Zum Wohnen im 21. Jahrhundert
15. Jg., Heft 1, April 2010

 

__Eduard Heinrich Führ
Bielefeld / Cottbus
  Politik und Sachzwänge

 

    Seit geraumer Zeit werden Konzepte über alten- und behindertengerechtes Wohnen gefordert. Anlass sind aber weniger die Alten, noch die Behinderten, noch das Wohnen, sondern eine Tendenz zur Privatisierung der Vorsorge, was zum Teil in einem neuen Verständnis der Aufgaben von Staat und Gemeinschaft begründet ist. Was als Sachzwang da steht, in die Fachdisziplinen geschoben wird und dort als humane Aufgabe ernst genommen wird, ist im Grunde Ergebnis eines inhumanen Politikwandels.

Das neue Verständnis ist das Ergebnis eines langen Prozesses des Abbaus gemeinschaftlicher Verantwortung, bei der, der Viel hatte, auch viel Verantwortung für die Gemeinschaft übernahm; eine Haltung, die man teils sozialistisch, teils sozialdemokratisch, bisweilen auch soziale Marktwirtschaft genannt hat. Der Abbau gewann seine besondere Dynamik durch das Ende des Sozialismus in Europa, durch die daran anschließende rigorose Neoliberalisierung und durch das Konzept einer Neuen Sozialdemokratie. Die in diesem Zusammenhang veränderte Sozial-, Finanz- und Steuerpolitik, die damit verbundene Deregulierung, die uns die große Finanz- und darauf folgend dann auch eine Wirtschaftskrise beschert hat, ferner die Auswirkungen der Globalisierung für die Bevölkerung und die damit verbundene Schwächung der Staatsfinanzen, führen in Deutschland – trotz einer Reihe von Stadtentwicklungs- und Wohnungsbauprogrammen – dazu, dass sich die öffentliche Hand, Kirche und gemeinnützige Organisationen aus der Finanzierung von öffentlichen Einrichtungen zurückziehen und wegen der mangelhaften finanziellen Ausstattung aus ihrer Binnensicht auch zurückziehen müssen. Inzwischen ist es den Kommunen kaum noch möglich, öffentliche Bäder, Stadtbibliotheken und Sozialeinrichtungen zu finanzieren; Schulen und Hochschulen sind oft in einem elenden Zustand.

Die medizinische Versorgung ist trotz umfangreicher politischer, zum Teil auch erfolgreicher, Anstrengungen weiterhin ökonomisch in der Krise, ein Pro-Kopf-System, wie es gegenwärtig in Deutschland in der Diskussion ist, wäre ein weiterer, sehr großer Schritt hin zu dieser Entsolidarisierung. Gleichzeitig gibt es international erste Ansätze einer Tendenzwende, das im März 2010 in Kraft gesetzte neue US-amerikanische Gesundheitssystem wird sich zum Teil auch aus einer Besteuerung von Unternehmensgewinnen finanzieren.

Die mehr oder weniger selbsterzeugten Schwierigkeiten der Finanzierung öffentlicher Einrichtungen führt zu einer auch argumentativ und ideologisch untermauerten Politik der Privatisierung der Grundvorsorge, damit zu einem veränderten Staatsverständnis und zur Aufgabe eines der wichtigsten Projekte der Moderne des 20. Jahrhunderts, die sich in der Architektur am deutlichsten im kommunalen Wohnungsbau der Weimarer Republik gezeigt hat.

Nun bleiben den Bürgern die Tränen aus über diese Zustände; sicherlich auch, weil diese Institutionen seit Anfang an sozialfürsorgerisch und bevormundend konzipiert waren und auf einer sozialen Mikroebene nicht immer zu menschenfreundlichen Situationen geführt haben. Wir alle haben für unsere Eltern und Verwandte die Kämpfe mit bürokratischen Verwaltungsangestellten und mit zwar gutwilligem und in der Sache kompetentem, aber wegen der Personal- und Mitteleinsparungen völlig überfordertem Personal in den Krankenhäusern und Altenheimen geführt, um den Aufenthalt einigermaßen menschlich zu gestalten.

Die Krise wäre also auch Chance. Dabei zeigen sich grundsätzlich drei Möglichkeiten (die real stets gemischt vorkommen): Das ist zum einen der weitere Ausbau eines neoliberalen Weges, dann die vorwiegend im 19. Jahrhundert entstandene bürgerliche Familie, aber auch eine neue Gemeinschaft.

Der Ausbau des neoliberalen Weges, nach dem jeder Wolf für sich allein kämpft, was den Mächtigen die Macht gibt, führt zur Privatisierung und zu einer formalen Gleichmacherei, nach der für eine Leistung jeder das Gleiche aufbringen muss, der sie in Anspruch nimmt, wobei andererseits allerdings die Arbeitsleistung jedes Einzelnen nach ihrem unterschiedlichen Warenwert honoriert wird und die Grundlage und der produktive Anteil, der durch die von der Gemeinschaft gegründeten und getragenen Infrastruktur (im weitesten Sinne: Verkehrswege, Kommunikationsnetze, Erziehungs- und Ausbildungssysteme, Rechtsräume, Sicherheit) entsteht, verdrängt wird. Gemeinschaftlich getragene Institutionen werden aufgelöst und privat- und marktwirtschaftlich neu gegründet; Gated Communities, exklusive Krankenhäuser und elitäre Seniorenresidenzen sind das Ergebnis. Das ist in der Tat eine Möglichkeit, die sozialfürsorgerischen Fremdbestimmungen zu beenden, führt aber nur bei denen, die eine entsprechende Eigenmacht haben, zu einer Selber- und Selbstbestimmung. Zudem löst es das Problem mit dem Anlass des Problems. Der Denkraum ist ein Verständnis von Wirtschaft als Betriebswirtschaft. Zur Absicherung von systembedingten Grau- und Randzonen und zur Befriedung der Bevölkerung wird das unbezahlte Ehrenamt gefördert.

Der zweite Weg führt zur Stützung der bürgerlichen Familie, so wie sie im 19. Jahrhundert von den ‚gesellschaftlichen Kräften‘ von Staat, Kirche und Unternehmertum als biologisch in zwei Generationen begründete, private Kleinfamilie, bei der der Ehemann für externe Lohnarbeit und die Ehefrau als Hausfrau intern für die Reproduktion zuständig sein sollen und bei der die Privatheit der Familie und die urbanen und politischen Öffentlichkeiten grundsätzlich und stark voneinander getrennt sind, entwickelt und gefördert wurde. In einer Art konservativen Wende werden bisher gemeinschaftlich und über die öffentliche Hand, Kirchen und humanitäre Einrichtungen getragene Institutionen aufgelöst und die durch diese geleistete Versorgung von Alten, Kranken, Behinderten etc. individualisiert, privatisiert und in die Privatheit der Familien zurückgeführt.

Der Denk- und Werteraum des ‚Haushaltes‘ für diese Lösung ist weniger das ‚realökonomische‘ Geld, obwohl die Aktivitäten auch hier durch Anrechnung von Erziehungszeiten bei der Rente und mit Pflegegeld unterstützt und Leistungen unterschiedlicher Art ‚realökonomisch‘ in Geld erfolgen und erfolgen müssen, als vielmehr die Liebe im weitesten und im sozialpsychologischen Sinne. Dabei ist Liebe natürlich ein eher schwieriges Wertesystem. Es ist äußerst schwierig rationalisier- und formalisierbar. Es ist als ein Parallel- und Ersatzsystem zum ‚realökonomischen‘ Geldsystem gedacht, ist aber immer noch in dieses eingebunden und von ihm abhängig. Auch hier gibt es eine Art Generationenvertrag, in dem die Verpflichtungen der Eltern für das Heranziehen der Kinder aufgewogen werden mit dem Anspruch der Eltern an die Kinder, sie im Alter zu versorgen und zu betreuen.

Man sollte meinen, dass dies in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ein funktionierender Weg sein könnte. Allerdings spricht einiges auch dagegen. Die ökonomischen Werteeinheiten und Strukturen sind nicht homogen; wie man so treffend sagt, zwei Eltern können zwar acht Kinder unterhalten, acht Kinder aber nicht zwei Eltern. Liebe soll zwar ‚Berge versetzen‘ können, die durch Liebe eingegangenen Verpflichtungen sind gleichwohl ‚realökonomische‘ Lasten. Die komplette Rückführung der Lebensversorgung in die Familien scheitert heute zumeist an den hohen finanziellen Lasten und praktischen Anforderungen für die – generell gesehen – eher schwachen Ressourcen der Familien, sie konfligiert mit den prekären Arbeitsverhältnissen, mit veränderten Lebensentwürfen und Frauen- (und Männer)bildern und ganz praktisch mit der fehlenden Ausstattung mit geeignetem Wohnraum.

Der dritte Weg führt zu einer entstaatlichten Neuen Gemeinschaft. Was bisher ‚von Amts wegen‘, von oben, in großem Maßstab und institutionalisiert angeboten wurde, kann auch von unten, auf Mikroebene und privat organisiert werden. Dabei kann sich die öffentliche Hand als Ideengeber beteiligen, als Modellentwickler und – über Rahmenrichtlinien und Diskursveranstaltungen – als Förderer; die sozialfürsorgerische Bedrohung entfällt.
Allerdings fallen die Kosten der gemeinschaftlichen Institutionen nun auf die privaten Träger. Gefahren von Weg eins (Gated Commmunity) und zwei (prekäre Verhältnisse, ungeklärter emotionaler und sozialer Beziehungshaushalt) bleiben bestehen.




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