Zum Wohnen im 21. Jahrhundert
15. Jg., Heft 1, April 2010

 

__Eduard Heinrich Führ
Bielefeld / Cottbus
  Martin Heideggers Phänomenologie des Wohnens

 

   

Vorbemerkung

Zur Phänomenologie des Wohnens gibt es eine Fülle von Publikationen. Dabei muss man aber zwei Ansätze, wie man denn richtig wohne und was denn das Wohnen sei, voneinander unterscheiden, in einer ersten Gruppe gehen jene – und ich denke hier beispielhaft an Otto Bollnow oder Hermann Schmitz – von einem überhistorischen Menschenbild aus und unterstellen dabei – in unterschiedlichen Anteilen – eine ahistorische, übergesellschaftliche und subjektivitätsfreie, quasi klassisch anthropologische Identität. Sie verbleiben im Konkreten und haben keine Hemmung vor normativen Verhaltensanforderungen und Bauvorschriften.

Für eine zweiten Gruppe ist das richtige Wohnen transzendent, sie versteht es als Apotheose ins Reich der Ideen oder aber auch umgedreht – wenn man an Christian Norberg-Schulz denkt – als eine Art Epiphanie, bei der ein genius sich aus dem Reich der Ideen in die irdische Welt loziert und ihr den Schein des wahren Seins verleiht.
Martin Heidegger hingegen geht es um eine transzendentale Analyse des Wohnens, obwohl er gerne als Ahnherr der immanenten und der transzendenten Haltungen zum Wohnen genommen wird und – das muss man zugestehen – durch Sprache und Formulierungen ausreichend Anlass für diese Missverständnisse gibt.


Vermittlung von Mensch und Welt durch die Dinge

Während Heidegger im Kunstwerkaufsatz die Beziehung zwischen Ding, Zeug und Kunstwerk und die Spannung zwischen Welt und Erde darstellt, und ein Gebäude als Ding und Zeug versteht, das sich möglicherweise zu einem Werk ausgrenzt, indem es bei aller Dienlichkeit, Verlässlichkeit und Verweislichkeit auch eine Selbstbezüglichkeit erhält, untersucht er im Vortrag „Bauen Wohnen Denken“, wie ein Gebäude zwischen Mensch und Welt vermittelt.
Dabei geht er zuerst dem Sein des Menschen auf den Grund und erkennt es als Wohnen. Sodann fragt er, was ‚Raum' ist und stellt fest, dass der eigentliche Raum ein von den Orten der Dinge her fundiertes Feld ist, das dann weitere Räume, wie den spatialen und den metrisierten Raum, fundiert. Auf der Basis dieser Erkenntnisse zeigt sich dann die Beziehung des Menschen zum Raum als Wohnen des Feldes.

Konkret arbeitet Heidegger drei unterschiedliche Verständnisse von Wohnen heraus:

  1. Das eingeschränkteste Verständnis von Wohnen leitet sich aus dem Begriff der Wohnung ab; es meint, dass wir eine ‚Unterkunft inne haben‘.
  2. Wohnungen sind jedoch nur ein bestimmter Teil der Architektur, es gibt darüber hinaus noch andere Bauten, wie etwa Brücken, Markthallen oder Autobahnen. Auch diese können wir bewohnen. Wohnen heißt auch, zu Hause sein, denn „der Lastzugführer kann auf der Autobahn zu Hause sein“ und „die Arbeiterin in der Spinnerei“ und ist damit auf jedes sich identifizierende, sich als kompetent erweisende und sich wohlfühlende Aneignen ausgedehnt. Damit steht das Wohnen als Aneignen separiert vom Bauen als Herstellen. Bauen ist das Mittel zum Zweck des Wohnens; das Herstellen soll das Aneignen ermöglichen, deshalb muss das Bauen sich am Wohnen orientieren. Bauen und Wohnen sind damit zwei grundsätzlich voneinander separierte Tätigkeitsfelder, die sich aber aufeinander beziehen sollen.
  3. Heidegger entwickelt aus der Sprache heraus ein noch umfassenderes Verständnis des Wohnens, das Aneignen und Herstellen in sich enthält. „Das Bauen ist in sich selber bereits Wohnen.“ Wohnen meint hier die „Art und Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind“. Auf der Erde sein, meint in der Natur, im dienend Tragenden sein. Auf der Erde sein, heißt für Heidegger sowohl die Natur hegen und pflegen (‚colere‘, ‚cultura‘), kultivieren, wie auch sie einrichten und errichten (‚aedificare‘). Wohnen meint damit, sich der Natur, wie auch sich die Natur anzupassen.

Im Bauen richtet sich der Mensch ein, im Bauen verwirklicht sich der Mensch, insofern wohnt er auch im Bauen. Zugleich aber geht für Heidegger das Wohnen über das Ver-wirklichen hinaus ins Ver-wahren. Das Wohnen ist nicht nur „ein Aufenthalt bei den Dingen“, es ‚verwahrt‘ die vier Grunddimensionen menschlichen Seins (das Geviert) in den Dingen. Es bringt diese Grunddimensionen in die Wahrheit (‚ver-wahren‘).

Wohnen ist für Heidegger also keine architekturwissenschaftliche oder sozialpsychologische Aktivität; es ist ein ontologisches Geschehen. Wohnen findet nur statt, wenn das Geviert verdinglicht und verwahrt ist. Es ist zudem verbunden mit einer subjektiven Ekstase, denn es stellt den Menschen aus dem Alltag heraus in diese Seinswahrheit.

Wohnen im ersten und zweiten Sinne kann niemals Wohnen im dritten Sinne, in Heideggers Sinne sein, sondern nur ein Teilbereich dieses Wohnens. Wohnen ist die Wahr-nehmung des menschlichen Seins. Im ersten und zweiten Sinne bewohne ich einen Ort, mit Heidegger wohne ich ihn. Bauen und Denken gehören in das Wohnen.

Im Bauen richtet sich der Mensch ein, im Bauen verwirklicht sich der Mensch, insofern wohnt er. Das Bauen – in diesem Sinne – geht nicht dem Wohnen voraus, sondern ist eine Weise des Wohnens, der Wahr-nehmung des menschlichen Seins. Gleiches gilt für das Denken. Der Aufenthalt bei den Dingen, das Wohnen, ist für Heidegger nicht leiblich gemeint. Für Heidegger ist es auch immer ein ‚Hindenken‘, selbst zu einem fernen Ort.

Wenn man sich bei den Dingen auch im Hindenken aufhalten kann, was spielt dann die Dinglichkeit, die Architektur dabei für eine Rolle?
Um in den Dingen wohnen zu können, muss ich sie entstehen lassen. Das Wohnen benötigt das Bauen zur Ver-ding-lichung. Heidegger betont das Dinglichwerden des Gevierts gegen Theorien, die zwischen einem sachlichen Substrat und einer adhärierenden Bedeutung unterscheiden wollen.

„Man meint freilich, die Brücke sei zunächst und eigentlich bloß eine Brücke. Nachträglich und gelegentlich könne sie dann auch noch mancherlei ausdrücken. Als ein solcher Ausdruck werde sie dann zum Symbol, zum Beispiel für all das, was vorhin genannt wurde. Allein die Brücke ist, wenn sie eine echte Brücke ist, niemals zuerst bloße Brücke und hinterher ein Symbol. Die Brücke ist ebensowenig im voraus nur ein Symbol in dem Sinn, daß sie etwas ausdrückt, was, streng genommen, nicht zu ihr gehört. Wenn wir die Brücke streng nehmen, zeigt sie sich nie als Ausdruck. Die Brücke ist ein Ding und nur dies. Nur? Als dieses Ding versammelt sie das Geviert.“ (BWD)

Mit der Ablehnung des Verständnisses von Ding als Zeichen und Symbol, das über einer banalen materialen Basis schwebt auf der einen Seite geht auf der anderen Seite die Ablehnung des Verständnisses von Ding als Komplex sinnlich-materialer Eigenschaften überein. Dies wird ganz explizit in der Analyse des Dings im Kunstwerkaufsatz herausgestellt, erschließt sich im Vortrag „Bauen Wohnen Denken“ aber auch durch die Gleichsetzung von Aufenthalt und Hindenken.

Was hat Wohnen als Aufenthalt bei den Dingen mit Raum zu tun?
Heidegger stellt in seinem Text vier Raumverständnisse dar, ein ursprüngliches und drei abgeleitete.

- Der ursprüngliche Raum entsteht durch die Dinge im Wohnen der Menschen (s. u.),
- er enthält Plätze und bedingt Nähe und Ferne. Nehme ich die Plätze nur als Stellen, d. h. sehe ich von der funktional bestimmten
- Ordnung ab, dann kann ich mich mit den Abständen und Zwischenräumen beschäftigen und sie ausmessen.

In einer Werkstatt etwa, wo die Zange an ihrem Platz ist und der Hammer an seinem, macht es keinen Sinn, zu fragen, wie weit sie denn quantitativ voneinander entfernt sind. Sie sind eben an ihrem jeweiligen Platz und da sie an ihrem Platz sind, sind sie auch zueinander am rechten Platz. Legte man sie näher zueinander, verlören sie möglicherweise ihren Platz und wären sich ferner denn je. Dann, wenn ich von einem funktionalen Verständnis absehe, dann, wenn Hammer und Zange Sachen sind, dann macht es grundsätzlich Sinn, den Abstand zwischen beiden quantitativ zu bestimmen.

Raum in diesem Sinne ist Zwischenraum, spatium. Diesen Zwischenraum kann ich auch abstrakt in seinen Dimensionen nehmen, dann

- handelt es sich um Raum als Ausdehnung, extensio.
- Diese Dimensionen kann ich zudem noch analytisch-algebraisch formulieren, dann
- handelt es sich um einen mathematischen Raum.

Der ursprüngliche Raum entsteht im Wohnen, insofern kann er nicht unabhängig vom Menschen und von seinem Aufenthalt bei den Dingen gedacht werden; „Er ist weder ein äußerer Gegenstand noch ein inneres Erlebnis“. (BWD)

Raum wird durch Orte gefügt, er empfängt sein Wesen aus den Orten. Raum kann man nicht gestalten, da es keinen vorgängigen ungestalteten Raum gibt, dem man dann eine Gestalt verleihen kann. Raum kann man allein entwerfen, indem man Orte entwirft und fügt. Orte versammeln Raum, räumen ihn ein.

Orte entstehen von den Dingen her. Wie sie durch die Dinge im Wohnen entstehen, schildert Heidegger am Beispiel einer Brücke:

„Die Brücke schwingt sich ‚leicht und kräftig‘ über den Strom. Sie verbindet nicht nur schon vorhandene Ufer. Im Übergang der Brücke treten die Ufer erst als Ufer hervor. Die Brücke lässt sie eigens gegeneinander über liegen. Die andere Seite ist durch die Brücke gegen die eine abgesetzt. Die Ufer ziehen auch nicht als gleichgültige Grenzstreifen des festen Landes den Strom entlang. Die Brücke bringt mit den Ufern jeweils die eine und die andere Weite der rückwärtigen Uferlandschaft an den Strom. Sie bringt Strom und Ufer und Land in die wechselseitige Nachbarschaft. Die Brücke ver­sammelt die Erde als Landschaft um den Strom. So geleitet sie ihn durch die Auen. Die Brückenpfeiler tragen, aufruhend im Strombett, den Schwung der Bogen, die den Wassern des Stromes ihre Bahn lassen. Mögen die Wasser ruhig und munter fortwandern, mögen die Fluten des Himmels beim Gewittersturm oder der Schneeschmelze in reißenden Wogen um die Pfeilerbogen schießen, die Brücke ist bereit für die Wetter des Himmels und deren wendisches Wesen.
Auch dort, wo die Brücke den Strom überdeckt, hält sie sein Strömen dadurch dem Himmel zu, dass sie es für Augenblicke in das Bogentor aufnimmt und daraus wieder freigibt.“ (BWD)

Es gibt also nicht einen immer schon bestehenden Raum, in den dann die Dinge eingestellt werden, es gibt keinen von den Dingen unabhängigen Raum. Die Dinge, etwa die Brücke, konstituieren Raum, indem sie überhaupt erst die Landschaft und den Fluss und damit Raum herstellen.

Die Dinge, etwa Brücken, sind jeweils konkrete, sie „geleiten auf mannigfache Weise“. Es gibt sie etwa als Stadtbrücke, als Flussbrücke, als Bachübergang oder als Autobahnbrücke, „immer und je anders geleitet die Brücke“. Sie dient einem jeweils anderen Gefährt, mal Wagen und Gespann, mal Erntewagen oder mal Fernverkehr. Sie fügt Schlossbezirk zu Domplatz, Landstadt zu Dörfern, Flur zu Dorf oder spannt ein Liniennetz auf. Sie bringt die beiden Ufer miteinander in Beziehung, auch wenn sie sie als getrennte präsentiert. Sie macht das Flussbett zur Schlucht oder bettet es mit homogenem Niveau in die Felder. Ihre Brückenpfeiler bestimmen die Möglichkeiten des Flusses.
Aus ihrer jeweiligen Dienlichkeit heraus konstituiert die Brücke jeweilige, mehr oder weniger weite Orte und damit definite Räume.

Heidegger ging es in seinem Vortrag um eine Grundbestimmung des Daseins als Ur-sprung des Da-seins. Dabei spielen jedoch Dinge, Zeuge, Orte und Räume in ihrer Jeweiligkeit eine grundlegende Rolle. Damit macht er Aussagen über Bereiche, die traditionell in der Architektur und in der Architekturwissenschaft angesiedelt sind.


Martin Heideggers Theorie des Wohnens und der Funktionalismus

Es geht ihm aber nicht um die Symbolhaftigkeit der Architektur, nicht um Esoterik, nicht um den sinnlichen Hochgenuss von Baumaterial.
Heidegger geht es um ein von ihm neu definiertes Wohnen. Er nimmt damit eine Grundbestimmung des Menschen vor, dass er als Aufenthalt bei den Dingen versteht. Die Dinge begründen Orte, die sich zu Räumen fügen.

Heidegger geht mit einigen Funktionalisten überein, indem er die Dinge von der Dienlichkeit und indem er den Menschen vom Tun her denkt. Und damit ist er im Sinne des architektonischen Funktionalismus der 20er Jahre Funktionalist. Er stellt sich gegen die Baukünstler, die Architektur als ästhetisches Objekt ansehen.







Literatur:


Burkhard Biella, Eine Spur ins Wohnen legen. Entwurf einer Philosophie des Wohnens nach Heidegger und über Heidegger hinaus. Düsseldorf 1998.

Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927). 19. Aufl. Tübingen 2006.

Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“ (1949). In: ders., Holzwege. 8. Aufl. Frankfurt/M. 2003.

Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“ (1951). In: ders., Vorträge und Aufsätze. 9. Aufl. Stuttgart 2000. (BWD)

 




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