Zum Interpretieren von Architektur
Theorie des Interpretierens

12. Jg., Heft 2, Dezember 2008

 

__Anna Valentine Ullrich
Aachen
  Medienwirkungen: Rezeption zwischen Architektur, Sprache und Bild

 

   

Einleitung

2 ZKDB: Jeder Wohnungssuchende weiß, welche Merkwürdigkeiten sich hinter diesem Kürzel in Wohnungsanzeigen verbergen können. Selbst beigefügte, scheinbar so dokumentarische Fotos erwecken bisweilen völlig andere Eindrücke, als die eigene Besichtigung und Begehung der Wohnung schließlich ergibt.
Im Folgenden soll es nicht um eine Unterscheidung zwischen Darstellung und 'Welt' gehen, sondern um die Interpretationen von Architektur, die vorrangig durch Sprache und Bild angeboten werden. Was heißt es also, mit Sprache und Bild in verschiedenen Darstellungstechniken und -praktiken, eingebettet in soziokulturelle Handlungszusammenhänge, über Architekturen nachzudenken? Damit ist die Frage verbunden, welche Funktionen diesen Darstellungen in Bezug auf Architektur zukommen, und inwiefern damit auch eine Welterzeugung und -erschließung verbunden ist.


Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf das Interpretieren

Bei einer Annäherung an das Thema 'Interpretieren von Architektur' ist zunächst festzustellen, dass dieser Vorgang stets in bestimmten Formaten stattfindet: in mündlichen Alltags- und Fachdiskursen, im Rahmen verschiedener mehr oder weniger standardisierter und institutionalisierter Textsorten, anhand von Fotografien der Architekturen, Skizzen, Grundrissen, Ansichten, Isometrien, Animationen, Modellen usw. Diese Formate sollen im Folgenden als mediale Produkte der Medien 'Sprache' und 'Bild' bezeichnet werden. Das Medium Bild wird also sehr weit gefasst, um darunter sowohl zweidimensionale als auch dreidimensionale Darstellungen wie etwa Modelle zu subsumieren.

Der Terminus 'Medium' verrät bereits, dass hier keine genuin architekturtheoretische Betrachtung des Interpretierens verfolgt wird. Vielmehr sollen zwei zentrale Schlagworte als Analyseinstrumente vorgestellt werden, die aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Forschungszusammenhängen erwachsen sind und über disziplinäre Grenzen hinweg eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf Verfahren der Interpretation ermöglichen: Medium und Performanz oder auch Medialität und Performativität.

Der in den Medienwissenschaften profilierte Begriff des Mediums erlaubt es, das Zusammenspiel und die Verknüpfung verschiedener medialer Formate sowie ihre Rolle im Interpretationsvorgang genauer zu erfassen. Dabei ist sowohl nach der Medialität der Interpretationspraktiken von Architektur als auch nach der des Interpretierten selbst, der Architektur, zu fragen. Diese Herangehensweise knüpft an die beispielsweise von Carsten Ruhl formulierte Forderung an, die „Medialität der Architektur, die Mittel und Formen ihrer Repräsentation[1] mehr in das Blickfeld der Architekturbetrachtung zu stellen.
Das Interpretieren von Architektur lässt sich weiterhin als ein Handeln, als ein aktiver Prozess mit bestimmten Gelingensbedingungen und Konsequenzen beschreiben, der mit dem Begriff der 'Performativität' beschreibbar ist.


Das Objekt des Interpretierens: Architektur

Zunächst ist zu klären, was überhaupt der Gegenstand einer Interpretation von Architektur sein soll: Welche Art von Architektur wird analysiert? Wo ist 'Architektur' zu verorten, im Entwurf, in digitalen Graphiken und virtuellen Modellen, nur im fertig gestellten Bauwerk oder erst in den Fotografien des Gebäudes?

Generell lässt sich in den meisten Fällen keine stringente Entwicklungslinie von den ersten Skizzen bis hin zum Gebäude ausmachen, die im Bauwerk als Endpunkt kulminieren und damit nur letzteres als Architekturwerk zulassen würde. Diese traditionelle Hierarchisierung von vorläufigem Bild und endgültigem, vollendetem Bau als Kunstwerk wird beispielsweise nicht zuletzt von Herzog & de Meuron in ihrem Konzept der „Architektur als Ausstellendes und Ausgestelltes[2] in Frage gestellt, wie Carsten Ruhl erläutert. Stattdessen postulieren die Architekten die „Emanzipation der ausgestellten Architektur von der Architektur als gebauter Realität.[3] Das Kunstwerk liegt dann im künstlerischen Prozess, der in verschiedenen Zuständen, unter anderem auch in der Form des Gebauten still gestellt, vorliegen kann. Abgesehen von der Frage der Ausstellbarkeit von Architektur und ihren Formaten sowie den speziellen ästhetischen Strategien Herzog & de Meurons, steht weiterhin zur Diskussion, welcher Stellenwert Bildern von Architektur zugesprochen wird.

In Folge der zunehmenden Bedeutung analoger und digitaler Bildtechniken für die Produktion und auch Rezeption von Architektur hat sich eine Debatte über die 'Bildlichkeit' von Architektur und über eine möglicherweise notwendige Bildtheorie der Architektur entwickelt.[4] Angesichts dieser Reaktionen auf den 'iconic turn' ist die Einstufung des Bildlichen als Beiwerk im Dienste der Vollendung eines Bauwerkes nicht mehr adäquat. So scheint es nicht hilfreich, Architektur ontologisch vorrangig mit gebauter Materialität zu verbinden. Ruhl weist sogar mit Blick auf den Entwurf der Elbphilharmonie in Hamburg von Herzog & de Meuron auf die Problematik hin, inwiefern Bauten überhaupt ausgeführt werden müssen, wenn spektakuläre Bilder und Animationen der Projekte bereits in das kollektive Gedächtnis der Öffentlichkeit eingegangen sind und dabei identitätsstiftende Funktionen übernehmen.

In diesem Beitrag sollen Bild und Bau in ihren diversen Variationen gleichberechtigt als unterschiedliche mediale Erscheinungsformen von 'Architektur' konzeptualisiert werden, die je Spezifisches hervorzubringen vermögen und sich durch differierende Materialitäten auszeichnen. Dementsprechend erscheint Architektur in einigen Fällen im Medium des gebauten Raumes, in anderen, in bildmedialen Darstellungsarten.


Architektur als Medium

Was ist nun in diesem Zusammenhang unter dem Schlagwort 'Medium' zu verstehen? Der Medienbegriff ist in den Medienwissenschaften und angrenzenden Disziplinen kontrovers diskutiert worden. Die Bandbreite dessen, was genau unter diesem Terminus verhandelt werden soll, reicht von einer technisch-massenmedialen Ausrichtung bis hin zu Positionen, die auch Licht oder Geld als Medium betrachten.[5]

Hier soll ein Konzept von Siegfried J. Schmidt aufgegriffen werden, der den Begriff Medium hinsichtlich vier Kategorien differenziert: Er unterscheidet zwischen semiotischen Kommunikationsinstrumenten (als Prototyp wird die natürliche Sprache genannt, aber auch Bilder, Töne, Schriften fallen darunter), dem technisch-medialen Dispositiv bzw. den Medientechnologien (z. B. Druck- und Bildtechniken), der sozialsystematischen Institutionalisierung eines Mediums (Organisationen wie etwa Schulen, Verlage oder Medienanstalten) sowie den konkreten Medienangeboten. Diese Medienangebote sind in ihrer Produktion, Verbreitung und Rezeption von den anderen Komponenten abhängig und durch sie bestimmt.

Medien werden von Nutzern in konkreten soziokulturellen Kontexten genutzt; im Laufe ihres Lebens und Sozialisationsprozesses erwerben die Nutzer Medienkompetenzen, die in weiten Bereichen als implizites Nutzungswissen vorhanden sind und nicht bewusst gemacht werden. Schmidts Gliederung des Mediums in vier Kategorien erlaubt es, jede einzelne in ihren Wirkungen zu untersuchen. Die entscheidende Wirkung von Medien, die jedoch schwer auszumachen ist, ist die Hervorbringung von Sinn und die Konstruktion von Wirklichkeit. Da Medien immer schon Teil der Lebensumwelt der Mediennutzer sind, finden diese Konstruktionen größtenteils vor der Bewusstseinsschwelle statt. Jedes Medium gibt, abhängig von seiner Materialität, gewisse Rahmenbedingungen für die Möglichkeiten, in ihnen zu agieren, vor. In Anbetracht dieser konstitutiven Rolle der Medien im Weltzugang der Nutzer plädiert Schmidt dafür, Kognitions-, Kommunikations- und Gesellschaftsgeschichte als Mediengeschichte zu überdenken, da der Umgang mit Medien z. B. Auswirkungen auf Raum- und Zeiterfahrung, Kontaktformen, Körpererfahrungen oder Kommunikationsmöglichkeiten hat.[6]

Diese Konzipierung von Medien lässt sich auch auf Architektur anwenden. Benjamin Burkhardt nimmt eine solche Übertragung vor. Dabei bezeichnet er als zeichenhaftes Kommunikationsinstrument gebaute Architektur, die sich mithilfe von technischen Mitteln zu Medienangeboten (die konkreten Bauwerke) entwickelt. Als beteiligte Organisationen werden Bauämter, Hochschulen und Ingenieurbüros genannt, die Medienangebote herstellen und verbreiten.[7] Ich möchte diese Anwendung auf den Bereich Architektur aufnehmen, jedoch zwei Erweiterungen vorschlagen, die für die Thematik des Interpretierens interessant sind. Dabei handelt es sich zum einen um die bereits angerissene Diskussion, wie breit der Objektbereich und damit auch das Medium 'Architektur' anzusetzen sind. Zum anderen wird eine Ergänzung in der Frage vorgenommen, wie sich Rezeptionen von Architektur medial ausgestalten.

Zum ersten Punkt: Burkhardt berücksichtigt in seiner Medienkonzipierung keine anderen Erscheinungsformen von Architektur, die außerhalb des Gebauten liegen, so dass eine Verengung des Architekturbegriffs auf die raumfixierte Materialität des Gebauten stattfindet. Diese Position wurde bereits in den vorhergehenden Ausführungen in Frage gestellt. Wie beispielsweise Juan Pablo Bonta ausführt, können auch nicht mehr existente Bauten, der deutsche Pavillon von Mies van der Rohe, oder nie realisierte Bauwerke, etwa Gropius' Entwurf für den Chicago Tribune Tower, stilbildend sein und für Architekturrezeption und -kritik eine große Rolle spielen.[8] [9]

Demzufolge soll der Medienbegriff hier so erweitert werden, dass er sowohl Architektur im Medium des gebauten Raumes als auch Architektur im Medium des Bildes umfasst. Gegenstand einer Interpretation können generell alle Formen werden.
Dieses Medium des gebauten Raumes kann mit einer Unterscheidung von Gernot Böhme noch genauer gefasst werden. Er stellt den Raum leiblicher Anwesenheit und den Raum als Medium von Darstellungen gegenüber.[10] Für den entwerfenden Architekten ist seiner Meinung nach der Raum in erster Linie ein Medium von Darstellungen, der in Entwürfen, Modellen und abschließenden Fotografien des Bauwerkes konzipiert wird. In diesem Raum sind z. B. Größenverhältnisse, Volumina und Formen entscheidende Kategorien.

Der Raum, in den sie [die Architekten] ihre Entwürfe einzeichnen, ist der euklidische Raum, metrisch, homogen, nahezu isotrop – nur die Richtung oben/unten spielt wegen der Schwerkraft eine Rolle.“[11]

Der Raum leiblicher Anwesenheit ist hingegen zentriert auf das Ich und besitzt somit am Körper orientierte Richtungen (oben/unten, links/rechts, vorne/hinten); dieser Raum ist charakterisiert durch Enge und Weite, durch die festgelegten Möglichkeiten der Bewegung, Unterscheidungen von Helligkeit und Dunkel usw. Zudem erscheint er stets als 'gestimmter Raum', der von einer bestimmten Atmosphäre erfüllt ist.

Im Medium des gebauten Raumes – in der Form leiblicher Anwesenheit sowie als Darstellungsmedium – wird Architektur wiederum medial rezipiert, und zwar vorwiegend in sprachlichen und bildlichen Interpretationen. Hier kommen wir zur zweiten Erweiterung der Burkhardtschen Medienkonzeption von Architektur. In dieser Betrachtungsweise erscheint Architektur als Solitärmedium. Die Bedeutung von Architektur, vor allem ihr erinnerungsstiftendes Potenzial, das im Vordergrund seiner Untersuchung von Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses steht, beschreibt Burkhardt zwar als von  öffentlichen Rezeptionen abhängig. Dabei findet jedoch die Medialität dieser Rezeptionsdiskurse selbst keine Beachtung. Ich vertrete die Position, dass der Medienbegriff sowohl einen konstruktiven Beitrag zur Untersuchung verschiedener Repräsentationen von Architektur (Bild und Bau) als auch der Formate, in denen Architektur interpretiert wird (Sprache und Bild), leisten kann. Insbesondere der konstitutive Beitrag der Interpretationsmedien zur Wahrnehmung von Architektur lässt sich hierbei diskutieren.


Mediale Interpretationen

Kommen wir nun zu diesen Mitteln und Verfahren des Interpretierens. Je nach Rezeptionszusammenhang wird eine bestimmte Darstellungsweise in den Vordergrund gerückt und zum Ausgangspunkt einer Interpretation. Bilder, Texte usw. sind Repräsentationen, sie konstituieren den Gegenstand Architektur, sie 'vermitteln' und stellen in bestimmter Weise dar. Dabei geben sie verschiedene Erkenntnismöglichkeiten und Perspektiven auf das Untersuchungsobjekt. Alle medialen Produkte mit ihrer spezifischen Materialität stellen somit eine bestimmte Sicht auf eine Architektur her. Je nach Textsorte (Architekturkritik, Feuilletonartikel, Wohnungsanzeige usw.) entstehen unterschiedliche Beschreibungen, die Verschiedenes hervorheben und so verschiedene Erkenntnisgegenstände konstituieren.

Mit Martin Seel lässt sich die Funktion dieser Interpretationsmedien folgendermaßen erläutern:

Medien sind also keine Instrumente, mit denen etwas erreicht oder zugänglich wird, das auch anders erreicht werden könnte. Medien sind konstitutiv für die Handlung, die in ihrem Element ausgeführt wird. […] Medien […] sind Elemente, ohne die es das in einem Medium Artikulierte nicht gibt.“[12]

Mit anderen Worten, die Medien Sprache und Bild ermöglichen je spezifische Zugangsweisen zu Architektur, die ohne sie nicht existierten. Weitergehend konstituieren sie den Gegenstand, die Architektur, als solchen auf eine bestimmte Weise. Das bedeutet: „Nicht Leistungssteigerung, sondern Welterzeugung ist der produktive Sinn von Medientechnologien.“[13] Medien fungieren also nicht einfach als neutrale, nachträgliche Techniken, die fertige Inhalte lediglich übermitteln – vielmehr erzeugen und prägen sie diese.

Im Kontext dieser Betonung der sinnstiftenden Funktion von Rezeptionsakten lässt sich auch der Begriff des Originals im Bezug auf Architektur in einer veränderten Weise konzeptualisieren: In diesem Fall ist 'Originalität' keine ontologische Qualität eines architektonischen Werkes mehr, sondern Originalität wird gestiftet durch Interpretationen. Demnach ist ein Original nicht einfach gegeben; vielmehr ist es in gewisser Weise erst das nachträgliche Produkt von Zuschreibungsprozessen. Das Werk wird als Original konstituiert durch Kommentare, Kritiken, Beschreibungen, Analysen, die Bedeutungen und Interpretationen des Werks verhandeln. Diese als „Praktiken des Sekundären[14] zu bezeichnenden Techniken eröffnen Aneignungs- und Aktualisierungsmöglichkeiten von Architektur für ein Publikum. Originalität und was sie ausmacht, ist demnach ein Status, der im Rezeptionsdiskurs zu- und abgesprochen wird, somit veränderlich ist und immer wieder neu zur Disposition steht. In dieser Reformulierung des Verhältnisses von Original und Aneignungsformen wird deutlich, welcher kulturelle Stellenwert Interpretationen von Architektur als unendlich fortzuspinnenden Bedeutungsbehauptungen und Neuadressierungen zukommt.


Medienverbände

Am Beispiel der Architektur zeigt sich im besonderen Maße, wie Medien miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen sind. Wir operieren in den seltensten Fällen in Einzelmedien, meistens in variantenreichen Ausformungen von Medienkombinationen.

Architektur geht verschiedenste mediale Verbindungen zu anderen Medien ein. In der Produktion von Architektur können Auseinandersetzungen mit Medienangeboten wie Sprache, Bildwerk, Musik oder auch Skulptur Inspirationsquelle für das Entwerfen sein; gleichzeitig gibt es auch Beispiele, auf intermediale Weise andere Medienformate konkret in gebaute Form zu übersetzen. Das Spektrum der medialen Verflechtungen reicht von der 'Architecture parlante'[15] über Daniel Libeskinds Ansinnen, im Entwurf des Jüdischen Museums in Berlin die Schönberg-Oper 'Moses und Aaron' ins Architektonische zu übersetzen[16] bis hin zu Bauwerken, die konzeptuell zwischen Architektur und Skulptur[17] anzusiedeln sind. Auch in der Rezeption werden Verbindungen zu anderen Medien gezogen; so werden häufig sprachliche, bildliche, skulpturale oder musikalische Metaphern verwendet und Strukturähnlichkeiten zu anderen Medienangeboten hergestellt, um die Wirkung von Architekturen zu beschreiben.[18]


Interpretation: Zwischen Gebrauch und Lektüre

Nachdem nun das Objekt der Interpretation sowie seine Interpretationsformate in Ansätzen bestimmt wurden, ist zu klären, wie Interpretieren im Bereich der Architektur zu konzeptualisieren ist. Ich möchte hier vorschlagen, 'Interpretieren' als Oberbegriff für den Umgang mit gebauter Architektur zu verwenden. Generell kann Interpretieren als Akt der Bedeutungszuschreibung gefasst werden, der mehr oder weniger zielgerichtet, bewusst und reflektiert abläuft. Dabei können zwei Arten des Interpretierens ausgemacht werden, die ich als 'Gebrauch' und 'Lektüre' benenne. Obwohl der Begriff der Lektüre aus einem schriftsprachlichen Kontext stammt, soll er hier nicht als auf den sprachlichen Rahmen beschränkte Lektüre gedacht werden, sondern auf verschiedene mediale Lektüren bezogen werden.

Beide (Gebrauch und Lektüre) sind aktive Formen der Auseinandersetzung mit Architektur. Gebrauch und Lektüre unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt, in ihren divergierenden Zielsetzungen; im ersten Fall geht es um Bewohnen und Nutzbarmachen von gebautem Raum für die eigenen Bedürfnisse. Der Gebrauch eines Gebäudes kann im Einklang mit den durch die Architektur vorgegebenen Bewegungs-, Verhaltensmustern und Lebensweisen stehen oder ihnen widersprechen oder auch eine kreative Erweiterung darstellen.[19] Eduard Führ beschreibt den Gebrauch so:

Gelingendes Gebrauchen ist eine Kunst, nicht simple behavioristische Reaktion auf eine Gebrauchszumutung. Gebrauchen kann nur gelingen, wenn ich [...] das Unvorherbedachte bastelnd in das System zurückführen kann, wenn ich beim Gebrauchen als flexibles, entscheidungstreffendes und kognitiv präsentes Subjekt agiere, wenn ich kreativ in und mit Situationen umgehen kann.[20]

Bei der Architekturlektüre steht das 'Lesen', Vermitteln und Verstehen von Architektur im Vordergrund, um ihr Funktion, Bedeutung und Wirkung zuzusprechen. Dies findet in verschiedenen institutionellen Kontexten (Fachzeitschrift, Feuilleton, Beiträge in Radio, Film, Fernsehen und Internet sowie universitären Veranstaltungen) statt.

Gebrauchen ist kein Verbrauchen von Bauwerken. „Der Gebrauch von Architektur ist Entwurf neuer Handlungen, neuer Strukturen, neuer Narrationen.[21] Weder ist also Gebrauch  einfach Vollzug von architektonischen Vorgaben und Ordnungen, noch ist die Lektüre ein Ablesen vorhandener, dem Architekturwerk anhaftender Bedeutungen. Vielmehr sind die Interpretationsarten immer wieder neue Konstruktionen und Stiftungen von Sinn und erscheinen damit als aktives Handeln der Rezipienten.

Dieses Interpretieren als Handlung kann als performativer Akt tituliert werden. Der Performanzterminus stammt ursprünglich aus der Sprechakttheorie von John L. Austin und bezeichnet solche Sprechakte, in denen eine Äußerung gleichzeitig den Vollzug einer Handlung bedeutet – etwa bei ritualisierten Akten der Taufe oder Verheiratung, bei denen mit der Äußerung „Hiermit taufe ich dich auf den Namen X“ diese Handlung auch zur Ausführung kommt.[22] Der Performanzbegriff ist in letzter Zeit in den Kulturwissenschaften zu einem Basisbegriff avanciert. Damit wird der Handlungsaspekt sowie der Aufführungs- und Inszenierungscharakter unterschiedlichster kultureller Hervorbringungen sowie von Kultur allgemein in den Blick genommen.[23]

Im Kontrast zur bisher vorherrschenden Vorstellung von 'Kultur als Text' führte der 'performative turn' in den Kulturwissenschaften zu einer Hinwendung zu 'Kultur als Performance' und zur Untersuchung ihrer Prozesshaftigkeit.[24]
Interpretationsvorgänge von Architektur als 'performativ' zu benennen, bedeutet erstens, die Handlungsdimension des Rezipierens zu betonen. Zweitens kann damit aber auch die weltverändernde und weltkonstituierende Funktion von Interpretationen akzentuiert werden.

Aus einer medialen Perspektive ist Lektüre im Gegensatz zu Gebrauch folgendermaßen zu fassen. „Medien […] bleiben der blinde Fleck im Mediengebrauch.[25] Im Normalfall taucht der Mediennutzer so in das genutzte Medium ein, dass er beispielsweise nicht die Oberflächen als solche wahrnimmt, damit keine Buchstaben oder Striche sieht, sondern Texte und Bilder. Das Medium tritt für den Nutzer nur im Störungsmoment oder dann, wenn das Medium selbst zum Thema gemacht wird, in Erscheinung. In der Lektüre wird quasi der Blick festgestellt auf die Medialität und Materialität von Architektur, und so werden Aussagen über ihre Bedeutung gemacht. Dabei wird die Medialität der zur Rezeption verwendeten Medien (Sprache und Bild) wiederum meist nicht reflektiert und diskutiert. Es ist jedoch wichtig, sich deren konstitutive Funktion bewusst zu machen.

Wer sind die Akteure eines Interpretationsverfahrens? Gebrauch und Lektüre als Interpretation zu begreifen, bedeutet auch, die klassische Trennung im Umgang mit Architektur zwischen Entwerfendem, Kritiker und Nutzer, denen jeweils nur spezifische Handlungsoptionen offen stehen, aufzulösen. Alle Personenkreise führen Interpretationsvorgänge durch, so dass Prozesse der Aushandlung von Bedeutungen entstehen. Sie liefern unterschiedliche Interpretationen, die untereinander konkurrieren, sich ergänzen und befruchten oder um die Deutungshoheit über ein Bauwerk ringen.

Architekturlektüren können als stetiger, unabschließbarer Prozess der Bedeutungserzeugungen verstanden werden: Manche Lektüren wetteifern miteinander, einige gehen im Laufe der Zeit verloren, andere werden aufgegriffen und re-aktualisiert. Sowohl Experten als auch Laien nehmen Bedeutungszuschreibungen vor, die in den jeweiligen Diskurskontexten, die durch spezifische Anforderungen, mehr oder weniger standardisierte Formen und bestimmte Kriterien charakterisiert sind, ihre Berechtigung haben oder angemessen sind. Konflikte und Missverstehen ereignen sich meist an den Rändern zu anderen Diskursen oder bei diskursübergreifenden Kommunikationen (etwa Expertendarlegungen in einem Laienkreis und umgekehrt), in denen dann Kategorisierungen nicht funktionieren.


Schluss

Im Rahmen dieses Beitrages sollte die Medialität von Architektur in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen ins Blickfeld gerückt werden und damit auch die Einbindung von Architektur in ein Mediennetz, das näher zu konturieren wäre. Das Interpretieren von Architektur wurde als medial und performativ charakterisiert und so der bedeutungsstiftende und weltkonstituierende Beitrag von Interpretationen hervorgehoben. Daran anschließend wäre eine detailliertere Betrachtung des Zusammenhangs von Architektur und Performanz interessant; inwiefern also dieser Terminus zu einer differenzierten Analyse von Architektur beitragen könnte.

Am Ende dieser Ausführungen zum Interpretieren von Architektur sollte ihre Gebrauchsdimension nicht aus dem Blick geraten:

In meiner Vorstellung ist sie [die Architektur] zunächst [...] Hülle und Hintergrund des vorbeiziehenden Lebens, ein sensibles Gefäss für den Rhythmus der Schritte auf dem Boden, für die Konzentration der Arbeit, für die Stille des Schlafes.“[26]


 


 

Literatur:

Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte, bearbeitet von Eike von Savigny, Stuttgart [1962] 1975.

Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006.

Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München 2006.

Bonta, Juan Pablo: Über Interpretation von Architektur. Vom Auf und Ab der Formen und die Rolle der Kritik, Berlin 1982.

Brüderlin, Markus (Hg.): ArchiSkulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute, Ostfildern 2005.

Burkhardt, Benjamin: Der Trifels und die nationalsozialistische Erinnerungskultur: Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses,
in: Medien des kollektiven Gedächtnisses, hg. von Astrid Erll/Ansgar Nünning, Berlin/New York 2004, S. 237-254.

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Fehrmann, Gisela u. a.: Originalkopie. Praktiken des Sekundären – Eine Einleitung, in: Originalkopie. Praktiken des Sekundären, hg. von Gisela Fehrmann u. a., Köln 2004, S. 7-17.

Franck, Oya Atalay: Von singenden Linien zu schweigenden Räumen, in: transLate 12 (2004), S. 12-15.

Führ, Eduard: 'Frankfurter Küche' und Spaghetti carbonara. Funktionalität von Architektur und Kunst des Gebrauchens,
in: Ausdruck und Gebrauch 1/1 (2002).

Führ, Eduard: Architekturkritik als Architekturvermittlung, in: Wolkenkuckucksheim, 7/2 (2003)
http://www.tu-cottbus.de/openarchive/wolke/deu/Themen/022/Fuehr/fuehr.htm.

Gleiter, Jörg H.: Architekturtheorie heute, in: Wolkenkuckucksheim 9/2 (2005)
http://www.tu-cottbus.de/openarchive/wolke/deu/Themen/042/Gleiter/gleiter.htm.

Hauser, Andreas: 'Architecture parlante' – stumme Baukunst? Über das Erklären von Bauwerken, in: Architektur und Sprache, hg. von Carlpeter Braegger, München 1982, S. 129-161.

Krämer, Sybille: Das Medium als Spur und als Apparat, in: Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, hg. von Sybille Krämer, Frankfurt a. M. 1998, S. 73-94.

Ruhl, Carsten: Die Vermittlung ist das Werk. Zur Verselbstständigung des Ausstellens bei Herzog & de Meuron, in: Wolkenkuckucksheim, 11/1-2 (2007)
http://www.tu-cottbus.de/openarchive/wolke/deu/Themen/061+062/Ruhl/ruhl.htm.

Schmidt, Siegfried J.: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist 2000.

Seel, Martin: Medien der Realität und Realität der Medien, in: Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, hg. von Sybille Krämer, Frankfurt a. M. 1998, S. 244-268.

Wirth, Uwe: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. von  Uwe Wirth, Frankfurt a. M. 2002, S. 9-60.

Zumthor, Peter: Architektur denken, Basel 1999.


 



Anmerkungen:

[1] Ruhl 2007

[2] Ruhl 2007.

[3] Ruhl 2007.

[4] Zur Verhältnis von Architektur und Bild vgl. etwa Gleiter 2005 und auch Ruhl 2007.

[5] Vgl. zu letzterer Position etwa Seel 1998.

[6] Vgl. Schmidt 2000, S. 94 ff.

[7] Vgl. Burkhardt 2004, S. 238 f.

[8] Bonta 1982, S. 30.

[9] Burkhardt führt selbst in seiner Beschreibung nationalsozialistischer Erinnerungskultur an, dass viele der geplanten Denkmal-Ensembles nie zur Ausführung kamen. Dennoch besaßen sie als visionäre Leitbilder in der nationalsozialistischen Propaganda eine wichtige Funktion und Bedeutung.

[10] Böhme 2006, S. 16.

[11] Böhme 2006, S. 16.

[12] Seel 1998, S. 246.

[13] Krämer 1998, S. 85.

[14] Fehrmann u. a. 2004, S. 7.

[15] Vgl. dazu etwa Hauser 1982.

[16] Vgl. Franck 2004, S. 14.

[17] Vgl. Brüderlin 2005.

[18] Zu Musik und Architektur vgl. etwa Böhme 2006, S. 83 ff.
Zu Architekturinterpretationen in Metaphern vgl. etwa Dreyer 1997.

[19] Vgl. zu vorgegebenen Funktionalitäten von Architektur und aktuellem Gebrauch etwa Führ 2002.

[20] Führ 2002.

[21] Führ 2003.

[22] Vgl. Austin 1962, S. 33 ff.

[23] Vgl. Wirth 2002, S. 9 ff.

[24] Bachmann-Medick 2006, S. 104.

[25] Krämer 1998, S. 74.

[26] Zumthor 1999, S. 12.




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