ARCHITEKTUR DENKEN
40 Jahre kritische Architekturtheorie – 40 Jahre Igma

13. Jg., Heft 2, März 2009

 

___Annett Zinsmeister
Stuttgart
  Jubelnd ausschwärmen, undiszipliniert suchen...

 

    Jubelnd ausschwärmen...
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Abbildung 1:
Memodul, digitales
Gedächtnisspiel, 2002


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Abbildung 2:
Tapete, 2001


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Abbildung 3:
Mediale Module,
DGB Medienzentrum, 2004


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Abbildung 4:
Modular utopias,
Ausstellung KEOM Hagen, 2002


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Abbildung 5:
Plattenmobiliar 96,
Installation KEOM 2002


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Abbildung 6:
outside in I,
Installation Oberwelt Suttgart, 2005


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Abbildung  7:
outside in II,
Installation Schloss Solitude Stuttgart, 2005


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Abbildung 8:
outside in III,
Installation Akademie der Wissenschaften Berlin, 2006


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Abbildung 9.1:
Platte meets Schinkel,
Installation Konzerthaus Berlin, 2006


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Abbildung 9:2:
Platte meets Schinkel,
Installation Konzerthaus Berlin, 2006


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Abbildung 10:
Virtual interior, Leuchtobjekt, 2007





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Abbildung 11:
Sarajevo, Trümmelfeld


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Abbildung 12:
Sarajevo, Entwurf Trümmerpark


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Abbildung 13:
Sarajevo, Panorama


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Abbildung 14:
Installation Schloss Solitude Stuttgart, 2006





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Abbildung 15:
EntFaltungen,
Dokumentation der Transformation, 1996


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Abbildung 16:
Ausstellung Berlin, 1997


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Abbildung 17:
Ausstellung Schweiz, 1999


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Abbildung 18:
Entwurf Mode-Headquarter, 2000
  Kunst, Design, Kultur – und Medientheorie ist ein für Architekten eher ungewöhnliches Tätigkeitsspektrum. Betrachtet man jedoch den Lauf unserer Kulturgeschichte, dann wird deutlich, dass derlei hybride Gestalter schon immer existent waren und zeitweise auch als Normalität galten; Viele Architekten waren zugleich, Künstler und Autoren und ebensolche haben beispielsweise das Fach Gestaltungslehre begründet, in dem ich nicht von ungefähr tätig bin.

Dieser Geburtstunde der Gestaltungslehre ist der erste Teil meines Vortagstitels entnommen: Als das Fach Grundlagen der Gestaltung 1902 in der neu gegründeten Privatschule des Bildhauers und Theoretikers Hermann Obrist und des Malers und Innenarchitekten Wilhelm von Debschitz in München erstmals unterrichtet wurde, verhieß die Beschreibung des Faches folgendes: Ein Jahr gemeinsamer Elementarunterricht, in dem man „jubelnd ausschwärmen“
[1] konnte. Diese euphorische Ankündigung scheint retrospektiv betrachtet einen Ausblick zu geben auf eine Fächer über-, bzw. ineinander greifende Architekturlehre, die später in der so genannten „Bauhauslehre“ aufging. Aus diesem Experimentierfeld an den Grenzen der Disziplinen hat sich im Laufe des letzten Jahrhunderts vielerorts eine, man könnte fast sagen, ‚standardisiertes’ und oftmals zersplittertes Lehrprogramm entwickelt, und man fragt sich, was in all den Jahren geschehen ist, dass heute Zusammenarbeit und Interdisziplinarität – trotz ihrer vielfachen Beschwörung – immer noch keine Selbstverständlichkeit ist.

Nun wurde ich als Referentin eingeladen, um die eigene interdisziplinäre Praxis im Spannungsfeld der Theorie zu illustrieren und zudem aufgefordert, mich zum Thema Architektur und Zeitgeist zu äußern. Den Begriff des Zeitgeistes im Zusammenhang mit meiner Arbeit zu erläutern, ist ein problematisches Unterfangen: Zum einen meint die Rede vom Zeitgeist eine retrospektive Reflexions – bzw. Rezeptionsleistung, zum anderen einen kollektiven Ausdruck der Epoche bzw. eine "geistige Infektion von Zeitgenossen"
[2]. Dabei stellt sich die Frage: Wie soll ich aktuell einen kollektiven Geist dieser Zeit – sofern es ihn gibt – mit meiner individuellen Arbeit abgleichen oder bewerten wollen, und wer wird der Arzt sein, der das Krankheitsbild zukünftig diagnostiziert? Wenn wir diesen ausschließlich deutschen Begriff etwas tiefer hängen und durch den Begriff der Mode ersetzen, dann scheint zumindest das Heroische, Epochale des Zeitgeistes zunächst gebannt, doch mein Unbehagen bleibt, denn unter Mode verstehe ich eine temporäre Erscheinung, die Verhaltens-, Denk- und Gestaltmuster als Optionen und Standards etabliert. Demnach fällt es mir äußerst schwer, derlei Begrifflichkeiten mit meiner Arbeit in Verbindung zu bringen. Ich beschäftige mich mit Themen, die für mich aktuelle Relevanz besitzen – damit sind sie aus meiner subjektiven Sicht zunächst einmal zeitgemäß, ob sie aber einem kollektiven Zeitgeist entsprechen, lässt sich wohl erst in der Zukunft retrospektiv klären.


Undiszipliniert suchen...

Die sechziger und siebziger Jahre (die Gründungsjahre des Igma Stuttgart) waren eine Zeit des jubelnden, aber auch protestreichen Ausschwärmens, eine undisziplinierte Suche nach neuen Umgangs- und Bewältigungsformen mit der deutschen Geschichte, Gesellschaft und Politik, eine Suche nach neuen Strukturen, Inhalten und Methoden. Auffälligerweise zeichnen sich die geburtenstarken Jahrgänge dieser Zeit durch vielgestaltige und entsprechend länger andauernde Studienzeiten aus. Der Mangel an beruflichen Perspektiven beförderte die Suche nach einer inhaltlich bereichernden und sinnstiftenden, statt kurzzeitigen und damit vorrangig effizienten Ausbildung in unterschiedlichen Disziplinen und Sparten: dies entspricht auch meiner Biografie, die mit einem Studium der Geisteswissenschaften und der freien Kunst begann, bevor ich mich zum Studium der Architektur an der Hochschule der Künste in Berlin entschloss. Zeitgleich arbeitete ich in Architekturbüros und später an der Hochschule und besuchte parallel an der Humboldt-Universität Berlin Seminare und Vorlesungen zu Kultur- und Medienwissenschaften. In diesem Parallelstudium und wissenschaftlichen Umfeld fand ich relevante Fragestellungen erörtert und das Maß an theoretischer Auseinandersetzung, das ich wünschte. Dieser theoretische „input“ entsprach meinen vielseitigen Neigungen und hat meine Arbeit inhaltlich und methodisch und vor allem interdisziplinär geprägt. Umso mehr begrüße ich, dass sich das Studium insbesondere in der Architektur dahin gehend entwickelt, dass Theorie und Entwurfspraxis zunehmend ineinander greifen, dass eine fundierte theoretische Auseinandersetzung mit Architektur und architekturrelevanten Themen nicht nur gefördert, sondern zunehmend in den Studienplänen fest verankert wird.


Konzeptionell Gestalten...

Ich habe mir ein Tätigkeitsfeld erschlossen, das die Architektur bewusst ins Zentrum setzt, aber weit über das tradierte Feld des (hoch)bauenden Architekten hinaus reicht. Ich bezeichne meine praktische Tätigkeit als konzeptionelle Gestaltung: Gestaltung, weil sie unterschiedliche Disziplinen umfasst. Konzeptionell, da meine gestalterische Arbeit konzeptionelle Überlegungen in den Vordergrund stellt und mit einer umfassenden analytischen und theoretischen Auseinandersetzung zu einem spezifischen Thema beginnt oder begleitet wird, sowie in Texten Niederschlag findet. Es ist ein Wechselspiel aus theoretischer Reflektion und  künstlerischer Praxis, die sich zeitweise bedingen, aber auch unabhängig voneinander bestehen können. Ich möchte im Folgenden anhand von drei Themenkomplexen eine kurzen Einblick in meine Arbeitsweise geben. Es sind Themen, die ich zumeist über mehrere Jahre hinweg bearbeitet habe, und deshalb einigen von Ihnen auch mehr oder weniger bekannt sein wird.


1. Plattenbau (Abbildungen 1-10)

Das Thema Plattenbau hat mich viele Jahre beschäftigt und es scheint mir auch im Hinblick auf den Begriff Zeitgeist erwähnenswert, denn Plattenbauten haben eine ähnlich rasante Popularitätskurve durchlaufen wie so mancher Börsenwert in den letzten Wochen; zu DDR-Zeiten als komfortable Neubauten gefeiert, von manchen aber auch als vermeintliche „Stasihochburgen“ misstrauisch gemieden, waren Plattenbauten nach der Wende höchst unpopuläre urbane Problemzonen, die den technischen und infrastrukturellen Gebäudestandards der Bundesrepublik nicht gerecht werden wollten und somit zu einer ungeliebten Sanierungsaufgabe für zahlreiche Architekten des wiedervereinten Deutschlands wurden. Zu Beginn des neuen Jahrtausends stieg die Popularitätskurve von Plattenbauten sprunghaft an, und mittlerweile sind sie zum Kultobjekt geworden. Was war geschehen? Sukzessive zog ein junges Publikum in die "Platte" ein, die in den Folgejahren der Wende zunehmend von Leerstand betroffen war. Die Platte wurde zum Thema von Designprodukten, von Spielen und Bastelbögen. In Berlin entdeckten junge Architekten, Designer und Künstler mehr oder weniger unabhängig voneinander und scheinbar zeitgleich die Platte als Gestaltungsthema. Ein Geist der Zeit oder eine Plattenbauinfektion der Zeitgenossen? Meine Arbeit ist demnach ein Bakterium und hat den Ausbruch dieser "Infektion" vermutlich mit begünstigt [3], auch wenn dies zum Zeitpunkt meiner ersten Beschäftigung mit Plattenbau nicht absehbar war; diese hatte bereits zu Beginn der neunziger Jahre, genau in der "Baisse" der Plattenbaupopularitätskurve begonnen, denn urbane Problemzonen üben eine enorme Anziehungskraft auf mich aus. Meist sind es dem Abriss freigegebene Architekturen, politisch brisante Megastrukturen (z. B. Prora auf Rügen), Grenzsituationen (Mauerstreifen) und innerstädtische Brachen auch in kriegszerstörten Städte (z. B. Sarajevo), auf die ich später noch kurz zu sprechen komme.

Ich habe keine Methodik, die ich systematisch anwende, sondern jede Thematik bringt eine eigene Form der Annäherung und ihre eigene Methode hervor: Am Anfang steht für mich eine Befragung des Ortes, und zugleich eine Selbstbefragung –  nach Beobachtung und Wahrnehmung, nach interdisziplinären, aktuellen, historischen, lokalen und globalen Zusammenhängen. Es sind Orte des Übergangs, die mich faszinieren, Orte deren Vergangenheit geschichtsträchtig, deren Gegenwart eine Momentaufnahme und deren Zukunft schlicht ungewiss ist. Die schnelle Abwicklung der DDR-Kultur war für mich ein Anlass, die Problematiken und Potentiale auszuloten. Es ist ein genaues und fragendes Hinschauen, das mich leitet. Entsprechend sind meine Arbeiten häufig ein Fingerzeig auf das Vorhandensein von ungewöhnlichen, übersehenen Details und von unbemerkten Schönheiten: sei es im Zufälligen, im Seriellen, im Monumentalen, im Klischee.

Ich beginne meist mit vielfältigen Analysen, historischen Recherchen, wie zum Beispiel wissenschaftlichen Quellenstudien. In der Arbeit mit Plattenbauten war dies die Geschichte des deutschen Wiederaufbaus und der Umgang mit der Stadttechnik, die Entwicklung serieller Konstruktion und Bautechnik, insbesondere die Bauprogramme der DDR und deren politische Entwicklung und zeitgenössische Rezeption usw. Parallel entstehen Bestandsaufnahmen in Form von Kartierungen, Fotografien, Zeichnungen, etc. Aus diesen Materialien entwickle ich unterschiedliche Strategien zur Weiterbearbeitung wie zum Beispiel Zerlegung und Re-Kombination. Überaus wichtig sind dabei freie künstlerische Annäherungen. Zum Thema Plattenbau entstanden auf diesem Wege architektonische und städtebauliche Planungen in Berlin (u. a. Plattenbausiedlung Frankfurter Allee Süd 1994, Musterwohnung für WBS 70 in Marzahn 1996/97, Umgestaltung Hellersdorf 2000), Designprodukte (u. a. kitchen for 1,2,3, modulares Bad, Plattenmobiliar 1996, MEMODUL – ein digitales Gedächtnisspiel 2001, Plattenbautapete 2001) und künstlerische Arbeiten, zum Beispiel fotografische Serien (Mediale Module 1993/2003, Modulare Utopien 2002), Objekte (Baukasten 1993/2002, Modulare Utopien 2002, virtual interiors 2007), Installationen (outside_in I + II, 2005, outside_in III 2006, Plattenbau meets Schinkel 2006) sowie theoretische Projekte und Publikationen
.[4]

Mit der Entwicklung des Plattenbaus zu einem „Modethema“ verliert er für mich zwar nicht an Faszination, aber an Handlungsbedarf. Die Platte hat aufgrund ihrer „Hippness“ die positive Aufmerksamkeit erhalten, die sie dringend benötigte, damit mit dieser Architektur, die weltweit ihren Niederschlag gefunden hat, adäquat umgegangen werden kann.


2. Medien

Ein weiterer Themenkomplex, den ich im Anschluss an die Präsentation meiner Arbeit virtual interiors erwähnen möchte, ist die theoretische oder genauer, die kulturtechnische Auseinandersetzung mit der Frage nach den Medien, insbesondere auch im Zusammenhang mit der Konzeption und Darstellung von Raum und Architektur. Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch meine Arbeiten und schlägt sich entsprechend in Publikationen
[5], aber auch in der praktischen Tätigkeit nieder. Aufgrund der Breite der Thematik, der ich einen eigenen Vortrag widmen müsste, möchte ich nur ein Projekt erwähnen, das sich explizit aus meinen Studien der Mediengeschichte entwickelt hat. Ich spreche vom Thema Krieg und Stadt, auf das ich hier nur sehr kurz eingehen kann. Es ist bedauerlicherweise ein immer während aktuelles Thema, das dennoch überaus turbulenten Aufmerksamkeitszyklen obliegt. Auch wenn die Stadt Sarajevo schon seit vielen Jahren nicht mehr im Fokus des öffentlichen Interesses steht, zumal der Krieg seit über zehn Jahren offiziell beendet ist, so sind viele der Geschehnisse und Begebenheiten symptomatisch für zahlreiche aktuelle Konflikte, für die konventionelle Kriegsführung und Zerstörung und ihre Bedrohungs- und Nachkriegssituation. Daran hat sich leider bis heute wenig geändert, auch wenn sich die öffentliche Debatte nicht mehr um den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und in Sarajevo dreht.

Ich bin einige Wochen nach dem Friedensabkommen in Dayton das erste Mal nach Sarajevo gereist, um zu erfahren, wie die reale Situation der Menschen und der Stadt während des Krieges und unmittelbar danach tatsächlich war bzw. ist. Inwieweit sind mediale Berichterstattungen repräsentativ für die aktuelle Situation vor Ort? Was passiert jenseits dieser selektiven Informationen?  Wie hoch ist beispielsweise der Grad der Zerstörung? Wie gestalten sich die aktuellen Lebensbedingungen? usw. Ich habe im Vorfeld und vor Ort ausführlich recherchiert und zahlreiche Bilddokumente und Filmmaterial erstellt (Sarajevo Super 8 Film 1996/97)  und nach einer weiteren Reise 1997 ein städtebauliches Projekt für das Stadtzentrum Sarajevos entwickelt.
[6] (Abbildungen 11-14)

Dank der Einladung zur Teilnahme an der Ausstellung searching for an ideal urbanity, die 2007 an der Akademie Schloss Solitude gezeigt wurde, hatte ich die Gelegenheit, meine Arbeit mit dem Thema Krieg und Stadt zu ‛re-aktualisieren’,
[7] und entwickelte eine Rauminstallation, bestehend aus raumhohen Panoramen (lost homes 1996/2006) und parallel laufender Filmprojektion (Sarajevo Super 8 Film 1996/97), sowie einer Video Dokumentation (urban shelter? 1997/2005). Es war eine Arbeit, die sich der täglichen Konfrontation und somit latenten ‚Übersättigung’ von Kriegsnachrichten stellen musste, und entsprechend hatte ich die Befürchtung, dass dieser Arbeit keine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden würde. So war ich positiv überrascht, dass das Gegenteil der Fall war und sich viele Besucher der Thematik stellten und ihr ein hohes Maß an Aufmerksamkeit schenkten. Wie der Zufall es wollte, hatte auch die Kunst-Biennale in Venedig etwa ein halbes Jahr später dieses Thema ins Zentrum der Ausstellung gesetzt und damit eine eigene Öffentlichkeit adressiert. So stellt sich nebenbei die Frage, ob internationale Veranstaltungen und Ereignisse bzw. einzelne Kuratoren womöglich verantwortlich sein könnten, dass in naher Zukunft ein kollektiver Geist beschworen wird und derlei Themen dann als zeitgemäß oder als Zeitgeist erachtet werden? Ich habe keine Antwort, aber werde zum Abschluss noch ein Thema zur Sprache bringen, bei dem sich die Frage nach dem Zeitgeist oder nach einer Modeerscheinung vielleicht einfacher beantworten lässt.


3. Faltung

In der experimentellen Gestaltung von Räumen gewann die Faltung in der Architektur nach dem Erscheinen von Gilles Deleuzes Le Pli – Leibniz et le Baroque (1988) kurzfristig an Bedeutsamkeit. Peter Eisenman, dessen Vorliebe für die französische Philosophie sich bereits in seinen ersten Architekturentwürfen (houses) sichtbar niederschlug, griff als einer der ersten die Thematik der Faltung auf und versuchte eine Übersetzung aus dem philosophischen Diskurs in Architektur. So wurde Anfang bis Mitte der neunziger Jahre die Faltung zur experimentellen Grundlage neuer Raumkonzeptionen. Es ging hier weniger um ein Verständnis von Architektur im Sinne einer dritten Hülle des Menschen (nach Haut und Gewand) als vielmehr um eine Art Wiederentdeckung der Topologie im Zuge der Entwicklung neuer Technologien. Der Computer als neues Medium vereinfachte die Frage nach der Beschreibung komplexer (und bewegter) Körper im Raum und machte sie effizient berechenbar.

Eisenmann nutzte in seinem Siedlungsprojekt Rebstock bei Frankfurt 1992
[8] die Falte als topologisches Ereignis (Wellenbewegungen), um singuläre Bedingungen von Raum und Zeit zu schaffen. Auf dem gefalteten Grund siedelte er eine Wohnbebauung mit einer neuen Blocktypologie, die sich aus der Kubatur des klassischen Zeilenbaus mittels volumetrischer Faltungen konstituiert. Wie schwierig ein solch spannender Formfindungsprozess angesichts der Nutzbarmachung von Architektur werden kann, zeigte sich just in dem Moment, wenn aus dem transformierten abstrakten Körper ein funktionales Gebäude werden muss, wie beispielsweise das Alteka Bürogebäude in Tokio. Die Kollision von zwei scheinbar unvereinbaren Ebenen, das heißt von einer theoretisch basierten komplexen Gestaltung und einer auf Effizienz und Vereinfachung angelegten Ökonomie der Bauindustrie mit DIN-Vorschriften und standardisierten Produktpaletten hatte vermutlich zur Folge, dass dieser theoriebasierte Architekturansatz als formale Spielereien problematisiert wurde und dieser Diskurs in der Architektur relativ schnell ein Ende fand. Gleichwohl wurden bis heute die Experimente mit der Kontinuität der Fläche weiter vorangebracht, und in den letzten Jahren gewann die Faltung weniger als diskursives, denn als konstruktives Prinzip für die experimentelle architektonische Praxis wieder an Bedeutung.


3.1  EntFaltungen. Ein künstlerisches Experiment:

Falten sind „unscharfe Objekte“, die als komplexe und zufällige Formen ununterscheidbare Zonen nicht nur verbildlichen, sondern auch verräumlichen. Die Bildung einer Falte ist beispielsweise in der Plattentektonik bedingt durch die Zufuhr von Energie, zumeist ausgelöst durch ein katastrophales Ereignis, das eine Verformung erwirkt – diese Verformung ist ein Akt der Transformation, in der sich spezifische Stadien ablösen. Die Falte organisiert die Fläche im Raum: sie beschreibt den Übergang von einer zweidimensionalen Fläche in ein dreidimensionales Gebilde. „Formen sind immer neue und unvorhersagbare Entfaltungen, die durch ihre ‛Abenteuer’ im Lauf der Zeit gebildet werden.“ (Sanford Kwinter)

Im Kunstprojekt EntFaltungen dient das Experiment der Beobachtung eines präparierten Systems (Abbildungen 15-18). Ein Algorithmus bestimmt die Versuchsanordnung: durch eine Störung im System (Feuchtigkeit auf Papier) wird eine Katastrophe ausgelöst: In einem ersten Versuch werden 25 Papierbögen zu Quadraten geschnitten und mit einem feuchten Schwamm nach der immer gleichen Methode befeuchtet. Das Papier krümmt sich, rollt sich ein und wieder aus, krümmt sich in wechselnden Richtungen so lange, bis das Papier getrocknet ist. Erst dann findet der Transformationsprozess sein Ende und die Faltung ihre zufällige, indes verfestigte Form.

Die Fotografien, die den Verformungsprozess nicht nur begleiten, sondern überhaupt visuell dokumentieren, verweisen mehr oder wenig zufällig auf die Zwischenstadien der Transformation. Diese fotografische Serie lässt nicht nur erkennen, dass die Faltenbildung einem kontinuierlichen Wandel unterzogen ist, sondern auch, dass sich innerhalb des Prozesses Wiederholungen bzw. Ähnlichkeiten in der unkontrollierbaren Verformung ergeben, die der Materialität und ihren physikalischen Eigenschaften geschuldet sind.

Das Kunstprojekt EntFaltungen visualisiert in diskreten Sequenzen die verschiedenen Stadien eines dynamischen, komplexen und unumkehrbaren Transformationsprozesses, aus dem die Falte selbst als einmalige Form hervorgeht: Die Kunst bedient sich hier einer wissenschaftlichen Methodik – des Experiments. Erst seit Galilei werden wissenschaftliche Erkenntnisse an Experimente gekoppelt, die sich durch ihre Wiederholbarkeit, unabhängig von der ausführenden Person, den jeweiligen Orten und der Zeit als wissenschaftliches Erkenntnismodell auszeichnen. Valide Ergebnisse können unter idealen Bedingungen zum Beweis theoretischer Annahmen formalisiert werden. Das performative Experiment wird zum Gesetz.

Das zweite Experiment dynamic multiple fand im Rahmen des Schweizer Kunstförderpreis ring statt, bei dem nun 50 Personen hinzugezogen wurden. Alle Beteiligten erhielten das gleiche Material (ein quadratisches Blatt Papier) sowie die gleiche Handlungsanweisung. Diesem Algorithmus folgend wurden nun 50 Blätter von 50 Personen an 50 Orten bearbeitet und in einer Installation temporär vereint. Diese konzeptionelle Arbeit thematisiert nicht nur das Phänomen der Faltung, die Frage nach experimentellem Wissen und Autorenschaft, sondern auch ein hier auftretendes Paradox von Unikat und Serie: Aus einem seriellen Produkt entsteht gemäß einem Algorithmus unter der Hand von 50 ‛Probanden’ eine Serie von 50 Unikaten.

Was ist das also für ein Experiment, das wiederholbar und eben nicht wiederholbar ist, ein Experiment, das sich davon entfernt, wissenschaftliche Ergebnisse zu liefern und zugleich experimentelles Wissen erzeugt? Das Experiment der Faltung kennt keine idealen Bedingungen. Es ist an seine Ausgangsbedingungen, das heißt an die Materialität gebunden, die im Gegensatz zum Idealfall nicht exakt bekannt sein können. Faltungen können mit einem hohen Aufwand nur annähernd berechnet werden. Ganz im Gegensatz zum Knick oder Falz, der einfach formalisierbar und entsprechend exakt berechenbar ist und sogar Eingang in spezifische Software gefunden hat (Mathematik des Origami).

Willst du das Unsichtbare kennen, betrachte genau das Sichtbare.“ (Talmud) Um die Unsichtbarkeiten oder das Abstrakte des Virtuellen und Digitalen zu reflektieren, bedarf es der Anschaulichkeit des Analogen
[9]. Das Interessante an dem Kunstprojekt zur Faltung war nicht nur die Überraschung und der ästhetische Reiz einer unerwarteten Formenvielfalt, sondern der Erkenntniswert, den diese konzeptionelle „Versuchsreihe“ mir als Künstlerin und den Betrachtern der Ausstellung vermittelt hat. Der Übergang von der zeit- und ortsgebundenen Performativität des Experimentes in zeit- und ortlose Mathematik stößt bei Darstellung der Faltung an die Grenzen effektiver Rechenprozesse. Faltungen berühren also nicht nur die Grenzen des Berechenbaren, sondern auch die Grenzen des Darstellbaren.

Die Verbindung von Kunst und Architektur mit Theorie vermag in der Erörterung, Darstellung und Vermittlung komplexer Sachverhalte einen vielgestaltigen Beitrag zu leisten, aber auch experimentelle Strategien und originäre Projekte zu inspirieren und zu befördern. Und so gilt es zu hoffen, dass sich die Architekturlehre weiterhin den Besonderheiten und Spezifika des überaus komplexen Feldes der Architektur besinnt, aber auch ihrer Rolle als so genannte „Mutter der Künste“ gerecht wird, indem sie auch den anderen Künsten und insbesondere der Wissenschaft, je nach Aufgabenfeld und Wissensgebieten, die gebührende Aufmerksamkeit schenkt.



 

 

Anmerkungen:

 

[1] Obrist, Hermann: Ein künstlerischer Kunstunterricht, in: Hans M. Wingler (Hg): Kunstschulreform 1900-1933, Berlin 1977, S.83

[2] Brock, Bazon: Zeitgeist und Kreativität. in Svilar, Maja (Hg.): Kunst in der Exklusivität oder 'Jeder ein Künstler'? Kulturhistorische Vorlesungen, Bd.90, Universität Bern 1991

[3] Zinsmeister, Annett (Hg.): Plattenbau oder die Kunst, Utopie im Bauksten zu warten, Karl Ernst Osthaus - Museum, Hagen / vice versa Verlag Berlin 2002, Zinsmeister, Annett: Memodul. Ein digitales Gedächtnisspiel zu Plattenbauten und anderen modularen Utopien, ethicdesign, Berlin 2002

[4] u. a. Zinsmeister, Annett (Hg.): Plattenbau oder die Kunst, Utopie im Bauksten zu warten, Karl Ernst Osthaus - Museum, Hagen / vice versa Verlag Berlin 2002

[5] Zum Beispiel:  Zinsmeister, Annett (Hg.): Constructing Utopia. Konstruktionen künstlicher Welten, diaphanes Verlag Zürich / Berlin 2005, Zinsmeister, Annett (Hg.): welt[stadt]raum. Mediale Inszenierungen, transcript Verlag Bielefeld, 2008, Zinsmeister, Annett: Krieg und Stadt, Eine Reise nach Sarajevo, merz+solitude Verlag Stuttgart 2008

[6]  Ausführlich beschrieben und dokumentiert in: Zinsmeister, Annett: Krieg und Stadt, Eine Reise nach Sarajevo, merz+solitude Verlag Stuttgart 2008

[7] Ebda.

[8] Eisenman, Peter: Folding in Time: The singularity of Rebstock, 1992

[9]  vgl. hierzu auch: Zinsmeister, Annett: Analogien im Digitalen. Architektur zwischen Messen und Zählen in: HyperKult II – Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien, hrsg. von: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen, transcript Verlag Bielefeld, 2004

 


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