ARCHITEKTUR DENKEN
40 Jahre kritische Architekturtheorie – 40 Jahre Igma

13. Jg., Heft 2, März 2009

 

___Susanne Hauser
Berlin
  Architektur, Forschung, Wissen(schaft)

 

    Forschung

Gerd de Bruyn hat mich gebeten, über die Frage zu sprechen, ob und inwiefern die Architektur eine Wissenschaft ist oder sein kann. Ich werde die Frage über eine andere Frage zu beantworten suchen, nämlich die, ob und wie die Architektur das tut, was unter anderem von einer Wissenschaft zu erwarten ist: Forscht die Architektur?

Eines ist derzeit klar: die Architektur an den Universitäten und Kunsthochschulen soll (mehr) forschen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Forderung nicht aus der Entwicklungslogik der akademischen Disziplin Architektur selbst entstanden ist. Der Impuls verdankt sich vielmehr dem rasanten Umbau des akademischen Umfeldes und einer immer noch relativ neuen Form der Bewertung akademischer Tätigkeiten. Die einzelnen Disziplinen bewähren sich in diesem Rahmen unter anderem dadurch, dass sie Forschungsergebnisse erzeugen, messbar beispielsweise an der Zahl von Dissertationen, Projektberichten wie an der Höhe der Einwerbung von Drittmitteln, an Parametern also, die sich in akademischen rankings und über gängige Evaluationsverfahren artikulieren lassen. Nicht immer sind diese den Bedingungen und Aufgaben der Architektur angepasst.

Der neue Maßstab, je nach Land oder Staat mehr oder weniger rigide durchgesetzt, bringt die akademisch institutionalisierte Architektur in eine neue Lage. Forschen im heute evaluationsverträglichen Sinne konnte sie zwar auch früher schon, wenn sie denn wollte. Die Dringlichkeit war aber in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben. Deshalb war es bis vor wenigen Jahren auch nicht notwendig, darüber nachzudenken, ob die Architektur, indem sie neue Antworten auf neue komplexe Fragen formuliert, auch Forschungsergebnisse erzeugt. In dem Moment aber, wo sich die Architektur in dieser Hinsicht mit Disziplinen vergleichen muss, die sich traditionell als forschend begreifen und als forschend verstanden werden, stellt sich die Frage nach einer expliziten Selbstsituierung im Feld der wissenschaftlichen Forschung.

Es ist durchaus möglich, auf diese Situation mit Desinteresse zu reagieren und die Forderung nach Forschung im Sinne der aktuellen Parameter als eine Störung des üblichen Laufes der Dinge zu betrachten. Auch das dürfte Folgen für die akademische Rolle der Architektur zeitigen, wenn auch möglicherweise keine erstrebenswerten. Eine sinnvollere Verarbeitung des Anstoßes von außen bestünde in der Entwicklung von Konzepten, die die Potentiale der Architektur für Forschungen auf der Höhe der Zeit artikulieren.

Eine andere und derzeit nicht unübliche Reaktion ist, die Architektur umstandslos zur ohnehin forschenden Disziplin zu erklären. Geht nicht jedem Entwurf, jedem Projekt eine Untersuchung voraus? Der Versuch allerdings, die Analyse- und Recherchephase, die jedes qualifizierte architektonische (Entwurfs-)Projekt selbstverständlich verlangt, unter dem Label „Research“ zur „Forschung“ zu erklären, greift eindeutig zu kurz. Er macht die Kriterien für gelungene Untersuchungen abhängig vom Einzelfall und seinen Zielvorgaben und vermeidet die vergleichende und explizite Auseinandersetzung mit den Anforderungen an qualifizierte Forschung in anderen Fächern. Der Impuls zur Behauptung einer Eigenart der Architektur aber, wie er sich im Versuch, „Research“ mit „Forschung“ zu verwechseln zeigt, scheint mir wichtig und richtig: Denn soll die Architektur forschen, dann muss sie das schon auf ihre Weise tun.

Dabei ist die Situation, die das Ergebnis einer längerfristigen Ausdifferenzierung der akademischen Institutionen ist, zu berücksichtigen: Nur wenige Fragestellungen werden derzeit im Feld der Architektur als unbezweifelte Forschungsfragen begriffen. Diese Fragen sind vor allem lokalisiert, wo die Architektur mit kunst-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fragen einerseits und mit naturwissenschaftlichen, mathematischen und technischen Fragen andererseits befasst ist. Es handelt sich um Fragestellungen, die in Gebiete reichen, die über einen langen Zeitraum methodische und theoretische Standards verhandelt haben.

Dem steht gegenüber, dass der Entwurf, der (Kern-)Bereich, für den heute die meisten Professuren an Architekturfakultäten existieren, seine Arbeit erfolgreich erledigt, ohne sich vor allem als forschend zu verstehen. Statt zu fragen, weshalb die Architektur wenig forscht, wenig Drittmittel akquiriert oder gleich darüber nachzudenken, wie das alles anders und besser werden kann, ist deshalb zuerst eine andere Frage zu stellen: Was ist das Spezifische an der akademischen Disziplin Architektur? Welche Art von neuem Wissen und neuen Ergebnissen erzeugt sie?


Integrationen

Die erste und vorläufige Antwort auf diese Fragen lautet, dass sich in der Architektur unterschiedlichste Wissensformen und Kulturtechniken verbinden. Architektur ist Entwurf, Technologie, Baupraxis. Die Bezeichnung „Baukunst“, die an nahezu allen älteren Architekturfakultäten als Instituts- oder Lehrstuhlbezeichnung vertreten war, erfasste diesen Zusammenhang auf eine, heute allerdings antiquierte, Weise. Architektur, das hat sich nicht geändert, ist pluridisziplinär, und das ist noch zu wenig gesagt insofern, als sie auch Gebrauch von weiteren und unterschiedlichen Wissensformen, Verfahren und Praktiken macht, die nicht bestimmten akademischen Disziplinen zugewiesen werden können. Kurz gefasst: Architektur ist generalistisch, eine Integrationsdisziplin, die viele unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten und den kompetenten und kreativen Umgang mit unterschiedlichen Typen von Wissen verlangt.

Es ist, nachzulesen bereits bei Vitruv, eine die Architektur auszeichnende Eigenschaft, dass sie aus allen möglichen Wissensbereichen Elemente und Strukturen aufnimmt. Es gibt keine prinzipielle Abhängigkeit von einzelnen Wissenstypen oder Disziplinen, die der Architektur und ihrer Theoriebildung eigen wäre. Auch gibt es keine in der Geschichte der Architektur durchgehaltene Bevorzugung bestimmter Wissensbestände. Allenfalls die Geometrie, einmal mehr oder auch weniger im Zentrum der je zeitgenössischen Bemühungen, findet konstant Beachtung. Ansonsten existieren – in deutlicher Abhängigkeit von aktuellen Problemlagen und Bedingungen, denen sich die Architektur beziehungsweise das Bauen ausgesetzt sahen und sehen – sich stark wandelnde, mehr oder weniger ausgeprägte Bezüge der Architektur zu bestimmten Disziplinen, Techniken und Technologien, die primär anderen Wissensbeständen zuzuordnen sind und dort auch primär erprobt oder aber erforscht werden.


Wissen prozessieren

Architektur ist dennoch keine Disziplin, die verschiedene Wissens- und Praxistypen einfach nur "anwendet" oder "koordiniert". Sie setzt sie um in neue Entwürfe und antwortet damit auf Fragestellungen, die räumliche und zeitliche Bedingungen für unterschiedlichste gesellschaftliche Vollzüge definieren. In diesem Prozess entstehen neue Gegenstände. Sie werden im Allgemeinen nicht als Ergebnisse von Forschung verstanden, sondern als Ergebnisse künstlerisch-technischer Praxis.

Die Form der Aufnahme von Wissen aus nicht unmittelbar der Architektur zugerechneten Diskursen in die Architektur entspricht den Anforderungen, die die jeweiligen Aufgaben stellen und ist in dieser Hinsicht für die Architektur wie für die akademische Disziplin Architektur charakteristisch. So gelangen und gelangten über Jahrhunderte Bilder, Stichworte, Vorstellungen oder Theoreme aus anderen Wissensbeständen häufig in metaphorischer Weise in die architektonische Praxis. Eine andere mindestens ebenso bedeutsame und charakteristische Form des Zugehens auf Wissensbestände ist die Adaption und Interpretation neuer Technologien, die erst durch ihre architektonische Übersetzung zu einer Realisierung und einer Ausmessung ihres Potentials kommen.

Das Interesse oder auch Ziel der Architektur besteht insofern von vorne herein nicht darin, mit der Spezialisierung anderer Bereiche von der Naturwissenschaft bis zur Kunsttheorie, von der handwerklichen Qualifikation bis zur telekommunikativen Kompetenz, in Wettstreit zu treten, sondern für bestimmte Probleme des Entwurfs Lösungen zu erzeugen. Hierin liegt die Spezialisierung der Architektur, in der Kompetenz, die unterschiedlichsten Wissensformen zu bündeln, zu aktualisieren und in einen Entwurf zu überführen angesichts einer komplexen raum-zeitlichen Fragestellung. Das Umfeld des theoretischen oder praktischen, impliziten oder expliziten Wissens, aus dem einzelne Aspekte der Lösung kommen können, ist dabei nur insoweit von Interesse, wie es gestellte Fragen beantworten kann. Es wird
in der Architektur nicht selbst zum Forschungsgegenstand – auch wenn Fragestellungen aus der Architektur Forschungen unterschiedlichster Disziplinen, Erprobungen unterschiedlichster Praxen anregen können.

Es existieren deshalb in konzeptionell unzweifelhaft präzisen theoretischen wie praktischen architektonischen Entwürfen Vagheiten, die die Zugehörigkeit von Bildern, Konzepten und Technologien betreffen. Die Wissenschaften, Handwerke und Künste, aus denen die aus der Perspektive der Architektur „ursprünglichen“ Ideen stammen, erkennen manchmal ihren Beitrag nicht mehr oder nur in sehr entfernter oder verfremdeter Form wieder: Er ist durch die Praxis und/oder die Theorie der Architektur hindurchgegangen und hat sich in diesem Prozess verschoben, verändert, eine andere Gestalt angenommen.

Es handelt sich, wie gesagt, dabei nicht um „Anwendungen“, auch nicht um Enteignungen eines originalen, anderen Wissens, sondern um seine Aufnahme in einem Prozess, der neue Objekte und neue Gegenstände hervorbringt. Sie findet statt als Übersetzung, Integration, Transformation und Redefinition von Wissensbeständen aus nahezu allen Wissensbereichen. Dabei besetzt die Architektur auch Zwischenräume zwischen akademischen Disziplinen und anderen Formen von Wissen und nutzt sie, um die jeweils implizierten Konzepte der Wirklichkeit in einer architektonischen Weise, in Entwürfen und Bauten, zur Materialisierung zu bringen.


Komplexität

Entwürfe haben ein Ziel, die Synthese, die Koordination von heterogenen Momente und Interessen. Dabei gehen außer den bisher angesprochenen Wissensbeständen viele weitere Momente in einen Prozess ein. Zu diesen weiteren Aspekten, die sich nicht alle als "Wissen" qualifizieren lassen, gehört die persönliche Zuwendung der Entwerfenden zu ihrem Gegenstand, dazu gehören kulturelle Stile, Moden; Ideen und Ideologien sowie zeitgenössisch ausgeprägte Strukturen der Aufmerksamkeit spielen ebenso eine Rolle wie Objekte, die (von Entwerfenden wie mit ihnen Kommunizierenden) als vorbildhaft begriffen werden. Ethische und ästhetische Prämissen, grundlegende Einstellungen zu Natur und Kultur manifestieren sich ebenso wie die Berücksichtigung oder Nicht-Berücksichtigung von Überlegungen zur Nachhaltigkeit. Entwürfe artikulieren überdies ökonomische Voraussetzungen und Bedingungen, folgen Repräsentationsansprüchen oder vermeiden dies ausdrücklich. Und immer reflektieren einzelne Entwürfe auch rechtliche und politische, allgemeiner gesprochen, institutionelle Bedingungen, unter denen Realisierungen denkbar werden können – zustimmend oder auch kritisch.

Zu einem angebbaren Zeitpunkt wird aus einem hochkomplexen und heterogenen Diskursmaterial, aus Wissen, Techniken, aus Bildern, aus Erfahrungen, nach Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Interessen, im Entwurf ein Modell, ein Plan. Bis dahin findet ein Prozess der Integration und Abgleichung, der Synthese und der Aushandlung statt, in dem die Heterogenität hinreichend bewältigt worden ist. In jedem Entwurf ist also sehr viel mehr integriert als nur interdisziplinäres Wissen. Es entstehen in ihm umfassende Modelle der menschlichen Umwelt, die als jeweils aktuelle Kristallisationen von Sinn aufgefasst werden können. Sie sind strukturiert, sie stellen Beziehungen und Verhältnisse vor. Sie bestimmen, worauf sich künftig an dieser bestimmten Stelle in der Welt, für die gerade dieser Entwurf entstanden ist, die Aufmerksamkeit richten wird, sie lenken den Fokus der Wahrnehmung und die Fähigkeiten des Bemerkens, die Bereitschaft zu handeln; sie reflektieren das Selbstbild der Akteure und liefern ein bestimmtes Bild der Welt. Sie machen Aussagen über die Ziele, Motive und Praktiken, die die Gestaltung menschlicher Lebensgrundlagen betreffen. Das tun sie übrigens auch, wenn die Entwerfenden sich der möglichen Innovation entziehen, indem sie den Spielregeln des Üblichen folgen. Doch selbst in diesem für die Entwicklung der Architektur nicht sonderlich interessanten Falle liefern Entwürfe hochkomplexe und aufschlussreiche Momentaufnahmen des gerade Möglichen.

Die im Entwurf erzeugten Gegenstände sind besonderer Art. Sie sind hybride Konstruktionen, lokale, wie soziale, technische, institutionelle, instrumentale und epistemische Dinge. Sie öffnen einen Raum der Repräsentation, und erzeugen ein Objekt, das danach als Reales für weitere Entwurfsprozesse verstanden und bedingend werden kann. Das Ergebnis ist Voraussetzung der Umsetzung in bauliche, organisatorische und informationelle Strukturen. Sie beendet den Prozess der Sinnproduktion und Interpretation eines Geländes, eines Bauwerks, einer im weitesten Sinne entwickelten Antwort auf Fragen nach der Gestaltung raum-zeitlicher Bedingungen immerhin vorläufig. Diese Strukturen materialisieren eine Möglichkeit, einen Teil der menschlichen Umwelt ausgehend von den gegebenen Voraussetzungen neu zu bestimmen und ihm Gestalt zu geben.


Forschung (in) der Architektur

Der Konzentration und verschiedener Aspekte zur Lösung einer komplexen Aufgabe, muss sich, soweit ich sehe, keine andere Disziplin außer der Architektur in diesem Maße stellen – wobei ich hier alle Maßstäbe mitdenke, in denen Architektinnen und Architekten tätig sind und waren: von dem des Designs bis hin zum Städtebau. Und hier stellt sich die Frage, ob dieser Integrationsprozess selbst nicht der Kern der Forschungsgegenstände in der Architektur werden könnte und auch müsste – in historischer, systematischer wie in projektiver Perspektive.

Ein Zugang scheint mir über die Vergewisserung über das Wissen der Architektur zu führen. Denn die Wissen(schaft)sgeschichte der Architektur ist noch zu schreiben. Zu dieser Form der Vergewisserung gehört die Untersuchung der Ränder der Architektur in der Gewissheit, dass andere Disziplinen mindestens ebenso deutlich Anleihen in der Architektur machen wie die Architektur sich herstellt im Austausch mit Philosophie und Kunst, Ingenieurwissenschaften und Medienentwicklung, Soziologie und Genderforschung und vielen anderen.

Ein zweiter Ansatz liegt in der Erforschung und Erhellung der komplexen Prozesse, in denen sich Modellbildung in dem oben beschriebenen Sinne in der Architektur vollzieht, die ja eben nicht nur Wissensbestände, sondern auch weitere Bedingungen in ihre Entwürfe integriert. Das hieße, Architektur zu explizieren über eine ästhetisch-funktionale Wertung hinaus, und die Bedingungen sozialer, ökonomischer, anthropologischer und historischer Art ebenso mit einzubeziehen wie funktionale, technische, ökologische und ästhetische Konzepte. Diese Konzepte und ihre Integration aber müssen vermittelt und (re)präsentiert werden – über die Darstellungsmittel des Entwurfs und, da liegt der Anschluss an klassische Forschungsverfahren, ebenso über diskursive, über reflexive, explizite und in ihrer Methode nachvollziehbaren Formen.

Eine Forderung dabei ist selbstverständlich: dass die Grenze sichtbar sein sollte, an der die akademischer Rede folgenden Erklärungen an ein Ende kommen müssen, weil es von da an um das Moment der Stimmigkeit eines eben (auch) ästhetischen Entwurfs oder Objektes geht. Das ist ein Feld der Kritik, das alle akademischen Disziplinen, die sich mit ästhetischen Objekten befassen, schon lange für sich in Ergänzung ihrer Darstellungen in Anspruch nehmen und weiter in Anspruch nehmen müssen.

Wie immer sich die Architektur zu ihrer Forschung verhalten wird, sie wird als akademische Disziplin gewinnen, wenn sie ihre Art, mit heterogenen Wissen(sformen) und einer Vielzahl von Bedingungen umzugehen, als eigene Form der Forschung definiert und explizit darstellt – das heißt, wenn sie das Feld der Forschung um ein reflektiertes Modell des Umgangs mit Komplexität und der Erzeugung von innovativen Konzepten ergänzt.


 

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