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In
der Wissenschaft sind Theorien meistens analytisch, beschreibend, erklärend
und beanspruchen Gültigkeit für ein zusammenhängendes Gebiet der Wirklichkeit.
Solche Theorien sollen in sich konsistent und allgemeingültig sein. Wir
kennen die Annäherungen an die Architektur aus Wissensbeständen und Theoriedisziplinen,
die diese Konsistenz und Allgemeingültigkeit besitzen, wie die Ingenieur-,
Geschichts- und Sozialwissenschaften. Diese theoretischen Annäherungen
begreifen die Beschäftigung mit der Architektur in der Regel als ein Teilgebiet
der jeweiligen Wissenschaft. Sie mögen für die Architekturtheorie wertvolle
Hinweise liefern, aber sie ermöglichen kaum, etwas Wesentliches über die
Architektur als Architektur zu erfahren.
Die häufig aufgestellte Forderung, Architekten müssten Generalisten sein,
schadet der Architektur, wenn damit nur die Kompetenz in allen möglichen
Teildisziplinen der Architektur plus deren Synthese gemeint ist. Das gilt
genauso für die Theorie. Sie kann nicht im Sinn einer angewandten Wissenschaft
verstanden werden, wobei die Ingenieurwissenschaften, Kunst- und Kulturwissenschaften
usw. das originäre Wissen liefern würden, das die Architektur nur anwendet.
Die durchaus unerlässlichen Kenntnisse auf dem Gebiet von Technologie,
Geschichte, Ästhetik usw. führen auch durch deren Synthese noch nicht
zur theoretischen Kompetenz in Architektur. Statt solcher Generalisten
müssen Architekten sowohl in der Theorie als auch in der Praxis Experten
für Architektur sein. Dass es sich bei der Architektur um eine
eigene Disziplin handelt, die sich nicht einfach aus der Summe der Teildisziplinen
oder -theorien ergibt, eine Disziplin mit eigenen Gesetzmäßigkeiten (und
eigener Theorie), muss betont werden. Anscheinend ist es nicht einmal
allen Architekten klar.
Mehr als die prinzipiellen Aussagen einer Theorie über Architektur
interessiert mich hier eine besondere Funktion, welche die Theorie für
die architektonische Praxis haben kann. Da die Arbeit von Architekten
ihrem Wesen nach schöpferisch ist, also Konzeptionierung, sollte eine
praxisrelevante Theorie die Architektur nicht nur von außen betrachten,
sondern mit der Konzeptionierung selbst zusammenfallen: Konkrete
Theorie.[1]
Das muss eine Theorie sowohl für den Einzelfall als auch für das
(unerwartet) Neue sein. Wir haben es in der Architektur ja nie
mit losgelösten technischen Problemen zu tun, sondern mit Bauaufgaben
für Menschen und folglich mit Situationen. Die Theorie muss sich
deshalb für Einzelfälle eignen, weil jede Bauaufgabe anders ist,
eine individuelle Situation darstellt. Vor allem wegen des spezifischen
Ortsbezugs, aber auch wegen der Beteiligten / Nutzer / Bauherren, des
gesellschaftlichen Umfelds usw. Die Theorie muss außerdem dem Neuen
dienen, weil Architektur für neue, bisher nicht bekannte Situationen
häufig auch neue, bisher unbekannte Lösungen finden muss.
Um diese Anforderungen zu erfüllen, bietet es sich an, einen wissenschaftlichen
Ansatz aufzugreifen, der unter der Bezeichnung Abduktion von Charles
Sanders Peirce vorgeschlagen wurde, um auf logischem Wege zu wirklich
neuartigen Erkenntnissen zu gelangen. Ergänzend beziehe ich mich auf den
von Achim Hahn geführten Nachweis einer besonderen Art von Wissenschaftlichkeit,
welche die Gültigkeit des architektonischen Entwurfs für den Einzelfall
berücksichtigt und von ihm bereits als Konkrete Theorie[2]
bezeichnet wurde.
Die Abduktion ist eine Form der Hypothesenbildung, die von Peirce
1893 beschrieben wurde.[3]
Ursprünglich für den Entdeckungsprozess wissenschaftlicher Erkenntnis
vorgesehen, wird die Abduktion heute in den Einzelwissenschaften
aber nicht nur für die Frage nach der Wahrheit, sondern auch nach der
Angemessenheit verwendet. Sie eignet sich für Situationen, die so eigenartig,
neu oder unverständlich bzw. „überraschend“ (Peirce) sind, dass es nicht
möglich ist, ein Ergebnis von einer bestehenden Regel im Sinne einer Deduktion
abzuleiten, sondern wo es auf das Finden einer neuen, bisher nicht existierenden
Regel ankommt, die dann aber als selbstverständlich erscheint, oder –
hier besser – als angemessen erachtet wird. Es ist zu prüfen ob mit demselben
Verfahren auch schöpferisch gearbeitet werden kann, zum Beispiel in der
Architektur.
Bauaufgaben bzw. architektonische Fragestellungen sind fast immer sehr
komplex, oft schwer überschaubar und lassen sich meistens nicht in bekannte
Lösungsmuster einordnen. Man hat es jeweils mit einer eigenartigen Situation
zu tun, deren Behandlung sich aus keiner bekannten Regel ableiten lässt.
Es gibt daher keine Theorie, die man anwenden könnte, keine wissenschaftliche
Lehre. Eine rein deduktive Methode hilft also nicht weiter. Worauf es
nun ankäme, wäre das Entdecken einer der konkreten Situation angemessenen
Konfiguration, die als architektonisches Konzept die komplexen, divergierenden
Fakten in einer sinnstiftenden Regel fasst, als Theorie bzw. als „Gestalt“,
„Figur“, oder als (räumliche) Formel.
Um die Wissenschaftlichkeit des Vorgehens zu sichern, ist nach Peirce
die so gefundene Regel oder Konfiguration anschließend zu überprüfen,
indem zunächst deduktiv Konsequenzen für das Handeln daraus abgeleitet
und entsprechende Erfahrungen gemacht werden. Dann ist induktiv auszuprobieren,
ob sich die gefundene Regel bzw. Theorie damit verifizieren lässt (hier
stellt sich die Frage nach einer antizipierenden Evaluation der Architektur).
Verläuft die Überprüfung nicht erfolgreich, muss eine neue Theorie aufgestellt,
eine neue Regel gefunden werden, ein iterativer Prozess, der theoretisch
nie abgeschlossen ist.
Peirce hat das kreative Moment, die Originalität des Einfalls hervorgehoben,
„die abduktive Vermutung kommt uns wie ein Blitz“.[4]
Als günstige Voraussetzungen für das Hervorlocken des Einfalls, den Einschlag
des „Blitzes“ führt er besonders zwei verschiedene Strategien an: Erstens
Handlungsdruck, eine evtl. selbst herbeigeführte Zwangslage, unter allen
Umständen eine Lösung finden zu müssen, womöglich verbunden mit der Angst
vor dem Versagen. Die zweite Empfehlung von Peirce heißt musement,
Versenkung, Sich-Treibenlassen, anscheinend das Gegenteil der ersten Strategie.
Beide Empfehlungen aber haben das Ziel, das nach vorgegebenen Regeln arbeitende
Denken auszuschalten, um offen zu werden für die auftauchende Idee.
Während Deduktion und Induktion beide tautologisch sind und keine neuen
Erkenntnisse liefern, ist für Peirce die Abduktion „das einzige logische
Verfahren, das irgendeine neue Idee einführt.“[5]
Es geht ihm nicht um Widerspiegelung von Wirklichkeit, sondern um wirklich
neue Erkenntnisse, die auf vernünftige Art gewonnen werden. Wissen wird
nicht statisch aufgefasst, sondern als Prozess. Die Abduktion strebt nicht
größtmögliche Realitätsnähe oder Rationalität an, sondern größtmöglichen
Nutzen für die Fragestellung. Indem sie dem Finden des bisher noch nicht
Vorhandenen dient, könnte sie auch dem architektonischen Entwurf eine
theoretische Struktur verleihen, die dafür sorgt, dass er nicht aus Beliebigkeit
entsteht, sondern von Fakten ausgeht, die zu einer überprüfbaren Konfiguration
zusammengebracht werden.
Auch ein zweites Merkmal, das neben dem schöpferischen Moment für die
architektonische Konzeption wesentlich ist, ihre Eigenschaft, sich prinzipiell
auf Einzelfälle zu beziehen, unterscheidet sie von allgemeinen wissenschaftlichen
Theorien. Daraus ergibt sich, wie Achim Hahn dargelegt hat, ein weiteres
Motiv für „Konkrete Theorie“.[6]
Denn im Unterschied zu den Wissenschaften, die in der Regel Allgemeingültigkeit
beanspruchen, und die nicht in erster Linie für den Einzelfall gedacht
sind, betreffen architektonische Problemstellungen immer einzelne Situationen,
deren wesentliche Eigenschaften und maßgebliche Faktoren theoretisch erkannt
werden müssen, um dann angemessenes Handeln zu ermöglichen. Das trifft
auch auf andere Wissenschaften wie beispielsweise Medizin und Jurisprudenz
zu.
Die für den individuellen Fall angemessene Konfiguration von Fakten und
Eigenschaften, welche eine Konkrete Theorie anbietet, wäre „in
einer allgemeinen Theorie prinzipiell unverfügbar,“ weil es keine „situationsüberlegene
Gültigkeit der Theorie“ gibt.[7]
Konkrete Theorie zeichnet sich folglich dadurch aus, „dass es sie
erst dann gibt, wenn sie für den besonderen Einzelfall aufgestellt ist.“
Der Architekt erwirbt sie „im Augenblick ihrer Entdeckung“.[8]
Zugleich unterliegt eine solche Konkrete Theorie wissenschaftlichen
Kriterien wie logischer Konsistenz und Nachvollziehbarkeit von Aussagen
auf der Grundlage präziser Begriffsbildung.
Erst die begriffliche Präzisierung macht aus den hier beschriebenen Theorieansätzen
ein rationales Instrumentarium und vermeidet das Missverständnis, sie
nur als eine quasi wissenschaftliche Verbrämung dessen zu nehmen, was
man intuitiv im Entwerfen ohnehin schon zu tun glaubt. Es geht mir dabei
um nicht weniger als die möglichst präzise Bestimmung des Gegenstands,
den der architektonische Entwurf als Konkrete Theorie behandelt,
nämlich Architektur – nicht Bautechnik, Baugeschichte oder Planungstheorie,
sondern Architektur selbst. Zusammenfassend seien eine Handvoll besonderer
Anforderungen, die bei dieser Begriffsbestimmung zu beachten sind, hier
nur thesenhaft aufgezählt.
1.
In der
Architektur geht es nicht primär um Bauwerke, sondern um Situationen,
in denen Menschen sich in Bauwerken, Städten, Landschaften handelnd bewegen.
Da Architektur immer nur als Situationsganzheit mit vielfältigen Bezügen
zum Kontext adäquat behandelt werden kann und nur in der Subjekt-Objekt-Verflechtung
der konkreten räumlichen Erfahrung, welche die Bewegung und das Handeln
der Beteiligten einschließt, verfehlen die rein objektivistische Beschreibung
und die zerlegende Analyse den Gegenstand der Theorie.
2.
Wenn man
beachtet, dass architektonische Situationen als Komplexe erlebt werden,
wahrgenommen mit allen Sinnen einschließlich der Bewegung, liegen vielmehr
theoretische Ansätze nahe, deren Begrifflichkeit den situativen Charakter
von Architektur berücksichtigt. Aus diesem
Blickwinkel gesehen, sind die Benutzer nicht nur Betrachter, sondern selbst
Teil einer architektonischen Situation, die als ganze zu behandeln ist,
und nicht nur durch die analytische Betrachtung von technischen, funktionalen,
formalen etc. Faktoren.
3.
Auch als
Bedeutungsträger beschränkt Architektur sich nicht auf Bauwerke. Im architektonischen
Sinne werden Ausdruck, Bildhaftigkeit und Sinngehalt nicht als Objektbedeutungen
erfahren, etwa durch das visuelle Ausdeuten von Strukturen, sondern sie
erstrecken sich auf ganze räumliche Situationen, an denen wir als Akteure
gleichfalls beteiligt sind – nicht nach Art eines Bildes, dem wir gegenübertreten
(auch nicht als digitales Bild), sondern eher als szenisches Bild, das
wir selbstreflexiv um uns und mit uns selbst erleben.
4.
Voraussetzung
einer Konkreten Theorie ist also, die Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten
zu beschreiben, nach denen wir Architektur als Situation handelnd erleben,
und wonach wir sie als sinnhaft durchgestaltet erfahren. Die Kenntnis
dieser Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten als spezifisches Wissen und
Können ist für die professionelle Kompetenz von Architekten wesentlich.
Sie sollte in ihren Grundbegriffen ebenso klar und differenziert bestimmt
werden, wie es Begriffe der Bautechnik (Dampfsperre, Ringanker usw.) oder
der Bauformenlehre (Tympanon, Voluten usw.) sind. Dafür ist sprachliche
Präzision und Differenzierung erforderlich.
5.
Begrifflichkeit
und Terminologie aber dürfen den Gegenstand der Theorie nicht kanonisieren,
sondern müssen so weit offen bleiben, dass sie ihren Zweck erfüllen können,
auch für bisher nicht bekannte, neuartige und individuelle Situationen
Lösungen zu formulieren. Damit sich einzelne Begriffe nicht verselbstständigen,
ist ihre Vernetzung in viele Richtungen, auch in Grenzgebiete der Architektur
nötig. Durch den experimentellen Charakter der Konkreten Theorie
kann auch das spezifisch Architektonische erweitert und neu interpretiert
werden, so dass die architektonischen Grundbegriffe
gleichfalls Sinnanreicherungen oder Akzentverschiebungen erfahren.
Anmerkungen:
[1]
Den Ausdruck „Konkrete Theorie“ gebrauche ich in Anlehnung
an einen Text von Achim Hahn, dessen Argumente ich teilweise im Folgenden
für meine Erörterung verwenden werde. Achim Hahn, Entwerfen als
wissenschaftliches Handeln der besonderen Art, in: Ausdruck und
Gebrauch. Dresdner wissenschaftliche Halbjahreshefte für Architektur
Wohnen Umwelt, Heft 5, 2005, S. 49-60.
[3]
Die Methode wird u. a. beschrieben bei Jo Reichertz, Abduktion,
Deduktion und Induktion in der qualitativen Forschung, in: Flick/Kardorf/Steinke
(Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek 2000, S. 276-286.
[4]
Charles Sanders Peirce, Schriften II. Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus,
hg. v. Karl Otto Apel, Frankfurt am Main 1970, S. 366.
[6]
Achim Hahn, vgl. Anm. 1.
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