Zum Wohnen im 21. Jahrhundert
15. Jg., Heft 1, April 2010

 

___Wolfgang Zwafelink
B
raunschweig
  Eine neue Stadtarchitektur

 

   

Wir erleben gegenwärtig eine Entwicklung, in der sich unsere Vorstellungen vom Leben, vom Zusammenleben, von Kommune, von Lebenszuversicht und -sicherheit ändern. Auf die Gründe dazu kann hier nicht eingegangen werden, diese Tendenz fordert aber die Entwicklung neuer Konzepte, neuer Planungsstrukturen und -verfahren. Die Menschen lassen sich immer weniger von überlieferten Lebensformen beeinflussen und von den traditionellen Instanzen bestimmen. Sie wollen ihr Leben in ihre eigenen Hände nehmen und wollen vorsorgen, dass ihnen dies bis ins hohe Alter gelingt.
Die Frage nach dem Wohnen und dem Quartier der Zukunft stellt sich immer drängender. Lebensstile und Haushaltstypen werden vielfältiger und sind heute sehr viel öfter als früher Veränderungen unterworfen. Neue Wohnkonzepte, die individuelle und flexible Nutzungen ermöglichen, sind daher gefragt.

Das Verständnis vom „Neuen Wohnen“ geht nachdrücklich über das einzelne Haus hinaus und richtet sich an den umgebenden Stadtraum. Generelles Ziel ist es, dem einzelnen Bauherrn auf seinem Baugrund eine individuelle, qualitätvolle Architektur zu ermöglichen und dabei gleichzeitig den städtebaulichen gestalterischen Zusammenhang des umgebenden Quartiers im Auge zu behalten.
Es besteht ferner die Tendenz der Bürger, wieder stärker den Kontext mit der Stadt, mit ihren ökonomischen, sozialen und kulturellen Einrichtungen zu suchen. Sie resultiert aus der Einsicht, dass das Leben auf dem Lande, das die Notwendigkeit zu vielen Autofahrten (zweites Auto) mit sich bringt, die zumeist auf das Familienmitglied, das zeitlich am disponibelsten ist, zurückfallen, doch nicht so ökologisch und familienfreundlich ist. Zudem haben viele Menschen erkannt, dass das Leben in der Stadt alters- und behindertengerechter sein kann.


Vielfalt in der Einheit

Die Menschen sehen die Notwendigkeit, eine Gemeinschaft zu bilden, in der dies Ziel in Freiheit von Zwang aber mit aller gebotenen Zuverlässigkeit gemeinsam herausgebildet, umgesetzt und nachhaltig garantiert wird. Die Kommune, die durch ihre infrastrukturellen, sozialen und kulturellen Versorgungs- und Vorsorgeleistungen bisher Träger der Gemeinschaft gewesen ist und Identität von oben nach unten gebildet hat, sieht sich immer mehr in der Verantwortung für den Rahmen und gibt den Bürgern immer stärker die Aufgabe, Gemeinschaft von unten nach oben zu bilden. Sie kann und sollte selbstbestimmt, lebendig, flexibel und nachhaltig sein.
Bei der Entstehung kann die Kommune behilflich sein, etwa indem sie geeignete Quartiere ausweist oder indem sie entsprechende Prozesse steuert.

In Braunschweig, um ein Beispiel anzusprechen, hat sich die Kommune entschlossen, zusammen mit möglichst unterschiedlichen privaten Einzelbauherren ein vielfältiges, lebendiges Quartier zu entwickeln. Um diesen zahlreichen Ansprüchen an Planung und Durchführung und unserer neuen Rolle als Projektentwickler gerecht zu werden, mussten neue Wege beschritten werden. Ich möchte am Beispiel des Wohnprojekts „St. Leonhards Garten“ einen Überblick über unsere gewählten Verfahrensschritte geben und damit die Komplexität von Projektentwicklung, Planungsprozess und Partizipation aufzeigen.

Es ist uns bereits gelungen, im Zuge der Initiative „Neues Wohnen in Braunschweig“ eine Reihe von Brachflächen sowie kleine und größere Baulücken wieder in einen Nutzungszusammenhang zu stellen und mit attraktiver Stadtarchitektur zu bebauen. Allerdings war es bisher nur punktuell möglich, attraktive innerstädtische Wohn- und Lebensbedingungen zu schaffen. Die tatsächliche Nachfrage ist weitaus höher. Viele Familien, ältere Paare, Einzelpersonen und andere Bauwillige sind auf der Suche nach qualitativ hochwertigem Wohnraum. Die von vielen bevorzugte integrierte Wohnlage innerhalb der Stadt wird aber allzu oft aus Mangel an geeigneten Möglichkeiten und Angeboten gegen ein freistehendes Einfamilienhaus am Stadtrand oder gar im Umland der Stadt eingetauscht. Die bis vor kurzem beobachtbare Umlandabwanderung von Familien, insbesondere wenn sie Eigentum erwerben, scheint rational, erfolgt aber tatsächlich überwiegend unfreiwillig, denn diese Haushalte können das familiengerechte Wohnungsangebot (Preis-Leistungs-Verhältnis) in den Innenstädten nicht finden.

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Abb. 1:
„St. Leonhards Garten“, Braunschweig,
Lageplan

 

In diesem Kontext suchen wir bereits seit Jahren geeignete Bereiche, die einen Ausweg aus diesem Dilemma ermöglichen. Das zur Verlagerung vorgesehene Stadtbahndepot eröffnete Chancen für eine ambitionierte Reaktivierung. Vor diesem Hintergrund habe ich den Anstoß zur Projektidee „St. Leonhards Garten“ gegeben. Hier ist ein lebendiges, offenes Wohnquartier geplant. Durch unterschiedliche Bautypologien wird ein generationsübergreifendes Wohnquartier realisiert. Als Projektgebiet stellte sich als besonders günstig in Bezug auf Lage und Grundstücksgröße das Areal des Stadtbahndepots im Östlichen Ringgebiet heraus. Mit den Standortqualitäten dieses bevorzugten Wohngebiets wie einer guten Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel und an das übergeordnete Straßennetz, vor allem aber der Nähe zum Stadtzentrum (ca. 1500 Meter) und der fußläufigen Erreichbarkeit von Einkaufsmöglichkeiten (Discounter und Fachhandel), privaten und öffentlichen Dienstleistungsangeboten (Banken, Ärzte Schulen, Krankenhäuser u. a.) und kulturellen Institutionen werden wesentliche Voraussetzungen für das Mehrgenerationenwohnen erfüllt. Insgesamt werden auf dem Gesamtareal 150 bis 180 Wohneinheiten in einer drei- bis viergeschossigen Bauweise entstehen. Es werden mindestens ein 50-prozentiger Anteil von Einfamilien-Stadt-Häusern und ein maximaler Anteil von 50 Prozent an Wohnungen in mehrgeschossigen Stadthäusern bei Wohnungsgrößen von etwa 100 bis 180 Quadratmetern angestrebt. Wir sind auch dabei, einen gewissen Anteil der Mehrgeschosswohnungsbauten in Zusammenarbeit mit Investoren oder Bauträgern zu projektieren.


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Abb. 2:
Schema der Lenkungsgruppe

 

Moderations- und Planungsteams

Bereits 2005 haben unsere Vorbereitungen für die Planung des neuen urbanen Stadtquartiers begonnen, eine „Lenkungsgruppe“, die sich aus Mitarbeitern verschiedener Ressorts des Baudezernats und aus einem externen Architekturwissenschaftler zusammensetzte, wurde eingerichtet. Diese Lenkungsgruppe funktionierte als „Motor“ des Projekts. Sie koordinierte einzelne Verfahrensschritte, bereitete sie zu einem großen Teil selbst vor, delegierte aber auch Teilleistungen wie professionelle Öffentlichkeitsarbeit, Moderations- und Koordinationsaufgaben an entsprechende Büros.

Dass mit „St. Leonhards Garten“ ein „neuer Weg“ beschritten wird, liegt an der Projektinitiierung durch uns, der Stadt Braunschweig, und der für einen solchen Prozess notwendigen Öffnung der Verwaltung nach außen, nicht nur bezogen auf die Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch auf der organisatorischen Ebene. Durch die Zusammenarbeit mit einem Koordinator, der eine wichtige Schnittstelle zwischen der Stadt und den Bauherren markierte, und den zusätzlich agierenden Moderatoren stellte sich die Stadt im fortlaufenden Planungsprozess zunehmend als Planungspartner der Bauherren.

Es galt zunächst, frühzeitig Klarheit zu gewinnen, über die Ausrichtung des Projekts „St. Leonhards Garten“ hinsichtlich angestrebter Zielsetzungen ebenso wie über angewandte Planungsverfahren. Die im Rahmen unserer Exkursionen vorgenommenen Besichtigungen der Wohnungsbauten und Stadtquartiere waren nicht ohne Einfluss auf unsere Entscheidungen für die weitere Projektentwicklung bzw. für die bewusste Gestaltung des Planungsprozesses.


„St. Leonhards Garten“ – ein Bundesmodellprojekt

Es gab also gute Gründe, sich mit dem Wohnbauprojekt „St. Leonhards Garten“ für das ExWoSt-Forschungsfeld (Experimenteller Wohnungs- und Städtebau) des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (BBR) „Innovation für Familien und altengerechte Stadtquartiere“ zu bewerben. Die von uns formulierten inhaltlichen Bausteine, die mit der Zielsetzung eingereicht wurden, eine Förderung vom BBR zu erhalten, bestanden in erster Linie in einer wissenschaftlichen Begleitung, Betreuung und Dokumentation des komplexen Planungs- und Moderationsprozesses.

Aus ca. 140 Bewerbungen konnten wir uns neben acht anderen Städten mit dem Projekt „St. Leonhards Garten“ durchsetzen und erhielten bis in das Jahr 2009 hinein Fördermittel aus dem ExWoSt-Programm. Das Auswahlgremium des BBR hat den innovativen Charakter des Planungsprozesses für „St. Leonhards Garten“, aber auch die komplexen inhaltlichen Zielsetzungen als beispielhaft und förderungswürdig anerkannt.
Ein Teil des experimentellen Charakters von „St. Leonhards Garten“ kennzeichnete unser Bemühen, durch strategische Schritte in einem moderierten Planungsprozess die Herausbildung von nachbarschaftlichen Strukturen zu unterstützen.


Internationales mehrstufiges Wettbewerbsverfahren

Die bereits im ExWoSt-Antrag ausformulierten Zielsetzungen bildeten die Grundlage für den im Oktober 2006 ausgelobten Wettbewerb, der in drei Phasen angelegt war. Begonnen wurde mit einer für alle teilnahmeberechtigten Personen offenen Bewerbungsphase, bei der eine Ideenskizze zum Wettbewerb oder eine Liste mit Referenzen zu realisierten Projekten eingereicht werden musste. Aus den 250 Bewerbern wurden von der Jury im November 2006 neben acht geladenen Teilnehmern insgesamt 45 Architekturbüros zur weiteren Bearbeitung für die zweite Phase des Wettbewerbs empfohlen. In dieser Phase ging es um die Konzeption einer städtebaulichen Vorzugslösung für das gesamte Planungsgebiet unter den Prämissen einer Berücksichtigung der bestehenden Baustrukturen und einer Realisierung in Teilabschnitten sowie einer Anlehnung an die gründerzeitliche Bebauung.

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Abb. 3:
Städtebaulicher Entwurf von
Klaus Theo Brenner

 

Die angemessene Gestaltung und Dimensionierung der öffentlichen Räume, die Schaffung von Optionen für vielfältige Wohnungstypologien und von Möglichkeiten zu unterschiedlichen Arten der Realisierung sind nur einige der allgemeinen Empfehlungen des Preisgerichts für die Bearbeitung dieser zweiten Planungsphase. Da sowohl der erste Preis des Architekturbüros Hinrichs Wilkening Architekten (Berlin) als auch der zweite Preis des Berliner Architekturbüros Klaus Theo Brenner einen städtebaulich ähnlichen Ansatz zum Ergebnis hatten – im Mittelpunkt beider Entwürfe steht die Schaffung eines großen gemeinschaftlichen Platzes mit einer klaren Form und einer hohen atmosphärischen Dichte – wurden beide Entwürfe zur öffentlichen Diskussion gestellt. Eine erste Bauherrenabfrage u. a. zur städtebaulichen Präferenz erfolgte über einen Fragebogen, sie hatte eine deutliche Zustimmung für den Entwurf Klaus Theo Brenners zum Ergebnis und signifikanten Einfluss auf die Entscheidung der politischen Gremien der Stadt Braunschweig, diesen Entwurf zur Grundlage für die weitere Bearbeitung, für den Masterplan und letztendlich für den Bebauungsplan zu nehmen.

Zur anschließenden dritten Phase des Wettbewerbsverfahrens, die eine architektonische und typologische Vertiefung auf Basis der ersten beiden Wettbewerbsgewinner vorsah, wurden die Verfasser aller zehn prämierten Arbeiten aufgefordert. Die Aufgabenstellung bestand nun hauptsächlich darin, variierende Haustypologien und Architekturen innerhalb eines ganzheitlichen Anspruchs zu entwickeln, Beispiele für Gestaltungsprinzipien abzuleiten, Interpretationsspielräume innerhalb des stringenten städtebaulichen Grundrisses aufzuzeigen und den Charakter des Stadtplatzes zu konkretisieren. Mit dieser Erarbeitung von Bau- und Wohntypologien in der dritten Wettbewerbsphase war ein ungewöhnlich in die Tiefe recherchiertes, umfangreiches Material mit Grundrissbeispielen zu Stadthäusern und Geschosswohnungsbauten entstanden. Dementsprechend beauftragten wir die ersten drei Preisträger damit, eine gestalterisch-funktionale Rahmenkonzeption zu erarbeiten, die in Form eines Handbuchs veröffentlicht wurde.


Symposium zum Thema „Zukunft des Wohnens“

Beginnend mit der Auftaktveranstaltung und dem öffentlichen Rückfragenkolloquium zum Wettbewerb im Dezember 2006 hat die Stadt eine weit gefächerte Reihe von Veranstaltungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zum Thema Neues Wohnen / Zukunft des Wohnens eingeleitet. Den Publikumsveranstaltungen folgten Fachsymposien, Architektenbörse und vertiefende Info- und Beteiligungsveranstaltungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Insbesondere die Auseinandersetzung mit teils vergleichbaren Projekten wie die Werkbundsiedlung München, dessen Architekt Kazunari Sakamoto (Tokio) im Symposium seine Gedanken zur Diskussion gestellt hat, wie auch die Akteure des Projekts „Französisches Viertel in Tübingen“, haben Gegenmodelle in die Diskussion eingebracht und damit alternative Horizonte präsentiert.


Architektenmesse – Kontaktbörse für Bauinteressenten

Neben diversen Informationsveranstaltungen wurde die Öffentlichkeit 2007 in einer mehrtägigen Veranstaltung unter Beteiligung von Architekten, Fachvertretern (Immobilien, Finanzen) mit breit gefächerten Informationen und Beteiligungsmöglichkeiten unterrichtet; u. a. wurden andere Planansätze diskutiert (Werkbundsiedlung München, Loretto-Areal in Tübingen).


Die „Spielregeln“ und die Mitwirkung der privaten Bauherren

Es sollten also in der Planung z. B. Gesichtspunkte des Universal Design als Gestaltungsprinzip für Mehrgenerationennachbarschaften berücksichtigt werden. Als Instrument zur Qualitätssicherung wurde in „St. Leonhards Garten“ mit Spiel- und Gestaltungsregeln gearbeitet, die einerseits eine architektonische Einheitlichkeit der individuellen Stadt- und Doppelhäuser unterstützen, zugleich aber individuelle Gestaltungsfreiheit, lebendige Vielfalt und individuelle Identifikation ermöglichen sollen. Wir wollten gewissermaßen an unsere Erfahrungen anknüpfen, Antworten zur „Zukunft des Wohnens“ in Verbindung mit einer verbindlichen Festlegung von „Spielregeln zum Bauen“ mit unterschiedlichen Wettbewerbskonzepten und konkreten Projekten zu suchen und zu diskutieren.

Dies geschah auch im Hinblick darauf, dass eine frühzeitige Mitwirkung der Bürger und eine offen geführte Diskussion mit ihnen über Regeln, die später für sie verbindlich gelten, vermutlich zu einer besseren Akzeptanz führen würden. Das „Handbuch zum Bauen in St. Leonhards Garten“, das in ausführlichen Texten eine Erläuterung der konkreten und verbindlichen „Spielregeln“ beinhaltet, haben die Bauinteressenten u. a. mit der Beantwortung der Fragebögen mitgestaltet und ausformuliert.

Mit der Herausgabe dieses Gestaltungshandbuchs ist es gelungen, den privaten Bauherren sehr früh einen kompakten Überblick, insbesondere auch über die wesentlichen Bewerbungsschritte zum Erhalt einer Grundstücksoption und weitere Anforderungen, zu vermitteln.

Bereits im Wettbewerbsverfahren wurde der Zusammenschluss zu Baugruppen von einzelnen privaten Bauinteressenten für den Eigenbedarf als Selbstnutzer favorisiert. Das Verfahren richtete sich in erster Linie an private Bauherren, an junge Familien mit Kindern und an die Generation 50+, die sich zu Baugruppen zusammenschließen mussten. Erst in zweiter Linie werden Bauträger und andere Modellformen zum Zuge kommen. Unser modellhafter Ansatz bestand nun darin, die Projektteilnahme der privaten Bauherren, d. h. den Erhalt einer Grundstücksoption, an die Bildung einer Baugruppe zu binden. Damit war ein durchgängiger partizipatorischer Ansatz in diesem Planungsprozess bereits implementiert. Bauinteressierte wurden in mehreren Schritten von ihrem Interesse bis zur Bildung der eigentlichen Baugruppe begleitet.
 

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Abb. 4: Modellfoto

 

Moderation und Spielregeln

Dafür setzten wir Moderatoren in den Baugruppen ein. Das Bauen in der Gruppe stellte uns vor besondere Herausforderungen, der wir durch Fortbildung der Moderatoren und einer entsprechenden finanziellen Unterstützung begegnen konnten. Dies sind Bausteine einer konsequenten Strategie zur Durchführung eines kooperativen Planungsprozesses.
Kommen wir zurück zur Qualitätssicherung. Die „Spielregeln“ beinhalten die wesentlichen Anforderungen, doch es verbleiben Verhandlungsspielräume: Dass diese „Spielregeln“ durchgesetzt und eingehalten wurden, dafür sorgte ein Gestaltungsbeirat, der sich aus den Architekten, die den Wettbewerb gewonnen hatten, sowie einer wissenschaftlichen Begleitung und aus Vertretern der Stadt Braunschweig zusammensetzte. Jede Baugruppe konnte sich mit ihrem planenden Architekten für die Entwurfsplanung von diesem Gremium beraten lassen.


Entwurf gegen Grundstück

Die Entwurfsplanungen der Baugruppen mussten fristgerecht eingereicht werden und wurden unter Erteilung von Auflagen oder Empfehlungen genehmigt. Erst wenn dieses Verfahren von den Baugruppen absolviert war, erfüllten die Baugruppenmitglieder die Voraussetzungen zum tatsächlichen Erwerb des Grundstücks. Im Losverfahren hatten sie eine Option auf das Grundstück erhalten. Dieses verbindliche Verfahren stellte einen wesentlichen Baustein zur architektonischen Qualitätssicherung und eine Stärkung der architektonischen Planung dar, zum einen allein dadurch, dass sie gefordert wurde, zum anderen, weil sie sich an bestimmten Qualitätskriterien messen lassen musste.
 

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Abb. 5:
Marketing, Information, Vernetzung

 

 

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Abb. 6: :
Webcam Straßenbahndepot

 

 

Öffentlichkeit als Gütesiegel

Die frühzeitige Verschränkung der Öffentlichkeitsarbeit mit variantenreichen Veranstaltungen und partizipativen Elementen sowie die begleitenden inhaltlich präzisen Dokumentationen haben zu einer hohen Beteiligung und Motivation der angesprochenen Zielgruppen geführt, den einzelnen Prozessschritten über den Zeitraum von zwei Jahren engagiert zu folgen und Angebote zur Partizipation anzunehmen. Besonders hervorzuheben ist die Öffnung der Stadtverwaltung nach außen in Form einer ständigen Dialogbereitschaft mit dem Bürger, die durch diese Form der Öffentlichkeitsarbeit ermöglicht wurde. Es entstand durch die auch öffentlich wahrnehmbare Initiierung des Projekts seitens der Stadt Braunschweig frühzeitig eine Art Gütesiegel für ästhetische Qualität und ein Signal für Planungssicherheit, nicht unerheblich unterstützt dabei von dem Status als Bundesmodellvorhaben.

Durch die Übergabe der Moderation und Koordination an einen externen Ansprechpartner, der weder in Aufgabengebiete der Stadt oder selbst in einer Baugruppe involviert war, erhielt das Planungsverfahren eine wichtige Mitte. Neben der kontinuierlichen Präsenz und Ansprachebereitschaft, der Übernahme von Aufgaben, wie der Konzeption und Moderation von öffentlichen Veranstaltungen, ist es besonders die Funktion eines Mediators, der zwischen unterschiedlichen Interessenkonflikten vermittelnd tätig wurde, die diese Rolle auch für zukünftige Projekte vorbildlich macht.

Das Gelände des Straßenbahndepots ist geräumt, öffentlich erschlossen und es wird seit Anfang November 2009 gebaut.
Die Baugruppen haben sich gefunden. Unterschiedlichste Planungsvorstellungen wurden diskutiert, geordnet, die Entwurfsplanungen haben den Gestaltungsbeirat durchlaufen. Damit konnte sich die Stadt Braunschweig aus diesem Teil des Verfahrens verabschieden. Nach heutigem Stand sind die zwölf Baugruppen mit je drei bis zehn Mitgliedern soweit, dass ab 2009 gebaut wird. Es gibt weiterhin Arbeitsgruppen zum Thema Platzgestaltung und Quartierstreff. Die Projektentwicklung für institutionelle und gewerbliche Investoren dauert an.

Die Skizze dieses Braunschweiger Wohnprojekts „St. Leonhards Garten“ macht sehr deutlich, welche Möglichkeiten der Steuerung die Kommune, in diesem Falle in der Rolle als Urheber und Moderator, bei der Gestaltung des Rahmens eines innovativen Planungsverfahrens aktiv wahrnehmen kann. Ein solcher Planungsprozess beansprucht einen langen Zeitraum, bindet unterschiedlichste Ressourcen der städtischen Verwaltung und wirft natürlich auch die Frage nach notwendigen und vorhandenen Kompetenzen der unterschiedlichen internen und externen Projektbeteiligten für die Gestaltung von Stadt auf.
In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend auf die mir wichtigsten Handlungsfelder eingehen, auch darauf, dass es besonderer Kompetenzen bedarf, um in einem solchen Planungsprozess organisatorisch, juristisch, technisch, architektonisch, sozial und klug agieren zu können. Wir haben fünf Aufgabenfelder definiert, die über die normalen Handlungsfelder von Architekten und Planern hinausgehen, die uns aber für einen Projekterfolg ganz wichtig erscheinen.


Kompetenzen und Aufgaben für die Gestaltung eines innovativen Planungsverfahrens

Das erste Aufgabenfeld ist die Vermittlung der Projektkonzeption und die Architekturvermittlung gegenüber der Öffentlichkeit und den Medien. Es besteht daraus, frühzeitig künftige private und institutionelle Investoren, wie z. B. Baugesellschaften und Bauträger etc., zu informieren, zu kontaktieren, dabei die kommunalen Gremien zu beteiligen und so den ersten Schritt für eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit für das Projekt auf den Weg zu bringen.

Das zweite Aufgabenfeld ist ein Aufgabenfeld, das sich normalerweise in den Kommunen, in den Städten kaum stellt, aber bei einem solchen Modellvorhaben zwingend notwendig ist: die wissenschaftliche Begleitforschung. Sie kann natürlich in keinem Falle von den Beteiligten innerhalb des Hauses, der städtischen Verwaltung, geleistet werden, sondern muss in jedem Falle extern vorgenommen werden. Organisiert wird dieses Aufgabenfeld jedoch von der Stadt.

Im konkreten Fall für das Projekt „St. Leonhards Garten“ gab es mehrere Felder der Begleitforschung, die entsprechend von unterschiedlichen Forschern übernommen wurden. Dazu musste mit den Begleitforschern der Rahmen für ein gemeinsames Forschungskonzept entwickelt werden, u. a. mit dem Ziel, die Übertragbarkeit, die Modellhaftigkeit, einzelner Verfahrensschritte auf andere Projekte innerhalb der Stadt, aber auch bundesweit und darüber hinaus, abzuleiten. Dies erfordert eine Begleitforschung, die von Beginn an jeden einzelnen Schritt des Planungsprozesses begleitet und analysiert sowie anschließend in einem Forschungsbericht dokumentiert, in dem die entsprechenden Strategieansätze zusammenfassend aufgezeigt und darüber hinaus Möglichkeiten für weiteren Entwicklungsbedarf angedacht werden.

Die Impulse, die durch eine kontinuierliche wissenschaftliche Begleitung in den Planungsprozess einflossen, sind nach unserer Erfahrung positiv zu beurteilen: insbesondere der kritische Blick von außen auf das Projekt, die Achtsamkeit der wissenschaftlichen Begleitung, die angestrebten übergeordneten Zielsetzungen im Verlauf dieses komplexen Planungsprozesses nicht aus dem Fokus zu verlieren, für die Präsenz der Diskussion übergeordneter Ziele im Kontext des Projekts zu sorgen.

Das dritte Aufgabenfeld umfasst das Projektmanagement, ein Aufgabenbereich der Koordination der öffentlichen und privaten Belange räumlicher, zeitlicher, verwaltungstechnischer und finanzieller Art. Eine Investitionsplanung und -steuerung gehört ebenso dazu wie beispielsweise der Entwurf eines Stufenszenarios für die Projektentwicklung.

Im vierten Aufgabenfeld befindet sich die begleitende Moderation des Planungsprozesses, die sich im Gegensatz zu den Koordinierungsaufgaben von den jeweiligen Projektinhalten her bestimmt.
Die Moderation wendet sich im Wesentlichen an die Investoren des Gebiets, wie z. B. zunächst an die privaten Bauherren bzw. später an die Baugruppen. Wir haben es mit einer hohen Anzahl von Akteuren mit sehr unterschiedlichen Planungsvorstellungen zu tun, die unter einem übergreifenden Rahmenplan zusammengeführt werden müssen.

Das fünfte Aufgabenfeld setzt sich aus Aufgaben sowohl aus dem planerischen als auch aus dem Managementbereich zusammen: die Organisation und Vermarktung der Baukonzeptionen. Gemeint sind beispielsweise typische Arbeiten aus dem Bereich der vorbereitenden und verbindlichen Bauleitplanung, wie die Definition von Baufeldern und Baumassen, die Bildung von Bauabschnitten etc. Ein Grundstücksvergabeverfahren für die Baugruppen musste justiziabel gestaltet und durchgeführt werden, parallel dazu wurden Teilprojekte, die gewerblichen Charakter haben, EU-weit ausgeschrieben und vergeben. Einzelne Projekte wurden individuell begleitet und in der Bewältigung der jeweiligen formalen und planerischen Hürden unterstützt.

Diese fünf beschriebenen Aufgabenfelder stellt die Kommune, wenn sie der Rolle als Initiator und dem Anspruch an Innovation gerecht werden möchte, vor große Herausforderungen. In einer ressortübergreifenden Lenkungsgruppe arbeiten wir als städtische Verwaltung mit externen Planungspartnern über einen langen Zeitraum zusammen, mit Planungspartnern, die es nicht eben gewohnt sind, zusammen zu arbeiten. Hinzu kommt, dass ich bei 1.400 Mitarbeitern in der Bauverwaltung beispielsweise im Jahr mit einer hohen personellen Fluktuation rechnen muss. Insgesamt etwa 100 bis 150 Mitarbeiter, etwa die Hälfte davon sind externe Projektmitarbeiter, scheiden jährlich aus, weil sie in den Ruhestand oder sonst wohin hingehen.

In einem laufenden Planungsprozess findet also zusätzlich ein ständiger personeller Erneuerungsprozess statt. Von diesen jährlich 100 bis 150 neuen Mitarbeitern werden ungefähr 20 bis 25 Prozent mit Aufgaben betraut, die man wirklich als kreativ kennzeichnen kann (Planer, Architekten etc.). Gerade wenn man sich schwerpunktmäßig auf Modellprojekte konzentriert, die als Leuchtturmprojekte der Stadt wichtige Impulse liefern sollen, stellt sich daher gleichzeitig die Frage nach den Kompetenzen bzw. der Qualifikation der jetzigen und der zukünftigen Mitarbeiter neu.
Urteilsfähigkeit, Verhandlungsgeschick, die Fähigkeit Probleme früh zu erkennen, zu definieren, aber auch zu lösen, im Sinne von „
Troubleshooting“ auch systemimmanente Probleme zu identifizieren, gehören zu den wichtigsten Grundanforderungen, die ich an dieser Stelle nennen möchte, der Teamfähigkeit kommt eine besonders große Bedeutung zu.

Für die Kommune als Urheber und Moderator eines von Anfang an offenen und interaktiven Planungs- und Beteiligungsprozesses heißt das, dass wesentliche Projektentscheidungen nicht einsam im Rathaus oder anderswo, sondern in einem Diskurs zwischen Baudezernat als Projektträger, den involvierten Architekten und Planern, den Bauinteressenten, den Anliegern und vielen anderen Beteiligten entstehen. Das erfordert ein hohes Maß an Engagement, die beschriebenen Aufgabenfelder verlangen einen ständigen Perspektivwechsel der Projektbeteiligten, sie müssen mit hohen Kommunikationsanforderungen umgehen. Dieses Engagement lohnt sich als Kommune. Entstehen doch langfristig auf diese Weise Planungs- und Kommunikationsstrukturen, die den Bürger in seiner Selbstbestimmung unterstützen und einem Anspruch an Planungs- und Baukultur sowie nachhaltige Stadtentwicklung wirklich nahe kommen.





Abbildungsnachweis:

Abb. 1: Stadt Braunschweig (Hg.), Handbuch zum Bauen in St. Leonhards Garten. Braunschweig 2008, Titelblatt
Abb. 2-4: Stadt Braunschweig (2009)
Abb. 5: Heike Wehrmann-Ernst, Wahlverwandtschaften. Baugruppen in einem Planungsprozess zwischen Qualitätsmanagement und Partizipation. Masterarbeit BTU Cottbus 2009 (unveröffentlicht), S. 45
Abb. 6: Stadt Braunschweig: www2.braunschweig.de/webcam/stleogarten.jpg [Stand 22.01.2010]

 


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