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Auch wenn
sich Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft mit ganz anderen Realitäten
– mit Texten und mit Bildern – beschäftigen als die Architekturtheorie,
scheint es immer wieder interessant und stimulierend, nach dort prominenten
Interpretationsmethoden zu fragen und sie auf ihre Anwendbarkeit innerhalb
der Architektur zu untersuchen. Hier geht es um die Methode der Rezeptionsästhetik,
wie sie in der Literatur und Kunst entwickelt wurde.
Zur Rezeptionsästhetik in der Literatur
Rezeptionsästhetik steht zunächst für den hermeneutischen Ansatz, den
Hans Robert Jauß 1967 zur Analyse von literarischen Texten entwickelt
hat. Mit seiner Antrittsrede „Literaturgeschichte als Provokation der
Literaturwissenschaft“ im Jahr 1967 an der Universität Konstanz entwirft
er das Projekt einer Literaturwissenschaft, die den Sinn eines Werkes
weder im Bezug zur gesellschaftlichen Realität der Herstellung (Produktionsästhetik),
noch allein aus den Textstrukturen ableiten will (Werkästhetik). Im Zentrum
der Interpretation soll der Leser stehen. Diese Forderung geht auf H.
G. Gadamers Begriff der Wirkungsgeschichte zurück und beruht auf der Beobachtung,
dass der ästhetische Gehalt eines Textes nicht einfach in ihm enthalten
ist und mittels einer einschlägigen Analyse herausgelöst werden kann.
Die Bedeutung eines Textes wird im Akt des Lesens – im ‚dialogischen‘
Kommunikationsprozess zwischen Text und Leser – immer wieder von Neuem
gebildet, und das heißt, das gleiche Werk wird aufgrund des geschichtlichen
Wandels immer wieder anders gelesen. Der Leser ist keine passive Instanz,
sondern stellt einen aktiven Faktor dar, der das geschichtliche Leben
von Werken in entscheidendem Maße beeinflusst. Über die hermeneutische
Rekonstruktion des Erwartungshorizonts der Leser, d. h. über die Rekonstruktion
jener Fragen, auf die der Text [den zeitgenössischen Lesern] eine Antwort
gab,[1]
will H. R. Jauß den Zusammenhang zwischen der vergangenen und heutigen
Erscheinung und Wirkung literarischer Texte aufschreiben (Rezeptionsgeschichte).
Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser radikalisierte dann Jauß’ Überlegungen.
Für ihn wird nicht der ästhetische Gehalt literarischer Werke, sondern
das literarische Werk selbst im Akt des Lesens generiert. Lesen ist nicht
allein die zentrale Vorbedingung für alle Prozesse der Interpretation
eines Textes, sondern für die Entstehung literarischer Werke. Erst
durch ein Lesen, in dem der Leser die unterschiedlichen angebotenen Perspektiven
durchläuft, die unterschiedlichen Sichtweisen und Muster aufeinander bezieht,
setzt er das Werk und sich selbst in Bewegung. Das literarische Werk ist
etwas, das im Fortgang der kommunikativen Interaktion zwischen „fiktivem“
Text und Leser geschieht; es wird im buchstäblichen Sinn „gemacht“. Es
ist weder auf die Subjektivität des Lesers (ästhetischer Pol), noch auf
die Realität des Textes (künstlerischer Pol) zu reduzieren. Der
Text an sich leistet allein „schematisierte Aspekte“, die es erlauben,
seinen Inhalt zu produzieren, doch die eigentliche Produktion entsteht
erst im Akt des Lesens. Iser spricht von Konkretisation. Der Begriff stammt
von Roman Ingarden[2]
und bezeichnet das Hervorbringen eines ästhetischen Werkes abhängig von
der Textstruktur und dem Bewusstsein des Lesers. Erst in der Dualität
von Textstruktur und bedeutungsproduzierender Verstehensleistung des Lesers
wird der Textgegenstand in der Vorstellung realisiert. Lesen ist für ihn
– im Sinne Northrop Fryes – „wie ein Picknick, zu dem der Autor die
Wörter und der Leser die Bedeutung bringt.“[3]
Das literarische Werk ist keine rekonstruierbare Substanz, sondern Produkt
der Interaktion von Text und Leser. Dabei interessiert das Ergebnis nicht.
Was ein Leser am Ende einer Lektüre in Sätzen festhalten kann, ist eine
Reduktion dessen, was während des Lesens in und mit ihm geschieht. Somit
ist das Leseereignis das eigentliche literarische Werk. Dieses ist nicht
das Produkt, sondern der kommunikative Akt des Lesens, die ästhetische
Erfahrung selbst.
Um diese zu greifen, entwickelt Iser die Figur des „impliziten Lesers“.
Dieser ist weder eine historisch konkrete Person, noch die abstrakte Summe
des historischen Publikums. Er entfernt sich sowohl vom intendierten Leser,
den ein Autor stets im Blick hat, wenn er seine Texte schreibt, als auch
vom realen empirischen Leser. Ebenso wenig ist er mit einem fiktiven oder
idealen Leser zu verwechseln, der bei der Lektüre alles, was der Text
an Bedeutungsangeboten enthält, vollständig realisieren könnte. Der „implizierte
Leser“ ist überhaupt kein Leser. Er ist ein Textmerkmal, die Wirkungsstruktur
des Textes.[4]
Grundlegend hierfür ist der Gedanke, dass jedem Werk eine Leserrolle eingeschrieben
ist. In der Art und Weise, in der ein Autor dem Leser mittels eines Textes
seine Weltperspektive zu vermitteln versucht, legt er Leer- und Unbestimmtheitsstellen
an, gibt Rezeptionsvorgaben und macht Rezeptionsangebote, die der Leser
zu erfüllen hat bzw. denen er folgen kann. Wie der Bauplan den Hausaufbau
regelt, so sollen sie den Textaufbau und damit die Vorstellungsbildung
im Bewusstsein des Lesers regeln. Iser spricht von einer Textstruktur,
die die Gegenwart eines Empfängers voraussieht, ohne ihn dabei jedoch
zu definieren. Diese im Text vorstrukturierte Leserrolle nennt er den
„impliziten Leser“. Er ist ein Netzwerk von response-inviting structures,
die dem Leser ermöglichen, einen Text zu begreifen. Alle im Text angelegten
Bedingungen, die notwendig sind, damit ein Text seinen Effekt bewirken
kann, sind in ihm enthalten. Iser spricht von Bedingungen, die nicht
von außen herangetragen werden, sondern im Text selbst angelegt sind.
Der implizite Leser – als Konzept – hat seine Wurzeln allein in der Struktur
des Textes. In ihm sind die Rolle des Lesers als Textstruktur und die
Rolle des Lesers als strukturierter Akt verbunden. Textuelle Struktur
und strukturierter Akt, üblicherweise wie Intention und Erfüllung aufeinander
bezogen, sind in der Figur des „impliziten Lesers“ zusammengebracht.
Hiermit entfernt sich Iser von der gesamten Rezeptionsforschung. Er will
weder mittels des Autors, noch realer, fiktiver oder ideeller Leser, noch
mittels der hermeneutischen Rekonstruktion eines Erwartungshorizonts die
Rezeption von Texten rekonstruieren.
Ihn interessieren weder die historischen Rezeptionsbedingungen, noch reale,
fiktive oder ideelle Rezeptionsvorgänge. Ihn interessiert allein die Textstruktur.
Allein daraus will er den kommunikativen Akt zwischen Text und Leser analytisch
rekonstruieren. Nur mittels der Rekonstruktion der im Text vorstrukturierten
Leserrolle scheint es ihm möglich, das literarische Werk als ästhetischen
Gegenstand theoretisch zu greifen, ohne den Charakter seiner Leser oder
deren historische Situation vorzubestimmen. Die Tatsache, dass die Rolle
des Lesers unterschiedlich erfüllt werden kann, gemäß unterschiedlicher
historischer oder individueller Gegebenheiten, ist allein ein Hinweis,
dass die Struktur eines Textes – der „implizite Leser“ – unterschiedliche
Formen der Konkretisation erlaubt. Reales Lesen immer eine selektive Realisation
des impliziten Lesers.
Sein Konzept gibt den allgemeinen Beschreibungsrahmen für die bewusstseinshafte
Form vor, in der sich alle individuellen Realisierungen eines Textes vollziehen.[5]
Dessen Struktur wird von einem Referenzrahmen gebildet, innerhalb dessen
die individuellen Antworten auf einen Text zu anderen kommuniziert werden
können. Mittels des „impliziten Lesers“ ist es möglich, eine Verbindung
zwischen allen historischen und individuellen Aktualisierungen eines Textes
zu finden. Hier sieht Iser die vitale Funktion der Figur des implizierten
Lesers. Sie ist ein Mittel, um die Art und Weise zu beschreiben, wie textuelle
Strukturen durch Idealisierung in persönliche Erfahrungen transformiert
werden. Sie ist ein transzendentales Modell, das es ermöglicht, die vorstrukturierten
Wirkungen eines Textes zu beschreiben.
Zur Rezeptionsästhetik in der Kunst
Als erster übertrug Wolfgang Kemp 1985 die Methoden Isers auf die Kunstwissenschaft.
Genauso wie Wolfgang Iser fünfzehn Jahre früher, will auch er den Blick
auf die Bedeutung des Betrachters für die Realisierung von Kunstwerken
richten. Ausgangspunkt ist hier in Analogie zur Situation in der Literatur
die fundamentale, aber selten reflektierte Tatsache, dass jedes Bild betrachtet
wird bzw. dass der Betrachter die wesentliche Ursache für die Existenz
des Bildes darstellt. Das Bild ist auf Rezeption angelegt und verfügt
über Mittel, die geeignet sind, erstens den Bezug zum Rezipienten aufzunehmen,
zu gestalten und wach zu halten, und zweitens den Rezipienten durch ästhetische
und außerästhetische Normen und Verhaltensweisen zu disponieren. Jedes
Kunstwerk ist adressiert, es entwirft dabei seinen Betrachter. Dabei gibt
es zwei Informationen preis. Indem es mit uns kommuniziert, spricht es
über seinen Platz und seine Wirkungsmöglichkeiten in der Gesellschaft,
und es spricht über sich selbst. Die Rezeptionsästhetik hat demzufolge
in der Kunst (mindestens) drei Aufgaben: „(1) Sie muss die Zeichen
und Mittel erkennen, mit denen das Kunstwerk in Kontakt zu uns tritt,
sie muss sie lesen im Hinblick (2) auf ihre sozialgeschichtliche und (3)
auf ihre eigentliche ästhetische Aussage.“[6]
Dabei unterscheidet Kemp zwischen äußeren Zugangsbedingungen, in, an oder
mit denen das Werk zur materiellen Präsenz gelangt, und inneren Rezeptionsvorgaben,
innerbildlichen, innerplastischen und innerarchitektonischen. Unter äußeren
Zugangsbedingungen ist der Kontext, in welchem die Werke in Erscheinung
traten und treten, zu verstehen, sei dieser materieller Natur (z. B. Architektur)
oder immaterieller Natur (soziologisch oder persönlich). Es geht darum,
die rezeptionsästhetische Situation oder Rezeptionsrealität ihrer Objekte
im vollen Umfang zu rekonstruieren, denn ohne Kontext – so setzt es der
rezeptionsästhetische Akt der Interpretation voraus – gibt es keine Bedeutung.
Damit hebt die Rezeptionsästhetik die Isolierung der Werke auf und stellt
sie in ihrer historischen Bedingtheit dar.
Innerbildliche Orientierungen sind erstens die Diegese bzw. die Art, in
der ein Betrachter in der Kommunikation der Dinge und Personen im Werk
ein- oder ausgeschlossen wird; zweitens die Personenperspektive bzw. inwieweit
dem Betrachter im Bild eine Identifikationsfigur zur Verfügung gestellt
wird; drittens der Bildausschnitt und die daraus resultierende Ergänzung
des Betrachters; viertens die Perspektiven, durch die der Betrachter zum
Bild gestellt wird und fünftens die Leerstellen, die den Betrachter dazu
nötigen, sie zu füllen, um dadurch das Werk zu vollenden. Anhand dieser
Punkte analysiert die Rezeptionsästhetik in der Kunst, wie der Betrachter
durch innere Orientierungen am Aufbau des Werkes beteiligt ist. Schließlich
werden das Verhältnis zwischen äußeren Bedingungen und inneren Rezeptionsvorgaben
sowie das Verhältnis der inneren Präsentation zur Darstellung analysiert.
Es ist eine Eigenart der künstlerischen Kommunikation, dass Autor und
Rezipient nicht direkt miteinander verkehren wie in der alltäglichen
face-to-face-Kommunikation. Autor und Betrachter kennen sich nicht,
sie müssen sich den anderen jeweils nur denken. Sie vollziehen dabei beide
eine Abstraktion von der realen Individualität, wie sie im faktischen
Dialog gegenwärtig ist. In diese Abstraktionsleistung fließen Projektionen
geschichtlicher und gesellschaftlicher Idealbilder von Funktion und Wirkung
der Kunst ein. Die Rezeptionsästhetik ist dafür bereit, ihr Material,
die Appelle und Signale, die die Kunst an ihre Betrachter richtet, auch
als Symptome angewandter Kunsttheorie und Kunstpolitik zu verstehen und
sich an ihnen zu orientieren. Mit Hilfe dieses Materials wird versucht,
sich über die Betrachterfunktion der Beziehung zwischen Werk und Gesellschaft
theoretisch zu nähern, fern von realen Betrachtern oder Hypothesen.
Ziel ist es dann, wie in der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik,
dem Dialog zwischen Werk und Betrachter nachzuspüren und die ursprünglichen
historischen und ästhetischen Aussagen des Einzelwerkes aufzudecken. Durch
das „Lesen“ der im Werk vorhandenen Rezeptionsvorgaben unter Berücksichtigung
äußerer Zugangsbedingungen, werden sein Platz und seine Wirkungsmöglichkeiten
in der Gesellschaft beschrieben.
Zur Rezeptionsästhetik in der Architektur
Bezogen auf Architektur ist die Rezeptionsästhetik kein Novum[7],
doch der Betrachter bleibt als Kategorie der Architekturanalyse bisher
vernachlässigt. Dies bezieht Ralf-Peter Seippel auch auf die Innenraumanalyse.
Hier wird der Betrachter, abgesehen von vereinzelten wahrnehmungspsychologischen
Analysen, ebenso wenig berücksichtigt. Diesen Tatbestand führt R.-P. Seippel
auf die Tatsache zurück, dass die Architektur anders als das Bild keine
Strategien entwickeln muss, um den Betrachter in das Geschehen einzubeziehen.
Dieser ist – „indem er Benutzer ist, sich im Werk bewegt und daraus
folgend der Architektur den gleichen Realitätscharakter zuordnet wie sich
selbst“[8]
– immer schon am Geschehen beteiligt. Auf Grund ihrer medialen Unterschiede
und unterschiedlichen Realitätsgraden zum Bild muss Architektur keine
Strategien entwickeln, um einen impliziten Betrachter zu konstituieren.
Dieser ist immer schon als tatsächlich und notwendig vorhanden vorausgesetzt
bzw. faktisch miteinbezogen. Er ist wesentliche Voraussetzung ihrer Realisierung.
Erst über die Betrachtung erschließen sich ihre Funktionen und Inhalte.[9]
Das heißt, in der Architektur ist nicht nur der Benutzer involviert, sondern
auch der Betrachter, und dies nicht nur, in dem er über die Betrachtung
die Nutzung erschließt. Architektur billigt dem Betrachter nicht nur eine
passive Rolle zu, in der er die rein pragmatischen Funktionen des Werkes
erkennt und nutzt, sondern auch eine aktive Rolle bei dessen optischer
Realisierung. Hier verweist R.-P. Seippel auf Vitruv, für den venustas
(Anmut) – eine der drei Kategorien der Architektur – erreicht wird, „wenn
das Bauwerk ein angenehmes und gefälliges Aussehen hat, und die Symmetrie
der Glieder die richtigen Berechtigungen der Symmetrie hat“.[10]
Hiermit ist für R.-P. Seippel, innerhalb der Architektur „neben dem
konstitutiven implizierten Benutzer, also demjenigen, welcher die angebotenen
Funktionen nutzen soll, auch der implizite Betrachter gegeben, als derjenige,
welcher ebenso notwendig konstitutiv an der optischen Realisation des
Werkes beteiligt ist.“[11]
Entsprechend hält er innerhalb der Architektur eine Reflexion über den
architekturimpliziten Betrachter oder allgemeiner über die Betrachterfunktion
im Werk für sinnvoll. So muss gefragt werden, inwieweit die Architektur
Rezeptionsstrategien entwickelt und ihn aktiv beteiligt, ihm eine Funktion
im Werk zubilligt oder sogar als Funktion des Werkes unmittelbar voraussetzt,
ihn involviert und somit intensive ästhetische, inhaltliche oder andere
Erfahrungen ermöglicht. Diese Reflexion ist eine Bereicherung der Interpretation
der Architektur von Gebäuden, da ihr weder innerhalb der tradierten Methoden
noch innerhalb der Semiotik-Sigmatik nachgegangen wird. Sie ist aber auch
nur eine Bereicherung, insofern sich der Interpret – so erklärt es Seippel
–
auf das jeweilige Medium einlässt und dessen „Lesebedingungen“ akzeptiert.
Erst hier ist s. E. eine möglichst intensive und deskriptive Anschauung
möglich. Der Interpret muss sich auf das Erfahren und Konstatieren optischer
Evidenzen und Phänomene des speziellen Mediums der Architektur einlassen,
dessen Habhaftwerden weniger auf der Empirie, als vielmehr auf der Anschauung
gründet.[12]
An dieser Stelle muss festgehalten werden, dass diese auf die Architektur
zugeschnittene Rezeptionsästhetik allein innerhalb eines optisch-ästhetischen
Verständnisses gilt, das das Grundgesetz der Schönheit der Architektur
in der optischen Harmonie ansetzt.[13]
Bereits
Heinrich Wölfflin, der sich in „Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur“
mit der Frage beschäftigt, wie es möglich ist, dass architektonische Formen
Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können, maß dem Körper
eine zentrale Rolle bei der ästhetischen Beurteilung von Architektur bei:
„Wären wir bloß optisch auffassende Wesen, so müsste uns eine ästhetische
Beurteilung der Körperwelt stets versagt bleiben. Als Menschen aber mit
einem Leibe, der uns kennen lehrt, was Schwere, Kontraktion, Kraft u.
s. w. ist, sammeln wir an uns die Erfahrungen, die uns erst die Zustände
fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen“.[14]
August Schmarsow, der 1894 das Wesen der architektonischen Schöpfung sowohl
von Seiten des Autors, als auch des Rezipienten als Raumgestaltung definiert,
setzte dagegen Bewegung als Voraussetzung für jede Form architektonischer
Wahrnehmung voraus. Erst, indem wir Räume durchschritten, erführen wir
ihre tatsächliche Tiefe und damit ihre Räumlichkeit.
Ähnlich argumentiert Sörgel. Für ihn liegt die Eigenart der architektonischen
Wahrnehmung in der seelischen, optischen und verstandesmäßigen Organisation
der Werk-konstituierenden Elemente zu einer räumlichen Einheit.[15]
Dagobert Frey spricht von einem Ich-Raum. Erst wenn ein Objekt als wirklich
wahrgenommen wird, wenn seine räumliche Bestimmung mit dem Ich-Raum identisch
ist, wenn also der Mensch sich mit ihm im gleichen Raum befindlich fühlt,
wird es architektonisch betrachtet. Anders als Malerei und Plastik ist
Architektur in der Raum- und Zeitidentität von Subjekt und Objekt begründet.
Sie gehört der Gegenwart des Rezipienten und seinem Lebensraum an, sie
ist Gestaltung seines Lebensraums oder Gestaltung in seinem Lebensraum.
Das Paradox „Wie kann sie (Architektur) Kunst sein, wie kann ihre Wirklichkeit
zu ästhetischer Wirklichkeit werden, wie kann sie aus der Wirklichkeit
meiner Existenz isoliert, aus meinem realen Leben herausgehoben werden,
um ästhetisches Objekt werden zu können, wenn sie wesenhaft räumlich-zeitlich
mit meiner Existenz verknüpft ist?''[16],
löst D. Frey mit der Idee der „ästhetischen Mitisolierung“. Architektur
wird zu ästhetischer Wirklichkeit, insofern sie im Prozess der Wahrnehmung
ihre Rezipienten mitisoliert, ihre Existenz in die ästhetische Wirklichkeit
aufnimmt und damit zu ästhetischer Wirklichkeit macht. Architektur ist
für Dagobert Frey künstlerisch geformte Wirklichkeit.
In der Tradition von Dagobert Freys Überlegungen wird heute öfters argumentiert,
dass Architektur ein Instrument zur „Lebensgestaltung“[17],
ein „Lebens-Mittel“[18]
sei, dessen „Gebrauch ein Vollzug des Lebens selbst ist“.[19]
Sie verlangt eine Verhaltensweise, die weit über die Betrachtung hinausgeht.
Achim Hahn spricht von einer architektonischen Verhaltensweise. Gemeint
ist „dasjenige menschliche Verhalten […], das auf Bedürfnisse reagiert,
und zwar auf die Weise, die wir als Wohnen und als Bauen kennen“[20].
Diese sind niemals Selbstzweck, sondern auf das Leben gerichtet, nicht
allein im Sinne, es zu erhalten, sondern es bewusst leben zu wollen. „Nur
weil der Mensch wohnt, ein Wohnender ist, begehrt er Architektur. Der
Mensch baut, weil er wohnt. Er wohnt aber, weil er als Mensch leben will.“[21]
In diesem Wollen – das nicht Überleben, sondern „bewusst-Leben-führen-Wollen“
ist[22]
– liegt für Achim Hahn die Ursache und der Inhalt architektonischen Verhaltens.
Es folgt keinem Überlebensdrang, doch aber dem Drang, das eigene Leben
oder das Leben anderer bewusst gestalten zu wollen.
In Analogie zur Situation in der Kunst und Literatur kann argumentiert
werden, dass der Ausgangspunkt des rezeptionsästhetischen Ansatzes in
der Architektur die fundamentale, aber doch noch selten reflektierte Tatsache
ist, dass „Leben-gestalten-Wollen“ die wesentliche Ursache für die Existenz
von Architektur ist. Ist der Mensch allein auf die Betrachtung oder Nutzung
eines Gebäudes konzentriert, oder liest er es allein als Zeichen, so konkretisiert
er im Akt der Rezeption allein das Gebäude als Bild, als Plastik, als
Gebrauchsobjekt oder Erzählung. Architektur ist auf einen Menschen angelegt,
der bereit ist, sie zu seinem Lebens-Mittel zu machen. Sie konkretisiert
sich erst in der Art und Weise, in der ein Mensch die gebaute Welt nicht
allein betrachtet, nutzt oder liest, sondern mittels architektonischen
Verhaltens zum Teil seiner Lebensgestaltung macht. Dabei ist sie nicht
das Ergebnis derartigen Verhaltens, sie ist das architektonische Verhalten
selbst, und sie verschwindet, sobald das Gebäude nicht weiter als Lebens-Mittel
gebraucht wird. Sie ist das sich mittels architektonischen Verhaltens
in ihm und durch ihn gestaltende Leben.
Innerhalb dieser Auffassung von Architektur entfaltet sich eine solche
im Sinne von Ralf-Peter Seippel nicht in der Betrachtung eines Gebäudes.
Sie wird erst mittels architektonischen Verhaltens konkretisiert.
Wenn architektonisches Verhalten die Voraussetzung zur Entfaltung von
Architektur ist, so ist hier die Aufgabe der Rezeptionsästhetik die Aufdeckung
des architektonischen Verhaltens, das in einem Gebäude eingeschrieben
ist –
seines impliziten Lebens.
Das Konzept des „impliziten Lebens“ – im Sinne Dagobert Freys auch als
implizite ästhetische Wirklichkeit zu bezeichnen –
ist hier neu entwickelt. Gemeint ist weder das reale, noch das ideelle
Leben, das ein oder mehrere Rezipienten in Interaktion mit einem Gebäude
gestalten oder gestalten können. Es ist auch nicht das intendierte Leben,
das ein Autor beim Entwerfen im Blick hat. Das implizite Leben ist überhaupt
kein Leben. Es ist eine Konstruktion, die ihre Wurzeln allein in der Struktur
des Gebäudes hat und alle in einem Gebäude angelegten Lebens-Mittel beinhaltet,
die notwendig sind, damit es als solches gebraucht wird. In ihr sind architektonisches
Verhalten als Gebäudestruktur und architektonisches Verhalten als strukturierter
Akt verbunden. Wie im Konzept des „impliziten Lesers“ sind hier Struktur
(Intention) und strukturierter Akt (Erfüllung) zusammengebracht. So wie
der Leser aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit dem Text an jedem
Punkt seiner Lektüre neue Hypothesen und Erwartungen an den Fortgang stellt,
die in der weiteren Lektüre bestätigt, modifiziert oder zurückgewiesen
werden, so reagiert der Rezipient fortwährend auf das, was er mittels
seines architektonischen Verhaltens hervorgebracht hat. Wie der Leser
reagiert er „im Rezeptionsvorgang fortwährend auf das, was er selbst
hervorgebracht hat, denn er nimmt bestimmte Ausgleichsoperationen vor,
welche die Tendenzen, die der gebildeten Konsistenz abträglich sind, zu
integrieren versuchen."[23]
Zur Aufdeckung des impliziten Lebens eines Gebäudes scheint zunächst das
eigene architektonische Verhalten hilfreich. Über seinen Gebrauch als
Lebens-Mittel können am eigenen Leib – „der Inbegriff meines handelnden
Ichs“[24],
das „Zentrum räumlichen Existierens […], von dem gerichtete Felder
von Wahrnehmung, Bewegung, Verhalten und Beziehung zur Mitwelt gehen“[25]
–
die Zeichen und Mittel erkannt werden, mit denen das Gebäude in Kontakt
zu uns tritt und Verhaltensangebote macht, wie diese im Fortlauf des kommunikativen
Aktes mit dem Gebäude angenommen, verändert und weiterentwickelt werden.
Wie in der Phänomenologie soll zunächst der Versuch gemacht werden, „so
viel wie möglich nur zu beschreiben und so wenig wie möglich zu konstruieren“,
mit dem Vorsatz, „so viel wie möglich zu beobachten und so wenig wie
möglich abzuleiten“ und dem Ideal nahe zu kommen, „Erfahrungen
so stehenzulassen, wie sie gewachsen sind, statt sie mit raschen Erklärungen
abschaffen zu wollen“.[26]
Sowohl phänomenologische Überlegungen zu Leib, Raum und Person, als auch
raumsoziologische Betrachtungen sowie Architektur- oder Wahrnehmungspsychologie
sind dabei u. a. behilflich, um die eigenen Handlungen und Verhaltensweise
näher zu verstehen und Klarheit über das in einem Gebäude vorstrukturierte
architektonische Verhalten zu schaffen bzw. um das implizite Leben eines
Gebäudes zu erleuchten.
Im Voraus auf vorgefasste Wahrnehmungs- und Verhaltenstheorien zurückzugreifen,
um daraus die Verhaltensangebote eines Gebäudes abzuleiten, scheint ungeeignet,
weil diese immer eine Abstraktion dessen sind, was in und mit einem Architekturrezipienten
faktisch geschieht.
Das Ziel ist die Abgabe eines Referenzrahmens, innerhalb dessen erstens
individuelles architektonisches Verhalten anderen kommuniziert werden
kann, zweitens historische und individuelle Aktualisierungen der gebauten
Welt aufeinander bezogen werden können und drittens die Art und Weise
beschrieben wird, wie gebaute Strukturen durch Idealisierung in persönliche
Lebensformen transformiert werden. Es ist – in Analogie zum Konzept des
impliziten Lesers und Betrachters –
ein transzendentales Modell, das es ermöglicht, die vorstrukturierten
Wirkungen eines Gebäudes zu beschreiben.
Literaturnachweis:
Baasner,
Rainer: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung.
Berlin 1996.
Frey,
Dagobert: Wesensbestimmung der Architektur. in: Kunstwissenschaftliche
Grundfragen. Wien 1946, S. 93-106.
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Thomas: Leib, Raum, Person, Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie.
Stuttgart 2000.
Führ,
Eduard: Architektur als Gebrauchswert. Zur Praktognosie materieller
Kultur. Bochum 1979.
Hahn,
Achim:
Wohnen und Bauen – Architektur als Lebens-Mittel. Bemerkungen zum Selbstverständnis
einer Theorie des architektonischen Verhaltens. in: Rundgespräch
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Hermann,
Sörgel: Architektur-Ästhetik. Theorie der Baukunst. München 1921.
Ingarden,
Roman: Konkretisation und Rekonstruktion, in: Rezeptionsästhetik.
Theorie und Praxis, Hg. Rainer Warning, München 1994, S. 42-70.
Jauß,
Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft,
in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, Hg. Rainer Warning, München
1994, S. 126-162.
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Wolfgang: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik,
Köln 1985.
Meisenheimer,
Wolfgang: Das Denken des Leibes und der architektonische Raum.
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Müller
J. E.: Literaturwissenschaftliche Rezeptions- und Handlungstheorien,
in: Neue Literaturtheorien, Hg. K.-M. Bogdal, Opladen 1990, S. 176-200.
Richter,
Matthias: Wirkungsästhetik, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft,
Hg. Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Detering, München 1997, S. 516-535.
Schmarsow,
August: Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Antrittsvorlesung
gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893, Leipzig
1894.
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Ralf-Peter: Architektur und Interpretation. Methoden und Ansätze der
Kunstgeschichte in ihrer Bedeutung für die Architekturinterpretation
(Kunst – Geschichte und Theorie; Bd. 12), Essen 1989.
Soentgen,
Jens: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie
von Hermann Schmitz. Bonn 1998.
Wölfflin,
Heinrich: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur.
München 1886.
Anmerkungen:
[7]
Vgl. Seippel 1989, S. 99
[10]
Vitruv in Seippel 1989, S. 104
[11]
Seippel 1989, S. 103
[12]
Seippel 1989, S. 105
[15]
Sörgel 1921, S. 180-214
[23]
Müller 1990, S. 185f.
[24]
Meisenheimer 2004, S. 16
[26]
Soentgen 1998, S. 11
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