ARCHITEKTUR DENKEN
40 Jahre kritische Architekturtheorie – 40 Jahre Igma

13. Jg., Heft 2, März 2009

 

Gerd de Bruyn
Stuttgart
  Editorial

 

    Aus Anlass seines vierzigjährigen Bestehens veranstaltete das Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (Igma) der Universität Stuttgart im November 2008 ein zweitägiges architekturtheoretisches Symposium, zu dem führende Vertreterinnen und Vertreter des Faches zusammenkamen, um die kulturelle Bedeutung und besondere Anschlussfähigkeit ihrer Disziplin an andere Wissensgebiete unter Beweis zu stellen. In spezifischen Annäherungen an Philosophie, Wissenschaft, Zeitgeist und Geschichte ließen jeweils zwei Kollegen die Brisanz und Notwendigkeit der Architekturtheorie deutlich werden. Zudem traten auch bauende Architekten, die eigensinnige Konzepte verfolgen (Alban Janson, Hans Kollhoff, Boris Podrecca und Annett Zinsmeister), ins Rampenlicht, um die Relevanz der Theorie für die praktische Entwurfsarbeit zu demonstrieren. Rampenlicht ist hier übrigens der treffende Ausdruck, da die Veranstaltung in einem Zirkuszelt stattfand, das eine Woche lang das Foyer der Stuttgarter Architekturfakultät unterhielt mit Raubtiergebrüll, trompetenden Elefanten und Applausgeräuschen, die aus seinem Innern drangen...

Ermöglicht worden war die Veranstaltung durch die großzügige Unterstützung der Baden-Württembergischen Architektenkammer und des Kulturamtes der Stadt Stuttgart. Die Schirmherrschaft hatte Kulturbürgermeisterin Dr. Susanne Eisenmann übernommen. Der erste Veranstaltungstag widmete sich den Themengebieten „Architekturtheorie und Philosophie“ mit den Referenten Jörg Gleiter aus Berlin/Bozen und Kari Jormakka aus Wien/Weimar sowie „Architekturtheorie und Wissenschaft“ mit Eduard Führ aus Cottbus und Susanne Hauser aus Berlin. Beschlossen wurde der erste Tag mit dem Abendvortrag des Architekturtheoretikers Georg Franck aus Wien, den seine Bücher „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (1998) und „Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes“ (2005) berühmt gemacht haben. Franck widmete sich der Frage, ob Architektur eine Wissenschaft sei.

Am zweiten Tag standen die Themenblöcke „Architekturtheorie und Zeitgeist“ mit den Referenten Bart Lootsma (der leider tags zuvor wegen Krankheit absagen musste) und Karin Wilhelm aus Braunschweig sowie „Architekturtheorie und Geschichte“ mit Philip Ursprung und Werner Oechslin aus Zürich im Mittelpunkt. Abends mündete die Veranstaltung in eine Podiumsdiskussion, die sich der Rolle der Architekturtheorie in der Architekturausbildung (insbesondere in Rücksicht der Umstellung unserer Diplomstudiengänge auf die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge) widmete. Daran nahmen die Referentinnen Karin Wilhelm und Annett Zinsmeister, die Referenten Hans Kollhoff und Werner Oechslin sowie Wolfgang Riehle teil, der Präsident der Baden-Württembergischen Architektenkammer.

Die Wahl der Themenblöcke verdankte sich nicht der Tatsache, dass hier Problemfelder erkundet werden sollten, die der Veranstalter für wichtig genug hielt, um sie Kolleginnen und Kollegen von Rang und Namen „auf die Nase zu binden“. Umgekehrt wird ein Schuh draus: meine Absicht bestand darin, vor allem diejenigen Vertreter meines Faches nach Stuttgart zu locken, die ich persönlich schätze und deren Arbeit ich seit einiger Zeit verfolge. Die entsprechenden Kolleginnen und Kollegen führte ich in Kleingruppen zusammen, um sie dann mit einem „Großthema“ zu betrauen, dem sie sich bereits in einschlägigen Veröffentlichungen gewidmet hatten.

Der Titel Architektur Denken war eine Hommage an mein Institut, dessen Sinnen und Trachten man seit seinen Anfängen, als noch der bewundernswerte Jürgen Joedicke die Zügel in der Hand hatte, damit umschreiben kann: Es gilt, unseren Studentinnen und Studenten das Denken über die Architektur beizubringen; es ihnen schmackhaft zu machen, freilich nicht durch bekömmliche Portionen, sondern durch jenen intellektuellen Spaß, den die Leiter des Igma und ihre Teams immer schon verspürt und verkörpert haben, wenn es darum ging, die Architektur zu definieren, sie herauszufordern und zugleich die Moderne zu analysieren, mit und gegen die sich das zeitgenössische Bauen und Entwerfen vollzieht.

Die Architektur ist ja nicht nur eine sehr alte Disziplin, die sich wie Malerei, Tanz oder Musik über Jahrtausende zurückverfolgen lässt, sondern sie muss in besonderer Weise auch als eine genuin vormoderne Kunstgattung betrachtet werden, da sie Wesensmerkmale aufweist, die sich nicht modernisieren lassen. Zu diesen Merkmalen gehört vor allem das, was ich jüngst als ihren enzyklopädischen Charakter beschrieb. Gemeint ist damit: Die Architektur erlangte ihre einzigartige Bedeutung im Feld der Wissenschaften und Künste dadurch, dass sie über Jahrhunderte hinweg als Paradigma der gelungenen Repräsentation eines umfassenden „Weltwissens“ galt, das den Kosmos als einheitliche, harmonische und sinnvolle Ordnung spiegelte. Diese harmonia mundi wurde in der Architektur mehr als in anderen Disziplinen zu einer sicheren Erfahrungstatsache. In der Welt mochte es noch so katastrophal zugehen – die Architektur beharrte als Konzept, Idee, Zeichnung, Modell und in gebauter Form darauf, dass unserem Leben aller Willkür, allem Chaos, Terror, Mord und Totschlag zum Trotz eine unerschütterliche Ordnung zugrunde liege.

In der Moderne wurde diese vermeintliche Gewissheit als Illusion entlarvt und dem Glauben an eine sinnvolle Architektur des Kosmos abgeschworen. Während die meisten anderen Künste so taten, als hätten sie immer schon gewusst, dass die Harmonievorstellungen der alten Welt Chimären waren, denen sie nun durch ästhetische Autonomisierungsprozesse zu entrinnen suchten, sah die Architektur ihrem Ende entgegen. Der Untergang der alten Welt führte zugleich zum Ende der Architektur als enzyklopädische Kunst und Wissenschaft. Modernisierung hieß in ihrem Fall: sich des eigenen Wesens zu entschlagen und für alle Zeiten in einer unentscheidbaren Pendelbewegung zwischen Kunstanspruch und Kunstverbot zu verharren.

Hiergegen begehrten die Avantgarden auf. Sie sind das schlechte Gewissen der Moderne: sie vollstrecken sie, indem sie sie konterkarieren. Die Avantgarden entdeckten, dass das Neue, dies Lebenselixier der Moderne, zweierlei Formen zeitigt: es kann etwas sein, was bis dato unbekannt und noch nie der Fall war; es kann freilich auch die Wiedergeburt eines ehemals Alten sein, das aus der Versenkung auftaucht wie ein zuvor nie da Gewesenes.
Im Unterschied zum Neuen, das als genuine Errungenschaft der Moderne in die Welt tritt, sind die Avantgarden Experten eines Uralten gewesen, das in radikalen Neuformulierungen das Publikum provozierte. Indem die Avantgarden den enzyklopädischen Charakter der Architektur zu reformulieren trachteten, um ihr eine Überlebenschance in der Moderne zu sichern, vollstreckten sie die Moderne, da ein schockierend Neues in die Welt trat: Häuser ohne Schmuck und sichtbare Dächer, ohne solide Verankerung im Boden; Bauten, die zu schweben schienen, die auf entsetzliche Weise leicht, fragil und transparent waren, als wollten sie ihre Bewohner schutzlos einer Welt preisgeben, die in ständiger Veränderung begriffen und schon allein deshalb unsicher genug schien.

Die Avantgarden konterkarierten mit ihren wagemutigen Bauten die Moderne, weil in ihnen durch das Quäntchen Utopie, das darin steckte, eine andere Gesellschaft als die moderne und eine andere Architektur als die modernisierte zum Ausdruck kamen. Das utopische Denken und die enzyklopädische Architektur verbündeten sich, um der Moderne besser zu widerstehen. Begünstigt wurde dieser Bund durch das, was man die Dialektik der modernen Vernunft nennen könnte. Sie zeigte sich darin, dass die Architekturavantgarden und das utopische Denken eine Ratio favorisierten, die modern genannt zu werden verdient, da sie Planungsvorgänge systematisieren half, doch richtete sie sich zugleich gegen die Moderne, weil sie die Differenzierungsprozesse bekämpfte, die mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Gesellschaft notwendigerweise einhergingen. Anders gesagt: Dem Enzyklopädismus der Architektur, der die Ausdifferenzierung des Wissens nur so weit akzeptierte, als dadurch die Einheit der Welt nicht infrage gestellt wurde, entsprach die Simplifizierungsstrategie des utopischen Denkens, das die wachsende Komplexität moderner Gesellschaften zugunsten traditioneller Vorstellungen von sozialer Solidarität zurückzuschrauben suchte.

Die Avantgarden waren zu klug, um nicht der faktischen Modernisierung, die sie am eigenen Leib erlebten, eine alternative Moderne entgegenhalten zu wollen, mit der die Probleme, die im entfesselten Kapitalismus auftraten, bewältigt werden sollten. Sie waren aber auch zu naiv, um dabei nicht Modellen der Ausbildung von Gesellschaften, Städten und Häusern aufzusitzen, die ihr Heil in der Komplexitätsreduktion moderner Systeme wie Wissenschaft, Kunst, Technik, Bürokratie, Politik und Rechtssprechung etc. suchten. Dies durchschaut zu haben, ist das Verdienst unserer Zeit, die keinen himmelstürmenden Avantgardismus und auch kein utopisches Denken mehr kennt. Entsprechend wird in der Architekturtheorie die Selbstverpflichtung zur wissenschaftlichen Arbeit immer spürbarer.

In den folgenden Aufsätzen, die den Referaten nachgebildet sind, die während des Symposiums gehalten wurden, möchten wir unsere Leser an einer selbstbewussten Wissenschaftlichkeit (Gleiter, Führ, Franck, Hauser, Oechslin), die engagierte Parteilichkeit (Karin Wilhelm) und geistreiche Intellektualität (Jormakka, Urspung) erlaubt, teilnehmen lassen. Weitere Qualitäten treten in den Beiträgen der praktizierenden Architekten zutage: in der versierten Vortragskunst eines Boris Podrecca, die unser Ohr wie ein Nachhall des literarischen Wiens der Jahrhundertwende entzückte, in der glitzernden Neugier Annett Zinsmeisters, der stillen Konzentriertheit Alban Jansons und der geradezu obsessiven Versunkenheit Hans Kollhoffs. Aus ihren Texten geht unmissverständlich hervor, dass Architekturtheorie immer auch eine Domäne der Bauenden sein sollte. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei allen Autorinnen und Autoren, dass sie die Publikation des Symposiums in so kurzer Zeit möglich gemacht haben, und natürlich auch bei allen, deren Engagement das Zustandekommen dieser Veröffentlichung ermöglicht hat.



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