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In vielfältiger
Weise prägt Interpretation den Umgang mit Architektur: am auffälligsten wird
dieser Umstand sicherlich, wenn eine Kunsthistorikerin ein antikes Bauwerk
in seinem historischen Umfeld analysiert oder ein Kritiker die neueste
Schöpfung der Stararchitektin bespricht. Doch das Interpretieren in der
Architektur beschränkt sich nicht auf die Deutung von Bauwerken. Anders als
der erste Eindruck vermuten ließe, sind Interpretationsprozesse im Bauwesen
weit häufiger anzutreffen. Bereits in den Entwurfs- und
Gestaltungsprozessen, aber auch in der Bauausführung oder in der Benutzung
von Bauten sind zahlreiche Interpretationsprozesse beteiligt. Zu oft werden
diese alltäglichen Interpretationen von der exponierten Form, Architektur
als Kunstwerk zu interpretieren, verdeckt. Ziel dieses Beitrages ist daher,
die Aufmerksamkeit auch auf andere Formen der Interpretation zu lenken.
Interpretation ist eng mit dem Begriff des Zeichens verbunden. Um das große
Spektrum der Interpretationsprozesse im Bereich der Architektur sichtbar zu
machen, hilft der Rückgriff auf die Zeichentheorie. Daher wird der Abschnitt
zu Fragen der Interpretation durch einen kurzen Exkurs in die Grundlagen der
Zeichentheorie ergänzt. Die Einführung entwickelt sich entlang des
Ansatzes Nelson Goodmans, der für eine umfassende Betrachtung als besonders
geeignet gelten darf. Anschließend soll in den verschiedenen Bereichen des
Bauwesens geprüft werden, wo überall Zeichensysteme und Zeichenfunktionen
anzutreffen sind. Über den zeichentheoretischen Zusammenhang erschließt sich
auch die kognitive Dimension der Architektur. Sie verweist auf eine enge
Verbindung mit Verstehen und Wissen, die am Ende dieses Beitrags beleuchtet
werden soll. Dabei wird sich zeigen, dass Interpretation nur einen
Ausschnitt der umfangreichen Zeichenprozesse darstellt. Werden sie insgesamt
betrachtet, erschließt sich, inwiefern Architektur auch als Form des Wissens
gelten darf.
Interpretieren im Bauwesen
Interpretieren setzt immer das Deuten von etwas voraus, das in einem Prozess
genauer bestimmt wird.[1]
Was gedeutet wird, soll im Folgenden unter dem Begriff des Zeichens gefasst
werden. Er beschränkt sich nicht auf schriftsprachliche Notationen oder
feststehende kulturhistorische Symbole, sondern kann grundsätzlich jeden
Gegenstand oder jedes Ereignis umfassen. Im Interpretationsprozess wird
etwas zum Zeichen. Es tritt ein Bruch mit dem Alltäglichen, Vertrauten,
Routinierten ein; es wird eine Distanz geschaffen zu dem, was gedeutet
werden soll. Interpretation beginnt, wenn Zeichenverwendungen Fragen
aufwerfen und als Zeichen gelesen werden müssen. Dies kann aus einer
Notwendigkeit heraus geschehen, um weiter fortzufahren. Dazu gehört
beispielsweise der Fall, wenn ein Plan nicht auf Anhieb zu verstehen ist –
sei es, weil ungewohnte Symbole eingesetzt werden, mir die räumliche
Zuordnung nicht gelingt oder Teile unleserlich geworden sind. Der Umstand
kann aber auch gezielt herbeigeführt werden, wenn etwas in seinen
Zeichenfunktionen untersucht wird, um neue Bezüge und Zusammenhänge
herzustellen oder zu hinterfragen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn
ein Gebäude in seinem Werkkontext oder seiner Typologie untersucht wird oder
sein Ausdruck und dessen vielfältige Bezugnahmen analysiert werden.
Das
Interpretieren von Zeichen ist als ein aktiver Prozess zu verstehen, der
sich allmählich einer Lösung annähert. Er fordert ein hartnäckiges
Ausprobieren; es wird gestestet und überprüft, gefolgt von Revisionen und
Variationen; der Probedurchlauf beginnt von neuem, bis sich ein zufrieden
stellendes Ergebnis abzeichnet. Vielfältige Faktoren können in diesen
Vorgang einwirken: zu nennen wären beispielsweise Kontextbedingungen,
Hintergrundwissen, Erfahrungswissen oder verinnerlichte Praktiken. Von
entscheidendem Einfluss sind vorgängige Zusammenhänge und frühere
Interpretationsprozesse, denn die neue Deutung wird immer im Zusammenhang
mit etablierten Zeichenpraktiken und -funktionen vorgenommen. Der Ablauf
gleicht in gewisser Hinsicht einem Entwurfsvorgang.[2]
Begonnen wird mit einer groben Skizze oder einem Vorentwurf, der auf einer
ursprünglichen Idee und einem reichen Erfahrungsschatz früherer Baumaßnahmen
beruht. Im weiteren Verlauf wird dieser Entwurf präzisiert. Immer wieder
werden Überarbeitungen fällig, da weitere Faktoren berücksichtigt werden
müssen. In der Ausgestaltung sind die Wünsche der Bauherren ebenso zu
berücksichtigen wie die Ansprüche der Fachplaner und die Gesetze der
Baustatik und -physik. In einem kreativen Prozess werden diese Einflüsse
zusammengeführt, miteinander abgewogen und zu einem funktionierenden Ganzen
entwickelt. Pragmatische Erwägungen, in der Regel ein enger Kosten- und
Zeitrahmen, werden irgendwann zum Abbruch des Prozesses führen, um mit der
Bauausführung zu beginnen.
Ebenso wie die Planung eines Gebäudes bestimmte Kriterien erfüllen muss, um
zu funktionieren und in dieser Form umgesetzt zu werden, gibt es auch bei
der Interpretation Kriterien, die erfüllt sein müssen, um als richtige
Interpretation zu gelten. Die Suche nach der Richtigkeit lässt sich im
Anschluss an Überlegungen von Goodman und Elgin als Gleichgewichts- oder
Abwägungsprozess charakterisieren.[3]
Das fragliche Zeichen wird in den Zusammenhang mit dem bestehenden
Zeichensystem gebracht; es wird versucht, das Zeichen einzupassen und in
seiner Wirkung auszutesten. Geprüft wird hierbei, ob die Interpretation als
neues Zeichengefüge kohärent und konsistent ist, denn sie darf nicht im
Widerspruch zu anderen Zeichenverwendungen stehen. Sollte sich eine solche
Situation ergeben, gilt es abzuwägen, wo Überarbeitungen vorgenommen werden:
Ist möglicherweise die Interpretation falsch angelegt, oder sind bestehende
Überzeugungen und Praktiken zu revidieren? Welche Wirkung folgt aus der
Überarbeitung? Kann das Ausgangsproblem gelöst werden, ergeben sich neue
Einsichten? Auf diese Weise können auch Missverständnisse und Fehler
aufgedeckt werden.
Wie umfangreich ein Interpretationsvorgang wird, ist sehr unterschiedlich.
Hier öffnet sich ein breites Spektrum. Durch zunehmende Vertrautheit können
anfänglich komplexe Interpretationen allmählich immer routinierter werden,
bis sie schließlich in eine unhinterfragte Anwendung übergehen. Hinter einem
alltäglichen Gebrauch stehen oftmals frühere Interpretationen. Allerdings
können auch alltägliche Routinen in eine Interpretation übergehen, wenn sich
durch neue Rahmenbedingungen ein eingespielter Gebrauch nicht mehr in der
gewohnten Weise umsetzen lässt. Diese graduellen Übergänge lassen bereits
erahnen, dass Interpretation nur einen Ausschnitt aus einem größeren
Spektrum von Zeichenverwendungen darstellt. Hierauf wird später noch genauer
einzugehen sein.
Exkurs: Zur Zeichentheorie Nelson Goodmans
Doch zunächst soll ein kurzer Blick auf die Zeichentheorie geworfen werden,
die diesen Überlegungen zugrunde liegt. Für eine vergleichende Untersuchung
erweist sich der Ansatz Nelson Goodmans als besonders fruchtbar. Anders als
bekannte Vorgängermodelle kann Goodman die unterschiedlichen Zeichensysteme
zueinander in Beziehung setzen, da er anstelle spezieller Typologien mit
einer einheitlichen Grundlage arbeitet. Auf diese Weise gelingt es ihm,
bereichsübergreifend Zeichenfunktionen und Systemeigenschaften zu
untersuchen. Der Weg wird frei für eine umfassende Bestandsaufnahme, die
nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Zeichensystemen fragt, seien sie
nun in den Wissenschaften zu finden, in der Alltagspraxis oder den Künsten.
Die Frage nach dem Zeichen wird denkbar einfach beantwortet. Zeichen – oder
Symbol, beide Begriffe werden bei Goodman synonym verwendet – sind in einem
„sehr allgemeinen“ und „farblosen“ Sinne zu verstehen: als etwas, das
symbolisiert. Verkürzt lässt sich sagen, ein Zeichen ist gegeben, wann immer
etwas Bezug nimmt. Für etwas anderes stehen, die Ausbildung dieser Relation
wird damit zur Grundlage aller symbolischen Prozesse. Allein die in der
Sprachpraxis etablierte Bezugnahme entscheidet über den Status, sodass
beliebige Gegenstände als Symbol auftreten können, seien es nun „Buchstaben,
Wörter, Texte, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle“[4].
Paradigmatisch tritt die Symbolfunktion der Sprache auf. Ein Wort bezeichnet
einen Gegenstand, es denotiert ihn. Wie beispielsweise das Wort „Kunstwerk“:
das schriftliche Zeichen aus einer Buchstabenkombination bezieht sich auf
Gegenstände – in diesem Fall Kunstwerke –, durch eine gut verankerte
Relation sind Zeichen und Gegenstand miteinander verknüpft. So beziehen sich
Elemente der Plangraphik auf ihre jeweiligen Erfüllungsgegenstände: zwei
parallele Linien mit schraffiertem Zwischenraum auf eine gemauerte 24-er
Kalksteinwand, die dünne Linie mit angeschlossenem Viertelkreis auf eine
Tür, die Beschriftung K-Ü-C-H-E auf einen Raum mit spezieller Nutzung.
Auffällige, gebaute Beispiele denotativer Bezugnahme lassen sich unter den
architektonischen „Follies“ finden: Wenn der Eingang zum Gewächshaus auf dem
Anwesen von Dunmore Castle in Sterlingshire in Form einer riesigen,
steinernen Ananas auf die Frucht verweist, künstliche Ruinen ihren gezielten
Platz in Landschaftsparks finden, kopierte Schlösser und Burgen in
Hotelanlagen eingehen, dann sind denotative Bezugnahmen im Spiel; das
Gleiche gilt für den Saftladen in Form einer Orange oder für das Dach eines
Geschäfts für Meeresfrüchte in der Gestalt eines Fisches; oder, um ein
Beispiel neueren Datums zu nennen: das Planetarium von Santiago Calatrava in
Valencia, das zusammen mit seiner Reflexion auf ein Auge denotativ Bezug
nimmt.
Doch nicht immer ist der Fall so eindeutig und einleuchtend. Schon bei der
Bezugnahme auf theoretische und fiktionale „Gegenstände“, bei metaphorischen
Anwendungen und Ironie wird die Sache deutlich komplizierter. Es müssen
daher weitere Arten der Symbolfunktion unterschieden werden. Neben die
Denotation tritt ergänzend die Exemplifikation. Hierbei stellt ein
Gegenstand bestimmte Eigenschaften zur Schau, die er verkörpert. Die
dominante Bezugnahme ist in diesem Fall vom Symbol zum Objekt, auf das Bezug
genommen wird. Das Standardbeispiel Goodmans für Exemplifikationen ist die
Stoffprobe. Als Ausschnitt aus einem Stoffballen steht sie für eine
bestimmte Farbe oder ein Muster; doch steht sie längst nicht für alle
Eigenschaften, die sie hat: Größe oder Form können beispielsweise
vernachlässigt werden. Exemplifikationen in der Architektur finden statt,
wenn bestimmte Eigenschaften eines Gebäudes zur Schau gestellt werden.
Manchmal soll die Konstruktion eines Gebäudes seine Tragstruktur
exemplifizieren: ein Gestaltungselement, auf das Architekten wie Norman
Forster gerne zurückgegriffen haben. Hierbei exemplifiziert die Konstruktion
durch ihre Form Tragverhalten und den angenommenen statischen Verlauf der
Kräfte.
Aus den beiden symbolischen Grundfunktionen Denotation und Exemplifikation
leiten sich eine Vielzahl an Varianten ab. Vom Ausdruck ist die Rede, wenn
die Exemplifikation metaphorisch ist, wenn also das Bezug nehmende Etikett
statt in einer wörtlichen auf eine metaphorische Weise Bezug nimmt.
Beispiele unter den Gebäuden lassen sich hierfür viele antreffen: sei es,
wenn ein Palast Größe zum Ausdruck bringt oder eine Kirche Ruhe und
Ernsthaftigkeit; wenn dekonstruktivistische Gebäude metaphorisch auf
Instabilität und Auflösung Bezug nehmen; die Nationalgalerie Mies van der
Rohes Klarheit und Einfachheit durch ihre reduzierte Konstruktionsweise und
ihre einfachen Formen zum Ausdruck bringt.
Laufen Bezugnahmen über mehrere Stufen und bauen komplexe Beziehungen auf,
handelt es sich schließlich um multiple Referenzen. Hier folgt die
Bezugnahme über eine ganze Kette von Einzelbezugnahmen. Solche komplexen
Verfahren finden statt, wenn Anspielungen, Ironie oder Vergleichbares im
Spiel sind. Als der bereits erwähnte Gewächshauseingang errichtet wurde,
exemplifizierte die Ananas die enormen Kosten, die ihre Kultivierung
kostete; in metaphorischer Weise steht der Bau daher für den Luxus und
Wohlstand seiner Eigentümer. Die Form der Neuen Nationalgalerie denotiert
einen griechischen Tempel, was wiederum auf einen Kunsttempel Bezug nimmt:
eine Anspielung auf die Funktion des Gebäudes als ein Museum moderner Kunst.
So weit ein kurzer Überblick zu den vielfältigen Zeichenfunktionen. Doch ein
Zeichen, sei es nun sprachlich oder nicht-sprachlich, ist niemals isoliert,
es tritt immer in Verbindung mit anderen auf. Ob ein
Gegenstand zum Zeichen wird, zum Bezugnahmeobjekt oder zu keinem von beidem,
ist von seiner Stellung im System abhängig. Daher ist die Frage nach den
Zeichenfunktionen immer in eine Betrachtung zu Zeichensystemen eingebettet.
Das System entscheidet über die Funktion als Symbol: „Nichts ist an sich
eine Repräsentation; der Status als Repräsentation bezieht sich auf das
Symbolsystem“, um die von einem Gegenstand „exemplifizierten Eigenschaften
zu erkennen, müssen wir das System kennen, zu dem er gehört“[5].
Zeichen treten daher niemals isoliert auf, sondern sind immer in einen
Kontext aus anderen Zeichen eingebunden, die sich wechselseitig definieren.
Wird dieser Verbund aus Zeichen oder Symbolen, das so genannte Schema, auf
einen Gegenstandsbereich angewendet, handelt es sich in Goodmans
Terminologie um ein Symbolsystem. Werden die Beziehungen der Zeichen
untereinander wie auch die Beziehung der Zeichen zu den Gegenständen
betrachtet, zeigen sich in den verschiedenen Systemen signifikante Merkmale.
Auf dieser Grundlage kann Goodman ein Instrumentarium entwickeln, das es ihm
ermöglicht, die Eigenschaften der unterschiedlichen Systeme systematisch zu
erschließen und zu vergleichen. Da Zeichen häufig verschiedene Funktionen
übernehmen und an mehreren Systemen teilnehmen, oftmals auch Bezugnahmen
über mehrere Stufen laufen, können sehr aufwendige Verbindungen entstehen.
Zeichenprozesse der Architektur
Bereits diese kurze Einführung lässt erahnen, auf welch vielfältige Weise
Zeichenprozesse in der Architektur anzutreffen sind. Sie tauchen nicht nur
im Umgang mit unterschiedlichen Formen der Aufzeichnungen, sondern ebenso in
Techniken und Praktiken sowie bei der Analyse des umgesetzten Bauwerks auf.
Sie erstrecken sich über alle Phasen der Entwicklungsgeschichte eines
Bauwerks: von den ersten Ideenskizzen und Planungsunterlagen über die
Bauphase bis zur Fertigstellung; vom Benutzen, Umnutzen bis zum Abriss oder
Verfall.
Entwurfsphase
In der Entwurfsphase sind eine Vielzahl unterschiedlicher Zeichensysteme
eingebunden. Sie müssen im Zusammenhang gelesen werden, da sie sich
gegenseitig ergänzen und aufeinander Einfluss nehmen. Meist beginnt mit
ersten Ideenskizzen die Entwurfsphase eines Gebäudes. Sie werden in immer
ausführlichere Pläne überführt, ergänzt durch Modelle, bildliche
Darstellungen und weitere Simulationen. Zwischen diesen verschiedenen Medien
entwickelt sich der Entwurfsprozess: Modelle, Skizzen, Darstellungen und
Pläne – sie alle stellen für sich bereits Zeichensysteme dar – werden
wechselseitig in den Verlauf eingespeist. Durch diese stetige
Weiterentwicklung wird der Entwurf zunehmend präzisiert. Die Pläne der
verschiedenen Stadien von der Vorentwurfs-, über Eingabe- bis zur
Ausführungsplanung gewinnen zunehmend an Detailtiefe und Komplexität ihrer
Informationen. Diese Darstellungsformen werden durch verbalsprachliche
Beschreibungen ergänzt: von der Baubeschreibung über die Massenermittlung
bis zu den Ausschreibungsunterlagen.
So greift die Grundrissdarstellung in der Werkplanung auf vielfältige
Zeichensysteme zurück. Prägend ist hier die graphische Darstellung, die
durch die Anordnung von Linien Wände, Fenster und Türen abbildet. Bedeutsam
sind in diesem Zusammenhang nicht nur der Abstand der Linien, sondern ebenso
ihre Dicke: Sie geben darüber Aufschluss, ob hier ein Fenster, eine Tür oder
eine tragende Wand dargestellt wird. Entscheidend ist auch, ob die Linie
durchgezogen oder gestrichelt angelegt ist, genauso wie ihre Farbe
bedeutungstragend werden kann. Je nachdem kann sie für eine verdeckte Linie
stehen, für eine Untersicht, für Abriss oder Neubau. Schraffuren verweisen
auf Materialien: sie verraten, ob es sich um eine Kalkstein- oder Ziegelwand
handelt, oder wo die Dämmung anzubringen ist. Numerische Angaben wie
beispielsweise Maßketten kodieren die Länge von Wandabschnitten und Abmaße
der Öffnungen, sie stellen Flächen ebenso wie Höhenangaben oder den Maßstab
des Planes dar. Verbalsprachliche Zeichensysteme geben die Raumzuteilung an,
sie vermitteln Informationen über die Planart und das Bauprojekt und
beschriften die graphischen Legenden. Piktogramme geben Aufschluss darüber,
wo Herd und Waschmaschine stehen, wo Toilette und Waschbecken eingebaut
werden. Standardisierte graphische Symbole zeigen an, wo Schalter geplant
sind, Anschlüsse für Gas, Wasser und Strom zu finden sind. Erst im
Zusammenhang betrachtet, geben alle diese Zeichen Auskunft über die Größe
und Ausstattung eines Küchenraums.[6]
Bauausführung
In der Bauausführung müssen die Pläne ausgelesen werden. Ergänzt durch die
Ausschreibungsunterlagen, gehen die Anweisungen an die unterschiedlichen
Gewerke. Die Pläne und Beschreibungen müssen nun interpretiert werden, um zu
erfahren, wie tief die Baugrube auszuheben ist, wo die Fundamente liegen,
oder wo Wände gemauert werden. Der Maurer muss aus den Planungsunterlagen
ablesen, wie viele Steine er bestellen muss, welche Steinart und welchen
Mörtel er verwenden soll, oder in welcher Technik die Wand auszuführen ist.
Um die Planungsunterlagen korrekt interpretieren zu können, greift er neben
seiner Interpretationspraxis im Umgang mit den Notationssystemen der
Planungsunterlagen auf ein reichhaltiges praktisches Wissen zurück, ergänzt
durch mündliche Erläuterungen und wiederholte Absprachen mit der Bauleitung.
Folgt der Elektrotechniker im Rohbau, muss er nicht nur Baupläne richtig
interpretieren, sondern auch das Ergebnis der Maurer, um zu wissen, wo
Leitungen und Schalter anzubringen sind. In dieser Weise überkreuzen sich
vielfältige Interpretationsleistungen in der praktischen Umsetzung des
Entwurfes.
Benutzung von Gebäuden
Vieles in der Benutzung von Gebäuden läuft routiniert und automatisch, was
allenfalls indirekt auf frühere Interpretationen verweist. Doch in neuen
Kontexten, an ungewohnten Orten oder einer veränderten Lebenssituation
können Neuinterpretationen notwendig werden. In der Regel weiß ich, dass
eine Tür die Öffnung in den nächsten Raum darstellt oder den Übergang in den
Außenbereich; ich weiß, wie Türen mit ihren Klinken und Schlössern zu
benutzen sind, weiß mit Fenstern und Wänden umzugehen. Ich kann mich auch in
fremden Gebäuden zurechtfinden, da Grundrisse vertraut sind und
vergleichbaren Mustern folgen. Die Anordnung von Küche und Wohnräumen,
Privatbereich und Nassräumen folgt meist ähnlichen Mustern, sodass auch in
einem unbekannten Reihenhaus in der Regel das Wohnzimmer leicht zu finden
ist. Doch kann beispielsweise die Suche nach dem Haupteingang eines
unbekannten Gebäudes zu umfangreichen Interpretationsprozessen führen.
Gesucht wird dann nach auffälligen Merkmalen in der Gestaltung, die ein
Fingerzeig für die Wegführung sein können sowie nach ergänzenden Schildern
und Hinweistafeln. Um die Toilette in einem Restaurant zu finden, wird es
nötig, nach einer Tür nahe des Gastraumes Ausschau zu halten, die mit
einschlägigen Piktogrammen versehen ist. Typologisierte Raumabfolgen und
Raumaufteilungen helfen mir bei einer Orientierung im Raum. An der
Strukturierung der Räume lässt sich oftmals sagen, ob sich hinter einer
Öffnung ein Büroraum, das Fluchttreppenhaus oder ein Aufzugsschacht
verbirgt. Unterstützt durch Beschilderungen, Nachfragen und einem
Erfahrungswissen im Umgang mit der Benutzung von Gebäuden gelingt es mir,
auf der Behörde das Zimmer der Referentin zu finden, das gleichförmig an
einem langen Gang angeordnet ist, im Schwimmbad die Umkleidekabine zu
identifizieren oder im Krankenhaus ein bestimmtes Patientenzimmer
aufzusuchen.
Deutung als Werk
Die Deutung eines Gebäudes als (Kunst-)werk ist sicherlich die
augenfälligste Art der Interpretation – aber wie die vorausgegangenen
Beispiele zeigen, sicherlich auch diejenige unter den Interpretationen, die
nur relativ selten anzutreffen ist. Hier überwiegen in der Regel ästhetische
Kategorien der Interpretation. Das einzelne Werk wird in einen
Werkzusammenhang des jeweiligen Künstlers gebracht und im Rahmen seiner
Entwicklungsgeschichte untersucht. Es wird im Kontext seiner Zeit und seiner
kulturellen Bedingungen betrachtet, es wird in Typologien und geläufigen
Kategorien analysiert. Ob als Exemplar eines bestimmten Gebäudetypus, als
Repräsentant eines Baustils oder als historisches Vermächtnis: In der hier
einsetzenden Interpretation werden vielfältige Zeichenbezüge untersucht und
ihre Funktionen durchleuchtet. Allerdings darf die Betrachtung nicht bei
vermeintlich isolierbaren ästhetischen Kriterien haltmachen. Bauwerke sind
in hohem Maße Gesamtkunstwerke. Erst wenn ergänzend soziale, psychologische,
ökonomische und ökologische, technische und ethische Aspekte in die Wirkung
einbezogen werden, beginnen wir Architektur zu beurteilen.[7]
Kognitivität der Architektur
Dieser kurze Überblick zeigt, dass eine Vielzahl von Zeichensystemen und
Zeichenfunktionen im Bereich des Bauwesens anzutreffen sind.[8]
Sie alle weisen zurück auf Interpretationsvorgänge. Zugleich lässt diese
Übersicht auch erahnen, welch unterschiedliche Facetten Zeichenprozesse
annehmen können. Interpretationen können in routinierte Anwendungen
übergehen, wenn zunehmend fraglos Problemlösungen herbeigeführt werden. Wenn
aber der Interpretationsprozess größte Anstrengungen erfordert und lang
anhaltende Lösungsversuche beinhaltet, die ein hohes Maß an Kreativität und
Einfallsreichtum erfordern, dann findet hier ein Übergang zum Erfinden und
Erschaffen statt. Interpretationen stellen also nur einen kleinen Ausschnitt
aus einem großen Spektrum an Zeichenverwendungen statt. Der Zeichengebrauch
geht vom Erfinden, Entdecken und Erschaffen über gezielte
Interpretationsvorgänge bis hin zur routinierten Anwendung.[9]
Nun erhellt sich auch, inwieweit von der Kognitivität der Architektur
gesprochen werden kann.[10]
Denn all diese Zeichenvorgänge sind Erkenntnisvorgänge. Goodman und Elgin
verweisen darauf, dass es uns durch den Gebrauch von Zeichen möglich ist,
„zu erforschen und zu erfinden, auseinanderzuhalten und ausfindig zu machen,
zu verbinden und verdeutlichen, zu ordnen und zu organisieren, zu
übernehmen, zu prüfen, zu verwerfen“.[11]
Sie schlagen daher vor, diese Vorgänge allgemein unter dem Begriff des
Verstehens zu fassen. Immer, wenn wir mit Zeichen umgehen, wenn wir sie
anwenden, wenn wir sie aufeinander beziehen, sie untereinander kombinieren
oder neue Verwendungen konstruieren, dann sind kognitive Fähigkeiten im
Spiel. Wir versuchen auf diese Weise zu strukturieren und systematisieren;
Gliederungen und Gewichtungen zu erstellen oder Zusammenhänge und
Wechselwirkungen werden zu lassen. Das Ziel ist es, mit diesen Vorgängen
einen epistemischen Aufstieg zu erreichen.[12]
Sind die Bemühungen um Verstehen erfolgreich, dann ist es uns beispielsweise
gelungen, neue Einsichten zu gewinnen, bestehende Probleme einer Lösung zu
zuführen oder virulente Fragen zu beantworten.
Wird Wissen als Ergebnis kognitiver Vorgänge betrachtet, welche gesicherte
Erkenntnisse über unsere Welt vermitteln, erschließt sich nun auch der
Zusammenhang von Wissen und Verstehen. Verstehen zeigt sich als ein
fortlaufender Prozess, in dem beständigen Bestreben, sich Welt anzueignen
und zu durchdringen, sich zurechtzufinden und zu handeln. Die „Ergebnisse“
dieser Vorgänge, die einem flüchtigen Auszug aus einem fortlaufenden Prozess
gleichkommen, lassen sich als Wissen bezeichnen. Verstehen wird somit zur
Voraussetzung von Wissen, das sich in zweierlei Hinsichten unterscheiden
lässt. Auf der individuellen Ebene ist Wissen das, was sich im
Verstehensprozess herausbildet; das, was ich verstanden habe. Etwas Neues
hat sich eingestellt; es ist nun im Ausgangsgefüge verknüpft, strukturiert,
verortet; ein modifiziertes System hat sich vorübergehend stabilisiert und
ermöglicht neue Einsichten, Problemlösungen oder Anwendungen. Dieses Wissen
steht mir nun für weitere Verstehensversuche zur Verfügung – vorausgesetzt,
es wird gepflegt und bleibt erhalten.
In einem engeren, aber sehr geläufigen Sinn werden unter Wissen seine
manifesten Formen gefasst. In erster Linie denken wir hier an die großen
Nachschlagewerke, an Zeitschriftenartikel und Standardwerken, an
Lehrmaterial: Sie wurden in anerkannten Verfahren geprüft, in
spezialisierten Diskussionen weiterentwickelt, durch Gutachterprozesse
positiv getestet. Hinter dieser kurzen Zusammenfassung verstecken sich
umfangreiche Verstehensprozesse. Gefasst in stark standardisierten und
abstrahierten Zeichensystemen, dienen diese Formen der Überprüfung,
Fixierung und Vermittlung. Angewendet auf den Bereich der Architektur heißt
dies, dass zu den manifesten Formen die Pläne, Bau- und
Produktbeschreibungen zu zählen sind, DIN-Richtlinien ebenso wie
Gesetzesartikel, Bilder und Modelle, auch die Bauwerke selbst – um nur
einige Beispiele zu nennen.
Auf diese Weise erklärt sich auch, wie Wissen verloren geht. Fehlt die
kognitive Leistung des Verstehens, bleiben etwa gegebene schriftsprachliche
Zeichensysteme eine Ansammlung von Daten oder Informationen.[13]
Möglicherweise liegen noch manifeste Formen vor, die aber nicht mehr
verstanden werden. Dies kann beispielsweise durch eine
Interessenverlagerung, einen Paradigmenwechsel, einen Bruch in der
Tradierung der Interpretationspraxis ausgelöst werden. Hier schließt sich
der Kreis: Können die Zeichen nicht mehr interpretiert werden, ist das
frühere Wissen nicht länger zugänglich. Die Rede von der Kognitivität der
Architektur setzt funktionierende Zeichenprozesse voraus, die jederzeit
wieder eingebüßt werden können.
Literatur:
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Zeichen und Interpretation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 16-35.
Ammon, Sabine (2004): The language of architecture.
An
Approach to Nelson Goodman's theory of symbols,
http://www.gruene-akademie.de
(25.5.2008).
Ammon, Sabine (2005): Welterzeugung als kreativer Prozeß. Überlegungen zu
Nelson Goodmans konstruktivistischer Theorie des Verstehens. In: Abel,
Günter: Kreativität: XX. Deutscher Kongress für Philosophie.
Sektionsbeiträge, Bd. 1, Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin 2005,
285-294.
Ammon, Sabine (2006): Was weiß die Kunst? Zur Relevanz künstlerischen
Wissens in der Wissensgesellschaft. In: Heinrich-Böll-Stiftung: Die
Verfasstheit der Wissensgesellschaft, Münster: Westfälisches Dampfboot 2006,
72-81.
Cooper, Neil (1995): The epistemology of understanding, Inquiry, Bd. 38,
205-215.
Dreyer, Claus (2003): Semiotische Aspekte der Architekturwissenschaft:
Architektursemiotik. In: Roland Posner, Klaus Robering & Thomas A. Seboek:
Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und
Kultur, Bd. 3, Berlin u. a.: De Gruyter 2003, 3234-3278.
Elgin, Catherine Z. (1996): Considered judgment, Princeton, NJ u. a.:
Princeton University Press.
Fisher, Saul (2000): Architectural notation and computer aided design,
Journal of Aesthetics and Art Criticism, Bd. 58, Nr. 3, 273-289.
Goodman, Nelson (1954): Fact, fiction, and forecast, London: Athlone. Zit.
nach: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.
Goodman, Nelson (1968): Languages of art. An approach to a theory of symbols,
Indianapolis: Bobbs-Merrill. Zit. nach: Sprachen der Kunst. Entwurf einer
Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995.
Goodman, Nelson (1978): Ways of worldmaking, Indianapolis: Hackett. Zit.
nach: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.
Goodman, Nelson (1984): Of mind and other matters, Cambridge, Mass. u. a.:
Harvard University Press. Zit. nach: Vom Denken und anderen Dingen,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987.
Goodman, Nelson & Catherine Z. Elgin (1988): Reconceptions in philosophy and
other arts and sciences, Indianapolis: Hackett. Zit. nach: Revisionen.
Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1989.
Hauser, Susanne (2004): Das Wissen der Architektur. Ein Essay aus
kulturwissenschaftlicher Perspektive, Wolkenkuckucksheim, Bd. 9, Nr. 2,
sowie unter:
http://www.tu-cottbus.de/BTU/Fak2/TheoArch/Wolke/deu/Themen/042/Hauser/hauser.htm
(25.5.2008).
Poser, Hans (2000): Zwischen Information und Erkenntnis. In: Hubig,
Christoph: Unterwegs zur Wissensgesellschaft. Grundlagen – Trends –
Probleme, Berlin: Sigma 2000, 25-45.
Anmerkungen:
[1]
Vgl. hierzu auch die Charakterisierung von Abel 1994: 16 f.
[3]
Vgl. Goodman 1954:87, 1978: 153 ff., Elgin 1996: insb. 106 ff.
[4]
Goodman 1968: 9; vgl. Goodman 1984: 55.
[5]
Goodman 1968: 210, Goodman & Elgin 1988: 35.
[6]
Ergänzend hierzu auch Fisher (2000), der den Zusammenhang von
Notationen und CAD diskutiert.
[7]
Dies betont auch Hauser 2004; vgl. dazu Ammon 2004.
[8]
Einen guten Überblick zu weiteren Ansätzen der Architektursemiotik
gibt Dreyer 2003.
[9]
Vgl. Goodman und Elgin, die von „Erzeugung, Anwendung und
Interpretation“ als Formen des Gebrauchs sprechen (1988: 216).
[10]
Vgl. Ammon 2006 zur Kognitivität der Kunst.
[11]
Goodman und Elgin 1989: 213.
[12]
Terminologie nach Cooper 1995: 207.
[13]
Vgl. Poser 2000: 28 ff., 41.
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