ARCHITEKTUR DENKEN
40 Jahre kritische Architekturtheorie – 40 Jahre Igma

13. Jg., Heft 2, März 2009

 

___Alban Janson
Karlsruhe
  Konkrete Theorie
Bemerkungen eines praktizierenden Architekten zum Verhältnis von Architekturtheorie und Wissenschaft

 

   

In der Wissenschaft sind Theorien meistens analytisch, beschreibend, erklärend und beanspruchen Gültigkeit für ein zusammenhängendes Gebiet der Wirklichkeit. Solche Theorien sollen in sich konsistent und allgemeingültig sein. Wir kennen die Annäherungen an die Architektur aus Wissensbeständen und Theoriedisziplinen, die diese Konsistenz und Allgemeingültigkeit besitzen, wie die Ingenieur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften. Diese theoretischen Annäherungen begreifen die Beschäftigung mit der Architektur in der Regel als ein Teilgebiet der jeweiligen Wissenschaft. Sie mögen für die Architekturtheorie wertvolle Hinweise liefern, aber sie ermöglichen kaum, etwas Wesentliches über die Architektur als Architektur zu erfahren.

Die häufig aufgestellte Forderung, Architekten müssten Generalisten sein, schadet der Architektur, wenn damit nur die Kompetenz in allen möglichen Teildisziplinen der Architektur plus deren Synthese gemeint ist. Das gilt genauso für die Theorie. Sie kann nicht im Sinn einer angewandten Wissenschaft verstanden werden, wobei die Ingenieurwissenschaften, Kunst- und Kulturwissenschaften usw. das originäre Wissen liefern würden, das die Architektur nur anwendet. Die durchaus unerlässlichen Kenntnisse auf dem Gebiet von Technologie, Geschichte, Ästhetik usw. führen auch durch deren Synthese noch nicht zur theoretischen Kompetenz in Architektur. Statt solcher Generalisten müssen Architekten sowohl in der Theorie als auch in der Praxis Experten für Architektur sein. Dass es sich bei der Architektur um eine eigene Disziplin handelt, die sich nicht einfach aus der Summe der Teildisziplinen oder -theorien ergibt, eine Disziplin mit eigenen Gesetzmäßigkeiten (und eigener Theorie), muss betont werden. Anscheinend ist es nicht einmal allen Architekten klar.

Mehr als die prinzipiellen Aussagen einer Theorie über Architektur interessiert mich hier eine besondere Funktion, welche die Theorie für die architektonische Praxis haben kann. Da die Arbeit von Architekten ihrem Wesen nach schöpferisch ist, also Konzeptionierung, sollte eine praxisrelevante Theorie die Architektur nicht nur von außen betrachten, sondern mit der Konzeptionierung selbst zusammenfallen: Konkrete Theorie.[1]

Das muss eine Theorie sowohl für den Einzelfall als auch für das (unerwartet) Neue sein. Wir haben es in der Architektur ja nie mit losgelösten technischen Problemen zu tun, sondern mit Bauaufgaben für Menschen und folglich mit Situationen. Die Theorie muss sich deshalb für Einzelfälle eignen, weil jede Bauaufgabe anders ist, eine individuelle Situation darstellt. Vor allem wegen des spezifischen Ortsbezugs, aber auch wegen der Beteiligten / Nutzer / Bauherren, des gesellschaftlichen Umfelds usw. Die Theorie muss außerdem dem Neuen dienen, weil Architektur für neue, bisher nicht bekannte Situationen häufig auch neue, bisher unbekannte Lösungen finden muss.

Um diese Anforderungen zu erfüllen, bietet es sich an, einen wissenschaftlichen Ansatz aufzugreifen, der unter der Bezeichnung Abduktion von Charles Sanders Peirce vorgeschlagen wurde, um auf logischem Wege zu wirklich neuartigen Erkenntnissen zu gelangen. Ergänzend beziehe ich mich auf den von Achim Hahn geführten Nachweis einer besonderen Art von Wissenschaftlichkeit, welche die Gültigkeit des architektonischen Entwurfs für den Einzelfall berücksichtigt und von ihm bereits als Konkrete Theorie[2] bezeichnet wurde.

Die Abduktion ist eine Form der Hypothesenbildung, die von Peirce 1893 beschrieben wurde.[3] Ursprünglich für den Entdeckungsprozess wissenschaftlicher Erkenntnis vorgesehen, wird die Abduktion heute in den Einzelwissenschaften aber nicht nur für die Frage nach der Wahrheit, sondern auch nach der Angemessenheit verwendet. Sie eignet sich für Situationen, die so eigenartig, neu oder unverständlich bzw. „überraschend“ (Peirce) sind, dass es nicht möglich ist, ein Ergebnis von einer bestehenden Regel im Sinne einer Deduktion abzuleiten, sondern wo es auf das Finden einer neuen, bisher nicht existierenden Regel ankommt, die dann aber als selbstverständlich erscheint, oder – hier besser – als angemessen erachtet wird. Es ist zu prüfen ob mit demselben Verfahren auch schöpferisch gearbeitet werden kann, zum Beispiel in der Architektur.

Bauaufgaben bzw. architektonische Fragestellungen sind fast immer sehr komplex, oft schwer überschaubar und lassen sich meistens nicht in bekannte Lösungsmuster einordnen. Man hat es jeweils mit einer eigenartigen Situation zu tun, deren Behandlung sich aus keiner bekannten Regel ableiten lässt. Es gibt daher keine Theorie, die man anwenden könnte, keine wissenschaftliche Lehre. Eine rein deduktive Methode hilft also nicht weiter. Worauf es nun ankäme, wäre das Entdecken einer der konkreten Situation angemessenen Konfiguration, die als architektonisches Konzept die komplexen, divergierenden Fakten in einer sinnstiftenden Regel fasst, als Theorie bzw. als „Gestalt“, „Figur“, oder als (räumliche) Formel.

Um die Wissenschaftlichkeit des Vorgehens zu sichern, ist nach Peirce die so gefundene Regel oder Konfiguration anschließend zu überprüfen, indem zunächst deduktiv Konsequenzen für das Handeln daraus abgeleitet und entsprechende Erfahrungen gemacht werden. Dann ist induktiv auszuprobieren, ob sich die gefundene Regel bzw. Theorie damit verifizieren lässt (hier stellt sich die Frage nach einer antizipierenden Evaluation der Architektur). Verläuft die Überprüfung nicht erfolgreich, muss eine neue Theorie aufgestellt, eine neue Regel gefunden werden, ein iterativer Prozess, der theoretisch nie abgeschlossen ist.

Peirce hat das kreative Moment, die Originalität des Einfalls hervorgehoben, „die abduktive Vermutung kommt uns wie ein Blitz“.[4] Als günstige Voraussetzungen für das Hervorlocken des Einfalls, den Einschlag des „Blitzes“ führt er besonders zwei verschiedene Strategien an: Erstens Handlungsdruck, eine evtl. selbst herbeigeführte Zwangslage, unter allen Umständen eine Lösung finden zu müssen, womöglich verbunden mit der Angst vor dem Versagen. Die zweite Empfehlung von Peirce heißt musement, Versenkung, Sich-Treibenlassen, anscheinend das Gegenteil der ersten Strategie. Beide Empfehlungen aber haben das Ziel, das nach vorgegebenen Regeln arbeitende Denken auszuschalten, um offen zu werden für die auftauchende Idee.

Während Deduktion und Induktion beide tautologisch sind und keine neuen Erkenntnisse liefern, ist für Peirce die Abduktion „das einzige logische Verfahren, das irgendeine neue Idee einführt.“[5] Es geht ihm nicht um Widerspiegelung von Wirklichkeit, sondern um wirklich neue Erkenntnisse, die auf vernünftige Art gewonnen werden. Wissen wird nicht statisch aufgefasst, sondern als Prozess. Die Abduktion strebt nicht größtmögliche Realitätsnähe oder Rationalität an, sondern größtmöglichen Nutzen für die Fragestellung. Indem sie dem Finden des bisher noch nicht Vorhandenen dient, könnte sie auch dem architektonischen Entwurf eine theoretische Struktur verleihen, die dafür sorgt, dass er nicht aus Beliebigkeit entsteht, sondern von Fakten ausgeht, die zu einer überprüfbaren Konfiguration zusammengebracht werden.

Auch ein zweites Merkmal, das neben dem schöpferischen Moment für die architektonische Konzeption wesentlich ist, ihre Eigenschaft, sich prinzipiell auf Einzelfälle zu beziehen, unterscheidet sie von allgemeinen wissenschaftlichen Theorien. Daraus ergibt sich, wie Achim Hahn dargelegt hat, ein weiteres Motiv für „Konkrete Theorie“.[6] Denn im Unterschied zu den Wissenschaften, die in der Regel Allgemeingültigkeit beanspruchen, und die nicht in erster Linie für den Einzelfall gedacht sind, betreffen architektonische Problemstellungen immer einzelne Situationen, deren wesentliche Eigenschaften und maßgebliche Faktoren theoretisch erkannt werden müssen, um dann angemessenes Handeln zu ermöglichen. Das trifft auch auf andere Wissenschaften wie beispielsweise Medizin und Jurisprudenz zu.

Die für den individuellen Fall angemessene Konfiguration von Fakten und Eigenschaften, welche eine Konkrete Theorie anbietet, wäre „in einer allgemeinen Theorie prinzipiell unverfügbar,“ weil es keine „situationsüberlegene Gültigkeit der Theorie“ gibt.[7] Konkrete Theorie zeichnet sich folglich dadurch aus, „dass es sie erst dann gibt, wenn sie für den besonderen Einzelfall aufgestellt ist.“ Der Architekt erwirbt sie „im Augenblick ihrer Entdeckung“.[8] Zugleich unterliegt eine solche Konkrete Theorie wissenschaftlichen Kriterien wie logischer Konsistenz und Nachvollziehbarkeit von Aussagen auf der Grundlage präziser Begriffsbildung.

Erst die begriffliche Präzisierung macht aus den hier beschriebenen Theorieansätzen ein rationales Instrumentarium und vermeidet das Missverständnis, sie nur als eine quasi wissenschaftliche Verbrämung dessen zu nehmen, was man intuitiv im Entwerfen ohnehin schon zu tun glaubt. Es geht mir dabei um nicht weniger als die möglichst präzise Bestimmung des Gegenstands, den der architektonische Entwurf als Konkrete Theorie behandelt, nämlich Architektur – nicht Bautechnik, Baugeschichte oder Planungstheorie, sondern Architektur selbst. Zusammenfassend seien eine Handvoll besonderer Anforderungen, die bei dieser Begriffsbestimmung zu beachten sind, hier nur thesenhaft aufgezählt.  

1.      In der Architektur geht es nicht primär um Bauwerke, sondern um Situationen, in denen Menschen sich in Bauwerken, Städten, Landschaften handelnd bewegen. Da Architektur immer nur als Situationsganzheit mit vielfältigen Bezügen zum Kontext adäquat behandelt werden kann und nur in der Subjekt-Objekt-Verflechtung der konkreten räumlichen Erfahrung, welche die Bewegung und das Handeln der Beteiligten einschließt, verfehlen die rein objektivistische Beschreibung und die zerlegende Analyse den Gegenstand der Theorie.

2.      Wenn man beachtet, dass architektonische Situationen als Komplexe erlebt werden, wahrgenommen mit allen Sinnen einschließlich der Bewegung, liegen vielmehr theoretische Ansätze nahe, deren Begrifflichkeit den situativen Charakter von Architektur berücksichtigt. Aus diesem Blickwinkel gesehen, sind die Benutzer nicht nur Betrachter, sondern selbst Teil einer architektonischen Situation, die als ganze zu behandeln ist, und nicht nur durch die analytische Betrachtung von technischen, funktionalen, formalen etc. Faktoren.

3.      Auch als Bedeutungsträger beschränkt Architektur sich nicht auf Bauwerke. Im architektonischen Sinne werden Ausdruck, Bildhaftigkeit und Sinngehalt nicht als Objektbedeutungen erfahren, etwa durch das visuelle Ausdeuten von Strukturen, sondern sie erstrecken sich auf ganze räumliche Situationen, an denen wir als Akteure gleichfalls beteiligt sind – nicht nach Art eines Bildes, dem wir gegenübertreten (auch nicht als digitales Bild), sondern eher als szenisches Bild, das wir selbstreflexiv um uns und mit uns selbst erleben.

4.      Voraussetzung einer Konkreten Theorie ist also, die Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben, nach denen wir Architektur als Situation handelnd erleben, und wonach wir sie als sinnhaft durchgestaltet erfahren. Die Kenntnis dieser Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten als spezifisches Wissen und Können ist für die professionelle Kompetenz von Architekten wesentlich. Sie sollte in ihren Grundbegriffen ebenso klar und differenziert bestimmt werden, wie es Begriffe der Bautechnik (Dampfsperre, Ringanker usw.) oder der Bauformenlehre (Tympanon, Voluten usw.) sind. Dafür ist sprachliche Präzision und Differenzierung erforderlich.

5.      Begrifflichkeit und Terminologie aber dürfen den Gegenstand der Theorie nicht kanonisieren, sondern müssen so weit offen bleiben, dass sie ihren Zweck erfüllen können, auch für bisher nicht bekannte, neuartige und individuelle Situationen Lösungen zu formulieren. Damit sich einzelne Begriffe nicht verselbstständigen, ist ihre Vernetzung in viele Richtungen, auch in Grenzgebiete der Architektur nötig. Durch den experimentellen Charakter der Konkreten Theorie kann auch das spezifisch Architektonische erweitert und neu interpretiert werden, so dass die architektonischen Grundbegriffe gleichfalls Sinnanreicherungen oder Akzentverschiebungen erfahren.



 


 

Anmerkungen:
 

[1] Den Ausdruck „Konkrete Theorie“ gebrauche ich in Anlehnung an einen Text von Achim Hahn, dessen Argumente ich teilweise im Folgenden für meine Erörterung verwenden werde. Achim Hahn, Entwerfen als wissenschaftliches Handeln der besonderen Art, in: Ausdruck und Gebrauch. Dresdner wissenschaftliche Halbjahreshefte für Architektur Wohnen Umwelt, Heft 5, 2005, S. 49-60.

[2] Vgl. Anm. 1.

[3] Die Methode wird u. a. beschrieben bei Jo Reichertz, Abduktion, Deduktion und Induktion in der qualitativen Forschung, in: Flick/Kardorf/Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek 2000, S. 276-286.

[4] Charles Sanders Peirce, Schriften II. Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, hg. v. Karl Otto Apel, Frankfurt am Main 1970, S. 366.

[5] Ebd., S. 362.

[6] Achim Hahn, vgl. Anm. 1.

[7] Ebd., S. 56f

[8] Ebd., S. 57



 


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