Das Konkrete und die Architektur 14. Jg., Heft 1, Oktober 2009 |
__Michael
Steigemann |
Abstraktion und Konkretion in Architektur und bildender Kunst der beginnenden Moderne |
Zu
Hegels Theorie des Kunstschönen
Für die Theorie des Kunstschönen haben die Attribute abstrakt und konkret wertende Eigenschaften. Sie sind bestimmend für die von Hegel aufgestellte Klassifizierung der Verhältnisse der Idee zu ihrer Gestaltung. Die erste Kunstform ist demnach die „symbolische“ (Hegel 1832/1986, 107). Denn der Gehalt der Kunstgestalten ist noch unbestimmt:
Die zweite Kunstform, „welche wir als die
klassische bezeichnen wollen, [...]“ (Hegel 1832/1986, 109) ist die „freie, adäquate Einbildung der Idee
in die [...] zugehörige Gestalt, mit welcher sie deshalb in freien,
vollendeten Einklang zu kommen vermag. Somit gibt erst die klassische Form
die Produktion und Anschauung des vollendeten Ideals [...]. Die
Eigentümlichkeit des Inhaltes besteht im Gegenteil im Klassischen darin,
dass er selbst konkrete Idee ist und als solche das konkrete Geistige. Denn
nur das Geistige ist das wahrhaft Innere. Für solchen Inhalt sodann ist
unter dem Natürlichen dasjenige zu erfragen, welches für sich selbst dem
Geistigen an und für sich zukommt [...] Diese Gestalt, welche die Idee als
geistige [...] an sich selbst hat, [...] ist die menschliche Gestalt.“ Auf der dritten Stufe, der romantischen, „macht die freie konkrete
Geistigkeit, die als Geistigkeit für das geistige Innere erscheinen soll,
den Gegenstand aus. Die Kunst, diesem Gegenstande gemäß, kann daher
einerseits nicht für die sinnliche Anschauung arbeiten, sondern für [...]
das Gemüt, die Empfindung, welche als geistige zur Freiheit in sich selber
hinstrebt [...]. Diese innere Welt macht den Inhalt des Romantischen aus
[...]. Die Innerlichkeit feiert ihren Triumph über das Äussere und lässt
[...] an demselben diesen Sieg erscheinen, durch welchen das sinnlich
Erscheinende zur Wertlosigkeit herniedersinkt.“ In Hegels Verständnis korreliert das Abstrakte mit dem Minderwertigen, sei
es das „bloße Suchen der Verbildlichung“ der Ägypter (Hegel
1832/1986, 110), bezeichnet als symbolische Kunstform, sei es, dass der nun
in der Romantik „vollendete Geist sich der entsprechenden Vereinigung mit
dem Äusseren entzieht“ (ebd., 114). Das Konkrete bleibt allein dem
Klassischen vorbehalten. Allein der „griechische Götterglaube macht den
wesentlichen und angemessenen Inhalt für die klassische Kunst aus. In dieser
ist der konkrete Inhalt an sich die Einheit menschlicher und göttlicher
Natur [...].“ (ebd., 111). „Ihr [der Architektur] Material ist selbst das Materielle in seiner unmittelbaren Äusserlichkeit als mechanische schwere Masse, und ihre Formen bleiben die Formen der organischen Natur, nach den abstrakten Verstandesverhältnissen des Symmetrischen geordnet. Da in diesem Material und Formen das Ideal als konkrete Geistigkeit sich nicht realisieren lässt, [...] so ist der Grundtypus der Baukunst die symbolische Kunstform. Denn die Architektur bahnt der adäquaten Wirklichkeit des Gottes erst den Weg und müht sich in seinem Dienst mit der objektiven Natur ab, um sie aus dem Gestrüppe der Endlichkeit und der Missgestalt des Zufalls herauszuarbeiten [...].“ Im
Prinzip stellt Hegel sie, die Architektur, damit aufgrund mangelnder Einheit
von geistigem Inhalt und äußerem Ausdruck, auf die Stufe der „Ägypter“.
Hegel streitet für die Architektur in toto ab, dass sie zur Repräsentation
hoher und höchster Ideale fähig ist, Ausnahmen gibt es allenfalls da, wo der
Übergang zur Skulptur gegeben ist. „Abreißen der Tradition zur Zeit der Französischen Revolution, dass sich
die Lage des Künstlers und der Kunst von Grund auf ändern musste. Das
Akademien- und Ausstellungswesen, die Kunstkenner und Kunstkritiker hatten
es dahin gebracht, dass sich eine Kluft zwischen den Schönen Künsten und dem
Handwerk aufgetan hatte [...]. Das Abreißen der Tradition befreite die
Künstler von allen Bindungen und gab ihnen unbeschränkte Möglichkeiten
[...]. Erst so wurde die Kunst zum ersten Mal zum vollkommenen Ausdruck der
Persönlichkeit des Künstlers [...].“ Zugrunde liegt Gombrichs Darstellung die Erkenntnis, dass „der Gedanke, dass es der wahre Zweck der Kunst sei, der Persönlichkeit Ausdruck zu geben, erst aufkommen konnte, als die Kunst jeden anderen Zweck verloren hatte.“ (Gombrich 1995, 503) Die revolutionäre Bewegung in den Künsten setzt Anfang des 19. Jahrhunderts ein, in Frankreich etwa mit Eugène Delacroix, der gegen die idealistisch geprägte Akademie rebelliert, mit Gustave Courbet, der mit seinem Realismus schockiert, durch Édouard Manet „und sein[en] Kreis, die
eine Revolution in der Wiedergabe der Farbe herbeiführen, denn sie
entdecken, dass wir in freier Natur den einzelnen Gegenstand gar nicht in
seiner charakteristischen Farbe sehen, sondern ein buntes Gemisch von
flimmernden Farben, die in unserem Auge verschmelzen.“ Cézanne ist beunruhigt über die Ergebnisse dieses Konzepts. „Er sieht
seine Aufgabe darin, [zwar auch] nach der Natur zu malen, das heisst,
sich der Entdeckungen der Impressionisten zu bedienen und dennoch
gleichzeitig die innere Gesetzmäßigkeit wieder zu gewinnen, die die Kunst
Poussins darin auszeichnet.“ (Gombrich 1995, 539), dass in der Ordnung
seiner Bilder Maß und Klarheit der französischen Klassik ihre Vollendung
fanden. Cézannes Bilder repräsentieren ein Experimentieren mit der
Erkenntnis, dass es die Tiefenillusion zerstört, wenn man größere Flächen in
einfachen, ungemischten Farben anlegt. Von hier aus führt einer der Wege zur
Abstraktion der Neuen Kunst. |
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Neue Kunst
Im Dezember 1911 erscheint in München Wassily Kandinskys Über das Geistige in der Kunst. Darin entfaltet er die „geistige Wendung“:
Im folgenden Jahr stellt im Pariser Herbstsalon der tschechische Maler
František Kupka abstrakte Bilder aus. Piet Mondrian richtet sich in Paris
ein Atelier ein. Im darauf folgenden Jahr werden im Salon des Indépendants drei seiner Bilder gezeigt. „Mondrian kommt von den
Kubisten, aber er imitiert sie nicht nur. Vor allem scheint ihn Picasso
beeinflusst zu haben, doch bleibt er ganz er selbst. Die Baummotive und das
Frauenbildnis zeugen von geistiger Einfühlsamkeit. Dieser Kubismus –
äusserst abstrakt – weicht von den Lösungen eines Braque oder Picasso
deutlich ab [...].“ Mondrian selber stellt 1920 in seinem Traktat zum Neoplastizismus das, wie er es nennt, „Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung“ dar: „Ein neuer, plastischer Ausdruck ist unvermeidlich [...] eine bildende
Darstellung gleichwertiger Verhältnisse. Alle Künste bemühen sich zur
bildenden Ästhetik dieses Verhältnisses zwischen dem Individuellen und dem
Universellen, zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Geist zu kommen, kurz:
alle Künste ohne Ausnahme sind gestaltend [...]. Die neue Gestaltung hat
ihre Wurzeln im Kubismus. Sie [die Gestaltung] könnte ebenso die
Malerei der realen Abstraktion heissen, weil das Abstrakte [...] durch eine
plastische Realität ausgedrückt werden kann. Das ist insbesondere das Wesen
der neuen Gestaltung in der Malerei. Sie ist eine Komposition farbiger
Rechtecke, welche die tiefste Realität ausdrücken. Malewitsch geht in seinem Traktat zum Suprematismus aus dem Jahr 1915 bis an die Grenze zum Außenwelt-Skeptizismus: „Suprematismus, dem
befreiten Nichts der Gegenstandslosigkeit [...]. Der Begriff ‚Neue Kunst’
ist inzwischen [...] zu allgemein geworden. Aus diesem Grunde habe ich für
das ideen- und gegenstandslose Schaffen die Bezeichnung ‚Suprematismus’
gewählt [...]. Der Suprematismus als [...] befreites Nichts ist eine scharfe
Kampfansage an die [...] idealisierende Gegenständlichkeit. Zwei
unversöhnliche Lehren [...]. Bei folgerichtiger Entwicklung des
Suprematismus verschwindet auch die Farbe, und es tritt die schwarze und die
weisse Phase ein, die sich aus quadratischen Formen des Schwarz und des
Weiss herausbildet [...].“ |
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Neue Architektur
Eines der ersten Gebäude mit dieser Intention wird mit dem Barcelona
Pavillon realisiert. Er ist Ausstellungsstück und weder zum Arbeiten noch
zum Wohnen brauchbar – lesbar als eine Skulptur.
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Was ist konkret?
Doch so einfach sind die Relationen nicht. Bill selbst konstruiert den Grenzfall: „Der Grad der Abstraktion
kann so weit gehen, bis sich die Grenze zur konkreten Kunst beinahe
verwischt [...] als Beispiel diene ein Grenzfall in der Malerei: Auf einer
weißen Leinwand befindet sich ein roter Punkt. Dieser kann auf zwei Arten
entstanden sein: Erstens kann es ein Sonnenaufgang im Nebel sein und ist
somit als Abstraktion anzusehen, oder es kann, zweitens, ein roter Punkt
sein, der einzig durch sein Verhältnis zur Fläche eine künstlerische
Realität ausdrückt. In diesem zweiten Fall handelt es sich um die Konkretion
eines abstrakten Gedankens, also um konkrete Kunst.“ Denn
dieses minimalistische Bild vom roten Kreis auf weißem Grund stellt eine
disjunktive Aussage dar. Ohne weitere Zeichen ist es prinzipiell nicht
möglich, zu erkennen, auf der Basis welchen Prinzips welche Aussage von
beiden Gültigkeit hat.
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973. Benton, Timothy J.: Le Corbusiers Pariser Villen, Paris, Stuttgart 1984. Bill, Max: Über den Sinn theoretischer Artikel, Werktitel und Begriffe, in: Konkrete Kunst, Katalog zur Ausstellung, Zürich 1947, zit. nach: Frei, Anhang. Frei, Hans: Konkrete Architektur? Über Max Bill als Architekten, Baden 1991. Gombrich, Ernst H.: Die Krise der Kulturgeschichte, Auszug aus der Philip-Maurice-Deneke-Vorlesung in der Lady Margaret Hall, Oxford, 19.11.1967, in: Ausgewählte Texte zu Kunst und Kultur, hrsg. v. R. Woodfield, Berlin 2003. Gombrich, Ernst H.: Die Geschichte der Kunst, 16. Aufl., London 1995. Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik I (1832), hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, 1. Aufl., Frankfurt/M. 1986. Huse, Norbert: Baukunst und Wohnen, in: Der vorbildliche Architekt, Mies van der Rohes Architekturunterricht, Berlin 1986. Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst (1911), hrsg. v. N. Kandinsky, 10. Aufl., Bern 1952. Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur (1922), hrsg. v. U. Conrads, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1966. Malewitsch, Kasimir: Suprematismus – Die gegenstandslose Welt (1915), hrsg. v. W. Haftmann, Köln 1962. Mies van der Rohe, Ludwig: Baukunst und Zeitwille (1924), in: Die neue Zeit ist eine Tatsache, Interviews, Texte, Reden, Archibook, Berlin 1986. Mondrian, Piet: Neoplastizismus. Das Generalprinzip gleichgewichtiger Gestaltung (1920), hrsg. v. H. M. Wingler (Neue Bauhausbücher), Mainz 1974. Peirce, Charles S.: Über die Einheit hypothetischer und kategorischer Propositionen. MS 787 (1897), in: Semiotische Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Ch. J. W. Kloesel und H. Pape, 1. Aufl., Frankfurt M. 2000. Prinz, Ursula: Funktionelle Gestaltung, in: Tendenzen der Zwanziger Jahre, Katalog zur Ausstellung, Berlin 1977. Rudenstine, Angelica Z.: Piet Mondrian, Katalog zur Ausstellung, Den Haag 1994. van Doesburg, Theo: Kommentar über die Grundlagen der konkreten Malerei (1930), zitiert aus: „Art Concret“, Paris, in: Tendenzen der Zwanziger Jahre, Katalog zur Ausstellung, Berlin 1977.
Abb. 1, 13: F. Thülemann, Stiftung von Schnyder von Wartensee, Kandinsky
über Kandinsky, Schriftenreihe, Bd. 54, Zürich 1986, Tafel II
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