Zum Interpretieren von Architektur
Theorie des Interpretierens

12. Jg., Heft 2, Dezember 2008

 

___Oliver Schmidtke
Frankfurt am Main
  Soziologische Architekturinterpretation mit Hilfe der Methode der Objektiven Hermeneutik –
Exemplarische Gebäudeanalyse des Wohnhauses für F. C. Robie
des Architekten Frank Lloyd Wright 1908 in Chicago, USA[1]

 

   

Methodische Argumente[2]

Die Objektive Hermeneutik ist von Ulrich Oevermann im Zuge der soziologischen Ausdeutung verschrifteter Tonbandprotokolle von Interviews und von familialen Interaktionen entwickelt worden. Sie hat also ihren Ausgangspunkt zunächst in der soziologischen Hermeneutik sprachlicher Ausdrucksgestalten. Sehr bald schon wurde deutlich, dass sich diese Methode der Interpretation auch auf außersprachliche Gebilde anwenden lässt. Für das methodische Konzept sind hierbei zwei Begriffe zentral: der Begriff der Ausdrucksgestalt und der Begriff der Sinn- bzw. der Bedeutungsstruktur. Sinnstrukturen verkörpern sich in Ausdrucksgestalten, die sprachlich sein können oder aber nicht-sprachlich. Die Sprachfähigkeit eröffnet nach Oevermann dem Menschen den Zugang zu Bedeutungswelten. Hat er jenen einmal erlangt, so vermag er Bedeutung auch in außersprachlichen Texten auszudrücken. Der Begriff des Textes wird also entkoppelt von der Sprachlichkeit und ausgeweitet auf jegliche Verkörperungsform der Sinnstruktur. Die Sprache ist zwar konstitutive Voraussetzung für die Fähigkeit des Menschen, Sinnstrukturen zu realisieren. Sprache ist also einerseits der privilegierte Zugang zur Sinnstruktur. Die Sprachpraxis ist andererseits jedoch nicht die einzige Form der Sinnproduktion. Nicht nur verschriftete Interaktionen können so zum Gegenstand der Interpretation gemacht werden, sondern auch Gemälde, Landschaften, Maschinen etc. und eben auch Architektur. Hier lässt sich die Verbindung zwischen soziologischer Architekturanalyse und Objektiver Hermeneutik ansetzen.[3]

Aber was besagt das Attribut objektiv? Die Objektive Hermeneutik unterscheidet sich von anderen Auslegungsverfahren in der Annahme, dass Praxis einen objektiven im Gegensatz zum subjektiv gemeinten Sinn (Weber) hervorbringt. Soziales Handeln konstituiert sich also nicht – wie Weber es ausdrückt – aufgrund des Zusammentretens von Verhalten und subjektivem Sinn, sondern das Subjekt des Handelns ist immer schon Produzent eines objektiven Sinns.[4] Der Bedeutungsgehalt einer Äußerung erschöpft sich nicht in dem, was dem Handlungssubjekt bewusst zugänglich ist und von ihm kontrolliert werden kann, sondern jede Handlung ist Ausdruck von Sinnstrukturen, die sich unabhängig von der bewussten Auffassung des Handlungssubjekts realisieren. Natürlich hat ein Handelnder eine Vorstellung davon, was er tut, und dieses Bewusstsein erlaubt es ihm, überhaupt zu handeln, jedoch kommt dieses Bewusstsein niemals ganz mit dem rekonstruierbaren objektiven Sinn seiner Handlung zur Deckung. Immer gibt es Anteile, die der Handelnde nicht kontrollieren kann, etwa weil er im Vollzug der Handlung keine Zeit hat, die Rekonstruktionsperspektive einzunehmen. Sofern man in der Aktualität des Handelns unter Zeitdruck steht, hat man gar nicht die Möglichkeit, sich den Sinn einer Äußerung in allen Einzelheiten klar zu machen. Diesem Dilemma kann man ebenso wenig entgehen wie der Tatsache, dass manche Ausdrucksgestalten flüchtig sind und sich niemals vollständig protokollieren lassen.

Man könnte meinen, dass bei edierten Texten – und um solche handelt es sich bei Kunstwerken und Architektur – subjektiver und objektiver Sinn nicht auseinandertreten. Hier scheint doch der Autor des Sinns länger Zeit für die Sinnproduktion zu haben. Er handelt weniger spontan als kontrolliert und vielleicht sogar mit maximaler Überlegung. Die Differenz von objektivem Sinn und subjektiv gemeintem Sinn wird durch diese aufwendige Praxis der Sinnproduktion vielleicht gemildert, niemals jedoch ganz aufgehoben. Auch hoch edierte Texte, wie eben Architektur, können einen objektiven Sinn haben, der für den hermeneutischen Sozialforscher rekonstruierbar ist, obwohl er dem Architekten oder anderen an dem Bau beteiligten Personen nicht bewusst war. Letztlich ist die Frage, was dem Autor von dem objektiven Sinn in der Produktion bewusst war, auch nachrangig, wenn man einmal anerkennt, dass er sich in einem objektiven Sinn entäußert hat. Methodisch hat diese Einsicht jedoch die folgenreiche Konsequenz, dass nicht primär die Äußerungen des Autors über sein Handeln in einem konkreten Fall interessant sind, sondern vielmehr dieses Handeln selbst in Gestalt des analysierten Protokolls, also im Falle von Architektur die Gebäude selbst.

Allerdings reicht diese methodologische Begründung noch nicht aus, um eine spezifisch objektiv hermeneutische Architekturanalyse von anderen Formen der Architekturinterpretation abzugrenzen. Dazu sind noch zwei weitere Begriffe notwendig: der angedeutete Begriff des Protokolls und der Begriff der Sequenz. Die Voraussetzung der objektiv-hermeneutischen Interpretation sprachlicher Ausdrucksgestalten ist das Vorliegen eines Protokolls. Mündliche Sprache – die Urform der sprachlichen Ausdrucksgestalt – ist flüchtig, sie muss verschriftet werden, damit man sie der Flüchtigkeit entziehen und auf eine überprüfbare Basis Bezug nehmen kann, anhand derer man Argumente für oder wider einzelne Lesarten entwickelt. Die Praxis muss der zeitlichen Flüchtigkeit entzogen werden, damit sie der hermeneutischen Interpretation zugänglich ist. Bei edierten schriftlichen Texten ist dies kein Problem, da hier bereits eine schriftliche Gestalt vorliegt. Bei mündlicher Sprache bietet sich der Einsatz eines Tonbandes an, das man anschließend zu einer Verschriftung nutzen kann. Die technische Entwicklung von Tonbandprotokollen hat überhaupt erst dazu geführt, dass man das reichhaltige Interpretationspotential lebendiger Interaktion methodisch heben kann. Vor der Möglichkeit der Tonbandaufnahme und ihrer Verschriftung war man bei der hermeneutischen Auslegung von Texten entweder auf die Erinnerung der beteiligten Personen oder aber auf die schriftliche Notation in actu angewiesen, bei der jeweils wichtige Anteile der Ausdrucksgestalt verloren gehen. Nun ist dieser Verlust niemals ganz zu vermeiden und auch bei Tonbandprotokollen vorhanden, wenn auch wesentlich geringer ausgeprägt. Die Differenz zwischen Protokoll und protokollierter Praxis bleibt unhintergehbar. Es hängt etwa von der Fragestellung der Untersuchung ab, wie detailliert das Protokoll sein muss. Während mündliche Interaktion erst protokolliert werden muss, haben sich edierte Texte, wie ästhetische Ausdrucksgestalten, häufig schon selbst protokolliert.


Ästhetische Ausdrucksgestalten sind für die Soziologie besonders deshalb sogar privilegierte Gegenstände – freilich nur für eine, die nicht mit standardisierten Instrumenten an die Realität herantritt –, weil sie die Realisation eines edierten Textes unter Bedingungen der Außersprachlichkeit sind. Es geht bei ästhetischen Ausdrucksgestalten gerade darum, nicht einen sprachlichen Sinn zu produzieren, sondern vielmehr einen Sinn, der primär durch die selbstgenügsame Wahrnehmung sinnlich erfahrbar ist. Ästhetische Gegenstände haben die vor- bzw. unbewussten Anteile einer Sinnstruktur zum Gegenstand. Diese lassen sich sprachlich rekonstruieren mit Hilfe der objektiv hermeneutischen Auslegung der Sinngestalt. Da edierte Texte, insbesondere Kunstwerke, eine Verdichtung aufweisen, eröffnen sie dem Sozialforscher einen privilegierten Zugang zu sozialen Krisenkonstellationen. Über die Werkanalyse lassen sich Strukturkonstellationen rekonstruieren, die man über die direkte Befragung, Interviews, oder über verschriftete Protokolle lebendiger Interaktion nur sehr vermittelt greifen könnte, da diese Ausdrucksgestalten häufig nicht so verdichtet sind. Zudem sind ästhetische Werke in der Regel auf ein Überdauern angelegt. Ihre Analyse erlaubt die Rekonstruktion allgemeiner Merkmale von Krisenkonstellationen, die in die ästhetischen Werke eingehen. Die Aufgabe der objektiv-hermeneutischen Werkanalyse ist es, den Gehalt der „sinnlichen Erkenntnis“ (Baumgarten) in eine begriffliche Erkenntnis zu überführen, also den objektiven Sinngehalt zu versprachlichen. Latent ist der Sinn in ästhetischen Ausdrucksgestalten nicht, weil er prinzipiell dem bewussten Erkennen enthoben wäre, sondern weil die Ausdrucksgestalt als solche nicht begrifflich konstituiert ist. Bei ästhetischen Ausdrucksgestalten der bildenden Kunst und Architektur liegt bereits ein der zeitlichen Flüchtigkeit enthobenes Protokoll vor, so dass diese Ausdrucksgestalten für die objektiv hermeneutische Interpretation sogar ausgesprochen gut geeignet sind.

Es gilt nun noch zu beachten, dass die objektiv hermeneutische Interpretation von sprachlichen Gebilden als Sequenzanalyse erfolgt. Dies hängt damit zusammen, dass Praxis immer als eine Sequenzfolge vollzogen wird. Sequenz bedeutet nicht einfach nur eine Kette von Elementen, sondern die Verbundenheit dieser Elemente durch ein jeweiliges Verweisen aufeinander. Die Sequenzstelle S1 eröffnet mögliche Anschlüsse an der Sequenzstelle S2. Eine dieser Möglichkeiten wird an der Sequenzstelle S3 realisiert, und damit werden die anderen Möglichkeiten ausgeschlossen. Möchte man nun die Bedeutung einer Sequenz, z. B. eines Wortes oder eines Satzes explizieren, so muss man sich klar machen, welche Anschlussmöglichkeiten diese Sequenz eröffnet hat, und welche Möglichkeiten der vorausgehenden Sequenzstelle sie ausgeschlossen hat. Die Bedeutung ergibt sich also nicht einfach abgelöst von der Sequenzstelle als eine generalisierte Festlegung, die etwa in einem Wörterbuch expliziert werden kann, sondern sie stellt eine Verbindung von generalisierter Explikation und Bestimmung der Einbettung in eine Sequenzfolge dar. Objektiv ist die Bedeutung in zweierlei Hinsicht, im Hinblick auf ihren generalisierbaren Gehalt, der als Bedeutungsgehalt auch bei der Analyse anderer Sequenzstellen zur Verfügung steht, und im Hinblick auf die Position in einer spezifischen Sequenz. Was in klassischen Hermeneutiken als Kontextabhängigkeit der Bedeutung gilt, ist also in der Methodologie der Objektiven Hermeneutik eine der Komponenten, die dann die generalisierbare Fallstruktur ergeben.

Sprache und Musik realisieren als diachrone Ausdrucksgestalten Bedeutung sequentiell. Inwiefern sind aber synchrone Ausdrucksgestalten einer Sequenzanalyse zugänglich? Ästhetische Ausdrucksgestalten der bildenden Kunst und der Architektur sind solche synchronen Ausdrucksgestalten. Was kann hier Sequenzanalyse bedeuten? Zunächst ist festzuhalten, dass ästhetische Praxis immer auf einen Akt der ästhetischen Wahrnehmung bezogen ist. Dieser Akt ist eine diachrone Praxis, also sequentiell strukturiert. Die ästhetische Gestalt kann diese diachrone Rezeptionspraxis durch Hierarchien der Aufmerksamkeit strukturieren. Die synchrone Struktur der Ausdrucksgestalt kann selbst bestimmte Sequenzen des Wahrnehmungsvollzugs privilegieren. Ein einfaches Beispiel wäre hier etwa die Platzierung einer auffälligen Farbe oder Form, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Insofern ist diese Gestaltung wiederum auf eine Sequenz bezogen.

Im Falle von Architektur ist zu berücksichtigen, dass sie nicht nur zur selbstgenügsamen Wahrnehmung da ist, wie etwa ein Gemälde, sondern in nicht-ästhetische Praxisvollzüge eingebettet ist. Jeder Grundriss ist die generalisierte Ausdrucksgestalt von unterschiedlichen eröffneten praktischen Vollzügen der Bewegung durch das Gebäude. Der Grundriss ist also auf diese verschiedenen durch ihn eröffneten Praxisvollzügen hin zu interpretieren. So ist etwa eine wesentliche Bedeutungsdimension der Architektur die Positionierung des Eingangs sowohl im Verhältnis zum Außenraum als auch zu der inneren Gliederung des Gebäudes. Damit ist die entscheidende Leitdifferenz für Architektur angesprochen, die das Zentrum der soziologischen Analyse bilden muss: die Innen-Außen-Abgrenzung.


Im Unterschied zu autonomen Kunstwerken wird Architektur als ästhetische Ausdrucksgestalt nicht primär zur selbstgenügsamen Wahrnehmung realisiert, sondern sie ist zugleich ein funktionales Instrument des Vollzuges von Praxis. Das heißt, sie ist als ästhetisches Gebilde mit funktionalen Anforderungen vermittelt. Die soziologisch hermeneutische Rekonstruktion des objektiven Sinns der Architektur muss diese Differenz berücksichtigen. Die Architektur sagt etwas darüber aus, welche Praxis sich in ihr als Innen-Außen-Abgrenzung und Selbstrepräsentation verkörpert.

Als überdauernde Ausdrucksgestalt hat sich Architektur gleichsam bereits selbst protokolliert. Die Analyse lässt sich am Objekt selbst vollziehen. Allerdings gerät man dabei in ein erhebliches Darstellungsproblem. Das als dreidimensionale Gebilde vorliegende Datenmaterial ist nur mit Hilfe zusätzlicher Protokollierungstechniken in eine Form zu bringen, die eine überprüfbare Darstellung der Interpretationen im Rahmen einer wissenschaftlichen Diskussion erlaubt. Man kann nicht unterstellen, dass alle Rezipienten Argumente am realen Gebäude überprüfen können. Dabei ist eine Abstraktion notwendig, wobei einerseits wiederum mit einem Datenverlust zu rechnen ist, andererseits aber auch mit einem Gewinn an Information. Ein Grundriss abstrahiert die innere Gliederung eines Gebäudes als ganze so, wie sie in der Realität des Gebäudes, solange es steht, nicht erfahrbar ist. Die Darstellung des Grundrisses fügt also anderen Datenmaterialien, z. B. Aufrisse, Fotografien etc. durchaus etwas hinzu.

Ein weiteres Kennzeichen der Sequenzanalyse ist die Einnahme einer Haltung der künstlichen Naivität. Dies bedeutet, dass man so gut es geht Informationen, die über den Gegenstand, den man untersucht, schon bekannt sind, bei der Analyse des Datenmaterials zunächst außen vorlässt. Man interpretiert also möglichst nicht auf der Basis des schon bekannten speziellen Wissens über die im Datenmaterial ausgedrückte Praxis, sondern maximal auf der Basis von generalisiertem Wissen. Es gibt Forschungsgegenstände, z. B. in der Ethnologie oder Archäologie, in denen diese Unvoreingenommenheit nicht künstlich eingenommen werden muss, da sie ohnehin besteht. Bei der Untersuchung von Praxis der Gegenwart ist diese Distanz jedoch nicht immer gegeben. Man weiß in der Regel wenigstens rudimentär über spezielle Zusammenhänge bereits Bescheid. Der Grund für das Ideal der Unvoreingenommenheit besteht darin, dass man sich mit der Orientierung an diesem Ideal maximal dazu zwingt, die Möglichkeiten, die einer Praxis gegeben waren, auch dann noch zu explizieren, wenn bei Kenntnis des weiteren Verlaufs oder anderen Kontextinformationen schon gesagt werden könnte, dass sie später ausgeschlossen werden. Dies bedeutet z. B. bei einer Gebäudeanalyse, wie der im Folgenden vorgestellten, dass man in der Interpretation zunächst das Wissen um die Funktion des Gebäudes (das private Wohnhaus einer Fabrikantenfamilie) ausklammert, sondern begründete Vermutungen darüber formuliert, welche Praxis sich in dem Gebäude beherbergen könnte. Man zwingt sich dadurch dazu, zu begründen, aufgrund welcher Gestaltungselemente das Gebäude als Privatwohnhaus erkennbar ist. Dadurch gewinnt man zusätzlich Generalisierungsmöglichkeiten. Man kann vielleicht Regeln formulieren, nach denen sich Privathäuser generell von anderen Gebäuden unterscheiden lassen. Dieses Ideal der Unvoreingenommenheit widerspricht einer gängigen Auffassung in den Geisteswissenschaften, die die hermeneutische Auslegung mit der Darlegung des Kontextwissens erledigt sieht oder aber relativistisch behauptet, man könne der Voreingenommenheit gar nicht entgehen und daher nur verschiedene Voreingenommenheiten beschreibend gleichberechtigt nebeneinander stellen.

Nach dieser kurzen methodischen Einleitung soll im Folgenden anhand eines Beispiels das methodische Vorgehen verdeutlicht werden.


Interpretation von „Robie House“

Wie geht man bei einem Bau wie dem um 1908 von Frank Lloyd Wright für den Bauherrn F. C. Robie entworfenen Wohnhaus vor? Der Rahmen dieses Aufsatzes ist zu begrenzt, um das oben beschriebene komplexe Analyseprogramm erschöpfend anzuwenden. Eine systematische Architekturanalyse sollte jedoch drei Datentypen berücksichtigen:
1. Aufrisse der Fassaden,
2. Grundrisse aller Stockwerke,
3. Fotografien, die mögliche Blicke während möglicher Bewegungen außerhalb und innerhalb des Gebäudes protokollieren.
Fotos geben den Realeindruck für einen Betrachter am besten wieder. Allerdings lassen sich die Systematik einer Gliederung und damit auch mögliche Diskrepanzen zwischen Sichtbarkeit und faktischer Gliederung nur anhand der zusätzlichen abstrahierten Datenmaterialien erkennen. Daher sind Zeichnungen ebenfalls wichtig. Im Folgenden soll zunächst eine Interpretation der Aufrisse der vier Perspektiven erfolgen.[5]


Fassadenzeichnungen


Bei synchronen Ausdruckgestalten ist es in der Objektiven Hermeneutik zunächst sinnvoll, die Frage danach zu stellen, was sichtbar ist. Man sieht in der Südperspektive ein sehr breites Gebäude. Markantes ästhetisches Merkmal ist die breite Horizontalgliederung. In der Mitte erhebt sich ein dreigeschossiger Bau über die restlichen Gebäudeteile, der an ein Stellwerk oder eine Schiffsbrücke erinnert. Das oberste Geschoss wird von sechs Fenstern beherrscht, die ein Band bilden, das die Wand von der Dachtraufe trennt. Als tragende Elemente sind nur die Fensterzwischenräume sichtbar. Das Dach ist stark abgeflacht und kragt hervor. Dadurch entsteht der Eindruck, als ob es durch die Fenster von der massiven Mauer her angehoben wird. Das starke Hervorkragen des flachen Dachs verbunden mit den fehlenden durchgehenden Wandflächen geben dem Dach etwas Schwebendes und darin Gefährdetes. Ein Gegengewicht bilden diesbezüglich die vertikalen Mauerelemente der Schornsteine und seitlichen Abschlüsse. Durch diese vertikal betonten Stützen kommt ein Eindruck von aufrechter Leichtigkeit ins Spiel, der die vorherrschende Horizontalbetonung konterkariert. Die Horizontale wird nicht zuletzt durch die massiven Mauern zum beherrschenden Merkmal. Einerseits wird der Fassade scheinbar viel Fensterfläche zugestanden. Die Fenster ersetzen durch die dichte Reihung visuell die Wand. Andererseits scheinen die Fensterreihen gedrungen. Das Gebäude wirkt insgesamt als sich duckend.

Der Fassade in dieser Darstellung ist schwer zu entnehmen, welche Praxis das Gebäude beherbergt. Fensterreihen verweisen auf identische Räume, die in einer Verwaltungspraxis üblich sind, oder aber Versammlungsräume, die sehr groß sind. Die Anmutung eines Stellwerks wurde schon erwähnt. Damit kommt ein technisch verwaltungsrationales Element ins Spiel. Allerdings verweisen die massiven Wände, mit denen das Gebäude festungsartig von der Umgebung abgeschlossen wird, demgegenüber entweder auf eine Praxis, für die der Privatheitsschutz im Zentrum steht, oder aber auf eine Sicherheitsanforderung (z. B. die einer Botschaft). Der stellwerkartige Mittelturmbau erlaubt einerseits den Überblick über die Umgebung und damit Kontrolle, wie sie technisch in einem Stellwerk ja auch notwendig ist, schafft aber zugleich einen privaten Rückzugsbereich, wie er in einem Administrationsgebäude kaum nötig erscheint. Das Gebäude ist ein Solitär, der sich städtebaulich nur bedingt in eine Straßenflucht integrieren lässt, vielmehr die Eigenständigkeit betont.

Die Ost- und Westperspektive werden hier gemeinsam behandelt, da sie einander stark ähneln. Es wird deutlich, wie extrem sich die Seitenlängen des Rechteckgrundstückes unterscheiden. Behandelt man die beiden Perspektiven zunächst ohne Rücksicht auf die Nord- und Südfassade, ist die enorme Länge nicht erkennbar. Die turm- bzw. stellwerkartige Vertikalbaumasse der Südfassade wird an der Westfassade reproduziert. Dies vollzieht sich insbesondere durch die zentralen Schornsteine, die hier eine massive Wand konstituieren und links flankierend die Baumasse in der Senkrechten verankern. An der Ostfassade unterbleibt die Unterbrechung des Fensterbandes durch diese Schornsteine, so dass sich die Anhebung des Daches durch die Fensterbänder, die an der Südseite nur ein Merkmal des mittleren Turmes ist, über die ganze Fassade erstreckt. Wiederum fungiert der nördliche Schornstein wie eine rückseitige Stütze, an der die Baumassen verankert sind. In der Zeichnung ist die symmetrische Gestaltung des Vorbaus im Mittelgeschoss deutlich, wobei an der Ostseite eine massive Mauer das Gesamtgebäude von der Umgebung abschirmt. Diese Mauer erscheint an der Westfassade wie ein Sockel an das Gebäude angenähert.

Die Nordperspektive zeigt eine Fassade, die auch unabhängig von dem Wissen um den das Gebäude umgebenden Straßenverlauf als Rückseite erkennbar ist. Obwohl auch hier das Motiv der Fensterbänder erneut reproduziert wird, ist die Fassade durch Wände dominiert, in der kleinere Fenster eingefügt sind. Diese Fensterformen einer klassischen Lochfassade fehlen an den anderen Hausseiten und markieren vermutlich Funktions- und Wirtschaftsräume. Die gestufte Etagengliederung wird hier besonders deutlich durch Gesimsbänder markiert, die an den anderen Fassadenseiten ebenfalls vorhanden sind, aber als Gliederungselement weniger auffallen und dadurch hinter die Baumassengliederung zurücktreten. Es ist auffällig, dass diese Horizontalgliederung im Mittelteil teilweise unterbleibt. Die Vertikalverankerung der Schornsteine wird betont. Nur das Obergeschoss wird durch ein Fenstergesimsband vollständig abgetrennt und in seiner Herausgehobenheit noch betont. Zusätzlich verwundern die Fenster in der Mitte des linken Schornsteins. Es handelt sich vielleicht um einen Scheinschornstein. Das technische Element der Schornsteine wird genutzt, um eine vertikale Verankerung zu vollziehen, ist also ein ästhetisch wesentliches Gestaltungselement. Der ästhetische Sinn dieser Gestaltung ist in der vertikalen Stabilisierung der auseinanderstrebenden Horizontalbaumassen zu suchen.

Man sieht, dass die Horizontale und Vertikale streng aufeinander bezogen bleiben, ja beide voneinander abhängig sind. Die horizontal betonten Baumassen kommen nicht einfach übereinander zum Liegen, sondern scheinen an den vertikalen Elementen eingehängt zu sein. Auf diese Weise kommt gleichsam nichts ins Rutschen. Die Mitte des Gebäudes erscheint vertikal betont. Der Gegensatz von Vertikale und Horizontale wird hervorgehoben.

Durch vertikale Gebäudeelemente wird in der Regel die selbstbewusste Markierung eines Ortes, einer Mitte der Sesshaftigkeit vollzogen. Zentrierung erfolgt über die Vertikale. Geht man davon aus, dass der Gebäudeform eine Grundstückform entspricht, so ist auch das Grundstück sehr schmal. Das Grundstück ist viel ungünstiger für die Markierung einer Zentrierung als etwa ein Quadrat. Ein Quadrat ist visuell scheinbar wie von selbst mit einer Mitte versehen. Ein langes Rechteck hingegen hat zwar geometrisch natürlich genauso einen Mittelpunkt. Es wirkt jedoch immer eher wie ein Randstück. Diese einschränkende Bedingung wird im vorliegenden Fall genutzt, um aus der Not eine Tugend zu machen. Einerseits werden die auseinanderstrebenden Baumassen betont, andererseits wird das gesamte Gebäude von einem klaren Zentrum her organisiert, das zugleich vertikal stark hervorgehoben ist. So gelingt ein spannungsvolles und dynamisches Ensemble von vertikalem Selbstbewusstsein, schwebendem Abheben und Bindung an die Erde.

Eine weitere Auffälligkeit, die bereits bei den Zeichnungen ins Auge springt, ist die Tatsache, dass nur ein einziger Eingang erkennbar ist, der eher randständig platziert ist. Die realen Eingangssituationen sind auf den Zeichnungen nicht erkennbar und werden daher erst in der folgenden Grundrisszeichnung interpretiert.


Grundrisszeichnungen und Lageplan

Die Interpretation von Grundrissen ist sinnvoll durch eine Interpretation des Lageplans zu ergänzen. Der Ort, an dem ein Gebäude steht, ist ein Datenmaterial mit reichhaltigen Informationen über die in ihm beheimatete Praxis. Es stellt sich die Frage nach der Begrenzung des Lageplans, da im Prinzip die Positionierung des Gebäudes im globalen Kontext Schlüsse über die in ihm beheimatete Praxis zulässt. Es wäre möglich, die Positionierung auf der Erde als solche, innerhalb der politischen Herrschaftsgebietes eines Landes, in der Landschaftsgeographie, in dem Siedlungszusammenhang zu interpretieren. Im vorliegenden Fall stößt die Erhebung von Datenmaterial an ihre Grenzen. Die Daten müssten für das Jahr 1907 erhoben werden, um die Auswahl des Ortes durch den Bauherrn und die Bedeutung dieses Ortes für die Praxis des Bauherrn deuten zu können. Neben den oben verwendeten Zeichnungen steht ein allerdings nachträglich bearbeiteter Lageplan der University of Chicago in der Publikation von Donald Hoffmann[6] zur Verfügung, der aber nur wenig über die vorhandene Siedlungsstruktur der Umgebung deutlich macht. Letztlich müsste ein Stadtplan aus der Zeit hinzugezogen werden. Dies kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht geleistet werden. Daher soll eine Beschränkung auf die Kontextinformationen genügen, dass das Grundstück im Straßenraster Chicagos eher am Rande gelegen und ein Eckstück ist. Auf die Möglichkeit einer erweiterten Interpretation soll hier nur verwiesen werden. Damit bewegt sich die vorliegende exemplarische Analyse im Rahmen einer Beschränkung, die in der Architekturinterpretation häufig zu finden ist. Die beiden einschlägigen Publikationen zu dem Gebäude von Joseph Connors und Donald Hoffmann[7] widmen sich der Positionierung des Gebäudes im urbanen Umfeld ebenfalls nur kaum, obwohl ansonsten Parallelen zur folgenden Interpretation zu finden sind.

Wesentliches Kennzeichen des Grundrisses ist die schmale Form. Dies stellt ein besonderes Problem dar, weil das Grundstück in zwei Richtungen an öffentliche Straßen grenzt und so die Anforderung besteht, in zwei Richtungen die Innen-Außen-Abgrenzung in einer direkten Konfrontation zur Öffentlichkeit zu gestalten. Die nördliche und die östliche Seite des Grundstücks grenzen direkt an andere private Grundstücke, so dass diese Seiten für die Rückseiten des Gebäudes prädestiniert sind.

An dieser Stelle ist es sinnvoll, generalisiertes Wissen zu explizieren. Die Unterscheidung von vorne und hinten bedeutet immer eine Unterscheidung zwischen zugewandt und abgewandt, im Falle von Architektur dem Außen gegenüber zugewandt oder abgewandt. Dies gilt allgemein für den menschlichen Leib. Das Gesicht ist eine Öffnung des leiblichen Innens nach außen. Es ist nur an der zugewandten Seite sichtbar. Diese Unterscheidung von vorne und hinten wird auf die räumliche Gliederung übertragen. Dabei besteht ein Wechselverhältnis zwischen der Strukturierung des Außens und der Strukturierung eines Gebäudes. Das Gebäude selbst sorgt mit seiner Präsentation einer Vorderseite (z. B. einer Fassade) dafür, dass der Straßenraum als ein öffentlicher markiert wird. Verliefe die Straße auf der Rückseite des Gebäudes, so wäre sie immer noch ein öffentlicher Außenraum, aber weniger als solcher städtebaulich gestaltet. Die Strukturierung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit wird ästhetisch vorgenommen. Die Strukturierung jeglichen Handelns durch Eröffnung und Beschließung findet in der räumlichen Unterscheidung von vorne und hinten eine Entsprechung. Im Hausbau bedeutet die Unterscheidung, dass sich das Haus mit einer oder mehreren Seiten dem Außen direkt zuwendet bzw. abwendet. Diese Unterscheidung ist dabei weniger als eine Eigenschaft des Gebäudes relevant, sondern eher als eine Gliederung der Umgebung des Gebäudes, in die das Gebäude eingebettet ist, und die durch das Gebäude räumlich in einen Vorplatz und einen Hinterhof gegliedert wird.[8] Sofern ein Grundstück als Parzelle zwischen anderen Grundstücken positioniert ist, wie es in einer Zeilenbebauung der Fall ist, sind Vorder- und Rückseite allein schon aufgrund der Lage des Grundstückes her vorgeprägt. Ein Eckgrundstück hat zur Folge, dass zwei Seiten gleichermaßen zugewandt und zwei abgewandt sind. Es stellt sich die Frage, ob eine der beiden Seiten selbst noch einmal gegenüber der anderen hervorgehoben wird und ihre Zuwendungsfunktion als Fassade privilegiert wird.

Kehren wir zum vorliegenden Fall zurück. Es ergibt sich ein Ungleichgewicht aus der Tatsache, dass die Süd- und Nordseiten sehr viel länger sind als die West- und Ostseiten. Dadurch kommt den langen Seiten automatisch die Position einer direkteren Konfrontation mit dem Außen zu. Durch das schmale Grundstück kann das Gebäude in nur sehr geringem Maße zur Umgebung auf Distanz gehen. Dieses Problem wird auf der Ostseite durch eine Mauer gelöst, die teilweise sogar direkt an den Weg grenzt und durch ein relativ schmales Tor unterbrochen wird. Auf diese Weise wird an der Südost-Ecke eine Differenzierung von vorne und hinten her gestaltet. Hinten ist von der Vorgabe in dem Fall die Nordseite des Grundstückes, vorn die Südseite. Indem der Ostseite eine Mauer vorgelagert wird, werden nun auch Ost- und Westseite in Vorn und Hinten geteilt, verstärkt noch dadurch, dass nur die Westseite eine Distanz zum Weg einnimmt und dabei recht viel von dem knappen Grundstück ungenutzt lässt.[9]

Die Grundrisse des Gebäudes sind grob in zwei Gebäudeteile getrennt, zwei lange Rechtecke, die zueinander versetzt sind. Der sich überschneidende Bereich in der Mitte bildet den zentralen Erschließungsbereich. Der Haupteingang ist umständlich an der Rückseite positioniert. Die starke Trennung der zwei Gebäudeteile entspricht einer funktionalen Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten. Der vordere Bereich ist ein Trakt, dessen Räume als Räume des Müßiggangs kategorisiert sind (Living, Dining, Billard, Games). Der Trennung entspricht aber nicht nur die Innengliederung, sondern auch die Aufteilung in zwei Zugänge, die an gegenüberliegenden Gebäudeseiten liegen. Sie werden von daher einerseits voneinander distanziert, obwohl sie andererseits durch die Positionierung beider Eingänge am Mitteltrakt einander angenähert sind. Hätte man den Haupteingang etwa an das Ende des Wohntraktes Richtung Westen gesetzt, wäre dort die Praxis des Wohnens durch die Bewegung gestört worden. Es befinden sich dort zwar Ausgänge, die aber mehr als Austritte auf die Westterrasse gestaltet sind, denen also keine primäre Funktion in der Anbindung des Hauses an das Außen für die ankommenden Besucher zukommt. So gibt es einen zentralen Erschließungsbereich, der die Räume als von der Bewegung im Haus distanzierte organisiert. Der Gegensatz von Ruhe und Bewegung wird mit dem Gegensatz von Arbeit und Muße verschränkt. Dies verweist auf eine moderne Trennung von Arbeit und Freizeit. Es entspricht aber auch der klassischen Trennung von Repräsentation und Funktion.

Auffällig ist das zusätzliche „Verstecken“ des Haupteingangs durch die seitliche Versetzung, die anhand der Fotos noch deutlicher interpretiert werden kann. Das Zentrum des Hauses bildet ein Schornstein für die zahlreichen Kamine. Jedes Stockwerk verfügt über einen Kamin, in Billard-, Wohn- und Schlafzimmer sind Kamine vorhanden. Diese Feuerstellen als archaischer Ort der Wärme und natürliche Symbolisierung von Sesshaftigkeit werden in jedem wichtigen Raum platziert. Das Haus lässt sich mit den Kaminen allein nur bedingt heizen. Eine zusätzliche Heizungsanlage ist nötig. Dem Bauherrn muss aber das sichtbare Vorhandensein von Feuerstellen wichtig gewesen sein. Kamine üben einen besonderen Reiz aus. Sie spenden nicht nur Wärme, sondern erlauben es, unter kontrollierten Bedingungen das Element Feuer, das in seiner offenen Form eine massive Bedrohung darstellt, in eine Sesshaftigkeitspraxis zu integrieren. Brände können Häuser zerstören: ein Kamin konstituiert einen Brand unter gezähmten Bedingungen. Er macht ein wichtiges Element der Sesshaftigkeit (die Herdstelle) symbolisch sichtbar und ist Ausdruck der technischen Fähigkeit, die destruktiven Kräfte der Natur zu bändigen. Kamine konstituieren im Innenraum Vergemeinschaftungsmittelpunkte, so wie offene Feuer im Außenraum auch. Man sitzt in der Regel um den Kamin herum und vollzieht eine Praxis der Muße.

Weiteres auffälliges Merkmal der drei Grundrisse ist die Vermittlung zwischen Innen und Außen in den Wohnräumen. Jedem Wohnraum ist ein Balkon oder eine Terrasse vorgelagert. Die Fenster an der nördlichen Seite des Billardzimmers grenzen an den Eingangshof, der durch seine mehrfach markierte Abtrennung als Terrasse im weitesten Sinn bezeichnet werden kann. Damit ist an allen Wohnräumen ein Austritt ermöglicht. Das heißt, man kann den Übergang in den Außenraum vollziehen, ohne das Gebäude wirklich verlassen zu müssen. Die Terrassen und Balkone distanzieren das Innen und gewähren zusätzlichen Blickschutz, verknüpfen jedoch von innen her gesehen das Innen mit dem Außen.

Im Erdgeschoss grenzen die Südfenster des Billard- und Gamerooms an die durch eine niedrige Mauer vom Bürgersteig abgetrennte Terrasse. Die Türen zum Betreten dieser Terrasse sind in der Mitte platziert, dort wo ein schmaler Verbindungsgang die beiden Räume miteinander verbindet. Die Türen sind durch fünf Querstützen hervorgehoben. Zugleich verhindern diese Stützen wie eine vertikale Jalousie den Blick in das Innere. Auffällig ist die Positionierung des Gamerooms im Erdgeschoss unter dem Speisezimmer. Kinder werden dadurch von der Familie distanziert, so dass vorausgesetzt werden kann, dass diese schon älter sind und allein gelassen werden können. Man gesteht ihnen Autonomie zu. Oberhalb der Garagen befinden sich die Räume des Dienstpersonals, so dass eine klare Trennung zum Wirtschaftstrakt besteht, was sich auch darin ausdrückt, dass dem Personal ein eigenes Speisezimmer zugestanden wird. Zwei verschiedene Gastschlafzimmer repräsentieren eine Differenzierung der Gäste in solche, die der Familie nahe stehen, und in eher distanziertere. Das weitere Kinderzimmer im Dachgeschoss ist sicher für jüngere Kinder gedacht.

Der Gameroom ist nach Osten hin durch einen Dreieckserker abgeschlossen. Dies schafft eine Nische, von der aus der Court Yard beobachtet werden kann. Sofern sich hier Kinder aufhalten, sind diese relativ distanziert vom Geschehen in den oberen Etagen. Vom Vestibül her geht eine zentrale, aber unauffällig schmale Treppe in das Speisezimmer der mittleren Etage. Es fehlt ein repräsentativer Treppenaufgang, was die Obergeschosse distanziert. Die Wirtschaftsräume in diesem Geschoss sind vom Wohnbereich vollständig abgetrennt. Man muss das Haus verlassen, um zu ihnen zu gelangen. Auffällig ist ein separates Außentreppenhaus, über das die Küche von außen her zu erreichen ist.[10] Damit werden die Dienstpersonalräume oberhalb der Garagen, mit für 1910 ungewöhnlich vielen Autostellplätzen, direkt an das Außen angeschlossen und somit Wohnen und Service zusätzlich getrennt. Zentrales Vermittlungsglied ist die Küche, die ebenfalls an das Vestibül per Treppe angeschlossen ist. Zwischen Küche und Esszimmer besteht keine direkte Verbindung, sondern nur über einen kleinen schleusenartigen Raum. Dies hält Gerüche fern und distanziert die zwei verschiedenen Praxen voneinander. Wohn- und Esszimmer sind durch zwei seitliche Gänge miteinander verbunden. Die lange Fenstertürenreihe wird nicht unterbrochen, so dass beide Räume als ineinander übergehende erfahrbar sind. Sie enden beide jeweils in einer Art Apsis, einem Dreieckerker. Es gibt wenig Wandfläche, an die man Mobiliar (z. B. Bücherregale) stellen könnte. Der Treppenaufgang endet im Esszimmer, so dass eine offene Verbindung zum Erdgeschoss hergestellt wird. Das Wohnzimmer ist durch zwei seitliche Türen mit dem Außenraum der Westterrasse verbunden, von der jeweils zu beiden Seiten Treppen zum Eingangsvorhof bzw. der Terrasse des Erdgeschosses führen. Faktisch sind dem Gebäude also Zugänge zum Außenbereich direkt vom Wohnzimmer her eröffnet. Im Prinzip ist ein Gästeempfang von der Westterrasse her möglich. Gleichwohl bleiben die Terrassentüren schmal und von daher als Eingänge kaschiert. Das Konzept der ineinander übergehenden Räume in der Beletage kontrastiert zur starken Separierung der einzelnen Räume in den anderen Gebäudeteilen. Allein im Obergeschoss, dem Privatbereich, verliert der Grundriss das Auseinanderstrebende und ist zentral integriert. Der Aufgang von der Küche her führt zu einem Gästeschlafzimmer, das eine privilegierte Position in der Mittel-Etage einnimmt. Es ist über den Balkon und den Flur mit dem Wohnzimmer verbunden und überblickt den Hof vor dem Haupteingang. Das Treppenhaus und eine Sitzbank bilden zusammen mit der Wand des Kaminschornsteins einen offenen Abschluss, eine Art Flur, der den Ost-West-Durchblick in der Länge nach wie vor erlaubt. Das Zentrum des Hauses bildet der Kamin. Das dritte Obergeschoss bildet ein privates Refugium mit Toilettenräumen, Kinderzimmer (sicher eher für die kleineren Kinder), Wohn- und Schlafzimmer. Auf diese Weise erfolgt eine Trennung zwischen Privat- und Repräsentationsbereich. Das Wohnen ist also wiederum in eine Abstufung von öffentlich und privat gestaffelt.


Fotografische Ansichten der Außengestalt des Gebäudes[11] und isometrische Zeichnungen von Frank Lloyd Wright

Es wird eine Idealperspektive auf das Gebäude nahe gelegt: der Blick von Südwesten. Somit erfolgt eine starke Betonung der Plastizität des Gebäudes, die von der Schmalheit des Gesamtgrundstückes her eigentlich eher ausgeschlossen ist. Ein rückseitiger Garten ist durch die Form des Grundstückes nicht realisierbar. Indem nun auf der Ostseite eine schroffe Abtrennung durch eine hohe Mauer erfolgt, wird eine Art privater Außenbereich geschaffen, der einem Garten entspricht, allerdings gleichzeitig mit dem Garagenhof gepaart ist. In den fotografischen Darstellungen wird die Eingangssituation deutlich. Man kann das Gebäude zwar auch vom Garagenhof her betreten und es spricht alles dafür, dass dieser Eingang in der Alltagspraxis auch sehr viel häufiger genutzt wurde, als der Haupteingang, allerdings handelt es sich bei diesem Eingang eher um einen Zugang zum Wirtschaftstrakt bzw. über die Treppe direkt ins erste Geschoss. Es gibt dort keine Halle für den Empfang von Gästen. Der Haupteingang ist durch die Position der Eingangshalle deutlich an der Nordseite markiert, also an einer Position, die von der inneren Gliederung her weit von der Umgebung entfernt, ja regelrecht versteckt erscheint. Der Eingang befindet zudem an einem für sich genommen wiederum durch Mauern von der Umgebung abgetrennten Innenhof, welcher selbst nur durch einen schmalen Gang erreichbar ist und von der Straße aus kaum einsehbar ist. Wer dort hingeht, ist also bereits eingedrungen. In der von Wright selbst herausgegebenen Darstellung[12] werden die wuchernden Pflanzen so gezeichnet, dass sie den schmalen Gang fast gänzlich unpassierbar machen, so als ob ein Zugang von dieser Seite her gar nicht vorgesehen wäre. Die nördliche Fensterreihe macht den Eingangshof vollständig einsehbar und kontrollierbar. Das Billardzimmer wird auf diese Weise von beiden Seiten her mit Licht versorgt. Eine durchgehende Fenstertürenreihe öffnet im leicht erhöhten Erdgeschoss das Gebäude zur Straße hin. Diese Öffnung wird jedoch außen durch eine niedrige Mauer und im Obergeschoss durch massive Mauerbrüstungen dementiert.[13]

Die Unterscheidung von Wand und Fensteröffnung ist verwischt. Die Konfrontation von Innen und Außen geschieht, wie erwähnt, nicht direkt, sondern vermittelt über die Terrassen und Balkone. Die Fassade ist keine Lochfassade, sondern ein komplexes Ineinander von Offenheit durch Fensterreihen und Geschlossenheit durch massive Wände. Radikal kommt dies in der Terrasse auf der Westseite zum Ausdruck. Hier wird das Dach fast bis an die Terrassenbrüstung fortgeführt. Das Dach kragt gewagt hervor, und die Mauerwand wird mit einem Erker weit zurückgesetzt, so dass Raum für eine an dieser Stelle unerwartet große Terrasse gegeben ist. Diese wird durch massive Wände, die der Mauer an der Ostseite entsprechen, festungsartig geschützt. So wird ein Teil des Außenraums in das Innen eingegliedert, ohne dass die Terrasse von außen erkennbar wäre. Insgesamt realisiert das auch an allen anderen Stellen recht weit auskragende Dach durch den niedrigen Steigungswinkel etwas Behütendes und Schützendes. Das Dach ist ohnehin das wesentlichste Element der Betonung der Horizontalen. Gleichzeitig verankert, wie erwähnt, eine Vertikale das Gesamtgebäude. Das lange Dach wirkt wie daran aufgehängt. Es scheint über dem Gebäude zu schweben wie eine schützende Hand. Die Geschossschichtung ist durch die Horizontalelemente sehr stark betont, aber erschöpft sich nicht in der Konstitution eines Stapels, sondern die Horizontalen werden voneinander distanziert, so als würden die Ebenen übereinander schweben. Der Eingang ist direkt am „Kern“ des Gebäudes positioniert, dort wo sich auch der vertikal betonte Kamin befindet.

Das Obergeschoss ist klar der privateste Teil des Hauses. Von außen erhebt es sich wie eine Stellwerkstation über die anderen Teile des Hauses und bekommt dadurch trotz der starken Horizontalbetonung etwas Turmartiges, ein erhobenes Refugium. Wie bereits oben angedeutet, wird eine direkte Konfrontation der Fenster und Hauswände mit dem Außen vermieden, in den ersten beiden Etagen durch Terrassen und Balkone im Obergeschoss durch eigene Blumenbalkone.

Die Darstellung von Frank Lloyd Wright selbst betont dieses Sich-Hinter-Blumenstauden-Verstecken sehr stark.[14] Die Pflanzen quellen gleichsam aus den Balkonen hervor und zwar so, dass sie kaum beschnitten sind. Das Haus wirkt in der Darstellung fast wie eine Ruine, von der die Natur wieder Besitz genommen hat. So wird das Haus sehr stark in die Umgebung eingebettet, allerdings nicht in die Siedlungsumgebung, sondern in die Natur. Natur und Kultur treten gewissermaßen gegeneinander an. Die klaren rechtwinkligen Quader und das hervorkragende Dach behaupten sich gegen die wuchernde Pflanzenwelt. Durch die lang gestreckte Gebäudeform bekommt das Gebäude zusätzlich eine schiffsartige Anmutung, unterstützt durch die gleichwohl versteckten Ost- und Westerker.

Erst auf den Fotos wird die Materialität des Gebäudes sichtbar (etwa die verwendeten Baustoffe). Hier lassen sich grob drei Gestaltungselemente unterscheiden: die roten Backsteinwände, die grauen Gesims- und Sockelbänder und die braunen Fensterrahmen bzw. Dachtraufen. Neben der bereits erwähnten Baumassenordnung betont auch die Anordnung der Materialien im Detail die Horizontale. Das ganze Gebäude scheint von einem grauen Sockelband am Fuße der Baumassen umlaufen und wird dadurch scheinbar auf eine Art Fläche gestellt. Sichtbar sind in erster Linie die darüber emporwachsenden Backsteinmauern, die sehr filigran die durchlaufenden Horizontalbänder im Detail reproduzieren.[15] Die Mauern finden oben ihren Abschluss in aufliegenden grauen Bänken, die sich um die Ecken herum scheinbar bruchlos fortsetzen. Die Fenster wirken stark zurückgesetzt und dunkel, was durch die dunkelbraune Farbe der Rahmen verstärkt wird. Die Rahmen sind als Rahmen nicht wirklich erkennbar. Die Fenster werden dadurch vereinheitlicht als dunkle Öffnungen.

Die Analyse ließe sich nun bei einer Interpretation fotografischer Ansichten der Innenräume fortsetzen. Dies muss im Rahmen dieses Aufsatzes unterbleiben, zumal entsprechendes Datenmaterial, das eine vollständige fotografische Erfassung der inneren Gestaltung des Gebäudes liefert, erst noch zu erstellen wäre. Daher wird die Architekturinterpretation der Fotografien an dieser Stelle abgebrochen und nun eine Interpretation der Gesamtgestalt unternommen.


Soziologische Deutung der Architektur des Gebäudes als Gesamtgestalt

Bislang erfolgte eine – zweifellos recht grobe – Beschreibung hervorstechender Merkmale und Gliederungselemente der sichtbaren Baumassengliederung, der Fassaden, Materialien und der Grundrissgliederung. Diese Darlegung bewegt sich im Rahmen der auch in der Kunstgeschichte und allgemeinen Architekturanalyse zu findenden Hermeneutik der Architektur. Das Prinzip der Sequenzanalyse scheint in der bisherigen Darlegung über die sequentielle Abhandlung der verschiedenen Datenmaterialien und der Benennung von sequentiellen Anordnungen der inneren Räume auf. Ein wesentliches Prinzip des Verfahrens der Objektiven Hermeneutik besteht darin, dass man ausschließlich Aussagen formuliert, die sich aus den analysierten Datenmaterialien heraus begründen lassen. Es werden also zunächst keine Deutungen entwickelt, die aus zusätzlichen Informationen, z. B. aus Gesprächen, Briefen oder dem Vergleich mit anderen Gebäuden gewonnen werden. Man versucht vielmehr, die Schlussprozesse maximal an das vorhandene Datenmaterial der sichtbaren Gebäudegestalt zu binden. Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass eine objektiv hermeneutische Sequenzanalyse eine primär soziologische Deutung zum Ziel hat, dieser Bezug ist bislang noch kaum entfaltet worden und soll im Folgenden gewagt werden. Die Schlüsse lassen sich als Hypothesen über die soziale Realität interpretieren, die sich aus der sichtbaren Gebäudegestalt ergeben.

Das Haus repräsentiert die in ihm sesshafte Praxis und damit auch bestimmte Merkmale der Sozialverhältnisse, in denen diese Praxis und ihre Umgebung leben. Der Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten entspricht eine Trennung von Personen, die jeweils das eine oder das andere vollziehen. Die Bewirtschaftung des Hauses setzt das Vorhandensein von Dienstpersonal voraus. Das Wohnhaus (eine andere Funktion, z. B. die eingangs noch erwähnte Administrationspraxis, ist von der inneren Gliederung her ausgeschlossen) ist für die Praxis primär ein Haus der Muße. Arbeit ist Zuarbeit von Dienstpersonal, das in separierten Räumen die Bedingungen der Muße schafft. Diese Konzeption entspricht einer vormodernen gesellschaftlichen Hierarchie. Zugleich ist das Haus darin modern, dass es keine Wirtschaftseinheit ist. Das Einkommen der Bewohner wird woanders erwirtschaftet.[16] Die Fabrikation und damit auch die Arbeitspraxis befinden sich woanders. Das Haus steht in der Tradition der Architektur der Fabrikantenvillen. Diese sind Ausdruck der bürgerlich-kapitalistischen Industriegesellschaft. Anders als die stadtbürgerlichen Adelspaläste fügen sich diese Häuser nicht in eine verdichtete urbane Stadtstruktur, sondern siedeln sich in Randgebieten der Stadt an. Die städtebauliche Struktur ist weniger urban als parkartig aufgelockert. Die Ensemblebildung erfolgt als Ansammlung von Solitären nicht als Strukturierung von Straßenfluchten.

Die Gestaltung entfernt sich vom klassischen Formenkanon der Architektur und gewinnt dadurch neue Möglichkeiten. Das Gebäude ist keine Kombination überlieferter Formelemente (Portikus, Erker, Risalit, Giebel, Gesims etc.), die an eine Baumasse appliziert werden, sondern eine Komposition von Bauvolumina, die im Gesamtbau jeweils ihre Eigenständigkeit wahren. Die Fassade ist nicht eine Wand mit Fensterlöchern, sondern eine Komposition aus massiven und perforierten Wänden. Die Fenster werden in Reihen angeordnet. Dadurch wird einerseits eine stärkere Öffnung nach außen erzielt (mehr Fensterfläche), diese Öffnung findet aber andererseits ihr Widerlager in einer stärkeren Betonung der Massivität der Terrassenwände, die dem Gebäude etwas Festungsartiges verleiht. Der Kontrast zwischen Öffnung und Schließung wird verschärft, gleichzeitig durch die Betonung der Horizontalen das Gebäude insgesamt in die Umgebung stärker eingebettet. Durch die Komposition von Bauvolumen und die zum Teil versteckte Positionierung der Eingänge und Fenster treten Innen und Außen in eine verschachtelte Beziehung zueinander. Der Übergang zwischen Innen und Außen wird nicht nur als eine Staffelung gestaltet, sondern die privateren Räume werden an das Außen näher herangerückt (vgl. die Konfrontation des Erdgeschosses mit dem Außenraum des Gehsteigs) und die Räume des Übergangs, wie z. B. des Eingangs, vom Außen distanziert. Gleichzeitig wird die Unverwechselbarkeit des Gebäudes, in der sich die Unverwechselbarkeit der im Gebäude beheimateten Praxis ausdrückt, nicht in einer spezifischen Variation weniger Formelemente erzielt, sondern in einer Gesamtgestalt, die nur dem einen Gebäude zukommt.[17]

Zugleich erlauben diese Gestaltungsprinzipien eine weitaus differenziertere Innengliederung, weil nun auch die Innenräume in vielfältigerer Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Das bedeutet nicht lediglich, dass bei der Gestaltung individuelle Wünsche des Bauherrn berücksichtigt werden können, sondern vor allem, dass Bauherr und Architekt vor die Aufgabe gestellt sind, zu bestimmen, wie das Gebäude die Innen-Außen-Abgrenzung der Praxis verkörpern soll, die in ihm sesshaft sein wird. Die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Bauherrn beschränkt sich nicht mehr auf eine Auswahl und Kombination bekannter Formen bzw. Stile. Die architektonische Gestaltung erzwingt daher notwendigerweise ein Arbeitsbündnis zwischen Architekt und Klient, denn der Architekt muss seinen Klienten interpretieren.[18]

Sozialer Raum organisiert sich wesentlich in den Grundgegensätzen von innen/außen, vertikal/horizontal, sakral/profan, öffentlich/privat.[19] Diese Gegensatzpaare, die jeweils komplementär zueinander stehen, werden in der Architektur des Robie-Hauses in eine spezifische Spannung zueinander gebracht. Obwohl die Horizontale betont ist, und damit die Einbettung des Gebäudes in die flache Landschaftsmorphologie der Prärie markiert wird, spielen die vertikalen Elemente doch eine große Rolle dabei, eine Mitte zu schaffen, von der aus die Gliederung sowohl in der Außenansicht als auch in der Innengliederung her organisiert ist. Obwohl Fenster nicht als Aussparungen in einer Lochfassade gestaltet sind, sondern als Reihen, die selbst wie eine Wand fungieren, und damit eine starke Öffnung erfolgt, wirkt das Gebäude doch zugleich insgesamt eher als abweisend geschlossen, was durch die massiven Backsteinmauern hervorgerufen wird. Dadurch entsteht der eigentümliche Gegensatz von der Anmutung des Sich-Duckens und der selbstbewussten Vertikalität des Gebäudezentrums, das stabil die Geschossebenen übereinander zum Schweben bringt. Die Trennung von Sakral und Profan lässt sich in der Gebäudegliederung darin erkennen, dass der Arbeitsbereich fast vollständig vom Bereich des Wohnens abgetrennt wird und der zentrale Wohnraum der Beletage wie ein langer Versammlungsraum mit Apsis gestaltet ist. Die Praxis des müßigen Wohnens in Form des geselligen Beisammenseins und des Gästeempfangs wird gleichsam sakralisiert. Die Arbeit, mit der die Bewohner ihren Lebensunterhalt verdienen, findet offensichtlich woanders statt und ist so auskömmlich, dass im Wohngebäude selbst Arbeitsstellen für Dienstpersonal bereitgestellt werden können. Muße steht also im Vordergrund, gearbeitet wird woanders. Die Bedingungen dieser Muße werden von Dienstpersonal möglichst wenig sichtbar in abgetrennten Bereichen realisiert. Der müßigen Wohnpraxis wird ein Rückzugsraum geschaffen, und sie verschanzt sich dabei hinter Mauern und blumenbewachsenen Balkonen. Der Vermeidung der Blicke von außen nach innen steht der Versuch gegenüber, die Umgebung zu überblicken, die sich im mittleren Teil des Gebäudes in dem stellwerkartigen Turm realisiert. Das Gebäude ist ein Solitär. Es fügt sich nicht in eine Straßenflucht. Dadurch repräsentiert sich die dort sesshafte Praxis als individuiert und unverwechselbar, als auf Autonomie bedacht. Die Praxis versteht sich selbst nicht als eine, die sich ästhetisch in die Tradition eines vorhandenen Ensembles einfügt, sondern nimmt in Anspruch, innovativ zu sein und die Traditionen der umgebenden Architektur für neue Lösungen zu öffnen. Diese Innovation wird ästhetisch radikal vollzogen und durch die technische Innovation unterstützt, die allerdings kaum sichtbar gemacht ist, sondern nur aufgrund von Zusatzinformationen deutlich wird (Stahlträgerkonstruktion, modernes Heizungssystem).[20] Das Technische wird in dem Gebäude nicht wie in späteren Architekturentwicklungen ästhetisch hervorgehoben, sondern dient eher im Hintergrund dazu, das komplexe Ineinander der oben genannten Gegensätze möglichst radikal zu gestalten. Der modernsten Technik steht die Inszenierung archaischer Kaminfeuerstellen gegenüber, die aber – ihres funktionalen Sinns entledigt – vollständig auf die Praxis der Muße bezogen sind. Die Wuchtigkeit und Massivität der Backsteinwände repräsentiert eine starke Ortsbindung, geradezu eine Erdung, die aber durch das Reisemotiv der Schiffs- bzw. Stellwerkanmutung konterkariert wird.[21] Die ästhetische Betonung der Gegensätze lässt die Praxis, die sich in ihm verkörpert, auf spezifische Weise unsicher erscheinen. Sie scheint zu einem enormen Wohlstand gekommen zu sein und bemüht einerseits die für Industriebarone der Gründerzeit übliche soziale Hierarchie der bürgerlichen Repräsentation, die durch Dienstpersonal sichergestellt wird. Zugleich verweigert sie sich einer Repräsentation von herrschaftlicher Macht.[22]


Methodische Schlussbemerkung

Nach der Darlegung der Gebäudeanalyse lässt sich noch einmal methodisch reflektieren, was das Besondere an der objektiv hermeneutischen Analyse von Architektur ist. Die Analyse bleibt nicht bei der Beschreibung ästhetischer Valenzen und Merkmale stehen, sondern stellt sich der Anforderung, auch Lesarten zu entwickeln, die angeben, welche Bedeutungen durch bestimmte Gestaltungen realisiert werden. In der Bestimmung der architektonischen Besonderheiten kommt die objektive hermeneutische Interpretation mit anderen bekannten Praxen der Interpretation ästhetischer Gebilde zur Deckung. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass der Versuch unternommen wird, nur Argumente zu entwickeln, die sich aus der sichtbaren Gestalt des Gebäudes (repräsentiert in den Datenmaterialien) ableiten lassen. Anders als in anderen Gebäudeanalysen, werden die Deutung der Gebäudegestalt und die Deutung weiterer Materialien (Briefe, Interviews etc.) klar getrennt. Auch der in der Kunstgeschichte so relevante Vergleich mit anderen Gebäuden, die einen Bezug zum analysierten Gebäude aufweisen, wäre erst in einem methodisch begründeten weiteren Schritt zugelassen. Die Deutung wird anhand des gewählten Datenmaterials entwickelt. Dadurch soll erreicht werden, dass man bestimmen kann, welche architektonischen Eigenheiten genau in einem realisierten Gebäude Schlüsse über die in dem Gebäude verkörperte soziale Realität erlauben. Die ästhetische Gestaltung eines Gebäudes lässt Rückschlüsse auf eine soziale Realität zu, ganz im Sinne des Diktums von Norbert Elias von „Wohnstrukturen als Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen“[23], allerdings über die Grundrissanalyse hinaus bezogen auf die architektonische Gesamtgestalt.




 

Literaturverzeichnis:
 

Barth 2004: Barth, Holger, Im Schatten der Moderne – Gustav Lüdecke 1890-1976. Rekonstruktion eines Architektenwerkes, Dortmund: Dortmunder Vertrieb, 2004.

Connors 1984: Connors, Joseph, The Robie House of Frank Lloyd Wright, Chicago 1984.

Elias 1999: Elias, Nobert, Die höfische Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999.

Mc Carter 2001: Robert McCarter, Frank Lloyd Wright, London: Phaidon, 2001.

Hoffmann 1984: Hoffmann, Donald, Frank Lloyd Wright’s Robie House – The Illustrated Story of an Architectural Masterpiece, New York: Dover, 1984.

Oevermann 1993: Oevermann, Ulrich: „Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodologische Grundlage für die Analyse von Subjektivität. Zugleich eine Kritik der Tiefenhermeneutik“, in: Thomas Jung, Stefan Müller-Doohm (Hg.): »Wirklichkeit« im Deutungsprozess: Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 106-189.

Oevermann 2000: Oevermann, Ulrich: „Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis“, in: Klaus Kraimer (Hg.), Die Fallrekonstruktion, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S. 58-156.

Oevermann 2003: Oevermann, Ulrich: „Künstlerische Produktion aus soziologischer Perspektive“, in: Rohde-Dachser, Christa (Hg.): Unaussprechliches gestalten. über Psychoanalyse und Kreativität, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003, S. 128-157.

Oevermann 2004: Oevermann, Ulrich: „Die elementare Problematik der Datenlage in der quantifizierenden Bildungs- und Sozialforschung“, in: Sozialer Sinn, Heft 3, 2004, S. 413-476.

Oevermann et. al. 1979: Oevermann, Ulrich / Allert, Tilman / Konau, Elisabeth / Krambeck, Jürgen: „Die Methodologie einer ‚objektiven Hermeneutik‘ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften.“, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart: Metzler, 1979, S. 352-434.

Schmidtke 2006: Schmidtke, Oliver: Architektur als professionalisierte Praxis – Soziologische Fallrekonstruktionen zur Professionalisierungsbedürftigkeit der Architektur, Frankfurt am Main: humanities-online, 2006.

Wright 1998: Wright, Frank Lloyd, Studies and Executed Buildings by Frank Lloyd Wright, New York: Rizzoli, 1998.

 


 

Anmerkungen:

[1] Ich danke Dr. Axel Jansen für die Diskussionen zu der Gebäudeanalyse.

[2] Die methodische Darstellung referiert Argumente, die in folgenden Aufsätzen von Ulrich Oevermann dargestellt sind: Oevermann 1993; Oevermann 2000; Oevermann 2003; Oevermann 2004; Oevermann et. al. 1979.

[3] Vgl. hierzu auch Barth 2004.

[4] Weber trennt mit der Kategorie des subjektiven Sinns die Soziologie von anderen Wissenschaften. Diese Trennung wird zugunsten einer Betonung der Gemeinsamkeiten in der objektiven Hermeneutik überwunden.

[5] Die interpretierten Zeichnungen der Auf- und Grundrisse sind im Internet öffentlich zugänglich unter der URL-Adresse:
http://hdl.loc.gov/loc.pnp/hhh.il0039.

[6] Vgl. Hoffmann 1984.

[7] Vgl. ebd. und Connors 1984

[8] Einen interessanten Grenzfall bilden hier hohe Bauten (Hochhäuser, Türme etc.), die häufig so gestaltet sind, dass eine Differenzierung zwischen Vorne und Hinten kaum oder gar nicht erkennbar ist. Nicht selten spielt diese Unterscheidung nur im unteren Bereich also dem Bereich eine Rolle, der relevant ist, wenn man direkt vor dem Gebäude steht, während in den oberen Geschossen die Gestalt nach allen Seiten hin identisch sein kann, z. B. der Messeturm in Frankfurt am Main. Dass ein Gebäude, welches die Traufhöhe der umgebenden Gebäude kaum überragt, nach allen Seiten hin identisch gestaltet ist bzw. keine Differenzierung nach vorne und hinten aufweist, ist selten. Ein Gebäude, bei dem es sich so verhält, ist die Villa Metzler am Mainufer in Frankfurt am Main. Dort ist es so, dass dem Gebäude allein aufgrund seiner Positionierung an der Straße eine Differenzierung zwischen Vorder- und Rückseite zukommt, nicht aber das Gebäude selbst die Strukturierung vornimmt. Trotzdem reagiert die Eingangsgestaltung minimal auf diese Realität. Es bleibt aber, dass das Gebäude unnahbar wirkt und ein städtebaulicher Anschluss nur indirekt erfolgen kann. Hochhäuser sind demgegenüber der räumlichen Gliederung ihres direkten Umfeldes aufgrund ihrer Höhe entrückt. Sie sind so groß, dass sie häufig die durchschnittliche Traufhöhe ihrer Umgebung bei Weitem überragen und somit auch der räumlichen Gliederung mit ihren Differenzierungen von Vorder- und Rückseite. In ihrer Höhe nehmen die Hochhäuser vielmehr Bezug auf den Raum einer Siedlung. Sie setzen die gesamte Siedlung ins Verhältnis zur Weite des Raumes, der die Siedlung überspannt, z. B. ein Talkessel oder eine weite Ebene. So lange der hohe Bau ein einzelnes Exemplar bleibt, gewinnt er eine Zentrierungsfunktion für die gesamte Siedlung. Ein gängiges Muster hierfür sind die traditionellen Kirchtürme europäischer Dörfer. Die Zentrierungsfunktion für den Gesamtraum blieb lange Zeit ein Privileg der Sakralbauten. Eine interessante Ausnahme bilden hier die Geschlechtertürme in der Toskana. Es gibt aber auch niedrigere Sakralbauten wie der Felsendom in Jerusalem oder das Baptisterium in Florenz, welche nur eine geringe Differenzierung zwischen Vorn und Hinten aufweisen. Die Zentrierung ist auch hier aufgrund der Repräsentation der religiösen Bindung angemessen. Vor diesem Hintergrund sind moderne Bürohochhäuser ästhetisch prekär, weil es sich um Bürobauten handelt, deren Praxis eigentlich keine Zentrierungsfunktion im Siedlungsensemble zukommt. Als direkte Verkörperung formaler Rationalität bringen sie allenfalls deren Bedeutung in der modernen Industriegesellschaft zum Ausdruck, daher gewinnen sie über die sekundäre Einbettung in eine Skyline eine Angemessenheit zurück, die ihnen als Solitäre häufig abgeht.

[9] Für eine detailliertere Analyse der verschachtelten Symmetrien der Fassaden vgl. Connors 1984, S. 19f.

[10] Vgl. hierzu auch Connors 1984, S. 25.

[11] Da das Gebäude als Museum von Touristen besucht wird, finden sich zahlreiche Farbfotografien im Internet, z.B. auf
http://www.flickr.com/search/?q=robie-house&w=all.
Schwarz-Weiß-Fotos findet man auch auf der oben genannten Webseite, vgl. Anmerkung 4.

[12] Vgl. Wright 1998, S. 58.

[13]The heights and pyramidal massing of the brick piers and walls in section are carefully calculated to allow views out from the main-floor rooms but block views into the rooms from the sidewalk.“ Mc Carter 2001, S. 94.

[14] Vgl. Wright 1998, S. 58.

[15] Vgl. hierzu auch Connors 1984, S. 25.

[16] Im Falle des Fabrikanten F. C. Robie (Kontextwissen) war dies eine Fahrradfabrik.

[17] Gleichwohl folgt auch Wright bestimmten Gestaltungsprinzipien und verwendet bestimmte ästhetische Elemente, die in vielen seiner Gebäude wiederkehren. Dies ist nicht grundsätzlich neu, denn auch viele Gebäude, die einen klassischen Formenkanon anwenden, gelingen ästhetisch, weil sie zu einer eigenständigen unverwechselbaren Gesamtgestalt integriert werden. Gleichwohl wird die vormoderne Architektur grundsätzlich als Komposition aus kodifizierten relativ festgelegten Architekturformen verstanden, während Frank Lloyd Wright sich nicht mehr an diesem klassischen Formenkanon orientiert. Dies lässt sich u. a. daran ablesen, dass sich für die Beschreibung von vormodernen Gebäuden eine Terminologie herausgebildet hat, die es erlaubt, die Elemente des Gebäudes zu bezeichnen. Dieses Vokabular lässt sich nicht einfach auf moderne Gebäude übertragen. Die Beschreibung eines Gebäudes von Frank Lloyd Wright lässt sich mit dem Architekturvokabular der vormodernen Architektur nicht vollziehen. Die Termini zur Bezeichnung von Elementen des Gebäudes reduzieren sich auf Wand, Fenster, Vorsprung, Dach etc. Spezifische Bezeichnungen wie Auslucht, Walmdach, Fledermausgaube etc. werden irrelevant.

[18] Dies hat Wright auch klar so gesehen. In Briefen zeigt sich, dass er schnell die Vertrauensgrundlage im Arbeitsbündnis thematisierte, wenn es um ästhetische Strittigkeiten ging. Vgl. hierzu Schmidtke 2006, S. 239ff. Connors charakterisiert die typischen Klienten von Frank Lloyd Wright wie folgt: „Leonard Eaton has drawn a convincing profile of the typical Wright client in the period up to 1910. Many were managers in small and medium sized companies, and often they were concerned with the mechanical side of production. Many had technical training, and if they had degrees, they tended to be from state universities or engineering schools. They were mobile, middle-class Republicans who married suffragette wives, practiced liberal religions like Unitarianism or Christian Science, and were passionately interested in music. They were self-made men with considerable money to spend on a house but few preconceptions as to what it should look like, and they lacked great collections of art or heirlooms that would have to be accommodated in their new houses. As a group they stand in marked contrast to the upper-class, North Shore establishment that patronized revivalist architects like Howard Van Doren Shaw. These men represented second or third generation wealth. They were East Coast educated, often with degrees from Ivy League schools. They were high level executives, salesmen, and financiers, who belonged to five or six Chicago clubs, were Episcopalians, collected antiques, and seldom married Suffragette women. They often patronized the orchestra but seldom played instruments or sang themselves. They were not the inventor type, and they tended to look upon culture as something to be imported.” Connors 1984, S. 6.

[19] Vgl. hierzu Schmidtke 2006.

[20] Vgl. hierzu die Darstellung des Bauprozesses in Connors 1984 und Hoffmann 1984.

[21] Insofern ist der Prärie-Stil Frank Lloyd Wrights nicht ausreichend bestimmt, wenn man nur die Horizontale erwähnt. Es ist vielmehr der spezifische Antagonismus, der den Reiz der Gebäude ausmacht. Hoffmann bringt die gegensätzlichen Tendenzen in der Architektur des Gebäudes wie folgt auf den Punkt: „Surely no one else would have embraced so many opposite tendencies to resolve them so well. If the Robie house plays with ideas of speed, it also weighs heavily on its site. It can speak of democracy, free and open, but from almost every direction it is closed or cunningly screened. It honors nature, but by meeting nature's soft shapes with its own order of sharp edges and planes. Low to the ground, the house nevertheless has its primary spaces, a full story above, and its sleeping rooms in an aerie. It is conceived in terms of space, and from some points of view is even transparent; but the strength of its mass remains inescapable.” Hoffmann 1984, S. 35.

[22] Diese ist etwa auch in der Villa Hügel in Essen noch protzig oder schon stark abgeschwächt im Hohenhof in Hagen zu finden. Der Vergleich zum Hohenhof ließe sich noch weiter treiben und kann hier nur angedeutet werden. Eine Analyse der objektiven Daten des dortigen Bauherrn Karl-Ernst-Osthaus führt zu dem Ergebnis, dass sich dieser in der prekären Lage befand ein enormes Vermögen geerbt zu haben, das er aber nicht unternehmerisch investieren konnte, sondern im Dienste der kulturellen Förderung seiner Heimatstadt Hagen zu Gute kommen ließ. Die ästhetische Ambition ist ein direktes Ergebnis der sozialen Besonderheit des Bauherrn. Eine Analyse der objektiven Daten des Bauherrn Robie wäre viel versprechend und kann hier nicht vollzogen werden. Sein Wohnhaus kann jedoch als Ausdruck einer durchaus prekären Ambition gesehen werden. Auffällig ist sicherlich, dass beide Häuser nicht sehr lange durch den Bauherrn bewohnt wurden und heute Museen sind. Darin drückt sich aus, dass die ästhetische Ambition sich gewissermaßen verselbständigt hatte. Vgl. hierzu meine Analyse in Schmidtke 2006, S. 149ff.

[23] Elias 1999.

 

 


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