Zum Interpretieren von Architektur
Theorie des Interpretierens

12. Jg., Heft 2, Dezember 2008

 

___Alban Janson
Karlsruhe
  Turn! Turn! Turn! Zum architektonischen Bild

 

   

Die wissenschaftliche Perspektive, in der wir kulturelle Phänomene interpretieren, wechselt, wie uns die Kulturwissenschaften lehren, in unterschiedlichen Richtungen und Wendungen, den so genannten cultural turns. Sie geben den jeweiligen Interpretationsrahmen, das Paradigma vor, nicht als Lehrmeinung, sondern im Sinne von Wahrnehmungseinstellungen, operativen Zugängen und Analysekategorien.[1] Der interpretive turn erstreckt sich über alle anderen Spielarten des cultural turn. Kulturelle Phänomene – also auch die Architektur – wären danach nicht als festgelegte Strukturen zu verstehen, sondern als „Text“ zu lesen, der auszulegen, zu erklären, zu übersetzen ist. Umfassender aber als die sprachliche Bedeutung von „Text“ (im linguistic turn) schließt das Interpretationsparadigma auch andere Beschreibungsperspektiven ein.

So hat beispielsweise die Beobachtung, dass unsere Kultur global von Bildern beherrscht wird, jene Blickwendung ausgelöst, die unter dem Stichwort iconic oder pictorial turn die kulturellen Phänomene im Bildparadigma betrachtet. Obwohl diese Perspektive nicht neu ist, sondern schon der ikonographischen Interpretation von Kunst und Architektur in der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts zugrunde liegt, die sich auch auf Bildformen außerhalb der Kunst erstreckt, ist ihre Aktualität natürlich unstrittig. Parallel dazu hält man aber in den Kulturwissenschaften unter dem Stichwort spatial turn zum Teil für dieselben Phänomene unserer Kultur ein Raumparadigma für aufschlussreicher.

Seltsam ist dabei übrigens, dass sich die Kulturwissenschaften (Ethnologie, Geographie, Soziologie, Geschichte, Literatur etc.) zur Zeit verstärkt am Raumparadigma orientieren[2], wobei die Architektur kaum vorkommt, dass aber auf der anderen Seite eine „fortschrittliche“ Architekturtheorie dem Bildparadigma frönt und das Raumparadigma in der Architektur für obsolet hält. Doch vielleicht ist „Raum gegen Bild“ ja die falsche Kontroverse – als ob überhaupt klar wäre, was Raum heißt und was Bild heißt, und ob nicht die Paradigmen teilweise zur Deckung kommen. In der „Bildanthropologie“[3] etwa, wo man vom „Körper als Ort der Bilder“ spricht, deutet sich ein spatial turn im iconic turn an.

Der spatial turn befördert ein kritisches Raumverständnis. In dieser Konsequenz wäre auch der Begriff des architektonischen Raums und des Stadtraums im Spannungsfeld zwischen Objekthaftigkeit und situativer Erfahrung neu zu reflektieren. Der iconic turn indessen lenkt den Blick nicht nur auf das Medium des Bildes als solches, sondern auch auf seinen Gebrauch, vom Alltagshandeln bis zur Politik. Dafür sind die Repräsentationstechniken von Raum in der jeweiligen Situation entscheidend. Für beide Überlegungen ist eine prozess- und handlungsorientierte Perspektive hilfreich, für die es natürlich auch wieder das passende Wissenschaftsparadigma gibt, den performative turn, der es erlauben könnte, in Überlagerung mit den beiden anderen Paradigmen für Architektur und Urbanismus eine Sicht zu eröffnen, die ihrer heutigen Vielschichtigkeit gerecht wird.

Vor diesem aktuellen Hintergrund verdient Interesse, dass sich der Wiener Kunstwissenschaftler Dagobert Frey schon 1925 in dem Versuch einer „Wesensbestimmung der Architektur“[4] nicht auf die Festlegung einer Position einlässt, wonach die Architektur etwa primär „Raumbildnerin“ sei, gemäß der Auffassung von August Schmarsow[5] oder aber die „Kunst körperlicher Massen“, wie Heinrich Wölfflin gesagt hatte[6]. Vielmehr beruht seine Wesensbestimmung der Architektur, bei der es ihm vor allem um die Abgrenzung gegenüber den Bilddisziplinen geht, auf der bemerkenswerten Feststellung, das sei Sache der Interpretation.

„Wie wir wissenschaftlich an ein und dasselbe Objekt verschiedene Fragen stellen können, die den verschiedenen Wissenschaften zugeordnet sind, so können wir auch ein und dasselbe Objekt künstlerisch verschieden betrachten, wir können es zum Beispiel malerisch, plastisch oder architektonisch sehen.“[7]

„Wir können es also auch so ausdrücken: wenn ich ein Objekt als wirklich nehme, wenn ich seine räumliche Bestimmung mit dem Ich-Raum identisch setze, das heißt, wenn ich mich mit ihm im gleichen Raume befindlich fühle, so betrachte ich es architektonisch. [...] Daß aber ein künstlerisches Gebilde als ein architektonisches schlechthin zu bezeichnen ist, heißt, daß es aus einer architektonischen Betrachtung schöpferisch hervorgegangen ist, daß es demgemäß eine architektonische Betrachtung verlangt, daß ihm nur eine architektonische Betrachtung gerecht zu werden vermag.“[8]

Frey fährt fort: „Ein Architekturwerk muss aber keineswegs architektonisch betrachtet werden. Es ist sogar bezeichnend, daß der Laie vielfach mehr zu einer malerischen Auffassung neigt, daß er mehr die zufälligen Gruppierungen und Überschneidungen, die bildmäßigen Ausschnitte, die ‚malerischen Winkel’ sucht und bevorzugt. Das Wesentliche dieser malerischen Betrachtung liegt bezeichnenderweise in der bildmäßigen Isolierung und Distanzierung. Den ‚malerischen Winkel’ erleben wir nicht im Herumsehen und Herumgehen als einen uns umschließenden Raum; er ist vielmehr an einen bestimmten Standpunkt, von dem er zur Geltung kommt, an einen bestimmten Ausschnitt, gebunden. Man beachte wie eine Architektur, durch einen rahmenden Torbogen oder ein Fenster gesehen, sofort bildhaften, malerischen Charakter annimmt. Es ist bezeichnend, wie sich dabei sofort der Eindruck von etwas Unwirklichem einstellt.“[9]

Ein und dieselbe Sache kann nach dieser Auffassung entweder als Architektur oder aber als Bild aufgefasst werden. Da Bildern in unserer Kultur heute eine immer größere Bedeutung zukommt, sollte uns nun allerdings interessieren, ob das Verhältnis von Architektur und Bildern tatsächlich nur in dieser Ausschließlichkeit gesehen werden kann, ob es nicht eine besondere Beziehung zwischen Bild und Architektur gibt, und ob Bilder womöglich sogar eine vorrangige Rolle in der Interpretation von Architektur spielen. Es müsste um eine Art der Bildlichkeit gehen, die in der Architektur wirksam ist, ohne ihr das Architektonische zu nehmen.

Auch ohne von einem iconic turn zu wissen, interpretiert jeder seine räumliche Umwelt bereits unter dem Einfluss einer „ikonischen Differenz“, wenn man darunter den Kontrast zwischen dem vordergründig Wahrgenommenen und einer darüber hinausgehenden anschaulichen Wirklichkeit versteht, einem Kriterium für das, was nach Gottfried Boehm ein Bild ausmacht.[10] Graf Karlfried von Dürckheim, ein Psychologe der ganzheitspsychologischen Leipziger Schule der 1930er Jahre, hat darauf hingewiesen, dass etwa in der Betrachtung einer Landschaft „alles Einzelne, sofern es in relativer Selbständigkeit hervortritt, nicht einfach hier oder dort, dies und das, von dieser oder jener fest umrissenen, eindeutig fixierbaren Form und Größe [ist], sondern selbst ein bestimmtes Wesen, in charakteristischer ausdruckshaltiger Weise in sich zentriert, aufeinander und auf das Ganze bezogen.“[11] Er nennt dies die „physiognomische Erlebniswirklichkeit“, weil dabei tatsächlich physiognomische und gestische Elemente durch räumliche Merkmale zur Bildhaftigkeit der erlebten Eindrücke beitragen.

Diese Beschreibung beinhaltet mehr als nur die phänomenologische Grundeinsicht, dass Wahrnehmung immer schon Wahrnehmung von etwas ist, dass ein visuelles Feld unwillkürlich, immer und überall in eine Welt umschlägt, wohin wir blicken.[12] Denn wir machen diese Erfahrung nicht automatisch immer, sondern nur unter günstigen Bedingungen – zu denen womöglich auch die Beschaffenheit der Architektur gehört. Im Unterschied zur schlichten Wahrnehmung als Wahrnehmung von etwas, beispielsweise als Ding mit Form und Größe, handelt es sich bei der „physiognomischen Erlebniswirklichkeit“, um eine eigentümliche Betrachtungsweise, die bereits ein interpretatives Moment enthält.

„Das Einzelne ist hier also überhaupt kein Gebilde, dessen Eigenart ich fasse, wenn ich seine mehr oder weniger festumrissene Form beschreibe, denn das Entscheidende an ihm ist, dass es sich [...] verhält. So etwa ‚erhebt sich’ in einer bestimmten Landschaft ein Berg, an seinem Fuß entlang ‚zieht sich’ ein Wald, ‚erstreckt sich’ ‚weit ausladend’ eine Mulde, Felder ‚breiten sich aus’, ein Pfad ‚schlängelt sich’ hindurch und dies alles geschieht in durchaus eigentümlicher, dem Wesen des Einzelnen eigentümlicher Weise.“[13] Wir können diese Beobachtungen ergänzen durch ausdruckshafte und gestische Beispiele aus der Architektur: Kuppeln „wölben sich“, eine niedrige Decke „drückt“, ein Platz „weitet sich“, eine Brücke „schwingt sich“ über den Fluss.

Dass diese Beispiele aus der Architektur stammen, bedeutet alleine noch nicht, dass sie eine architektonische Betrachtungsweise repräsentieren. Solche Beobachtungen lassen sich nämlich nicht nur in unserer räumlichen Umwelt und in der Architektur machen, sondern beispielsweise auch an gegenstandsloser Malerei. Auch dort „verhalten“ sich einzelne Elemente durch eigentümliche gestische Eigenschaften. Da „breitet sich“ womöglich eine Farbfläche aus, eine Kurve „steigt“ auf, eine Form „drängt sich“ nach vorne. Das alles ist für Bildinterpretationen (Tafelbild, Fotografie etc.) bekannt. Aber die „sich ausbreitende“ Farbfläche beansprucht nicht den Raum des Betrachters, die „nach vorne drängende“ Form kommt ihm nicht wirklich nahe. Denn im Unterschied zur Architektur ist für Bilder wesentlich, dass die von ihnen intendierte – nämlich imaginäre – Wirklichkeit eine andere ist als die konkrete Realität des materiellen Bildobjekts und des Betrachters.

Was dagegen die „sich wölbende“ Kuppel und der „sich weitende“ Platz intendieren, gehört keiner imaginären Wirklichkeit an, sondern wirkt real auf jeden, der den Raum oder den Platz betritt und durchschreitet. Der Grund dafür ist die „existenziale Räumlichkeit“ des menschlichen Daseins.[14] „Eigenraum“ oder „Selbstraum“ nennt Dürckheim die um unser „Gesamtselbst“ zentrierte Räumlichkeit. Der „Selbstraum“ „konstituiert ein besonderes ‚Innen’, dessen Außen in einem konkreten Verhältnis zu seinem Selbst steht und dessen ‚Außen’ als ‚Herumraum’ erlebt wird. Im persönlichen Raum ist das ‚Innen’ und das ‚Drinsein’ nicht bloße Lagebestimmung, sondern ein qualitativ besonderes Erlebnis, in dem uns die Zugehörigkeit des Raumes zu unserem Selbst fühlbar zum Bewußtsein kommt.“[15] Das Innere unseres „Eigenraums“ „ist nicht etwa mit der Haut zu Ende, auch nicht nur das Kleid gehört dazu, sondern stets auch eine bestimmte Zone der freien Bewegung und über dies all das, womit man leiblich geeint ist und dessen Verstellt- oder Gefährdetsein als leibliche Selbstgefährdetheit empfunden wird.“[16]

Im realen Raum interagiert nun die Gerichtetheit und Ausdehnung unseres Selbstraumes mit den räumlichen Elementen in ihrem physiognomischen und gestischen „Verhalten“. Beide befinden sich in derselben räumlichen Realität. „Man kann der Sphäre, die einen umschließt, also nicht gegenüberstehen wie einem Tafelbild,“ sagt Peter Sloterdijk.[17] Jetzt kommt es darauf an, wie diese Interaktion erlebt wird.

Dazu nochmals Dürckheim: „Im physiognomischen Raumerleben fühlt sich der Mensch in spezifischer Weise ‚berührt’, ‚angemutet’, ‚angesprochen’, und er spricht nun seinerseits in spezifischer Weise an. Was heißt das? Es heißt, daß da offenbar eine eigentümliche Resonanz des Erlebnissubjekts auf die Raumcharaktere vorliegt. Es ist ein eigentümliches Überspringen der im Raum erlebten Artungs- und Stimmungsgestalt in das Erlebnisselbst, ein Hineingezogenwerden in die eigentümliche Dynamik, ein unwillkürliches Ergriffenwerden von der Wesenheit dessen, dem man da begegnet.“[18] Wenn wir darauf achten, merken wir zum Beispiel, wie unsere individuelle Raumsphäre geradezu durch die räumliche Struktur der Umgebung „als bestimmt geartetes Möglichkeits- und Widerstandsgefüge“ abgeformt wirken kann. Wir kommen uns selbst darin auf charakteristische Art ausgedehnt und hingewendet vor. „Und indem man den Raum in der leibhaftigen Gliederung seiner körperlichen Verhältnisse wahrnimmt als ein eigenmächtiges Gefüge, das in dieser bestimmten Ordnung ruht, erfüllt er zugleich das Innesein mit dem vielzügigen Gefüge der in ihm möglichen Bewegung.“[19]

„Ob das erlebende Subjekt [...] sich eben wirklich körperlich bewegt oder bewegen will, ist eine sekundäre Frage: auch wo das nicht der Fall ist, insonderheit auch bezüglich derjenigen Raumregionen, in denen das gar nicht möglich wäre, erlebt es ihn nie nur als eigen-sinniges ‚Bildganzes’, sondern als ein Ganzes für mögliche Bewegung. Herumschauend vollzieht es den Raum, ihn dabei empfangend und aufbauend zugleich, nicht nur mit dem ‚Auge’, d. h. als eine bestimmt gegliederte Bildgestalt, sondern es durchwandert, durchfliegt ihn, geht in ihm herum, umkreist und umtastet seine Mannigfaltigkeit, kurz nimmt ihn auf und herein, vollzieht ihn schon im Hinnehmen als ‚Bewegungsraum’, als Gegenform einer sich innerlich tatsächlich ereignenden eigenartigen Bewegung.“[20]

Was es bedeutet, sich auf die räumliche Situation als anschauliche Ganzheit einzulassen, hat auf ähnliche Weise auch der britische Architekturtheoretiker Geoffrey Scott unter dem Stichwort „Humanismus der Architektur“ beschrieben: „Wir passen uns intuitiv an die Räume an, in denen wir uns befinden, projizieren uns in sie hinein und füllen sie idealerweise mit unseren Bewegungen.“[21] „Durch die Räume können wir unsere eigenen Bewegungen wahrnehmen, die Massen sind wie wir in der Lage, Kraft und Gegenkraft auszuüben; die Linien und Umrisse könnten, wenn wir ihnen folgten, unser eigener Weg und unsere Gesten sein.“[22]

Man sieht, dass diese Interpretationen räumlichen Erlebens, obwohl ganz im architektonischen Sinne, doch auch gewisse bildhafte Eigenschaften enthalten – im Übrigen auch ein performatives Moment. Was im Raumerleben ikonisch intendiert wird, ist zunächst eine Kräftestruktur, die sich aus dem „Verhalten“ der räumlichen Elemente und unserem eigenen Verhalten zu einem anschaulichen Ganzen zusammensetzt. Doch anders als Bilder im üblichen Sinne repräsentieren solche Erlebnisse keine außerhalb liegende Wirklichkeit, sondern artikulieren die aktuell gegebene Realität so, dass sie durch verschiedene andere Eigenschaften, wie sie Bildern ebenfalls zukommen, für uns als Wirklichkeit wirksam wird: Anschaulichkeit, innere Konsistenz und suggestive Wirkung. Zudem korrespondiert der pikturale Akt, in dem der Mensch ein stabiles Bildfeld aus dem diffusen Wahrnehmungsfluss ausgrenzt, mit der fundamentalen architektonischen Funktion, eine Situation räumlich zu konturieren, im weitesten Sinne ein Innen gegen ein Außen abzuschirmen.

Vermutlich hat jeder schon einmal die Situation in einer Stadt oder in einem Raum erlebt, wo die gewöhnlich beiläufige Wahrnehmung der Architektur sich kurzfristig zu einer Intensität verändert, durch die wir – noch weitgehend unterschwellig – die ganze räumliche Situation unter Beteiligung unserer eigenen Person in einer Prägnanz wahrnehmen, die sie wie in einem Bild erscheinen lässt. Für solche Erlebnisse spielt auch die räumliche Gestalt des Schauplatzes eine Rolle. Durch die Architektur können räumliche Situationen so durchstrukturiert werden, dass sie eine Bildprägekraft erlangen, die es uns erleichtert, uns ein „Bild“ von ihr zu machen. Sich ein Bild von einer Situation zu machen, soll hier bedeuten, über einen vereinzelten Standpunkt hinaus den situativen Gesamtzusammenhang treffend zu erfassen, in dem auch der – wechselnde – Einzelstandpunkt seinen Platz findet. Verschiedene disparate Aspekte erhalten durch das Bild einen charakteristischen Zusammenhalt.

Dabei werden wir nicht nur unseres eigenen Im-Raum-Seins inne, sondern im günstigen Fall erleben wir die Situation als charakteristische Struktur. Nicht nur statisch, sondern als charakteristische performative Struktur, in der die räumlichen Elemente im Sinne einer „Bewegungsformel“[23] mit dem Handeln der Akteure zusammenwirken. Dieser Zusammenhang kann gezielt gestaltet werden, nicht nur durch die Architektur, sondern auch im Sinne einer Inszenierung des Handelns.

Gemäß diesen auf der Erlebnisebene gesammelten Beobachtungen deutet sich nun auf der theoretisch-methodischen Ebene eine für die Architektur spezifische bildhafte Interpretationsperspektive an. Um sie mit anderen Bildauffassungen nicht zu verwechseln, können wir sie vorläufig die Interpretation als „architektonisches Bild“ nennen (eine terminologische Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass vermutlich auch andere, für die Architektur weniger spezifische Bildauffassungen diesen Namen beanspruchen könnten). Es bleibt dabei durchaus fraglich, ob „Bild“ die richtige Bezeichnung ist. Man könnte die beschriebene situative Wahrnehmung von Architektur auch ganz einfach als „Situation“ bezeichnen. Es soll aber nicht nur um die generelle Einsicht in eine existenziale Räumlichkeit gehen, eine mit Gefühlen, Wünschen und Bedeutungen durchsetzte Raumpraxis als „welthaltige“ dynamische Situation.[24] Da Bilder für unsere Kultur – besonders heute – eine so große Rolle spielen, interessiert uns hier vielmehr, was gerade eine bildhafte Interpretation von Architektur leistet. Und in der Tat zeichnet sich ab, dass sich das Erleben von Architektur neben dem allgemeinen Situationscharakter genauer durch bildhafte Merkmale wie Ausdrucks- und Gestalthaftigkeit, Anschaulichkeit und bestimmte Formen von ikonischer Differenz beschreiben lässt.

Durch die Interpretation im „architektonischen Bild“ kommen nun zwei Interpretationsrahmen zur Deckung: Zum einen liegt eine architektonische Betrachtungsweise (u. a. im Sinne von Dagobert Frey) vor. Zum anderen haben wir es mit einer Bildauffassung zu tun, die sich zwar von anderen Bilddefinitionen unterscheidet, aber durch die ihr eigentümliche ikonische Differenz den spezifischen Bildcharakter von Architektur kennzeichnet. Anders als Bilder vom Typ des Abbilds wirken solche Situationen nicht durch den Verweis auf einen virtuellen Bildinhalt, sondern die Bildwirkung konzentriert sich auf die vorliegende reale Situation selbst. Diese selbstreferentielle Wirkung des architektonischen Bildes korrespondiert mit der anthropologischen Disposition der „Exzentrizität“[25]: Das bedeutet, die Menschen sind in der Lage, sich selbst beim Handeln in der Welt zuzusehen, sie sind Akteure und (ihre eigenen) Zuschauer zugleich. Diese Selbstwahrnehmung beschränkt sich nicht auf das Sehen, sondern umfasst die leibliche Ganzheit, eingebettet in eine raum–zeitliche Situation. Menschliches Erleben ist in fundamentaler Weise „szenisches Erleben“, das „architektonische Bild“ auch „szenisches Bild“.[26]

Um nun noch einmal auf jene andere Bildauffassung zurückzukommen, die Dagobert Frey in der eingangs angeführten Passage als Gegensatz zur architektonischen Betrachtungsweise beschrieben hatte, so beruht nicht nur das Interesse der Laien an der „malerischen“ Betrachtung von Architektur auf einer Bildsicht, die Frey zufolge eine außerarchitektonische Interpretation von Architektur darstellt. Auch die Interpretation von „Architektur als abbildende Kunst“[27] durch die kunsthistorische Ikonographie müsste man dazu rechnen, die architecture parlente und die Zuweisung einer fiktionalen und narrativen Rolle an die Architektur in der Postmoderne,[28] ihre Verwendung als Zeichen oder als plakatives Image in den aktuellen Vermarktungsstrategien. Auch die in letzter Zeit zunehmende Konzentration architektonischer Gestaltung auf die Fassade mit ihren zwischen Bildfläche und räumlicher Tiefe changierenden optischen Ereignissen weist in die gleiche Richtung.[29] Nicht zuletzt auch die zunehmende Verlagerung architektonischer Rezeption in ihre fotografische und digitale Reproduktion und Simulation. Sich in einem imaginären Raum zu bewegen, beinhaltet solange noch keine architektonische Erfahrung, wie sie als Bildrealität von der Betrachterwirklichkeit getrennt bleibt.

Es gibt also – gerade aus dem Blickwinkel des iconic turn – eine ganze Reihe von Bildperspektiven, die für die Architektur eine entscheidende Rolle spielen mögen und heute von großer Aktualität sind, die aber genau genommen keine spezifisch architektonische Bildinterpretation darstellen. Mit dieser Diskrepanz wird man sich beschäftigen müssen.

Zusammenfassend kann man sich den Unterschied zwischen einer Sichtweise, die einer eher außerarchitektonischen (Dagobert Frey) Bildbetrachtung entspricht, und einer Bildauffassung, die zugleich als eine architektonische Interpretation gelten soll, am Beispiel des Übergangs von einem zum anderen klar machen.

Als isoliertes und distanziertes Bild erscheint ein Gebäude vor allem meinem fixierten Blick statisch, im gerahmten Durchblick, im Ausschnitt des Kamerasuchers oder Monitors, bevorzugt auf die Fassade gerichtet, oder auf kompositorische Ordnungen in der Bildebene, die sich als interessante Formüberschneidungen abzeichnen – von Piranesi bis Gehry. Besondere Bedeutung erhalten in einem solchen Bild formale Eigenschaften. Das schöne Bild der Architektur, die sich von ihrer fotogenen Seite zeigt, stützt sich auf Flächenproportionen und Maßverhältnisse, attraktive Farbigkeit und Oberflächeneffekte, das Spiel von Fläche und Tiefe, außerdem plakative Zeichenhaftigkeit, Symbolkraft und Werbewirkung. Es wird fast ausschließlich visuell wahrgenommen. Und es bietet den Vorteil einer weitgehenden Kontrollierbarkeit, lässt sich leicht reproduzieren und anschließend global verbreiten, etwa um im Prozess des branding eine Marke zu vertreten.

Diese „Projektion“ hat eine Chance, umzuschlagen in eine architektonische Bildsicht, wenn sie sich aus der Fixierung löst. Sobald der Raum mich in die Tiefe hineinzieht und umfängt oder durch körperhafte Konfrontation ein räumliches Spannungsfeld aufbaut, kann es passieren, dass die Qualitäten des vorherigen Bildes verblassen und sich die andere Bildsicht aufdrängt. Im „Herausdrehen“ aus der ausschnitthaften Perspektive erwacht das „architektonische Bild“. In dieser Bildsicht mögen die visuellen Qualitäten des vorherigen Zustands noch am Rande mitspielen. Charakteristische Merkmale sind nun aber eine bestimmte Gestik und Bewegungsstruktur, eine Wahrnehmungsfülle, die auch Akustik, Geruch, alle Sinne umfasst, vor allem aber die Erfahrung, selbst Teil des Bildes zu sein.

Dieses Bild macht fremd, schärft unser Interesse und lässt uns unerwartet wahrnehmen, was uns vorher unwichtig schien. Durch die facettenreichen Kontraste der ikonischen Differenz wird unsere Wahrnehmung entregelt, von der Fixierung aufs rein Dienliche befreit und kann sich mit gestreuter Aufmerksamkeit von der Fülle des Ganzen gefangen nehmen lassen. Vielleicht kann man es jederzeit darauf anlegen, sich in ein solches Bild zu versetzen. Doch dieses Bild kann brüchig, zerfallend, von geringem Zusammenhalt und flüchtiger Konsistenz sein, oder aber stimmig, prägnant und von suggestiver Kraft. Wodurch Architektur günstige Bedingungen für die Prägnanz, Lebendigkeit und Intensität einer architektonischen Bilderfahrung schafft, wäre indessen ein anderes Thema.

 



Anmerkungen:

[1] Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2007, S. 10.

[2] Vgl. hierzu die neueste Textsammlung: Döring, Jörg; Thielmann, Tristan (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008.

[3] Belting, Hans, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001.

[4] Dagobert Frey, Wesensbestimmung der Architektur (1925). In: Ders., Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Wien 1946.

[5] Schmarsow, August, Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Leipzig 1894.

[6] Wölfflin, Heinrich, Renaissance und Barock. München 1888, S. 63.

[7] Frey, a. a. O., S. 93.

[8] Ebd., S. 98f.

[9] Ebd., S. 99.

[10] Boehm, Gottfried, Die Wiederkehr der Bilder, in: Ders. (Hg.), Was ist ein Bild, München 1994.

[11] Dürckheim, Karlfried Graf von, Untersuchungen zum gelebten Raum (1932), hg. von Jürgen Hasse, Frankfurt/M 2005, S. 65.

[12] Führ, Eduard, Feld und Welt. Zur Phänomenalität des Phänomens. In: Wolkenkuckucksheim, 12. Jg., Heft 1, August 2007;
/openarchive/wolke/deu/Themen/071/Fuehr/fuehr.htm.

[13] Dürckheim, a. a. O., S. 65f.

[14] „Das Dasein hat selbst ein eigenes «Im-Raum-Sein» [...].“ Heidegger, Martin, Sein und Zeit. Tübingen (17. Aufl.) 1993, S. 56. „Im Sichrichten auf ... und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon «draußen»[...],“ Ebd., S. 62.

[15] Dürckheim, a. a. O., S. 92.

[16] Ebd., S. 94. Vgl. auch Gosztonyi, Alexander, Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, Freiburg München 1976, S. 1005. „Der Mensch erweitert seine eigene, persönliche Raumsphäre von seinem Leib her sukzessiv und bezieht somit alles Räumliche in sein ‚räumliches Leben’; er konstituiert also den Raum von seinem ‚Leibraum’ her.“ Vgl. auch Sommer, Robert, Personal Space. Englewood Cliffs 1969, S. 26ff; Hall, Edward T., The Hidden Dimension, New York 1966, S. 113-129: „Personal (space) bubble“ nannte man die persönliche Raumsphäre in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die in den 60er Jahren wurde unter der Bezeichnung „proxemics“ (von engl. proximity, Nähe) durchgeführt wurden.

[17] Sloterdijk, Peter, Medien-Zeit. Drei gegenwartsdiagnostische Versuche. Stuttgart 1993, S. 10.

[18] Dürckheim, a. a. O., S. 72f.

[19] Ebd., S. 38.

[20] Ebd., S. 47f.

[21] Scott, Geoffrey, Die Architektur des Humanismus. Eine Untersuchung zur Geschichte des Geschmacks. In: Neumeyer, Fritz (Hg.), Quellentexte zur Architekturtheorie. München u. a. 2002, S. 377. Scotts Beobachtungen sind hier nicht im Sinne der Einfühlungstheorie (z. B. Theodor Lipps, Heinrich Wölfflin) zu verstehen, nach der „wir unwillkürlich mit unserer Organisation die fremden Formen nachzubilden versuchen [...] Kräftige Säulen bewirken in uns energische Innervationen“. Wölfflin, Heinrich, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. In: Neumeyer, Fritz (Hg.), a. a. O., 278. Scott beschreibt hier nicht, wie wir uns in Bauformen einfühlen, sondern wie wir mit dem Raum interagieren.

[22] Ebd., S. 367.

[23] Dürckheim, a. a. O., S. 38, 46.

[24] Vgl. hierzu etwa Baier, Franz Xaver, Der Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes. Köln 1996.

[25] Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928),
Berlin New York 1975, S. 288-293.

[26] Vgl. hierzu Janson, Alban; Jäkel Angelika (Hg.), Mit verbundenen Augen durch ein wohlgebautes Haus. Zur szenischen Kapazität von Architektur. Frankfurt/M. 2007.

[27] Vgl. etwa Sedlmayr, Hans, Architektur als abbildende Kunst,
in: Sitzungsbericht der österreichischen Akademie der Wissenschaft, 225. Band, 3. Abhandlung. Wien 1948.

[28] Vgl. etwa Venturi, Robert u. a., Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt. Braunschweig 1979; Jencks, Charles, Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition. Stuttgart 1978.

[29] Vgl. etwa Gleiter, Jörg, Zur Rekonzeptualisierung des architektonischen Raumes im Zeitalter seiner Virtualisierung.
In: Wolkenkuckucksheim, 9. Jg., Heft 1, November 2004.

 


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