Zum Interpretieren von Architektur
Theorie des Interpretierens

12. Jg., Heft 2, Dezember 2008

 

___Sabine Ammon
Berlin
  Interpretieren, Verstehen, Wissen – Zur Kognitivität der Architektur

 

   

In vielfältiger Weise prägt Interpretation den Umgang mit Architektur: am auffälligsten wird dieser Umstand sicherlich, wenn eine Kunsthistorikerin ein antikes Bauwerk in seinem historischen Umfeld analysiert oder ein Kritiker die neueste Schöpfung der Stararchitektin bespricht. Doch das Interpretieren in der Architektur beschränkt sich nicht auf die Deutung von Bauwerken. Anders als der erste Eindruck vermuten ließe, sind Interpretationsprozesse im Bauwesen weit häufiger anzutreffen. Bereits in den Entwurfs- und Gestaltungsprozessen, aber auch in der Bauausführung oder in der Benutzung von Bauten sind zahlreiche Interpretationsprozesse beteiligt. Zu oft werden diese alltäglichen Interpretationen von der exponierten Form, Architektur als Kunstwerk zu interpretieren, verdeckt. Ziel dieses Beitrages ist daher, die Aufmerksamkeit auch auf andere Formen der Interpretation zu lenken.

Interpretation ist eng mit dem Begriff des Zeichens verbunden. Um das große Spektrum der Interpretationsprozesse im Bereich der Architektur sichtbar zu machen, hilft der Rückgriff auf die Zeichentheorie. Daher wird der Abschnitt zu Fragen der Interpretation durch einen kurzen Exkurs in die Grundlagen der Zeichentheorie ergänzt. Die Einführung entwickelt sich entlang des Ansatzes Nelson Goodmans, der für eine umfassende Betrachtung als besonders geeignet gelten darf. Anschließend soll in den verschiedenen Bereichen des Bauwesens geprüft werden, wo überall Zeichensysteme und Zeichenfunktionen anzutreffen sind. Über den zeichentheoretischen Zusammenhang erschließt sich auch die kognitive Dimension der Architektur. Sie verweist auf eine enge Verbindung mit Verstehen und Wissen, die am Ende dieses Beitrags beleuchtet werden soll. Dabei wird sich zeigen, dass Interpretation nur einen Ausschnitt der umfangreichen Zeichenprozesse darstellt. Werden sie insgesamt betrachtet, erschließt sich, inwiefern Architektur auch als Form des Wissens gelten darf.


Interpretieren im Bauwesen

Interpretieren setzt immer das Deuten von etwas voraus, das in einem Prozess genauer bestimmt wird.[1] Was gedeutet wird, soll im Folgenden unter dem Begriff des Zeichens gefasst werden. Er beschränkt sich nicht auf schriftsprachliche Notationen oder feststehende kulturhistorische Symbole, sondern kann grundsätzlich jeden Gegenstand oder jedes Ereignis umfassen. Im Interpretationsprozess wird etwas zum Zeichen. Es tritt ein Bruch mit dem Alltäglichen, Vertrauten, Routinierten ein; es wird eine Distanz geschaffen zu dem, was gedeutet werden soll. Interpretation beginnt, wenn Zeichenverwendungen Fragen aufwerfen und als Zeichen gelesen werden müssen. Dies kann aus einer Notwendigkeit heraus geschehen, um weiter fortzufahren. Dazu gehört beispielsweise der Fall, wenn ein Plan nicht auf Anhieb zu verstehen ist – sei es, weil ungewohnte Symbole eingesetzt werden, mir die räumliche Zuordnung nicht gelingt oder Teile unleserlich geworden sind. Der Umstand kann aber auch gezielt herbeigeführt werden, wenn etwas in seinen Zeichenfunktionen untersucht wird, um neue Bezüge und Zusammenhänge herzustellen oder zu hinterfragen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Gebäude in seinem Werkkontext oder seiner Typologie untersucht wird oder sein Ausdruck und dessen vielfältige Bezugnahmen analysiert werden.

Das Interpretieren von Zeichen ist als ein aktiver Prozess zu verstehen, der sich allmählich einer Lösung annähert. Er fordert ein hartnäckiges Ausprobieren; es wird gestestet und überprüft, gefolgt von Revisionen und Variationen; der Probedurchlauf beginnt von neuem, bis sich ein zufrieden stellendes Ergebnis abzeichnet. Vielfältige Faktoren können in diesen Vorgang einwirken: zu nennen wären beispielsweise Kontextbedingungen, Hintergrundwissen, Erfahrungswissen oder verinnerlichte Praktiken. Von entscheidendem Einfluss sind vorgängige Zusammenhänge und frühere Interpretationsprozesse, denn die neue Deutung wird immer im Zusammenhang mit etablierten Zeichenpraktiken und -funktionen vorgenommen. Der Ablauf gleicht in gewisser Hinsicht einem Entwurfsvorgang.[2] Begonnen wird mit einer groben Skizze oder einem Vorentwurf, der auf einer ursprünglichen Idee und einem reichen Erfahrungsschatz früherer Baumaßnahmen beruht. Im weiteren Verlauf wird dieser Entwurf präzisiert. Immer wieder werden Überarbeitungen fällig, da weitere Faktoren berücksichtigt werden müssen. In der Ausgestaltung sind die Wünsche der Bauherren ebenso zu berücksichtigen wie die Ansprüche der Fachplaner und die Gesetze der Baustatik und -physik. In einem kreativen Prozess werden diese Einflüsse zusammengeführt, miteinander abgewogen und zu einem funktionierenden Ganzen entwickelt. Pragmatische Erwägungen, in der Regel ein enger Kosten- und Zeitrahmen, werden irgendwann zum Abbruch des Prozesses führen, um mit der Bauausführung zu beginnen.

Ebenso wie die Planung eines Gebäudes bestimmte Kriterien erfüllen muss, um zu funktionieren und in dieser Form umgesetzt zu werden, gibt es auch bei der Interpretation Kriterien, die erfüllt sein müssen, um als richtige Interpretation zu gelten. Die Suche nach der Richtigkeit lässt sich im Anschluss an Überlegungen von Goodman und Elgin als Gleichgewichts- oder Abwägungsprozess charakterisieren.[3] Das fragliche Zeichen wird in den Zusammenhang mit dem bestehenden Zeichensystem gebracht; es wird versucht, das Zeichen einzupassen und in seiner Wirkung auszutesten. Geprüft wird hierbei, ob die Interpretation als neues Zeichengefüge kohärent und konsistent ist, denn sie darf nicht im Widerspruch zu anderen Zeichenverwendungen stehen. Sollte sich eine solche Situation ergeben, gilt es abzuwägen, wo Überarbeitungen vorgenommen werden: Ist möglicherweise die Interpretation falsch angelegt, oder sind bestehende Überzeugungen und Praktiken zu revidieren? Welche Wirkung folgt aus der Überarbeitung? Kann das Ausgangsproblem gelöst werden, ergeben sich neue Einsichten? Auf diese Weise können auch Missverständnisse und Fehler aufgedeckt werden.

Wie umfangreich ein Interpretationsvorgang wird, ist sehr unterschiedlich. Hier öffnet sich ein breites Spektrum. Durch zunehmende Vertrautheit können anfänglich komplexe Interpretationen allmählich immer routinierter werden, bis sie schließlich in eine unhinterfragte Anwendung übergehen. Hinter einem alltäglichen Gebrauch stehen oftmals frühere Interpretationen. Allerdings können auch alltägliche Routinen in eine Interpretation übergehen, wenn sich durch neue Rahmenbedingungen ein eingespielter Gebrauch nicht mehr in der gewohnten Weise umsetzen lässt. Diese graduellen Übergänge lassen bereits erahnen, dass Interpretation nur einen Ausschnitt aus einem größeren Spektrum von Zeichenverwendungen darstellt. Hierauf wird später noch genauer einzugehen sein.


Exkurs: Zur Zeichentheorie Nelson Goodmans

Doch zunächst soll ein kurzer Blick auf die Zeichentheorie geworfen werden, die diesen Überlegungen zugrunde liegt. Für eine vergleichende Untersuchung erweist sich der Ansatz Nelson Goodmans als besonders fruchtbar. Anders als bekannte Vorgängermodelle kann Goodman die unterschiedlichen Zeichensysteme zueinander in Beziehung setzen, da er anstelle spezieller Typologien mit einer einheitlichen Grundlage arbeitet. Auf diese Weise gelingt es ihm, bereichsübergreifend Zeichenfunktionen und Systemeigenschaften zu untersuchen. Der Weg wird frei für eine umfassende Bestandsaufnahme, die nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Zeichensystemen fragt, seien sie nun in den Wissenschaften zu finden, in der Alltagspraxis oder den Künsten.

Die Frage nach dem Zeichen wird denkbar einfach beantwortet. Zeichen – oder Symbol, beide Begriffe werden bei Goodman synonym verwendet – sind in einem „sehr allgemeinen“ und „farblosen“ Sinne zu verstehen: als etwas, das symbolisiert. Verkürzt lässt sich sagen, ein Zeichen ist gegeben, wann immer etwas Bezug nimmt. Für etwas anderes stehen, die Ausbildung dieser Relation wird damit zur Grundlage aller symbolischen Prozesse. Allein die in der Sprachpraxis etablierte Bezugnahme entscheidet über den Status, sodass beliebige Gegenstände als Symbol auftreten können, seien es nun „Buchstaben, Wörter, Texte, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle“[4].

Paradigmatisch tritt die Symbolfunktion der Sprache auf. Ein Wort bezeichnet einen Gegenstand, es denotiert ihn. Wie beispielsweise das Wort „Kunstwerk“: das schriftliche Zeichen aus einer Buchstabenkombination bezieht sich auf Gegenstände – in diesem Fall Kunstwerke –, durch eine gut verankerte Relation sind Zeichen und Gegenstand miteinander verknüpft. So beziehen sich Elemente der Plangraphik auf ihre jeweiligen Erfüllungsgegenstände: zwei parallele Linien mit schraffiertem Zwischenraum auf eine gemauerte 24-er Kalksteinwand, die dünne Linie mit angeschlossenem Viertelkreis auf eine Tür, die Beschriftung K-Ü-C-H-E auf einen Raum mit spezieller Nutzung. Auffällige, gebaute Beispiele denotativer Bezugnahme lassen sich unter den architektonischen „Follies“ finden: Wenn der Eingang zum Gewächshaus auf dem Anwesen von Dunmore Castle in Sterlingshire in Form einer riesigen, steinernen Ananas auf die Frucht verweist, künstliche Ruinen ihren gezielten Platz in Landschaftsparks finden, kopierte Schlösser und Burgen in Hotelanlagen eingehen, dann sind denotative Bezugnahmen im Spiel; das Gleiche gilt für den Saftladen in Form einer Orange oder für das Dach eines Geschäfts für Meeresfrüchte in der Gestalt eines Fisches; oder, um ein Beispiel neueren Datums zu nennen: das Planetarium von Santiago Calatrava in Valencia, das zusammen mit seiner Reflexion auf ein Auge denotativ Bezug nimmt.

Doch nicht immer ist der Fall so eindeutig und einleuchtend. Schon bei der Bezugnahme auf theoretische und fiktionale „Gegenstände“, bei metaphorischen Anwendungen und Ironie wird die Sache deutlich komplizierter. Es müssen daher weitere Arten der Symbolfunktion unterschieden werden. Neben die Denotation tritt ergänzend die Exemplifikation. Hierbei stellt ein Gegenstand bestimmte Eigenschaften zur Schau, die er verkörpert. Die dominante Bezugnahme ist in diesem Fall vom Symbol zum Objekt, auf das Bezug genommen wird. Das Standardbeispiel Goodmans für Exemplifikationen ist die Stoffprobe. Als Ausschnitt aus einem Stoffballen steht sie für eine bestimmte Farbe oder ein Muster; doch steht sie längst nicht für alle Eigenschaften, die sie hat: Größe oder Form können beispielsweise vernachlässigt werden. Exemplifikationen in der Architektur finden statt, wenn bestimmte Eigenschaften eines Gebäudes zur Schau gestellt werden. Manchmal soll die Konstruktion eines Gebäudes seine Tragstruktur exemplifizieren: ein Gestaltungselement, auf das Architekten wie Norman Forster gerne zurückgegriffen haben. Hierbei exemplifiziert die Konstruktion durch ihre Form Tragverhalten und den angenommenen statischen Verlauf der Kräfte.

Aus den beiden symbolischen Grundfunktionen Denotation und Exemplifikation leiten sich eine Vielzahl an Varianten ab. Vom Ausdruck ist die Rede, wenn die Exemplifikation metaphorisch ist, wenn also das Bezug nehmende Etikett statt in einer wörtlichen auf eine metaphorische Weise Bezug nimmt. Beispiele unter den Gebäuden lassen sich hierfür viele antreffen: sei es, wenn ein Palast Größe zum Ausdruck bringt oder eine Kirche Ruhe und Ernsthaftigkeit; wenn dekonstruktivistische Gebäude metaphorisch auf Instabilität und Auflösung Bezug nehmen; die Nationalgalerie Mies van der Rohes Klarheit und Einfachheit durch ihre reduzierte Konstruktionsweise und ihre einfachen Formen zum Ausdruck bringt.

Laufen Bezugnahmen über mehrere Stufen und bauen komplexe Beziehungen auf, handelt es sich schließlich um multiple Referenzen. Hier folgt die Bezugnahme über eine ganze Kette von Einzelbezugnahmen. Solche komplexen Verfahren finden statt, wenn Anspielungen, Ironie oder Vergleichbares im Spiel sind. Als der bereits erwähnte Gewächshauseingang errichtet wurde, exemplifizierte die Ananas die enormen Kosten, die ihre Kultivierung kostete; in metaphorischer Weise steht der Bau daher für den Luxus und Wohlstand seiner Eigentümer. Die Form der Neuen Nationalgalerie denotiert einen griechischen Tempel, was wiederum auf einen Kunsttempel Bezug nimmt: eine Anspielung auf die Funktion des Gebäudes als ein Museum moderner Kunst.

So weit ein kurzer Überblick zu den vielfältigen Zeichenfunktionen. Doch ein Zeichen, sei es nun sprachlich oder nicht-sprachlich, ist niemals isoliert, es tritt immer in Verbindung mit anderen auf. Ob ein Gegenstand zum Zeichen wird, zum Bezugnahmeobjekt oder zu keinem von beidem, ist von seiner Stellung im System abhängig. Daher ist die Frage nach den Zeichenfunktionen immer in eine Betrachtung zu Zeichensystemen eingebettet. Das System entscheidet über die Funktion als Symbol: „Nichts ist an sich eine Repräsentation; der Status als Repräsentation bezieht sich auf das Symbolsystem“, um die von einem Gegenstand „exemplifizierten Eigenschaften zu erkennen, müssen wir das System kennen, zu dem er gehört“[5]. Zeichen treten daher niemals isoliert auf, sondern sind immer in einen Kontext aus anderen Zeichen eingebunden, die sich wechselseitig definieren. Wird dieser Verbund aus Zeichen oder Symbolen, das so genannte Schema, auf einen Gegenstandsbereich angewendet, handelt es sich in Goodmans Terminologie um ein Symbolsystem. Werden die Beziehungen der Zeichen untereinander wie auch die Beziehung der Zeichen zu den Gegenständen betrachtet, zeigen sich in den verschiedenen Systemen signifikante Merkmale. Auf dieser Grundlage kann Goodman ein Instrumentarium entwickeln, das es ihm ermöglicht, die Eigenschaften der unterschiedlichen Systeme systematisch zu erschließen und zu vergleichen. Da Zeichen häufig verschiedene Funktionen übernehmen und an mehreren Systemen teilnehmen, oftmals auch Bezugnahmen über mehrere Stufen laufen, können sehr aufwendige Verbindungen entstehen.


Zeichenprozesse der Architektur

Bereits diese kurze Einführung lässt erahnen, auf welch vielfältige Weise Zeichenprozesse in der Architektur anzutreffen sind. Sie tauchen nicht nur im Umgang mit unterschiedlichen Formen der Aufzeichnungen, sondern ebenso in Techniken und Praktiken sowie bei der Analyse des umgesetzten Bauwerks auf. Sie erstrecken sich über alle Phasen der Entwicklungsgeschichte eines Bauwerks: von den ersten Ideenskizzen und Planungsunterlagen über die Bauphase bis zur Fertigstellung; vom Benutzen, Umnutzen bis zum Abriss oder Verfall.

Entwurfsphase
In der Entwurfsphase sind eine Vielzahl unterschiedlicher Zeichensysteme eingebunden. Sie müssen im Zusammenhang gelesen werden, da sie sich gegenseitig ergänzen und aufeinander Einfluss nehmen. Meist beginnt mit ersten Ideenskizzen die Entwurfsphase eines Gebäudes. Sie werden in immer ausführlichere Pläne überführt, ergänzt durch Modelle, bildliche Darstellungen und weitere Simulationen. Zwischen diesen verschiedenen Medien entwickelt sich der Entwurfsprozess: Modelle, Skizzen, Darstellungen und Pläne – sie alle stellen für sich bereits Zeichensysteme dar – werden wechselseitig in den Verlauf eingespeist. Durch diese stetige Weiterentwicklung wird der Entwurf zunehmend präzisiert. Die Pläne der verschiedenen Stadien von der Vorentwurfs-, über Eingabe- bis zur Ausführungsplanung gewinnen zunehmend an Detailtiefe und Komplexität ihrer Informationen. Diese Darstellungsformen werden durch verbalsprachliche Beschreibungen ergänzt: von der Baubeschreibung über die Massenermittlung bis zu den Ausschreibungsunterlagen.
So greift die Grundrissdarstellung in der Werkplanung auf vielfältige Zeichensysteme zurück. Prägend ist hier die graphische Darstellung, die durch die Anordnung von Linien Wände, Fenster und Türen abbildet. Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang nicht nur der Abstand der Linien, sondern ebenso ihre Dicke: Sie geben darüber Aufschluss, ob hier ein Fenster, eine Tür oder eine tragende Wand dargestellt wird. Entscheidend ist auch, ob die Linie durchgezogen oder gestrichelt angelegt ist, genauso wie ihre Farbe bedeutungstragend werden kann. Je nachdem kann sie für eine verdeckte Linie stehen, für eine Untersicht, für Abriss oder Neubau. Schraffuren verweisen auf Materialien: sie verraten, ob es sich um eine Kalkstein- oder Ziegelwand handelt, oder wo die Dämmung anzubringen ist. Numerische Angaben wie beispielsweise Maßketten kodieren die Länge von Wandabschnitten und Abmaße der Öffnungen, sie stellen Flächen ebenso wie Höhenangaben oder den Maßstab des Planes dar. Verbalsprachliche Zeichensysteme geben die Raumzuteilung an, sie vermitteln Informationen über die Planart und das Bauprojekt und beschriften die graphischen Legenden. Piktogramme geben Aufschluss darüber, wo Herd und Waschmaschine stehen, wo Toilette und Waschbecken eingebaut werden. Standardisierte graphische Symbole zeigen an, wo Schalter geplant sind, Anschlüsse für Gas, Wasser und Strom zu finden sind. Erst im Zusammenhang betrachtet, geben alle diese Zeichen Auskunft über die Größe und Ausstattung eines Küchenraums.[6]

Bauausführung
In der Bauausführung müssen die Pläne ausgelesen werden. Ergänzt durch die Ausschreibungsunterlagen, gehen die Anweisungen an die unterschiedlichen Gewerke. Die Pläne und Beschreibungen müssen nun interpretiert werden, um zu erfahren, wie tief die Baugrube auszuheben ist, wo die Fundamente liegen, oder wo Wände gemauert werden. Der Maurer muss aus den Planungsunterlagen ablesen, wie viele Steine er bestellen muss, welche Steinart und welchen Mörtel er verwenden soll, oder in welcher Technik die Wand auszuführen ist. Um die Planungsunterlagen korrekt interpretieren zu können, greift er neben seiner Interpretationspraxis im Umgang mit den Notationssystemen der Planungsunterlagen auf ein reichhaltiges praktisches Wissen zurück, ergänzt durch mündliche Erläuterungen und wiederholte Absprachen mit der Bauleitung. Folgt der Elektrotechniker im Rohbau, muss er nicht nur Baupläne richtig interpretieren, sondern auch das Ergebnis der Maurer, um zu wissen, wo Leitungen und Schalter anzubringen sind. In dieser Weise überkreuzen sich vielfältige Interpretationsleistungen in der praktischen Umsetzung des Entwurfes.

Benutzung von Gebäuden
Vieles in der Benutzung von Gebäuden läuft routiniert und automatisch, was allenfalls indirekt auf frühere Interpretationen verweist. Doch in neuen Kontexten, an ungewohnten Orten oder einer veränderten Lebenssituation können Neuinterpretationen notwendig werden. In der Regel weiß ich, dass eine Tür die Öffnung in den nächsten Raum darstellt oder den Übergang in den Außenbereich; ich weiß, wie Türen mit ihren Klinken und Schlössern zu benutzen sind, weiß mit Fenstern und Wänden umzugehen. Ich kann mich auch in fremden Gebäuden zurechtfinden, da Grundrisse vertraut sind und vergleichbaren Mustern folgen. Die Anordnung von Küche und Wohnräumen, Privatbereich und Nassräumen folgt meist ähnlichen Mustern, sodass auch in einem unbekannten Reihenhaus in der Regel das Wohnzimmer leicht zu finden ist. Doch kann beispielsweise die Suche nach dem Haupteingang eines unbekannten Gebäudes zu umfangreichen Interpretationsprozessen führen. Gesucht wird dann nach auffälligen Merkmalen in der Gestaltung, die ein Fingerzeig für die Wegführung sein können sowie nach ergänzenden Schildern und Hinweistafeln. Um die Toilette in einem Restaurant zu finden, wird es nötig, nach einer Tür nahe des Gastraumes Ausschau zu halten, die mit einschlägigen Piktogrammen versehen ist. Typologisierte Raumabfolgen und Raumaufteilungen helfen mir bei einer Orientierung im Raum. An der Strukturierung der Räume lässt sich oftmals sagen, ob sich hinter einer Öffnung ein Büroraum, das Fluchttreppenhaus oder ein Aufzugsschacht verbirgt. Unterstützt durch Beschilderungen, Nachfragen und einem Erfahrungswissen im Umgang mit der Benutzung von Gebäuden gelingt es mir, auf der Behörde das Zimmer der Referentin zu finden, das gleichförmig an einem langen Gang angeordnet ist, im Schwimmbad die Umkleidekabine zu identifizieren oder im Krankenhaus ein bestimmtes Patientenzimmer aufzusuchen.


Deutung als Werk
Die Deutung eines Gebäudes als (Kunst-)werk ist sicherlich die augenfälligste Art der Interpretation – aber wie die vorausgegangenen Beispiele zeigen, sicherlich auch diejenige unter den Interpretationen, die nur relativ selten anzutreffen ist. Hier überwiegen in der Regel ästhetische Kategorien der Interpretation. Das einzelne Werk wird in einen Werkzusammenhang des jeweiligen Künstlers gebracht und im Rahmen seiner Entwicklungsgeschichte untersucht. Es wird im Kontext seiner Zeit und seiner kulturellen Bedingungen betrachtet, es wird in Typologien und geläufigen Kategorien analysiert. Ob als Exemplar eines bestimmten Gebäudetypus, als Repräsentant eines Baustils oder als historisches Vermächtnis: In der hier einsetzenden Interpretation werden vielfältige Zeichenbezüge untersucht und ihre Funktionen durchleuchtet. Allerdings darf die Betrachtung nicht bei vermeintlich isolierbaren ästhetischen Kriterien haltmachen. Bauwerke sind in hohem Maße Gesamtkunstwerke. Erst wenn ergänzend soziale, psychologische, ökonomische und ökologische, technische und ethische Aspekte in die Wirkung einbezogen werden, beginnen wir Architektur zu beurteilen.[7]


Kognitivität der Architektur

Dieser kurze Überblick zeigt, dass eine Vielzahl von Zeichensystemen und Zeichenfunktionen im Bereich des Bauwesens anzutreffen sind.[8] Sie alle weisen zurück auf Interpretationsvorgänge. Zugleich lässt diese Übersicht auch erahnen, welch unterschiedliche Facetten Zeichenprozesse annehmen können. Interpretationen können in routinierte Anwendungen übergehen, wenn zunehmend fraglos Problemlösungen herbeigeführt werden. Wenn aber der Interpretationsprozess größte Anstrengungen erfordert und lang anhaltende Lösungsversuche beinhaltet, die ein hohes Maß an Kreativität und Einfallsreichtum erfordern, dann findet hier ein Übergang zum Erfinden und Erschaffen statt. Interpretationen stellen also nur einen kleinen Ausschnitt aus einem großen Spektrum an Zeichenverwendungen statt. Der Zeichengebrauch geht vom Erfinden, Entdecken und Erschaffen über gezielte Interpretationsvorgänge bis hin zur routinierten Anwendung.[9]

Nun erhellt sich auch, inwieweit von der Kognitivität der Architektur gesprochen werden kann.[10] Denn all diese Zeichenvorgänge sind Erkenntnisvorgänge. Goodman und Elgin verweisen darauf, dass es uns durch den Gebrauch von Zeichen möglich ist, „zu erforschen und zu erfinden, auseinanderzuhalten und ausfindig zu machen, zu verbinden und verdeutlichen, zu ordnen und zu organisieren, zu übernehmen, zu prüfen, zu verwerfen“.[11] Sie schlagen daher vor, diese Vorgänge allgemein unter dem Begriff des Verstehens zu fassen. Immer, wenn wir mit Zeichen umgehen, wenn wir sie anwenden, wenn wir sie aufeinander beziehen, sie untereinander kombinieren oder neue Verwendungen konstruieren, dann sind kognitive Fähigkeiten im Spiel. Wir versuchen auf diese Weise zu strukturieren und systematisieren; Gliederungen und Gewichtungen zu erstellen oder Zusammenhänge und Wechselwirkungen werden zu lassen. Das Ziel ist es, mit diesen Vorgängen einen epistemischen Aufstieg zu erreichen.[12]  Sind die Bemühungen um Verstehen erfolgreich, dann ist es uns beispielsweise gelungen, neue Einsichten zu gewinnen, bestehende Probleme einer Lösung zu zuführen oder virulente Fragen zu beantworten.

Wird Wissen als Ergebnis kognitiver Vorgänge betrachtet, welche gesicherte Erkenntnisse über unsere Welt vermitteln, erschließt sich nun auch der Zusammenhang von Wissen und Verstehen. Verstehen zeigt sich als ein fortlaufender Prozess, in dem beständigen Bestreben, sich Welt anzueignen und zu durchdringen, sich zurechtzufinden und zu handeln. Die „Ergebnisse“ dieser Vorgänge, die einem flüchtigen Auszug aus einem fortlaufenden Prozess gleichkommen, lassen sich als Wissen bezeichnen. Verstehen wird somit zur Voraussetzung von Wissen, das sich in zweierlei Hinsichten unterscheiden lässt. Auf der individuellen Ebene ist Wissen das, was sich im Verstehensprozess herausbildet; das, was ich verstanden habe. Etwas Neues hat sich eingestellt; es ist nun im Ausgangsgefüge verknüpft, strukturiert, verortet; ein modifiziertes System hat sich vorübergehend stabilisiert und ermöglicht neue Einsichten, Problemlösungen oder Anwendungen. Dieses Wissen steht mir nun für weitere Verstehensversuche zur Verfügung – vorausgesetzt, es wird gepflegt und bleibt erhalten.

In einem engeren, aber sehr geläufigen Sinn werden unter Wissen seine manifesten Formen gefasst. In erster Linie denken wir hier an die großen Nachschlagewerke, an Zeitschriftenartikel und Standardwerken, an Lehrmaterial: Sie wurden in anerkannten Verfahren geprüft, in spezialisierten Diskussionen weiterentwickelt, durch Gutachterprozesse positiv getestet. Hinter dieser kurzen Zusammenfassung verstecken sich umfangreiche Verstehensprozesse. Gefasst in stark standardisierten und abstrahierten Zeichensystemen, dienen diese Formen der Überprüfung, Fixierung und Vermittlung. Angewendet auf den Bereich der Architektur heißt dies, dass zu den manifesten Formen die Pläne, Bau- und Produktbeschreibungen zu zählen sind, DIN-Richtlinien ebenso wie Gesetzesartikel, Bilder und Modelle, auch die Bauwerke selbst – um nur einige Beispiele zu nennen.

Auf diese Weise erklärt sich auch, wie Wissen verloren geht. Fehlt die kognitive Leistung des Verstehens, bleiben etwa gegebene schriftsprachliche Zeichensysteme eine Ansammlung von Daten oder Informationen.[13] Möglicherweise liegen noch manifeste Formen vor, die aber nicht mehr verstanden werden. Dies kann beispielsweise durch eine Interessenverlagerung, einen Paradigmenwechsel, einen Bruch in der Tradierung der Interpretationspraxis ausgelöst werden. Hier schließt sich der Kreis: Können die Zeichen nicht mehr interpretiert werden, ist das frühere Wissen nicht länger zugänglich. Die Rede von der Kognitivität der Architektur setzt funktionierende Zeichenprozesse voraus, die jederzeit wieder eingebüßt werden können.

 



Literatur:

Abel, Günter (1994): Was ist Interpretationsphilosophie? In: Simon, Josef: Zeichen und Interpretation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 16-35.

Ammon, Sabine (2004): The language of architecture. An Approach to Nelson Goodman's theory of symbols, http://www.gruene-akademie.de (25.5.2008).

Ammon, Sabine (2005): Welterzeugung als kreativer Prozeß. Überlegungen zu Nelson Goodmans konstruktivistischer Theorie des Verstehens. In: Abel, Günter: Kreativität: XX. Deutscher Kongress für Philosophie. Sektionsbeiträge, Bd. 1, Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin 2005, 285-294.

Ammon, Sabine (2006): Was weiß die Kunst? Zur Relevanz künstlerischen Wissens in der Wissensgesellschaft. In: Heinrich-Böll-Stiftung: Die Verfasstheit der Wissensgesellschaft, Münster: Westfälisches Dampfboot 2006, 72-81.

Cooper, Neil (1995): The epistemology of understanding, Inquiry, Bd. 38, 205-215.

Dreyer, Claus (2003): Semiotische Aspekte der Architekturwissenschaft: Architektursemiotik. In: Roland Posner, Klaus Robering & Thomas A. Seboek: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin u. a.: De Gruyter 2003, 3234-3278.

Elgin, Catherine Z. (1996): Considered judgment, Princeton, NJ u. a.: Princeton University Press.

Fisher, Saul (2000): Architectural notation and computer aided design, Journal of Aesthetics and Art Criticism, Bd. 58, Nr. 3, 273-289.

Goodman, Nelson (1954): Fact, fiction, and forecast, London: Athlone. Zit. nach: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.

Goodman, Nelson (1968): Languages of art. An approach to a theory of symbols, Indianapolis: Bobbs-Merrill. Zit. nach: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995.

Goodman, Nelson (1978): Ways of worldmaking, Indianapolis: Hackett. Zit. nach: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.

Goodman, Nelson (1984): Of mind and other matters, Cambridge, Mass. u. a.: Harvard University Press. Zit. nach: Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987.

Goodman, Nelson & Catherine Z. Elgin (1988): Reconceptions in philosophy and other arts and sciences, Indianapolis: Hackett. Zit. nach: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.

Hauser, Susanne (2004): Das Wissen der Architektur. Ein Essay aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, Wolkenkuckucksheim, Bd. 9, Nr. 2, sowie unter:
http://www.tu-cottbus.de/BTU/Fak2/TheoArch/Wolke/deu/Themen/042/Hauser/hauser.htm (25.5.2008).

Poser, Hans (2000): Zwischen Information und Erkenntnis. In: Hubig, Christoph: Unterwegs zur Wissensgesellschaft. Grundlagen – Trends – Probleme, Berlin: Sigma 2000, 25-45.


 

Anmerkungen:

[1] Vgl. hierzu auch die Charakterisierung von Abel 1994: 16 f.

[2] Vgl. Ammon 2005.

[3] Vgl. Goodman 1954:87, 1978: 153 ff., Elgin 1996: insb. 106 ff.

[4] Goodman 1968: 9; vgl. Goodman 1984: 55.

[5] Goodman 1968: 210, Goodman & Elgin 1988: 35.

[6] Ergänzend hierzu auch Fisher (2000), der den Zusammenhang von Notationen und CAD diskutiert.

[7] Dies betont auch Hauser 2004; vgl. dazu Ammon 2004.

[8] Einen guten Überblick zu weiteren Ansätzen der Architektursemiotik gibt Dreyer 2003.

[9] Vgl. Goodman und Elgin, die von „Erzeugung, Anwendung und Interpretation“ als Formen des Gebrauchs sprechen (1988: 216).

[10] Vgl. Ammon 2006 zur Kognitivität der Kunst.

[11] Goodman und Elgin 1989: 213.

[12] Terminologie nach Cooper 1995: 207.

[13] Vgl. Poser 2000: 28 ff., 41.


 


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