Zum Interpretieren von Architektur
Theorie des Interpretierens

12. Jg., Heft 2, Dezember 2008

 

___Harald Deinsberger
Graz
  Wohnbau-Interpretation oder Wohnbau-Analyse
Widerspruch oder sinnvolle Ergänzung ... und wo bleibt die Wohnbau-Theorie dabei?

 

   

Eine Wohnbauanalyse im wissenschaftlichen Sinn hätte die Aufgabe, faktisches Wissen über das jeweilige Wohnbauobjekt zu eruieren und die Ergebnisse in nachvollziehbarer, überprüfbarer Form zu präsentieren. Und welchen Zweck hätte eine Wohnbau-Interpretation? Gemäß ihrer ursprünglichen Vermittler-Funktion[1] läge dieser wohl darin, die aus der Analyse gewonnenen Fakten zu "übersetzen", d. h. zugänglich und verständlich zu machen, womit schon deutlich wird, dass es nicht sinnvoll wäre, Analyse und Interpretation voneinander zu trennen, sondern dass sie vielmehr erst in Kombination miteinander ein praktikables und verständliches Instrumentarium ergeben.
Eingangs sei folgende Prämisse dargestellt: Da der Wohnbau von allen Bauaufgaben am stärksten und am direktesten mit dem menschlichen Wesen verknüpft ist, muss auch eine Analyse, die an den Kern der Wohnbauaufgabe gelangen soll, eine ganzheitlich humanwissenschaftliche Ausrichtung aufweisen. Das bedeutet, ein Wohngebäude nicht bloß als solitäres Bau- oder Designobjekt zu betrachten, sondern stets im Gesamtkontext, in Verbindung zum jeweiligen Wohnumfeld und vor allem zum Menschen selbst (mit all den psychologischen, soziologischen, physiologischen Facetten), also das "Gesamtsystem" Mensch-Wohnung-Umfeld samt internen wie externen Wechselwirkungen und Zusammenhängen zu berücksichtigen.
Doch wie kann eine solche Methodik der Wohnbauanalyse aussehen? Welche Kriterien und Parameter lassen sich definieren? Und wie vermittelt / interpretiert man die Ergebnisse einer solchen Wohnbauanalyse?


Als Einleitung zwei wichtige, grundsätzliche Orientierungsfragen:

1. Was ist/kann/bringt eine Interpretation?
Wenn, wie vom Duden[2] festgestellt, "Interpretation" einerseits gleichzusetzen ist mit 'Auslegung, Erklärung, Deutung' oder andererseits auch 'Auffassung', dann liegt der Schluss nahe, dass dort, wo es wenig oder nichts auszulegen oder zu erklären gibt (oder nicht erklärt werden kann), diese Lücke mit Auffassungen oder – pointierter ausgedrückt – mit Meinungen aufgefüllt werden muss. Diese sind naturgemäß stark individuell geprägt und sagen daher oft mehr über die Person aus, die diese Auffassung formuliert bzw. vertritt, als über das Objekt, zu dem dieselbe geäußert wurde. Sie sind also, wenn man Informationen bzw.  Erkenntnisse zu einem bestimmten Objekt (z. B. einem Wohnbauobjekt) erhalten will, nur wenig aufschlussreich.
Eine Interpretation, die glaubt, auf analytische Vorarbeiten bzw. auf eine wissenschaftliche Basis verzichten zu können, kann noch so plausibel und überzeugend ausformuliert werden, der Erkenntniszugewinn über das Objekt bleibt minimal, denn man erhält letzten Endes lediglich subjektive Eindrücke und individuelle Auffassungen der interpretierenden Person. So scheint eine derartige Interpretation in vielen Fällen eher eine kathartische Funktion für den Interpretierenden zu erfüllen als einer Informationsvermittlung zu dienen.
Eine Auslegung, Erklärung oder Deutung hingegen intendiert eine vorausgehende analytische Beschäftigung mit dem Objekt – ist also stärker objektorientiert und darauf ausgelegt, Informationen über das Objekt zu erlangen bzw. aus dem Objekt selbst heraus zu generieren, was wiederum das Wesen einer analytischen Herangehensweise darstellt.

2. Was ist/kann/bringt eine Analyse?
Eine "Analyse" bezeichnet eine "systematische Untersuchung eines Gegenstandes oder Sachverhaltes hinsichtlich aller einzelnen Komponenten oder Faktoren, die ihn bestimmen."[3] oder steht für eine "Zerlegung, Zergliederung eines Ganzen in seine Teile, systematische Untersuchung eines Sachverhalts unter Berücksichtigung seiner Teilaspekte."[4]
Im Zentrum einer Analyse befindet sich das jeweilige zu untersuchende Objekt; sie ist demnach vom Prinzip her objektorientiert und versucht, von Meinungen oder individuellen Präferenzen unabhängig zu bleiben. Dies bedeutet, dass unabhängig von der Person bei einer Analyse des gleichen Gegenstandes gleiche oder zumindest ähnliche Resultate herauskommen sollten.
Eine Analyse ist jedoch abhängig von der durchgeführten Methodik samt den zugehörigen Bewertungskriterien und Parametern. Je besser, d.h. unmissverständlicher und eindeutiger diese ausformuliert sind, desto objektiver und nachvollziehbarer wird die Analyse respektive  deren Evaluation.
Um ein kurzes Zwischenresümee zu ziehen, bringt eine Analyse im wissenschaftlichen Sinn prinzipiell Resultate, die überprüfbar (verifizierbar/falsifizierbar) sind. Im Gegenzug kann sich eine Wohnbau-Interpretation einerseits dort als sinnvoll erweisen, wo streng wissenschaftliche Kriterien nicht mehr greifen, wo analytische Untersuchung ins Leere fassen, z. B. in allen Belangen, die sich mit der subjektiv emotionalen Wirkung eines Gebäudes beschäftigen.
Eine rein selbstbezogene Interpretation kann – da es an analytischem respektive theoretischem Hintergrund fehlen würde – kaum zur fundierten Beurteilung von Wohnbauten, zur Bewertung der Wohnqualität einer Wohnung oder einer ganzen Wohnanlage herangezogen werden.
Sekundär (und das ist ein wichtiger Punkt) kann das Interpretieren aber auch dort Sinn machen, wo es um die Vermittlung von sachlich-nüchternen Analyse-Resultaten geht, um auf die eigentliche und ursprüngliche Vermittlungs-Funktion der Interpretation zurückzukommen.

Objekte der Analyse sind in diesem Kontext Wohnbaustrukturen (dieser Begriff steht hier stellvertretend für Wohnungen, Wohngebäude, Wohnanlagen samt Umfeld) respektive das System, mit dem sie vernetzt sind (=Habitatsystem, s. u.). Was ist generell bezüglich Wohnbaustrukturen nach wissenschaftlichen Kriterien analysierbar und was nicht?
Zum einen sind dies, wie bei jedem anderen Gebäude auch, bauphysikalische und hochbautechnische oder auch baubiologische, -ökologische sowie wohnmedizinische Faktoren und Eigenschaften eines Gebäudes, die untersucht und z. T. auch gemessen werden können (dazu gibt es bereits eine Reihe bewährter Verfahren, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll, da sie thematisch nicht im Vordergrund stehen.)
Eine andere Situation zeigt sich wiederum bei baustilistischen sowie gestalterisch formalen Themen. Dafür kommen eher beschreibende, dokumentierende oder vergleichende[5] (im kunsthistorischen Sinn) Verfahren in Frage.
Doch wie sieht es mit dem eigentlichen Kern der Wohnbauaufgabe aus, der von menschlichen, humanwissenschaftlichen Faktoren bestimmt wird? Dazu zählen in diesem Zusammenhang vor allem Umwelt- und Wohnpsychologie, Wohnsoziologie, Anthropologie so wie auch wohnphysiologische Faktoren.
Und wie steht es um den theoretischen Überbau, sprich um die wissenschaftstheoretischen Aspekte? Damit wären beispielsweise systemtheoretische (oder auch feldtheoretische) Ansätze und vor allem die daraus abgeleiteten systemstrukturellen Konsequenzen (bez. Wohnbaustrukturen) gemeint.

Nun stehen die hier genannten Termini für ganze wissenschaftliche Fächer, die in ihrer Gesamtheit zu umfassen, ein bei weitem zu komplexes und ausuferndes Unterfangen darstellen würde, um damit eine praktikable Wohnbauanalyse durchführen zu können. Daher sollen (und müssen) aus all den humanwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Facetten vor allem jene herausgefiltert werden, die folgende Kernthemen erfassen und erklären können:

  • die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und seiner Wohnumwelt sowie die Art und Intensität der Interaktionen bzw. die Interaktionsmöglichkeiten auf allen Ebenen (physio-, sozio- oder psychologische etc.)
  • und allen voran die spezifisch wohnungsbezogenen Bedürfnisse des Menschen.

Die Leitfrage dazu lautet: Welche Rolle spielen Wohnbaustrukturen (um deren Analyse und Interpretation es hier letzten Endes geht) in Bezug auf das jeweilige Umfeld bzw. den jeweiligen Umweltausschnitt, in dem sie errichtet wurden, und in Bezug auf den wichtigsten Faktor, den wohnenden Menschen selbst?

Wie bereits erwähnt, nimmt die Wohnung in zweierlei Hinsicht eine Sonderstellung in der Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt ein. Dazu gilt es anzumerken, dass der Begriff "Umwelt" nicht nur die natürliche, sondern auch die bauliche, architektonische oder soziale Umwelt umfasst. Sie bezeichnet "die Gesamtheit der Faktoren eines Lebensraumes, die auf ein Lebewesen einwirken und auf die ein Lebewesen einwirkt".[6]
Erstens kann die Wohnung als ein spezieller Ausschnitt der Umwelt betrachtet werden, der mit den jeweiligen Bewohnenden in einer besonders intensiven Beziehung steht. Dieser Umweltausschnitt umfasst dabei nicht nur das Wohnungsinnere, sondern auch die der Wohnung zugeordneten Freibereiche (Terrassen, Balkone, Grünflächen etc.), das unmittelbare Wohnumfeld, Erschließungsflächen, Vorbereiche etc. Eine Wohnung samt Umfeld bildet nicht nur eine Projektionsfläche für die Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse des Menschen, sondern sie determiniert auch die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen in seinem eigenen Lebensraum.
Zweitens bildet die Wohnung gleichsam ein Bindeglied zwischen dem wohnenden Menschen und seiner Umwelt, d. h. die wohnbauliche Hülle und die Wohnung selbst bestimmen in entscheidender Weise die Wechselwirkungsprozesse zwischen Innen und Außen, zwischen den Bewohnenden und ihrer Wohnumwelt; sie filtern nicht nur die Einflüsse von außen und prägen die Wirkung nach außen, sondern sie determinieren auch die Kontakt- und die Interaktionsmöglichkeiten, die Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten u. v. a. m.

Um all die o. g. wohnbaulichen Faktoren erfassen zu können, ist eine ganzheitliche, systemische Konzeption unerlässlich. Das bedeutet aber auch, dass ein Bezugsrahmen hergestellt werden muss, ein terminologisches und systemisch verknüpftes Netzwerk, das alle relevanten Facetten integrieren kann, seien diese psychologischer, soziologischer, physiologischer oder auch systemtheoretischer Art. Wodurch diese Facetten nicht nur wissenschaftlich definierbarer, sondern auch analytisch fassbarer werden sollten – eine entsprechende Methodik vorausgesetzt.


(A) Systemische bzw. systemtheoretische Konzeption

Diese Konzeption bildet das wissenschaftstheoretische Grundgerüst, an das die einzelnen Facetten angeknüpft werden können:
A
us systemtheoretischer Sicht liegt einer Struktur stets ein systemischer Zusammenhang (sprich ein System) zugrunde. So "... kann eine Wohnbaustruktur als materielle, bauliche Manifestation eines Mensch-Wohnung-Umfeld-Systems bezeichnet werden."[7]
Ein Habitatsystem (bzw. Mensch-Wohnung-Umfeld-System), das auch als ökobehaviorales System[8] gesehen werden kann, definiert sich kurz gefasst "... über (a) seine Hauptkomponenten Mensch, Wohnung und Umfeld, (b) die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen diesen Komponenten und (c) das Austauschverhältnis und die wechselseitigen Einflüsse zwischen dem Habitatsystem und seiner Umwelt."[9]
Oder um mit E. Jantsch zu sprechen:
"Als Struktur bezeichnet man die Manifestation einer bestimmten Ordnung in einem vorgegebenen Bezugsrahmen." "Jeder Bezugsrahmen führt nicht zu beliebigen, sondern zu einer bestimmten Vielzahl von Strukturen. Das Studium der zulässigen Strukturen vermittelt oft erst die Möglichkeit, über den Bezugsrahmen selbst Aussagen zu machen."[10] ... womit wiederum eine Überleitung zur Analyse von Wohnbaustrukturen gegeben wäre.
Der gesamte wohnungsbezogene Lebensraum (= das Habitat) eines Menschen stellt folglich keine bloße Aneinanderreihung von baulichen oder räumlichen Elementen dar, vielmehr stehen diese in einer sich wechselseitig beeinflussenden Beziehung zueinander und zu den Bewohnenden selbst. Es kann also von einem System Mensch-Wohnung-Umfeld (oder kurz von einem „Habitatsystem") gesprochen werden, dessen Komponenten auf mehreren Ebenen miteinander verknüpft sind.
Diese systemische Konzeption ist insofern sinn- und wertvoll, als dass sie einen Menschen oder eine Wohnung nicht mehr als solitäre Einheiten sieht, sondern stets eingebettet in das jeweilige Umfeld und geprägt von den internen wie externen Beziehungen, Interaktionen oder Wechselwirkungsprozessen wie auch von den funktionalen und operationalen Zusammenhängen. Je besser und umfassender all diese erfasst und definiert werden können, desto eher können auch fundierte und aufschlussreiche Analyseergebnisse generiert werden.


(B) Das terminologische Netzwerk

Dieses dient der thematischen sowie logisch argumentativen Verknüpfung der Hauptbegriffe, die sich einerseits von den menschlichen Wohnbedürfnissen ableiten lassen und andererseits auf das systemtheoretische Grundgerüst (s. o.) aufbauen. Sie bilden daher zugleich auch die Hauptkriterien einer Analyse von Wohnbaustrukturen.
Eingangs sei hier angemerkt, dass die nachfolgend aufgelisteten Begriffe keine singulären Phänomene bezeichnen, sondern jeweils stellvertretend für einen ganzen Themenbogen stehen (dessen Komplexität und Vielschichtigkeit in diesem Rahmen natürlich nur angedeutet werden kann):
 

  • Protektion, die Schutzfunktionen des Wohnbaus:
    Die Erfüllung bzw. Wahrung der Schutzbedürfnisse bilden aus menschlicher, anthropologischer Sicht die Basisfunktionen jeglichen Wohnbaus und verteilen sich über mehrere Bereiche: Ausgehend von den sensorischen und physiologischen Schutzbedürfnissen, dem Schutz vor aggressiven oder invasiven "Elementen" über den Schutz der Privat- und Intimsphäre bis hin zur Bewahrung des Wohlbefindens u. v. a. m. ergibt sich eine äußerst breite Palette an unterschiedlichen Schutzaufgaben für einen Wohnbau bzw. für Wohnbaustrukturen. Generell lassen sie sich zu drei Aufgabengebieten zusammenfassen, und zwar im Sinne einer Sicherung und Bewahrung
    1. des (Über-)Lebens eines Menschen, (human shelter) – die archaische Schutzfunktion;
    2. des Lebensraums einer Person und ihrer Angehörigen (private space) – die "klassische" Wohnbauaufgabe; und
    3. der wohnbaubezogenen Lebensqualität bzw. des Wohlbefindens (personal wellness) – die moderne/zivilisatorische Schutzfunktion.[11]
    Im Zuge einer Wohnbauanalyse gilt es festzustellen, inwieweit die unterschiedlichen Schutzfunktionen erfüllt werden oder nicht bzw. ob und inwieweit diese überhaupt erfüllbar sind.
     
  • Isolation, die Hauptgefahr jeglicher Abschottung und ihre Folgen:
    Der ganzheitliche Ansatz definiert den Menschen aus mehreren Perspektiven, z. B. (a) als ein biologisch-physiologisches Wesen, das durch permanente Wechselwirkungen und Austauschprozesse mit seiner Umwelt verbunden ist,
    (b) als ein wahrnehmendes Wesen, das fortlaufend Informationen aus seiner Umwelt aufnimmt respektive "Nahrung" für seine Sinne benötigt,
    (c) als ein aktives, gestaltendes, handelndes Wesen, das stets mit seiner wohnlichen Umwelt bzw. dem Wohn-Umfeld interagiert und
    (d) als ein kommunikatives Wesen, das auf Interaktionen mit seinem sozialen Umfeld angewiesen ist.[12]
    Ungewollte, unerwünschte Isolation bringt demnach auf allen Ebenen menschlichen Daseins Einschränkungen mit sich. Sie kann nicht nur die Interaktionsmöglichkeiten eines Menschen stark oder gänzlich einschränken, sondern auch, je nach Art, Dauer und Ausmaß seine aktuelle Befindlichkeit beeinträchtigen, sie kann ihm sowohl in psychischer als auch in physiologischer Hinsicht erheblichen Schaden zufügen und in extremer Ausformung sogar sein (Über-)Leben gefährden.
    Ergo sollte der Grad bzw. das Ausmaß an Isolation auf all den o. g. Ebenen bei einer Wohnbauanalyse unbedingt bewertet werden.
     
  • Regulation:
    Der Begriff "Regulation" umfasst die Kontroll- und Regulationsmöglichkeiten des Menschen über Ausmaß, Art und Intensität der Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen ihm und seinem wohnlichen Umfeld (inklusive der Wohnung selbst) bzw. über Einflüsse/Einwirkungen unterschiedlichster Art aus der Umwelt oder dem unmittelbaren Umfeld auf ihn selbst sowie auf seine Wohnung / seinen Lebensraum.
    Sie gliedert sich dabei in
    (a) aktuelle Regulation, um dem aktuellen Wohlbefinden[13] gerecht zu werden und auf kurzfristige oder tageszeitliche Veränderungen reagieren zu können,
    (b) habituelle Regulation, um dem habituellen Wohlbefinden[14] gerecht zu werden und betrifft langfristige Änderungen und entsprechende Adaptionen des Lebensraums,
    (c) soziale Regulation, die Ort und Zeitpunkt von sozialen Interaktionen bzw. den Kontakt zu anderen Individuen bestimmt,
    (d) physiologische Regulation, die alle Maßnahmen umfasst, um Einfluss auf physiologische Faktoren nehmen zu können.
    Die Konzipierung von Wohnbaustrukturen sollte darauf abzielen, das Regulations- und Adaptionspotential zu maximieren, denn diese bilden zugleich auch die Vorraussetzung dafür, dass Wohnzufriedenheit entstehen bzw. erhalten werden kann, und zwar, indem unterschiedliche regulative oder adaptive Maßnahmen ermöglicht werden, durch die eine Person sowohl auf die eigenen aktuellen Anforderungen und individuellen Gemütslagen reagieren, als auch längerfristige, die gesamte Lebenslage betreffende Anpassungen vornehmen kann.
    Im Zuge der Regulation wird der architektonischen Hülle eines Wohnbaus eine Filterfunktion zuteil (bzw. Regulationsfunktion vor allem in physiologischer, baubiologischer, aber auch in psycho-sozialer Hinsicht)
    , indem über Materialwahl, Raumgliederung und Konstruktionsart die unterschiedlichen Umwelteinflüsse gefiltert werden; die Regulation geschieht teils autark (also ohne menschliches Zutun), teils sollte sie jedoch auch durch die Bewohnenden selbst steuerbar (also regulativ) sein, um unerwünschte Einwirkungen abzuschirmen und erwünschte durchzulassen, um gewollten Kontakt herstellen und ungewollten vermeiden zu können.[15]
    Das Erkennen und Einschätzen des Regulationspotentials (und Adaptionspotentials) in all seinen Facetten bildet einen wichtigen Bestandteil einer Wohnbauanalyse.
     
  • Offenheit als Planungsmaxime für menschengerechte Wohnbaustrukturen[16]:
    Diese besagt, dass zwar alle erforderlichen Schutzfunktionen erfüllt werden müssen, danach jedoch ein Maximum an "Offenheit" anvisiert werden soll und dies in mehrerlei Hinsicht: um die Isolation (s. o.) der Bewohnenden zu minimieren, um den Erlebens- und Wahrnehmungsraum zu erweitern, um Prozesse der Aneignung (im umweltpsychologischen Sinn) ablaufen zu lassen etc.
    Offenheit kann im erweiterten Sinn auch als ein Anbieten oder Eröffnen von Möglichkeiten gesehen werden, von Möglichkeiten zur Gestaltung, für Handlungen, Nutzungen und Interaktionen aller Art.
    Die Maße bzw. Grade an Offenheit auf all diesen Ebenen stellen weitere grundlegende Analyse-Kriterien dar.
     
  • Beziehungen und Interaktionen:
    Jede Beziehung zwischen den Bewohnenden und ihrer Wohnumwelt basiert auf einer Reihe unterschiedlicher Kontaktprozesse, wie z.B. soziale Interaktion oder Kommunikation, aber auch das Wahrnehmen der Umwelt, das Gestalten von Teilen derselben etc. Erst über die diversen Kontakt-, Interaktions- und Austauschprozesse wird jegliche Weiterentwicklung des Menschen vorstellbar (sei es in physiologischer, in psychomentaler oder sozialer Hinsicht).
    Mit jeder geglückten Kontaktaufnahme (im o. g. Sinn) bzw. Interaktion, mit jedem menschlichen Wirken, das in seinem wohnlichen Umfeld auch erfahrbar wird, steigt zugleich die emotionale Verbundenheit mit diesem Ort. Geschieht dies in gesteigerter, gehäufter Form, so setzt ein Prozess der Identifikation ein, d. h. die Bewohnenden beginnen, sich nach und nach mit ihrem Wohnort zu identifizieren ( eine personenbezogene Ortsidentität entsteht).
    Bei einer Analyse ist demnach darauf zu achten, wie sehr eine Wohnbaustruktur diese Interaktionen ver-/behindert, zulässt oder sogar fördert.
     
  • Kongruenz als Resultat und Ziel:[17]:
    Diese steht einerseits für das Ziel (bzw. den Versuch), die gegensätzlichen Paarungen der Protektion und Isolation sowie der regulativen Optionen und baulich fixierten Strukturen in Einklang zu bringen (– Synomorphie zwischen physischen und behavioralen Strukturen herzustellen). Andererseits bildet sie letztendlich – in welcher Form auch immer – das Resultat einer jeglichen Mensch-Wohnumwelt-Anpassung.
    Von einer Kongruenz kann dann gesprochen werden, wenn die wohnbaulichen Gegebenheiten mit der Lebensweise der bewohnenden Menschen übereinstimmen. Dies kann prinzipiell auf mehreren unterschiedlichen Ebenen zustande kommen: Eine handlungs- und nutzungsstrukturelle Kongruenz stellt sich z. B. dann ein, wenn die Handlungsweisen der Bewohnenden und die Raumnutzungsstrukturen mit den baulichen Rahmenbedingungen konform gehen. In enger Verbindung dazu steht die quantitative Kongruenz, die auf die optimale räumliche Ausdehnung der Wohnräume abzielt, welche je nach Nutzungsvorstellungen und Anzahl der Bewohnenden stark variieren kann. Die physiologische Kongruenz wiederum nimmt Bezug auf baubiologische, ergonomische oder auch wohnmedizinische Parameter; bei einer gestalterischen Kongruenz kommen wiederum die formalen und ästhetischen Vorstellungen der Bewohnenden mit den realen Wohngegebenheiten zur Übereinstimmung. Die Veränderlichkeit oder Adaptierbarkeit von Wohnbaustrukturen in Verbindung zum zeitlichen Faktor, nämlich zu den verschiedenen Lebensphasen und Veränderungen im Leben der Bewohnenden, bildet die wesentlichste Voraussetzung für das Zustandekommen einer Entwicklungskongruenz, während eine soziolokale Verhaltenskongruenz vor allem die Zusammenhänge zwischen örtlich gebundenen menschlichen Verhaltensmustern und den jeweiligen räumlichen Umweltbedingungen in den Mittelpunkt stellt.
    "Aus welchem Blickwinkel auch immer man es betrachten mag, eine Mensch-Umweltbeziehung zielt stets in Richtung Kongruenz, sei es zum Vorteil oder zum Schaden des Menschen, sei es indem das wohnliche Umfeld den menschlichen Bedürfnissen angepasst werden kann oder sei es indem sich der Mensch den Umweltgegebenheiten anpassen muss. Die unterschiedlichen Strukturen (seien sie baulicher, sozialer oder mentaler Art) eines Mensch-Wohnung-Umfeld-Systems weisen damit stets eine adaptive Tendenz zur gegenseitigen Angleichung (in Richtung Synomorphie) auf."[18]
    Das Feststellen bzw. Einschätzen der verschiedenen Formen der Kongruenz bildet einen entscheidenden Beitrag einer humanwissenschaftlichen Wohnbauanalyse.



(C) Theorie – Analyse – Interpretation

Um etwas analysieren zu können, braucht es einen wissenschaftlichen theoretischen Hintergrund (in diesem Fall wurde dieser mit Punkt (A) und (B) kurz aufskizziert). Wenn dieser klar definiert und ausformuliert ist, ergeben sich in nächster Konsequenz nicht nur systemstrukturelle, bauliche Prämissen, sondern auch die entsprechenden Analysekriterien.

Dazu sei an dieser Stelle eine kurze stichwortartige Auswahl dargelegt - unter der Leitfrage: Was kann in Anlehnung an (A) und (B) überhaupt analysiert werden?

(a) "Grade / Ausmaße":

  • Bezüglich Protektion: Grad der Erfüllung der verschiedenen Schutzfunktionen,
  • Grad der unterschiedlichen Formen der Offenheit,
  • Ausmaß an Isolation auf all den o. g. Ebenen,
  • Grad und Art der Kongruenz (s. o.).
     

(b) "Potentiale / Möglichkeiten":

  • Regulationspotential bzw. Adaptionspotential,
  • Entwicklungspotential,
  • Möglichkeiten

    - zur Gestaltung / physische Interaktion,
    - zur Wahrnehmung / sensorische Interaktion,
    - zur sozialen Interaktion / Kommunikation,
    - Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten,
    - Möglichkeit zur Selbstbestimmung (regulative Kontrolloptionen).

(c) "Muster / Verknüpfungen / Strukturen"; die systemstrukturellen Konsequenzen:

  • operationale, logistische, funktionale Zusammenhänge und Verknüpfungen,
  • Zonierungen: die Definition der unterschiedlichen Zonen/Bereiche (vom persönlichen bis zum öffentlichen Raum, vom Intimitäts- bis zum Extimitätsbereich) etc.,
  • das Verhältnis zwischen Bewohnerstruktur und baulicher Struktur,
  • Attraktionsmuster, damit werden in diesem Kontext die wahrscheinlichsten respektive die bevorzugtesten möglichen Verhaltens- und Benutzungsmuster beschrieben, die sich in einer baulich-räumlichen Struktur ausbreiten können. (Dies wäre im Prinzip bereits ein Erweiterungsschritt der Analyse in Richtung Prognostik.)


Bei dieser überblicksmäßig zusammengefassten Auflistung darf nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Kriterien sich z. T. noch in zahlreiche Untergruppen aufgliedern lassen bzw. aufgegliedert werden müssen, um untersucht werden zu können (vgl. A und B).

Und zum Zweiten muss angemerkt werden, dass sich die unterschiedlichen Ebenen (psychologische, physiologische, soziologische, handlungs- und nutzungsbezogene, systemstrukturelle etc.) durch all die oben aufgelisteten Punkte hindurchziehen. Sie schaffen somit gleichsam Querverbindungen, sodass dadurch insgesamt ein matrixartiges Netzwerk gebildet wird, mit welchem die wichtigsten humanwissenschaftlichen und systemtheoretischen Wohnbauaspekte gut abgedeckt sein sollten.


Es kann abschließend festgehalten werden, dass sich ein klarer methodologischer Zusammenhang zwischen Theorie, Analyse und Interpretation erkennen lässt:

(1) Zuerst müssen die theoretischen Grundlagen, die wissenschaftlichen Zusammenhänge ausfindig gemacht werden; d. h. die theoretische Konzeption muss möglichst klar, ergiebig und praxisnah ausformuliert werden.


(2) Dann müssen daraus Analysekriterien und Parameter deduziert werden, die (a) tatsächlich an einem Wohnbauobjekt untersucht/festgestellt werden können und die (b) auch einen Zugewinn an Erkenntnissen über das Objekt einbringen können.

(3) Und schließlich nach erfolgter Analyse müssen die Ergebnisse noch evaluiert, veranschaulicht und vermittelt werden können, was uns zur Interpretation der Ergebnisse der Wohnbauanalyse führt bzw. generell zum Sinn und Zweck des Interpretierens: Denn es hätte gemäß seiner "Mittler-Funktion"[19] die Aufgabe, aus den gesamten, meist sehr komplexen und eventuell nicht selbst erklärenden Analyseergebnissen die Quintessenz herauszufiltern und möglichst anschaulich, nachvollziehbar und plausibel zu kommunizieren. Die Interpretation hätte die bedeutsame Funktion, die wichtigsten Problempunkte zu definieren und somit eine Basis für mögliche Lösungsansätze zu bieten.

(4) Feedback: Die hier dargelegte Reihenfolge Theorie (oder besser gesagt: theoretische Konzeption) – Analyse – Interpretation darf und soll jedoch nicht als Einbahnstraße verstanden werden.  Denn die Analyse bzw. deren Ergebnisse haben stets eine Rückwirkung auf die theoretischen Grundlagen, indem sie immer auch eine Überprüfung der Theorie darstellen, und indem sie diese bzw. einzelne Facetten daraus bestätigen oder in Frage stellen (verifizieren / falsifizieren). Die Interpretation wiederum hat eine Rückwirkung auf die Auswahl der Analysekriterien und Methodiken. Denn es macht letztendlich nur Sinn, Analyseergebnisse zu generieren, die auch brauchbare und vermittelbare(!) Erkenntnisse über das jeweilige Objekt mit sich bringen, d. h. sie müssen in diesem Sinne "interpretierbar" sein, wodurch sich wiederum ein Feedback auf die Analysemethodik und in weiterer Folge auch auf die theoretische Konzeption ergibt. Denn schließlich muss die Interpretation den Kontakt zu den Interessentinnen und Interessenten bzw. Klientinnen und Klienten herstellen, mit ihnen kommunizieren, ihnen brauchbare und möglichst aufschlussreiche Erkenntnisse vermitteln.

Eine Interpretation zum reinen Selbstzweck wäre ebenso sinnentleert wie eine Analyse bzw. Theorie zum reinen Selbstzweck.

 



Quellenverzeichnis:
 

[1] gemäß dem lat. interpretare ... dolmetschen, (erklärend) übersetzen, erklären, auslegen, verstehen; oder interpres ... Vermittler, Erklärer, Übersetzer.

[2] Duden, Das Große Fremdwörterbuch; S. 639, Hg.: Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Dudenverlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, 2003.

[3] Duden, Das Große Fremdwörterbuch; S. 95, Hg.: Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Dudenverlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, 2003.

[4] Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2007.

[5] vgl. Lexikon der Kunst Bd. 7, S. 594, Hg: Harald Olbrich et al., E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2004, 2. Aufl.

[6] Lexikon der Psychologie, S. 506; Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh, 1995.

[7] aus "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", Die Beziehung Mensch-Wohnung-Umfeld und ihre systemischen Grundlagen, S.16, Harald Deinsberger, BoD Verlag, Norderstedt, 2007.

[8] vgl. Alwin Engemann "Systemtheorie" in "Ökologische Psychologie", S. 106, Hg.: Kruse/Graumann/Lantermann, Psychologie Verlags Union, Weinheim, 1996.

[9] "Wohnbau und Umweltpsychologie" in IBOmagazin 3/07, S. 27, Harald Deinsberger, Verl. u. Hg.: IBO - Österreichisches Institut für Baubiologie und –ökologie, Wien, 2007.

[10] in "Handlexikon zur Wissenschaftstheorie", S. 326, Hg.: Helmut Seiffert u. Gerard Radnitzky; dtv, München, 1994.

[11] vgl. "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", Die Beziehung Mensch-Wohnung-Umfeld und ihre systemischen Grundlagen, S. 30ff, Harald Deinsberger, BoD Verlag, Norderstedt, 2007.

[12] vgl. "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", Die Beziehung Mensch-Wohnung-Umfeld und ihre systemischen Grundlagen, S. 203, Harald Deinsberger, BoD Verlag, Norderstedt, 2007.

[13] vgl. Definition für "Aktuelles Wohlbefinden" nach Peter Becker in "Wohlbefinden: Theorie, Empirie, Diagnostik", S. 13f; Hg: Andrea Abele u. Peter Becker; Juventa Verlag, Weinheim, München, 1991.

[14] nach Peter Becker, "Theorien zum habituellen Wohlbefinden" in "Wohlbefinden: Theorie, Empirie, Diagnostik", S. 19ff; Hg: Andrea Abele u. Peter Becker; Juventa Verlag, Weinheim, München, 1991.

[15] vgl. "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen" Die Beziehung Mensch-Wohnung-Umfeld und ihre systemischen Grundlagen, S. 83ff, Harald Deinsberger, BoD Verlag, Norderstedt, 2007.

[16] vgl. ebd. S. 111ff.

[17] vgl. ebd. S. 160ff.

[18] ebd. S. 206.

[19] interpretieren ... "den Mittler machen" gem. lat. interpretari; Duden, Das Große Fremdwörterbuch; S. 639, Hg.: Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Dudenverlag, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, 2003.


feedback