
Vergleich zwischen
Horwards geplantem ‘Cluster of Cities’ und Burgess’ sozialtypisch suburban
wachsender Stadtregion
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In einer dreihundert Generationen andauernden Geschichte der Städte und der
Stadtgesellschaften in der westlichen Welt ist es eine nur kurzfristige (und
möglicherweise vorübergehende) Erscheinung, wenn im 20. Jahrhundert Wohnen
als eine selbständige soziale Funktion siedlungsräumlich die
Stadtentwicklung beherrscht. Ausgelöst wird diese Erscheinung a) durch die
Entstehung und Entwicklung technischer Kommunikations- und Mobilitätsmedien
und b) durch die Vorstellung einer Elite aus Architekten, Stadt- oder
Raumplanern und Wissenschaftlern, durch diese technischen Medien ließen sich
face-to-face Kontakte und ‚kurze Wege‘ zwischen den Alltagsfunktionen aus
Produktion und Reproduktion gesellschaftlich gleichwertig ersetzen
(‚Urbanität findet in den Netzen statt‘).
Ob die erwähnte, in der Geschichte der Stadt unvergleichliche Erscheinung
vorübergehend und wenigstens teilweise umkehrbar ist, lässt sich zum
gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehen. Es ist jedenfalls zur Kenntnis zu
nehmen, dass das Leitbild des ruhigen Wohnens zeitgleich auftritt mit
einer massenhaften Zuwanderung in die Stadtregionen, also mit
einer in der Geschichte so vorher nie da gewesenen Urbanisierung. Die
Folge ist eine städtebauliche Verfestigung der irrtümlicherweise
angenommenen Ersetzbarkeit von Nähe und kurzen Wegen im persistenten Bestand
der Städte und Stadtregionen. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung in den
Stadtregionen der westlichen Welt dürften inzwischen in Verhältnissen leben‚
in denen Wohnen nicht mehr kleinteilig und im Alltag erfahrbar mit der
Arbeitswelt verknüpft ist.
Die genannten, nebeneinander her laufenden Entwicklungen sind – so die hier
vorgetragene These – keineswegs kausal miteinander verbunden. Die starke
Zuwanderung in die Städte hätte durchaus planerisch anders organisiert
werden können. Aber das Resultat – die Einführung eines Kults der
siedlungsräumlichen Trennung der Funktionen des Alltags und dessen
Omnipräsenz in den bestehenden Siedlungsstrukturen – ist inzwischen so in
die Stadtlandschaft und in die Köpfe eingeschrieben, dass eine Revision nur
noch mit großen Mühen machbar erscheint.
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Wohnen ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, die sich im Fortgang der
Industrialisierung immer weiter verfestigt hat. Zur siedlungsräumlichen
Sphäre des ruhigen Wohnens gehört eine auf ein Minimum beschränkte
Ausrüstung der Nachbarschaft mit Wohnfolgeeinrichtungen (ohne
Wahlmöglichkeiten!), die nicht als Produktion, sondern als Versorgung
wahrgenommen wird.
Ein unverdächtiges Zitat hierzu aus Wikipedia:
„Die heutigen Assoziationen
mit dem Begriff ‚Wohnen‘ sowie viele heutige Ausprägungen des Wohnens haben
ihre grundlegenden Wurzeln im 19. Jahrhundert, im aufkommenden Bürgerlichen
Zeitalter, d. h. in einer Zeit, in der das Bürgertum zur einflussreichen
Bevölkerungsgruppe wird. In dieser Zeit werden Wohnung und Familie zum
Rückzugsraum und Intimbereich des Bürgertums. Die Industrialisierung
verlagert das Arbeiten an andere Orte. Die nun von Arbeitsfunktionen
befreite Wohnung wird zum trauten Heim, zum Gegenentwurf zur rauen Realität
außen.“
Die
neue Ausprägung des Wohnens wird übertragen auf das Wohnquartier, an
das jetzt dieselben Ansprüche gestellt werden, wie an die
Wohnung: Rückzugsraum, Freihalten von Störungen, Abseitsstellen der rauen
Realität, Vorrang für das Aufwachsen im Grünen usw. Stadtsoziologische
Begründungen für die Aussperrung der Arbeitswelt aus der Sphäre des Wohnens
mit der zunehmenden Arbeitsteilung sind bemerkenswert:
„Die für die
Stadtentwicklung wichtigste Differenzierung war die durch eine Veränderung
der Produktionsweise eingetretene Trennung von Arbeitsstätte und Wohnstätte.
Während beispielsweise in dem Haus des Kaufmanns im 19. Jahrhundert noch
Speicher, Kontor und Wohnung vereinigt waren, trennten sich in der Folgezeit
diese ‚Funktionen‘ zu unterschiedlichen Gelegenheiten und Standorten.
[…] Eine
sozialökologische Annahme ist, dass Arbeitsteilung und Konkurrenz in der
Stadt zu einer Differenzierung des Stadtgebietes in homogene Subgebiete
führen, homogen tendenziell hinsichtlich Nutzung und/oder der Bevölkerung.“
(Friedrichs 1981, 70f.)
Aus
dem individuell getrennten Standort von Arbeitsplatz und Wohnort wird
kurzschlüssig gefolgert, in einer arbeitsteiligen Gesellschaft habe das
Wohnen in Gebieten stattzufinden, in denen die Arbeitswelt insgesamt nichts
mehr zu suchen hat. Wohnen wird zum zentralen Inhalt der Stadtplanung. Dazu
gehört auch die Art und Weise, wie siedlungsräumliche Dichte gemessen wird,
nach Bewohnern, nie nach Bewohnern + Arbeitskräften. Distinktion schlägt
Kooperation.
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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt sich die etablierte
Stadtplanung vor, Urbanität in Gebieten herzustellen, die auf die
traditionell selbstverständliche kleinteilige Mischung aus Wohnen und
vielfältiger Arbeitswelt verzichtet. Auf ‚Urbanität durch Dichte‘ folgt
‚Urbanität durch Stadtarchitektur‘. Die praktische Erfahrung zeigt
dann: Dichte und Stadtarchitektur sind zwar notwenige, aber keineswegs
zureichende Bestandteile städtischer, also lebendiger Strukturen.
An der Art und Weise wie das Projekt ‚Gartenstadt‘ Ebenezer Howards vom Ende
des 19. Jahrhunderts in der Folgezeit rezipiert wird, lässt sich zeigen, wie
die Fehleinschätzung zur Herstellbarkeit von Urbanität zustande kommt.
Howard geht es in seinem Projekt um die Frage, wie das Wachstum großer
Städte in alltagstaugliche Bahnen gelenkt werden kann. Er will, dass sich
die Städte nicht uferlos in die Landschaft hinein ausdehnen mit immer weiter
zunehmenden Wegen zum Arbeitsplatz. Im Unterschied zu den früheren Konzepten
der Arbeitersiedlungen fortschrittlicher Fabrikherren propagiert er
eigenständige und komplette, dicht bebaute neue Städte im Umfeld der
bestehenden Zentren. Das Ziel ist ein ‚cluster of cities‘, in dem
mehrere Städte von beschränktem Umfang sich mit einer größeren Stadt
verbinden, und zwar so, dass zwischen den Einheiten definierte
Landschaftsgürtel erhalten bleiben. Die vorgesehene Dichte dieser Ensembles
ist wert, hier festgehalten zu werden: Durchmesser der neuen Städte 2 Kilometer,
Entfernung von Stadt zu Stadt 5 Kilometer, Erreichbarkeit der Städte untereinander
per Schiene in 5 Minuten. Es ergeben sich Städtecluster mit mehr als 250
Tausend Einwohnern.
Howard wird nun in der Folge nicht als Vorkämpfer der polyzentralen
Stadtregion, sondern als Erfinder der Suburbanisierung (Suburbanisierung =
siedlungsräumliche Auflockerung + Trennung von Wohnen und Arbeitswelt)
apostrophiert. Wie kommt dies zustande? Was am Ende des 19. Jahrhunderts –
und noch lange in das 20. Jahrhundert hinein – selbstverständlich war und
nicht besonders beschrieben zu werden brauchte, war schon in den 1960er
Jahren bei den Kommentatoren offensichtlich nicht mehr präsent: Das
Grundmodul der urbanen Stadt ist das kleinteilig funktionsgemischte und
dicht bebaute Quartier (planungsrechtlich das Wohn- und Geschäftsgebiet), zu
dem naturgemäß das Kommunikationsmedium der Straße mit Aufenthaltsqualität
gehört. Das Projekt Howards ist natürlich nicht zu begreifen, wenn die
Bedeutung dieses Grundmoduls außer Acht gelassen wird.
Der moderne Städtebau, der sich von der eigenen Vorgeschichte losgesagt hat,
liest das Projekt Howards mit einer Brille, die sich ausschließlich auf die
Ergebnisse der Gartenstadt-Bewegung richtet. Howard hatte sich ausdrücklich
gegen Vorstädte gewandt, die Praxis der Stadterweiterung kam aber nie über
das Modell der Vorstadt hinaus – auch die späteren New Towns wurden nie mehr
etwas anderes als so genannte Schlafstädte, denen exakt das fehlte, was zum
Tabu geworden war: die kleinteilige und alltagsbezogene dichte
Funktionsvielfalt als maßgebliche Voraussetzung für die Entstehung von
Stadt. |
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Zur Unterstützung von gelebter Urbanität kommt es entscheidend darauf
an, dass es für die Bevölkerung nach eigener Wahl genügend Möglichkeitsräume
= Quartiere gibt, in denen distanziert mit Anderen und Fremden (d. h. mit
Menschen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören) funktional und alltagsbezogen
kooperiert werden kann. Dafür sind in ausreichendem Umfang Orte notwendig,
die Wohnen und Arbeitswelt (in ihren vielfältigsten Ausprägungen)
kleinteilig und mit den Sinnen erfahrbar verbinden. Bauliche und soziale
Dichte sind dabei Voraussetzungen insofern, als sich durch sie das
Kommunikationsmittel Öffentlicher Raum entfalten kann. ‚Nach eigener Wahl‘
setzt ein Denken voraus, wonach Stadt unterschiedlich gestaltete
Möglichkeitsräume = Quartiere anbietet, zwischen denen die Menschen frei
wählen können, urbane neben sub- oder antiurbanen.
Nutzungsmischung ist seit etwa zwei Jahrzehnten wieder
stadtplanerisch akzeptiert, nur handelt es sich um eine Spielart, in der nicht
nach den integrativen Effekten des Mischens gefragt wird. Ausprägungen
der Arbeitswelt werden dabei von der Planung nur soweit akzeptiert, wie sie
das Wohnen nicht stören: das gängige Stichwort heißt wohnverträgliches
Arbeiten: ruhiges Wohnen bleibt das unangefochtene Leitbild. ‚Urbanes
Wohnen‘ wird als neue Marke der Immobilienentwicklung zu einer neuen
Variante von vorgeblicher aber auch vergeblicher Urbanität.
[Anmerkung: kennzeichnend für alltagstaugliche Funktionsmischung sind
Nichtwohnnutzungen, die das Wohnen ‚nicht wesentlich‘ stören, also durchaus
beeinträchtigen dürfen; siehe so sogar in der geltenden BauNVO].
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Hätte sich die regionale Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg nach dem
Grundmuster vollzogen, das sich Howard vorstellte, hätten wir heute eine
Siedlungsstruktur, die perfekt dem Bild der nachhaltigen, polyzentalen Stadt
entspräche. Es wären Stadtregionen, in denen sich ein völlig anderes
Zahlenverhältnis zwischen großen, mittleren und kleinen Betrieben
eingependelt hätte; wir hätten Städte, in denen es sogar die Problematik des
heute vielfach beklagten Schrumpfens gar nicht gäbe.
Dass das aus dem städtischen Zusammenhang heraus gelöste Wohnen längst nicht
mehr allgemein mit den Bedürfnissen der Alltagsbewältigung zusammenpasst,
wird in einem seit einiger Zeit beobachteten Trend ‚zurück in die Stadt‘
deutlich. Dieser Trend verlangt nach einer Revision des habitualisierten
Leitbilds einer möglichst durchgehend Funktionen trennenden Stadt, in der
nur noch Reste aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den Ansprüchen an
lebendiger Urbanität genügen. Aber in den mutierten Gehirnen ist – als
Ausdruck herrschender „Mixophobie“ (Zygmunt Bauman) – das abgesonderte
Wohnen so eingebrannt, dass in der Zukunft eher eine ausgesprochene
Suburbanisierng der Innenstädte zu erwarten ist. Es entsteht ein erneutes
Auseinanderklaffen von individuellen wie gesellschaftlichen Bedürfnissen und
gebauter Stadt.
Im gesellschaftlichen Wandel vollzieht sich mit der wirtschaftlichen
Globalisierung eine ‚Entgrenzung von Arbeit und Leben‘.
„Die Anforderungen an die nahräumliche wie zunehmend auch an eine
überregionale (und sogar globale) Beweglichkeit steigen massiv – nicht nur
für ‚Global Players‘. In immer mehr Berufen werden die Bereitschaft und
Fähigkeit zur Mobilität, eine regelrecht ‚mobile‘ Lebensform, zur
Einstellungsvoraussetzung. Vereinbarkeit von ‚Arbeit und Leben‘ bedeutet
daher nicht mehr nur die Vereinbarkeit von getrennten Orten für
Erwerbstätigkeit und Privates, sondern die Auswahl und Gestaltung mehrerer
Arbeits- und Lebensorte und die Bewältigung der aufwändigen Mobilität
zwischen diesen. Noch hat sich eine solche ‚Raumkompetenz‘ nicht als ein
neues Feld von Qualifikationen etabliert.“ (Kerstin Jürgens, G. Günter
Voß 2007).
Aktuelle Planung und Politik sind bisher nicht imstande, die in den
zurückliegenden Generationen aufgerichteten Grenzen zwischen den Funktionen
im Sinne einer Stadt der kurzen Wege auch nur stellenweise zu durchbrechen.
Nicht einmal eine kritische Auseinandersetzung mit der schizophrenen
Diskrepanz aus veränderten ‚sozialen und kulturellen Bedürfnissen der
Bevölkerung‘ (Baugesetzbuch §1) und den Vorgängen am Immobilienmarkt ist
mehr möglich.
Die gesellschaftlichen Folgen sind horrend, aber als solche in der
Öffentlichkeit so gut wie nicht zu erkennen. Ein konkretes und aktuelles
Beispiel zur Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Angesichts des
wenig alltagstauglichen siedlungsräumlichen Bestands überträgt die
Bundesregierung den Kommunen die Aufgabe, Einrichtungen zur Betreuung eines
vorgegebenen Prozentanteils der 0- bis 3-Jährigen zu schaffen. Der Staat
greift – ohne, dass irgendwo Widerspruch entsteht! – in einen eindeutig der
Zivilgesellschaft zugehörigen Bereich ein – mit auch noch verheerenden
Folgen für die Gemeindefinanzen: die dringend notwendige Umstrukturierung
der Stadtlandschaft zur Alltagstauglichkeit scheint sich zu erübrigen.
Dies ist nur ein ausgewähltes Beispiel. Man könnte zahlreiche andere
Erscheinungen, die heute konstatiert und resignierend beklagt werden,
nennen. Sie erscheinen nicht kurierbar, weil sie eben als gesellschaftliche
– sozusagen naturwüchsige – Phänomene aufgefasst werden. Sind sie nicht
vielmehr in erheblichem Umfang stadtplanerischer Mixophobie anzulasten?
Literatur:
Baethge, Martin: „Abschied vom Industrialismus“. In:
Martin Baethge, Ingrid Wilkens (Hg.), Die große Hoffnung für das 21.
Jahrhundert?. Opladen 2001.
Bauman, Zygmunt: Flüchtige Zeiten. Leben in der
Ungewissheit. Hamburg 2008.
Feldtkeller, Andreas: „Die ‚Stadt der kurzen Wege‘ – ein
Mosaik unterschiedlicher Lebensqualitäten“. In: Heinrich Böll Stiftung
(Hg.), Das neue Gesicht der Stadt. Strategien für die urbane Zukunft im 21.
Jahrhundert. Berlin 2006.
Friedrichs, Jürgen: Stadtanalyse. Soziale und räumliche
Organisation der Gesellschaft.
Braunschweig 1977.
Howard,
Ebenezer: Garden Cities of To-Morrow.
London
1898/1965.
Jacobs,
Jane: The Death and Life of Great American Cities.
New York
1961.
Jürgens, Kerstin; Voß, G. Günter: „Gesellschaftliche
Arbeitteilung als Leistung der Person“. In: Aus Politik und
Zeitgeschichte 34/2007: Entgrenzung von Arbeit und Leben. Bonn 2007.
Posener, Julius (Hg.): Ebenezer Howard.
Gartenstädte von morgen. Das Buch und seine Geschichte. Bauwelt
Fundamente 21. Berlin Frankfurt/M. Wien 1968.
Abbildungsnachweis:
Abbildungen entnommen aus: Ebenezer Howard, Garden Cities of To-Morrow. London 1898/1965, S. 143 und Ulf Hannerz, Exploring the City. New York 1980,
S. 29.
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