposition A. Komposition mit Schwarz, Rot, Grau, Gelb und Blau, 1920

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Abb. 5:
Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat auf weissem Grund, 1913

 

 

Neue Kunst

In Hegels Theorie des Kunstschönen nehmen – wie gezeigt – die Attribute abstrakt und konkret eine wertende Funktion ein. In den Manifesten der revolutionären Bewegung der aufkeimenden Moderne erhalten sie eine andere Bedeutung, nämlich die, dass – so Adorno –

„mit der Eliminierung des Abbildprinzips in Malerei und Plastik, des Floskelwesens in der Musik fast unvermeidlich wurde, dass die freigesetzten Elemente: Farben, Klänge, absolute Wortkonfigurationen auftraten, als ob sie an sich etwas ausdrückten. Das aber ist illusionär. Beredt werden sie einzig durch den Kontext, in dem sie vorkommen.“
(Adorno 1973, 140)

Im Dezember 1911 erscheint in München Wassily Kandinskys Über das Geistige in der Kunst. Darin entfaltet er die „geistige Wendung“:

„Wenn die Religion, Wissenschaft und Moral gerüttelt werden, und wenn die äusseren Stützen zu fallen drohen, wendet der Mensch seinen Blick von der Äusserlichkeit ab und sich selbst zu. Die Literatur, Musik und Kunst sind die ersten, empfindlichsten Gebiete, wo sich diese geistige Wendung bemerkbar macht in realer Form. Diese Gebiete [...] erraten das Grosse, was erst als kleines Pünktchen nur von Wenigen bemerkt wird [...]. [Die Gebiete] wenden sich zu Stoffen und Umgebungen, die freie Hand lassen dem nicht materiellen Streben und Suchen der dürstenden Seele [...]. Diese Lage ist der Ausgangspunkt des Weges, auf welchem die Malerei durch Hilfe ihrer Mittel zur Kunst im abstrakten Sinne heranwachsen wird und wo sie schliesslich die rein malerische Komposition erreichen wird.“
(Kandinsky 1911/1952, 43, 44, 66)

Im folgenden Jahr stellt im Pariser Herbstsalon der tschechische Maler František Kupka abstrakte Bilder aus. Piet Mondrian richtet sich in Paris ein Atelier ein. Im darauf folgenden Jahr werden im Salon des Indépendants drei seiner Bilder gezeigt.
Guillaume Apollinaire schreibt:

„Mondrian kommt von den Kubisten, aber er imitiert sie nicht nur. Vor allem scheint ihn Picasso beeinflusst zu haben, doch bleibt er ganz er selbst. Die Baummotive und das Frauenbildnis zeugen von geistiger Einfühlsamkeit. Dieser Kubismus – äusserst abstrakt – weicht von den Lösungen eines Braque oder Picasso deutlich ab [...].“
(Rudenstine 1994, 30)

Mondrian selber stellt 1920 in seinem Traktat zum Neoplastizismus das, wie er es nennt, „Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung“ dar:

„Ein neuer, plastischer Ausdruck ist unvermeidlich [...] eine bildende Darstellung gleichwertiger Verhältnisse. Alle Künste bemühen sich zur bildenden Ästhetik dieses Verhältnisses zwischen dem Individuellen und dem Universellen, zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Geist zu kommen, kurz: alle Künste ohne Ausnahme sind gestaltend [...]. Die neue Gestaltung hat ihre Wurzeln im Kubismus. Sie [die Gestaltung] könnte ebenso die Malerei der realen Abstraktion heissen, weil das Abstrakte [...] durch eine plastische Realität ausgedrückt werden kann. Das ist insbesondere das Wesen der neuen Gestaltung in der Malerei. Sie ist eine Komposition farbiger Rechtecke, welche die tiefste Realität ausdrücken.
Dahin kommt sie [die neue Gestaltung] durch den gestalteten Ausdruck der Verhältnisse und nicht durch die natürliche Erscheinung [...]. Die neue Gestaltung bringt ihre Verhältnisse in ästhetisches Gleichgewicht und bildet dadurch die neue Harmonie.“
(Mondrian 1920, 6, 11)

Malewitsch geht in seinem Traktat zum Suprematismus aus dem Jahr 1915 bis an die Grenze zum Außenwelt-Skeptizismus:

„Suprematismus, dem befreiten Nichts der Gegenstandslosigkeit [...]. Der Begriff ‚Neue Kunst’ ist inzwischen [...] zu allgemein geworden. Aus diesem Grunde habe ich für das ideen- und gegenstandslose Schaffen die Bezeichnung ‚Suprematismus’ gewählt [...]. Der Suprematismus als [...] befreites Nichts ist eine scharfe Kampfansage an die [...] idealisierende Gegenständlichkeit. Zwei unversöhnliche Lehren [...]. Bei folgerichtiger Entwicklung des Suprematismus verschwindet auch die Farbe, und es tritt die schwarze und die weisse Phase ein, die sich aus quadratischen Formen des Schwarz und des Weiss herausbildet [...].“
(Malewitsch 1915/1962, 55, 85, 86, 89)


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Abb. 6:
Theo van Doesburg, Maison Particulière, 1923

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Abb. 7:
Mies van der Rohe, Landhaus aus Backstein, 1924

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Abb. 8:
Mies van der Rohe,
Barcelona Pavillon, 1929

 

Neue Architektur

Auch die Architektur wird von der Bewegung der Neuen Kunst erfasst. Die Modelle der Gruppe De Stijl ab 1922 sind räumliche Orthogonal-Konfigurationen als Skulpturen (Prinz 1977, 1/164, 1/282).
Mies van der Rohe entfaltet dieses Prinzip zu baubaren Studien, zum Beispiel mit dem Landhaus aus Backstein im Jahr 1924 (Huse 1986, 12).
Im gleichen Jahr notiert er:

„Baukunst ist immer raumgefasster Zeitwille, nichts anderes. Ehe diese einfache Wahrheit nicht klar erkannt wird, kann der Kampf um die Grundlagen einer neuen Baukunst nicht zielsicher und mit wirksamer Stosskraft geführt werden; bis dahin muss er ein Chaos durcheinander wirkender Kräfte bleiben. Deshalb ist die Frage nach dem Wesen der Baukunst von entscheidender Bedeutung [...]. Die grosse Geste der Romantiker bedeutet uns nichts, denn wir spüren dahinter die Leere der Form. Unsere Zeit ist unpathetisch, wir schätzen nicht den grossen Schwung, sondern die Vernunft und das Reale. Die Forderungen der Zeit nach Sachlichkeit und Zweckmässigkeit sind zu erfüllen. Geschieht das grossen Sinnes, dann werden die Bauten unserer Zeit die Grösse tragen, deren die Zeit fähig ist, und nur ein Narr kann behaupten, dass sie ohne Grösse sei.“
(Mies van der Rohe 1924, 40)

Eines der ersten Gebäude mit dieser Intention wird mit dem Barcelona Pavillon realisiert. Er ist Ausstellungsstück und weder zum Arbeiten noch zum Wohnen brauchbar – lesbar als eine Skulptur.
1922 interpretiert Le Corbusier den revolutionären Geist in der Architektur:

„Durch ihre Abstraktion ruft die Baukunst die höchsten Fähigkeiten auf den Plan. Die Abstraktion der Architektur hat das Eigentümliche und Großartige an sich, dass sie, im rohen Tatsächlichen wurzelnd, dieses vergeistigt [...]. Ein großes Zeitalter ist angebrochen. Ein neuer Geist ist in der Welt. Es gibt eine Fülle von Werken des neuen Geistes, man begegnet ihnen vor allem in der industriellen Produktion [...]. Die Durchbildung der Form ist der Prüfstein für den Architekten. Dieser erweist sich an ihr als Künstler oder als einfacher Ingenieur. Die Durchbildung der Form ist frei von jedem Zwang. Es handelt sich dabei nicht mehr um Herkommen oder Überlieferung, noch um konstruktive Verfahren, noch um Anpassung an die Bedürfnisse des Gebrauchs. Die Durchbildung der Form ist reine Schöpfung des Geistes, sie ruft den gestaltenden Künstler auf den Plan [...]. Während sich die Geschichte der Architektur auf der Suche nach Abwandlungsmöglichkeiten des Baugefüges und des Dekors nur langsam im Laufe der Jahrhunderte entwickelt, haben Eisen und Eisenbeton innerhalb von nur fünfzig Jahren Errungenschaften gezeitigt, die eine große Beherrschung der Konstruktion und eine alle Gesetze umstürzende, neue Baukunst ankündigen. In Bezug auf die Vergangenheit heißt das, dass Stile keine Daseinsberechtigung mehr für uns haben [...] die Revolution hat sich bereits vollzogen.“
(Le Corbusier 1922/1966, 22f., 49)

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Abb. 9:
Piet Mondrian,
Studie von Bäumen I, 1912

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Abb. 10:
Piet Mondrian,
Studie von Bäumen II, 1913

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Abb. 11:
Piet Mondrian,
Composition No VII, 1913

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Abb. 12:
Theo van Doesburg, Rhythmus eines russischen Tanzes, 1918

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Abb. 13:
Wassily Kandinsky,
Komposition VI, 1913

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Abb. 14:
Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat auf weissem Grund, 1913

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Abb. 15:
Le Corbusier, Villa Ozenfant, 1923

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Abb. 16:
Le Corbusier,
Villa Ozenfant, Atelier, 1923

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Abb. 17:
Cornelis van Eesteren und Theo van Doesburg, Maison Particulière, 1922

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Abb. 18:
Gerrit Thomas Rietveld,
Haus Schröder, 1924

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Abb. 19:
Mies van der Rohe,
Barcelona Pavillon, 1929

 

Was ist konkret?

Unter den Künstlern wurde alsbald deutlich, dass es einen Unterschied macht, ob die künstlerische Arbeit die Abstraktion von einer Naturerscheinung zum Ergebnis hat, also eine Ähnlichkeits-Beziehung zweier Objekte darstellt, oder ob das Verfolgen der Konsequenzen einer Hypothese, einer Idee, sich manifestiert.

Sowohl Haftmann in seinem Vorwort zu Malewitschs Suprematismus (Malewitsch 1915/ 1962, 28) wie auch Bill in seiner Einführung zu Kandinskys Über das Geistige in der Kunst (Kandinsky 1911/1952, 13) verweisen auf van Doesburgs Manifest der Konkreten Kunst, veröffentlicht im Januar 1930 in Art Concret, Paris:

„Wir sehen die Zeit der reinen Malerei voraus und konstruieren die Geist-Form, die Zeit der Konkretisierung des schöpferischen Geistes. Konkrete und nicht abstrakte Malerei, denn nichts ist konkreter, wirklicher, als eine Linie, eine Farbe, eine Oberfläche. Sind auf einer Leinwand etwa eine Frau, ein Baum, eine Kuh konkrete Elemente? Nein – eine Frau, ein Baum, eine Kuh sind konkret im natürlichen Zustand, aber im Zustand der Malerei sind sie weit abstrakter, illusorischer, unbestimmter, spekulativer als eine Linie. Konkrete und nicht abstrakte Malerei, denn der Geist hat den Zustand der Reife erreicht: er braucht klare, intellektuelle Mittel, um sich auf konkrete Art zu manifestieren.“
(van Doesburg 1930/1977, 1/190) 

Doch so einfach sind die Relationen nicht. Bill selbst konstruiert den Grenzfall:

„Der Grad der Abstraktion kann so weit gehen, bis sich die Grenze zur konkreten Kunst beinahe verwischt [...] als Beispiel diene ein Grenzfall in der Malerei: Auf einer weißen Leinwand befindet sich ein roter Punkt. Dieser kann auf zwei Arten entstanden sein: Erstens kann es ein Sonnenaufgang im Nebel sein und ist somit als Abstraktion anzusehen, oder es kann, zweitens, ein roter Punkt sein, der einzig durch sein Verhältnis zur Fläche eine künstlerische Realität ausdrückt. In diesem zweiten Fall handelt es sich um die Konkretion eines abstrakten Gedankens, also um konkrete Kunst.“
(Bill 1947)

Denn dieses minimalistische Bild vom roten Kreis auf weißem Grund stellt eine disjunktive Aussage dar. Ohne weitere Zeichen ist es prinzipiell nicht möglich, zu erkennen, auf der Basis welchen Prinzips welche Aussage von beiden Gültigkeit hat.
Es gehört zu den glücklichen Umständen, dass die Avantgardisten auf vielerlei Art experimentieren, konstruieren und ihre Erkenntnistätigkeit auch in Sprache fassen. Anhand ihrer frühen Schlüsselwerke soll abschließend der Versuch unternommen werden, abstrakte oder konkrete Momente zu identifizieren.

Das Frühwerk von Mondrian enthält einige Themen, die den Übergang von der Naturabbildung hin zum Neoplastizismus darstellen, zum Beispiel Studie von Bäumen I aus dem Jahr 1912, Studie von Bäumen II aus dem Jahr 1913, beide als Grundlage für Composition No VII im Jahr 1913. In der beigefügten Entstehungsgeschichte findet der Prozess der Abstraktion seine Erklärung durch eine Reihe von Versuchen, die die Arbeit an Diagrammen zeigen.

Den Rhythmus eines russischen Tanzes komponiert van Doesburg zwölf Jahre vor seinem Manifest der konkreten Kunst. Die Lösung von Abbildungskonventionen und die zunehmende Abstraktion zeigt der Verfasser mit sieben beigefügten Studien.

In Kandinskys Über das Geistige in der Kunst wird 1911 deutlich: „[...] die Form, selbst wenn sie auch ganz abstrakt ist und einer geometrischen gleicht, hat ihren inneren Klang, ist ein geistiges Wesen mit Eigenschaften, die mit dieser Form identisch sind.“ (Kandinsky 1911/1952, 68). Peirce bemerkt, dass „jede Idee an sich mehr oder weniger vage ist [...]“. Gelangt nun eine Idee „an die Oberfläche des Bewusstseins, so zieht sie [die Idee] aus den unteren Tiefen des Bewusstseins andere, ähnliche Ideen herauf“. (Peirce 1897/2000, 249). In diesem Sinne lassen sich die „rein malerische Mittel“ Kandinskys, die er „vom Zwang der inneren Notwendigkeit hervorgerufen“ sieht, verstehen (ebd., 50f.) und seine Arbeit als eine der Konkretion gewidmete.

Ebenso stellt das Schwarze Quadrat auf weissem Grund aus dem Jahr 1913 bei Malewitsch die Konkretion des proklamierten „freien Nichts“, also einen abstrakten Gedanken, dar.
Le Corbusier realisiert in Paris, in der Avenue Reille 1923 das Atelier für den Maler Ozenfant (Benton 1984, 17, 40). Obgleich radikal modern und bar jeglicher Merkmale des „Nachlebens der Antike“ (Warburg n. Gombrich 1967, 391f.), gibt es dennoch indexikalische und ikonische Relationen. Die Verglasung, raumhoch über das ganze Geschoss und zusätzlich in der Ausbildung des Daches, indiziert eine allseits bekannte Konvention in Form einer Proposition, die da lautet: Diese Fenster beleuchten ein Atelier. Das Gebäude ist damit abstrakte Architektur.

Andererseits – so Bill – „macht konkrete Kunst den abstrakten Gedanken an sich mit rein künstlerischen Mitteln sichtbar und schafft zu diesem Zweck neue Gegenstände. Das Ziel der konkreten Kunst ist es, Gegenstände für den geistigen Gebrauch zu entwickeln“ (Bill 1947). Ozenfant und Le Corbusier gründen 1918 die Kunstströmung genannt Purismus. Das Atelier ist die ikonische Umsetzung eines abstrakten Gedankens, insofern konkrete Architektur.

Die räumliche Erschließung als reine Abstraktion gelingt mit dem Projekt
Maison Particulière von van Eesteren und van Doesburg 1922. Das immanente Prinzip ist die Konstruktion aus realen Flächenelementen, die als vertikale Scheibe und horizontale Platte im definierten Sinne konkrete Gebilde aus beschränkender Widerständigkeit und totaler Offenheit erzeugt. Der Sprung von der Zeichnung zum realen Körper bedingt notwendig die Berücksichtigung der Gravitation und der Materialfestigkeit, ein Prozess, realisiert von Gerrit Thomas Rietveld mit dem Haus Schröder 1924 in Utrecht, und, ferner, realisiert in absoluter Durchbildung mit dem Pavillon von Mies van der Rohe 1929 in Barcelona. Beide Bauwerke sind konkrete Architektur.



 



Literatur:

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973.

Benton, Timothy J.: Le Corbusiers Pariser Villen, Paris, Stuttgart 1984.

Bill, Max: Über den Sinn theoretischer Artikel, Werktitel und Begriffe, in: Konkrete Kunst, Katalog zur Ausstellung, Zürich 1947, zit. nach: Frei, Anhang.

Frei, Hans: Konkrete Architektur? Über Max Bill als Architekten, Baden 1991.

Gombrich, Ernst H.: Die Krise der Kulturgeschichte, Auszug aus der Philip-Maurice-Deneke-Vorlesung in der Lady Margaret Hall, Oxford, 19.11.1967, in: Ausgewählte Texte zu Kunst und Kultur, hrsg. v. R. Woodfield, Berlin 2003.

Gombrich, Ernst H.: Die Geschichte der Kunst, 16. Aufl., London 1995.

Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik I (1832), hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, 1. Aufl., Frankfurt/M. 1986.

Huse, Norbert: Baukunst und Wohnen, in: Der vorbildliche Architekt, Mies van der Rohes Architekturunterricht, Berlin 1986.

Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hrsg. v. N. Kandinsky, 10. Aufl., Bern 1952.

Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur (1922), hrsg. v. U. Conrads, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1966.

Malewitsch, Kasimir: Suprematismus – Die gegenstandslose Welt (1915), hrsg. v. W. Haftmann, Köln 1962.

Mies van der Rohe, Ludwig: Baukunst und Zeitwille (1924), in: Die neue Zeit ist eine Tatsache, Interviews, Texte, Reden, Archibook, Berlin 1986.

Mondrian, Piet: Neoplastizismus. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung (1920), hrsg. v. H. M. Wingler (Neue Bauhausbücher), Mainz 1974.

Peirce, Charles S.: Über die Einheit hypothetischer und kategorischer Propositionen. MS 787 (1897), in: Semiotische Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Ch. J. W. Kloesel und H. Pape, 1. Aufl., Frankfurt M. 2000.

Prinz, Ursula: Funktionelle Gestaltung, in: Tendenzen der Zwanziger Jahre, Katalog zur Ausstellung, Berlin 1977.

Rudenstine, Angelica Z.: Piet Mondrian, Katalog zur Ausstellung, Den Haag 1994.

van Doesburg, Theo: Kommentar über die Grundlagen der konkreten Malerei (1930), zitiert aus: „Art Concret“, Paris, in: Tendenzen der Zwanziger Jahre, Katalog zur Ausstellung, Berlin 1977.




 



Abbildungsnachweis:

Abb. 1, 13: F. Thülemann, Stiftung von Schnyder von Wartensee, Kandinsky über Kandinsky, Schriftenreihe, Bd. 54, Zürich 1986, Tafel II
Abb. 2, 6, 17, 18: Regierung der Bundesrepublik Deutschland und Senat von Berlin, Tendenzen der Zwanziger Jahre, Katalog der Ausstellung, 1977, S. 1/16, Farbtafel; S. 1/282, Nr. 309; S. 1/283, Nr. 311
Abb. 3, 4, 9, 10, 11: Haags Gemeentemuseum, Piet Mondrian, Katalog der Ausstellung, 1995, S. 139, 140, 141, 192
Abb. 5, 14: Kunsthalle Bielefeld, Kasimir Malewitsch, Katalog der Ausstellung, 2000, S. 16
Abb. 7: Bauhaus-Archiv Berlin, Der vorbildliche Architekt: Mies van der Rohes Architekturunterricht 1930-1958 am Bauhaus und in Chikago, Katalog der Ausstellung, 1986, S. 12

Abb. 8, 19: Fundación Caja de Arquitectos, Mies – el proyecto como revelación del lugar, Colección Arquithesis, núm. 19, 2005, S. 52, 72

Abb. 12: Staatsgalerie Stuttgart, Vom Klang der Bilder, Katalog der Ausstellung, 1985, S. 179

Abb. 15, 16: Timothy J. Benton, Le Corbusiers Pariser Villen, 1984, S. 16, 40




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