Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Drucken
 
Autor: Meyer, Hannes
In: Das Werk - 12 (1925); 9. - S. 257ff; Das Werk - 12 (1925); 10. - S. 304ff
 
Junge Kunst in Belgien
 
JKBelgien_1.gif (108276 Byte)
ARCHITEKT VICTOR BOURGEOIS UND
GARTENARCHITEKT L.VAN DER SWAELMEN, BRÜSSEL / LA CITÉ MODERNE
(Pläne)

Mit der »Sabena« vier Flugstunden nordwestwärts unserer Nordwestgrenze, überrascht den Schweizer in Belgien unter heimatähnlichen Volksverhältnissen gleicherweise die Heftigkeit des Rassenkampfs und die Höhe des Nationalbeitrags an internationale Wirtschaft und an zeitgenössische Ausdruckskultur. Als Pufferstaat gepufft von grossen Nachbarn, als Zwischenstaat mit Mischvolk untermischt, als Kolonialmacht ein Faktor der Weltwirtschaft, ward Belgien Brechpunkt stärkster völkischer und wirtschaftlicher Brandung. Es ward Mole gegen kulturelle und wirtschaftliche Ueberflut. Es ward Wallstatt des Weltkrieges. Es ward das stetsfort offene Blachfeld des Kulturkampfs von Welsch und Deutsch. Diese Gewalt der Auseinandersetzung zweier Rassen und der anhaltende fremde Einbruch in eigenes Wesen und in eigene Wirtschaft erzwingt Hochspannung aller Landeskräfte. Sie zeitigt - sattsam bestaunt von einem europäischen Publikum - die bekannten belgischen Höchstleistungen: Im Eisenbahnnetz. Im Freiballonfahren. In der Tafeltraubenzucht. In der Arbeiterbewegung. In der Blumengärtnerei. Im Sechstagerennen. Im Sodakonzern. An der Isèrefront 1914/18. Im Seebad Ostende. An der Börse in Brüssel. Im Kongo. Im Port d'Anvers.

JKBelgien_2.gif (180350 Byte) VICTOR BOURGEOIS / MIETHAUSGRUPPE AN DER »RUE DU CUBISME«, KOEKELBERG-BRÜSSEL (Pläne)

Reich sein ist alles. Belgien ist reich. Reichtum der Kohlen. Reichtum der Kirchen. Reichtum der Kanäle. Reichtum der Kolonien. Reichtum der Künste. Reichtum der Gegensätze. Reichtum der Leidenschaften. Durchtobt vom Sprachkampf, dessen Frontverlauf schwierig feststellbar und mitunter (wie in Gent) überspringt vom geographischen Begriff der Fluren und Orte in die gesellschaftliche Schichtung. Unterschicht gegen Oberschicht. Urchig vlämisch fühlende Bauern, Kleinbürger und Werkleute gegen - nur streckenweise - französelndes Bürgertum. Flamingant gegen Francillon.

So zerfiele wohl nach Buchstabenart in «vlämisch» und «wallonisch» künstlicher Begriff von «belgischer Kunst»? Dem Einsichtigen unverkennbar ist ungleichwertiger Anteil der beiden Landesteile an künstlerischer Landesleistung. Bei emsigem Wirken in Charbonnagen und in Usinen hat der Wallone kaum Musse zur künstlerischen Aeusserung. Es sei denn, man werte seine hochwertigen Fertigfabrikate, Ergebnisse exakten Denkens und wohldiszipliniertester Organisation, als unbewusst-faustische Beiträge zur abstrakten Kunst. -

JKBelgien_3.gif (156513 Byte) VICTOR BOURGEOIS / MIETHÄUSER IN BERCHEM-ST.AGATHE

Anders der Vlame. Er ist voller Eingebung, Daseinsfreude und Einbildungskraft. Besinnlich, sinnlich und versonnen. (Oh! Konsultieren Sie Georges Eekhoud «Kermesse» und Pierre Hamp «Le Lin»!) Er liebt die biblisch-schöne Triebhaftigkeit der Lebensäusserung, fern der Fabriksirene und ungedrosselt vom Gesetzgeber. Beim Spiel mit der platten Kugel und beim Bogenschiessen nach dem Mast. Beim Angeln in der Leie und beim Fischen in der Nordsee. Beim Treideln der Kanalschiffe und beim Dudeln der Kermessen. Im Tanzkelter, im Estaminet und in Kirche und Kino. Zahlenmässig zwar in Mehrheit, fühlt er sich in Abwehr und schickt beste Kräfte seines Volkstums ins Vordertreffen: Kunst und Geist. So ist Flandern, heute wie ehedem, fruchtbar und befruchtend. Doch ist solcher Art Vivisektion Spitzfindigkeit und Unwürde dem Gegenwartsmenschen. Ist nicht beste Marke belgischer Kunst jenes Gut, das unbeschwert von «vlämisch» und «wallonisch», unbeschadet von Folklore und Kunstgeschichte, jede Landesgrenze passiert als ein Erzeugnis jenes Esprit nouveau im jungen Europa? Das Jawort bezeugt Anvers und Brüssel als Hauptstätten einer übernationalen Kunstgesinnung.

Die Vorkriegslage zeigte in Abendland-Untergang-Stimmung getaucht auch das belgische Flachland. Sie war beherrscht durch drei Trios: In der Dichtkunst: Rodenbach-Maeterlinck-Verhaeren.

JKBelgien_4.gif (213686 Byte) HUIB. HOSTE / KRIEGERDENKMAL IN AMERSFOORT RELIEF VON FRANÇOIS GOS, GENF

In der Malkunst: Meunier-Laermans-Ensor. In der Baukunst: Hankar-Horta-Van de Velde. Die Manometer jener künstlerischen Kraftleistungen sind heute unbrauchbar. Doch wie nahe stehen uns Heutigen die damaligen Wegbereiter: Verhaeren im Dynamischen, Ensor im Nihilistischen, Van de Velde im Aesthetischen. Kein Wunder, dass die andern Künstler jener Zeit «Um 1900» sich bemühten, mit rückwärtig gewandtem Blick das Gewesene in immer neu variierten Variationen zu variieren. Die Kunstgefühle des Bürgers waren gebunden durch die Werke einer grossen Vergangenheit, und der Genter Altar war Akkumulator kunstgeschichtlicher Begriffe. Die fortschrittlichere Malerei paktierte mit dem Sozialismus, und die Arbeiterpresse vermittelte den Genossen das Werk eines Léon Frédéric, eines Eugène Laermans, eines Constantin Meunier.

Der syndikalistische Drang ergriff neben dem werkenden Arbeiter den schaffenden Künstler. Er suchte den Kreis und bildete Gruppen. In Brüssel, 1884, als «Les XX». In Antwerpen als «Als ik kan». Ein Freundeskreis junger Vlamen sehnte sich zurück an den Born vlämischen Volkstums. Er zog 1897 zur freien Gemeinschaft ins Dorf Laethem-St. Martin bei Gent. Der Bildhauer George Minne, die Maler Valerius de Saedeleer, G. van de Woestyne, Albert Servaes, Binus van den Abeele, Jules de Praetere und der Dichter Herman Teirlinck. Dieses war der Anfang nur der sogenannten Mystischen Schule von Laethem.

JKBelgien_5.gif (111262 Byte) HUIB. HOSTE / SIEDELUNG SELZAETE IN WESTFLANDERN

JKBelgien_6.gif (97014 Byte) HUIB.HOSTE / SIEDELUNG SELZAETE IN WESTFLANDERN

JKBelgien_7.gif (84970 Byte) AUS DEM FILM »LA CITÉ MODERNE«  HAUSBAU

JKBelgien_8.gif (82282 Byte) ALFONS FRANKEN / MIETHAUSGRUPPE  »CYCLOPS, VULCAN, TITAN«, ANTWERPEN

Heute zählt dieses Künstlerdorf die 1., die 2., die 3. Künstlergeneration.
Fasst man mit dem Sammelnamen «Junge Kunst» alle die . . . ismen einer nachimpressionistischen Zeit, so steht James Ensor (geb. 1860) am Anfang der «Jungen belgischen Malerei». Mit zwanzig Jahren eine Begabung vom Grade Schuchs, malt er im Jahre 1888 - zur Knabenzeit heutiger Expressionisten - jenes vertrackte Bild «Christi Einzug in Brüssel». Ein Geburtsschein des Expressionismus, 4 x 2½ Meter im Geviert messend und nie ausgestellt. Darauf etwa 2000 Köpfe. Alle in Lokalfarben aufgetragen und von unerhörter Leidenschaftlichkeit der zeichnerischen und farbigen Umgestaltung. Dynamisch, wie ein Gedicht von Verhaeren, und darin verwoben Selbstquälerei und Spott und Grausamkeit und Eigenbrödelei und Gemeinsinn und Vlamentum und Weltbürgerschaft.

Die Träger neuer Gesinnung in Baukunst und Kunstgewerbe, Henry Van de Velde und Jules de Praetere, flüchteten ins Ausland. Der Erste hinterliess - bis heute einzige Spur seiner Kunst in der Heimat - seine Villa in Uccle-Brüssel; der Zweite die Bücher seiner Handpresse zu Laethem.

JKBelgien_9.gif (51200 Byte) GRUNDRISS DER MIETHAUSGRUPPE

JKBelgien_10.gif (74618 Byte) HUIB. HOSTE / HOTEL IN KNOCKE

 JKBelgien_11.gif (78111 Byte) PAUL SMECKENS / VORORTHAUS IN   ANTWERPEN-WILRIJK

JKBelgien_12.gif (79544 Byte) J. J. EGGERICX UND L. VAN DER SWAELMEN GARTENSTADT »LE LOGIS« IN BOITSFORT-BRÜSSEL

JKBelgien_13.gif (144605 Byte) MINERVA-WERKE, ANTWERPEN / LIMOUSINE

JKBelgien_14.gif (79695 Byte)  GEBR. MAES / SERIENMÖBEL

JKBelgien_15.gif (81751 Byte)  M M E. NORINE / STRASSENKLEID (1925)

JKBelgien_16.gif (115355 Byte) PAUL JOOSTENS / DIE PUPPE MIT DEM VOGEL

JKBelgien_17.gif (118046 Byte) JOZEF PEETERS / TEPPICH

JKBelgien_18.gif (206996 Byte)  FRITZ VAN DEN BERGHE / ZUR GUTEN HERBERGE (1924)

JKBelgien_19.gif (237396 Byte)  GUSTAVE DE SMET / BÉATRICE (1924)
JKBelgien_20.gif (156808 Byte) AUGUSTE MAMBOUR / GESCHEHNIS (1924)

Der Erste fand bei Bing in Paris, im Folkwangkreis zu Hagen, in Weimar, Verständnis und Gelegenheit, die Formeln seiner schönheitlichen Erkenntnis formend zu gestalten. Der Zweite kam als Erneuerer des kunstgewerblichen Unterrichts nach Krefeld und in die Schweiz: als Reformator der Kunstgewerbsschulen von Zürich und Basel, als Organisator der ersten Schweizer Mustermesse. (Heute wirkt H. Van de Velde im Haag, J. de Praetere lebt in Brüssel. Beide gehen, 1925 in Paris, leer aus und Horta erhielt, 25 Jahre zu spät, den belgischen Pavillon!) Auf den Baubeflissenen Belgiens lastete die Akademie. Deren Gradmesser: Der Justizpalast in Brüssel. Die Bauformen entlieh man. In Paris oder bei den Alten aller Zeitalter. Einsichtige, wie Horta und Hankar, bewunderten Berlage. Die schlimmsten Ausgeburten eines formalen Krimskrams verhinderte, ein Glück, das fehlende Miethaus. Basis der Wohnform blieb nach wie vor das Eigenhaus in Stadt und Ort. - In dieses warme Nest denkfauler Akademiker legte ein Ausländer das Kuckucksei: Anno 1907 baute Josef Hoffmann-Wien in einer Brüsseler Vorstadt das «Haus Stoclet».

JKBelgien_21.gif (131278 Byte)  JOZEF CANTRÉ / MÄNNERKOPF (1924)

Sieben Jahre später entstand auf deutschem Boden der erste Meisterbau eines modernen Belgiers. Von Henry Van de Velde: Das Theater der Werkbund-Ausstellung Köln 1914.
Dann Krieg. 1915 Krieg. 1916 Krieg. 1917 Krieg. 1918 Krieg. Besetzter Heimatboden und besetzte Ideenwelt.
Mit abziehendem Feinde bricht die Nachkriegszeit herein. Mit Wiedergutmachung und Wiederaufbau. Mit Standardisierung und Flugdienst und Propagandafilm und abstrakter Kunst. Mit Henry Ford und Handley-Page und Charlie Chaplin und Fernand Léger. Mit Bolschewismus und Dadaismus und Surrealismus und Zenitismus und Superidealismus. Die neue Internationale zieht ins junge Belgien.

Die Geographie dieses Neulandes ist eindrücklich wie eine Mondlandschaft. Die alten Krater sind erloschen. Neue Ringe sind da. In deren Mitte meist eine Zeitschrift. In Brüssel: Le Disque vert. La Nervie. 7 Arts. Oesophage. La Cité. Correspondance. In Antwerpen: Séléction.

JKBelgien_22.gif (75077 Byte) PIERRE FLOUQUET / ÖLBILD

JKBelgien_23.gif (73406 Byte) PAUL JOOSTENS / CONSTRUCTION

De Driehoek. Bouwkunde, und die verblichenen Het Overzicht und Lumière. Meist jede mit anderer Färbung: »aktivistisch« Le Disque vert, »franco-belge« La Nervie, »modernistisch« 7 Arts, »international« Séléction, »dadaistisch« Oesophage, »abstrakt« De Driehoek. Am nachdrücklichsten in der Aufmachung »Correspondance«: vierzehntägig eine gepfefferte Druckseite in Briefform als modernistische Pille.

Schreiben wir Geschichte, da so viel Leben pulst? Ziehen wir Kreise, da so viel Bewegung ist? Kennen wir Wesensart und Marschziel dieser Avantgarde? Die Führer? Deren Geist?? Dessen Nuancen??? Das Warum und das Weshalb und das Wozu und das Wieso? Sezieren wir der Maler Art und Abart? In »Abstrakte«? V. Servranckx, J. Peeters, P. Flouquet, K. Maes. In »Expressionistische»? F. Van den Berghé, G. de Smet, C. Permeke, H. Malfait. In »Constructeure«? Floris Jespers und Paul Joostens. Sondern wir die Wallonen? August Mambour, Marcel Caron. Nennen wir den Kleinmeister? Edgar Tijtgat. Gedenken wir der »Aelteren« G. Van de Woestijne, A. Servaes, des blinden Eugène Laermans, des schrulligen James Ensor? Und dann wohin mit dem Gros der F. Schirren, R. van Gindertael, Ramah, J. Gockx, J. Brusselmans, . . .? Sehen wir Einflüsse? Etwa »Le Fauconnier und der belgische Expressionismus«? Oder »Der Breughelismus jungvlämischer Maler«? Ehren wir die Frühvollendeten? Den genialen Rik Wouters, den Futuristen Jules Schmalzigang. Künden wir die Holzschnittmeister? Jan Cantré und Joris Minne, und die Verbannten: Frans Masereel zu Paris und Jozef Cantré zu Blaricum. Zählen wir die sechs Bildhauer?

JKBelgien_24.gif (72648 Byte) VICTOR SERVRANCKX / ÖLBILD

JKBelgien_25.gif (63697 Byte)OSCAR JESPERS / KOPF MIT HAND

 O. Jespers, E. Wynants, G. Van Tongerloo, J. Vermeire, H. Puvrez, J. Cantré. Oder pilgern wir in die pointiert-frostige Umgebung George Minnes zu Laethem . . .? Schildern wir Brüssel als Hauptumschlagplatz modernen Kunstgutes? Dessen Galerien? Giroux, du Centaure, Manteau, Maldoror. Dessen Galeriedirektor? P. Fierens-Gevaert. Beliebt eine Satire über »Belgische Staatsgalerien und junge Kunst«? Oder ein Besuch im alljährlichen »Salon de l'Art Contemporain« zu Anvers? Klassieren wir die Architektur der H. Hoste, L. Van der Swaelmen, V. Bourgeois, A. Pompe, J. Hoeben, P. Rubbers, St. Jasinsky, A. Francken, P. Smeekens . . . und dazu im Anhang »Ueber die Rotterdamer und Amsterdamer Richtung in Belgiens Baukunst«? Staunen wir über eine »Société Belge des Urbanistes et Architectes Modernistes«? Oder über den Genossenschaftsverlag modernistischer Schriften »L'Equerre«? Deuten wir das Allgemeininteresse am Cinéma und an den Cinéasten? An Griffith, Wiene, Epstein, L'Herbier?? Gilt unser Wort den Konzerten »Pro Arte« und deren atonaler Musik der K. Albert, A. L. Bayens, E. L. T. Meesens, F. Quinet, A. Souris? Kritisieren wir die Kritiker, Schriftsteller und Poeten? A. De Ridder, R. Avermaete P. Hellens, F. Berckelaers, P. Bourgeois, P. G. Van Hecke, G. Marlier, L. Chenoy, M. Casteels, P. Neuhuys, C. Goemans . . .? oder lesen wir Felix Timmermans und Cyriel Buysse? Hören wir die Vorträge der Gruppe »La Lanterne Sourde«, oder folgen wir dem Spiel des »Théâtre du Marais«, des »Théâtre Flamand«, des »Théâtre du Groupe Libre«? Studieren wir der Bühnentechnik Wandlung in Herman Teirlincks Stücken: Jk dien, De vertraagde flilm, De man zonder lijf? Gilt schliesslich unser Lob dem internationalen Meisterstück belgischer Herkunft: F. Crommelynck »Der grossmütigie Hahnrei«? . . .
Nein! Nein! Nein! Verweigern wir Totengräberarbeit. Verzichten wir auf Geschichtsschreibung unseres Lebens!

JKBelgien_26.gif (141180 Byte) FLORIS JESPERS / DER HAFEN MEINES KNABEN

JKBelgien_27.gif (89580 Byte) PIRRRE FLOUQUET / BÜHNENBLD

JKBelgien_28.gif (81332 Byte) H. DE KONINCK / GESCHÄFTSHAUS (PROJEKT)

JKBelgien_29.gif (94661 Byte) STA. JASINSKI / SCHWIMMHALLE (PROJEKT)

JKBelgien_40gif.gif (438288 Byte)  zum Text zurück

Zeichnen wir durch Bild und Begleitwort, ohne Bedacht von Wert und Unwert, Geschmack und Haltung, den Querschnitt durch jungbelgische Ausdruckskultur. Derart geben wir der Leistung Standard in Siedelung, Denkmal und Massenmiethaus; in Serienmöbel, Motorvelo und Strassenkleid; in Konzertprogramm, Fussteppich und Kinderbuch; in Limousine, Bühnenbild und Lino; in Oelbild, Skulptur und Abstraktion.

Im Vorstadtkreis von Brüssel liegen die neuen Gartenstädte »Le Logis« in Boitsfort (800 Häuser), »Floréal« in Boitsfort (600 Häuser), »des Puis Noirs« in Woluwe-St. Pierre (400 Häuser), »Kapelleveld« in Woluwe - St. Lambert (600 Häuser) und »La Cité Moderne« (339 Häuser). Die letzte eine Mietergenossenschaft und als Bauanlage das gemeinschaftliche Werk von Victor Bourgeois und Gartenarchitekt L. Van der Swaelmen. Ein typisches Produkt typisierter belgischer Wohnbauweise. Zwar der Lageplan macht stutzig und man ahnt die Schwierigkeiten vorhandener Strassen, Geländekurven, Siedlerwünsche. Aber die Hochbauten sind reines Wollen eines übernationalen Baumeisters. Grundform jedes Hauses ist der Würfel aus Beton. Verdeutlicht durch Flachdach, Abdeckplatten und Kraggesimse. Vorgartenfrei die Strasse. Die Freiflächen mit koketter Schwarzweisszeichnung der Koniferengruppen. Und an der »Place des Coopérateurs« zwei kühne Sägeblöcke als Demonstrationsversuche neuartiger Hausplanung. Sie sichern richtige Besonnung der Wohnräume bei ungünstiger Strassenrichtung, sie sichern Anteil der Hausbewohner am Strassenleben strassauf und strassab. So ersteht hier in »La Cité Moderne« aus sorgsam bemessener Ordnung der Hauswürfel und Kaminwürfel, Mauerflächen und Fensterlöcher die geordnete Wohnstatt eines Volksteils und der reiche Beitrag des Belgiers V. Bourgeois an jene Baukunde, die keine Landesgrenze kennt.

Das Massenmiethaus in Reinkultur züchtete mit grösster Selbstzucht der junge Alphons Francken in Anvers. Ein Dreihäuserblock: »Cyclops, Vulkan, Titan«. 9 Geschosse, 48 Wohnungen. 1300 Türen, 110 cm Haupttreppenbreite und 20/20 cm Haupttreppensteigung. (Haha, Baupolizist!) Ein Bauwerk, würdig einer Werft. Zwar die Strassenseite zeigt noch, in Giebelform, die Einwirkung von Bauherr und Bewohner. Das Miethausinnere aber hat die Sachlichkeit einer Schiffskajüte. Die Hofseiten sind Geist vom Postdampfer und zeigen rein die Wohnmaschinerie und Aufzugsschacht und Brandgiebel und Küchenterrasse und Feuertreppe.

JKBelgien_33.gif (39957 Byte) VICTOR SERVRANCKX / LINO (1921)

JKBelgien_35.gif (14868 Byte) JOS.LEONARD LINO (1925)

JKBelgien_36.gif (17710 Byte) MARC EEMANS LINO (1925)

JKBelgien_37.gif (21770 Byte) KAREL MAES / LINO (1925)

JKBelgien_46.gif (66131 Byte)

Zu den vornehmsten Kriegsprodukten gehört das Kriegsdenkmal. Die Absicht ist verständlich, deren Verwirklichung mitunter nicht. Belgiens vornehmstes Exempel steht ausserhalb seiner Landesgrenzen und gilt Holland. Das Denkmal in Amersfoort. Erbaut von dem Vlamen Huib. Hoste unter bildhauerischer Mitarbeit des Holländers Hildo Krop und des Schweizers François Gos. 1917 aufgeführt durch belgische Internierte auf einem »Berg« nächst der Kleinstadt Amersfoort in der Provinz Utrecht. Mit Pylonen, Zwischenmauern, Loggien, Treppen, Ehrensaal, Reliefs und Aussichtsterrasse besitzt das Mal alle landläufigen Bestandteile . . .dennoch wird man nicht froh. Der Erbauer unterlag allzuvielen Ueberlegungen, und man spürt die Mühe des Vlamen, Volksart abzulegen und Weltart anzunehmen. Oder wird auch dem Besten unsrer Zeit das Denkmal zur hohlen Gebärde? Wie unendlich erschütternder wirkt - kaum auffällig - der »Tombeau du Soldat inconnuo« in der Rue Royale zu Brüssel. Wo jeder Vorbeihastende zum Hute greift. Wo das Mal nur »irgend ein Ort« ist, an dem »irgend ein Mensch« liegt. Das grosse baumeisterliche Können Huib. Hostes zeigt vielmehr seine Siedelung Selzaete in Westflandern. Hier spürt man überall die volle Freude am Zweckbau, und dem innern Ausbau folgt getreulich der äussere Aufbau mit Flachdach, Rücksprung und Vorsprung, Nebenfenster und Türkragstein. Das Ganze ist die Manifestation eines Zeitgenossen im Wiederaufbaugebiet der ehemaligen Kriegszone, allwo sich heute, begünstigt von einer findigen, aber erfindungsarmen Bauindustrie, alle Bauformen der Vergangenheit am Wiederauferstehungstage wähnen.

Hannes Meyer
JKBelgien_38.gif (67556 Byte)
MOTORVELO DER F.N.-WERKE IN HERSTAL-LÜTTICH

J u n g e  K u n s t  i n  B e l g i e n1

1 Der Aufsatz im Septemberheft des »Werk« musste ohne den Schlusspassus publiziert werden, den wir hier nachträglich abdrucken. Die Redaktion. Ein Streifblick in den belgischen Kreis bildender Künstler zeichnet heute unverkennbar stark diese starke Gesinnung: Das Sichtbare zu gunsten des Seelischen zu übersteigern, visionären Gehalt vorzuziehen visueller Gestaltung, und das äussere Auge hintanzusetzen zu gunsten des innern Gesichts. Wenig verwundert Flandern als Herz dieses Weltbildes, das Land, allwo neben westlicher Leidenschaftlichkeit je und je nordische Mystik glühte. Aus den Reihen dieser Gesinnung Verwandter nennen wir diese Vier: Fritz van den Berghe, Gustaaf de Smet, Constant Permeke, Jozef Cantré. Der Erste durchaus doppelpolig, Mystiker und Gehirnmensch, dessen Bilder überfüllt sind von geistiger und farbiger Schärfe. Der Zweite voller Milde und Hellsichtigkeit, und im Kolorit von wahrhaft vlämischem Farbenschmelz. Der Dritte allumfassend, problematisch, sucherisch; von erstaunlicher Vielseitigkeit des malerischen Ausdrucks. Der Vierte, Bildhauer und Holzschneider, übersetzt solche Gesinnung mit scharfer Schneide ins Plastische.

Die antwerpener Maler Floris Jespers und Paul Joostens und der Bildhauer Oscar Jespers gehen einen Schritt weiter: Sie zerschlagen den Natureindruck und fügen dessen Teilstücke eigenwillig in freier Zusammenstellung zum Hafenbild und zum Frauenkörper. F. Jespers ist hierin staunenswert beweglich und schmiegsam, auf steter Suche nach neuern Ausdrucksmitteln und am Freiesten in seinen gemalt-geritzten Glasbildern. P. Joostens ist vorab Psychologe und begabt mit jenem seltenen Spürsinn, der in jedem Ding dieser Welt Seele wittert, im Hafenweib und in der Sardinenbüchse. Mit unheimlichem Gefühl für die Stoffwerte zaubert er in komponierter Gegenüberstellung von Glas (als Scherbe), Blech (als Büchse), Stahl (als Klinge), Holz (als Streichholz) oder im Scherenausschnitt von Wellkarton, Seiden- und Hadernpapier Spannung und absolute Musik. August Mambour ist der Künstler mit kolonialem Einschlag. Ihn trieb es von Lüttich in den Kongo. Mit dunkler Palette kehrte er aus dunklem Erdteil und verarbeitet seitdem in strengster Stilisierung afrikanische Eindrücke zur gemessenen Bildhaltung.

Die Jüngsten endlich, Victor Servranckx, Jozef Peeters, Marc Eemans, Karel Mas und Paul Flouquet, überlassen jegliche Wiedergabe des Natureindrucks der Reproduktionstechnik, dem Film und der Foto. Sie haben es satt, mit der Wiederholung eines Frauenaktes dem ästhetischen Frieden zu dienen. Sie anerkennen als Malziel die «Form an sich«, und die gewollte Anordnung von Farbflecken und Formstücken im Bildrahmen, von Schwarz und von Weiss im Lino, ist nur maschinelles Mittel, Gefühl und Sinne des Betrachters zu erregen. Sie verzichten auf Heimatkunst. Sie sind Weltbürger. -

Die zeitgemässe Betrachtung einer schöpferischen Landesleistung wird auf obligaten Schönheitskult verzichten. Sie wird des Landesniveaus Nieder-, Mittel- oder Höchststand ablesen an all den Dingen zeitgenössischer Ausdruckskultur, die traditionslose Kinder unserer Epoche sind: Lichtreklame, Aeroplan, Film, Damenvelo. Gilt als Gradmesser derartiger Wertung die grösstmögliche Vollkommenheit des Dinges an sich, so ist der Standard belgischer Standardisierung ausnehmend hoch, und einzelne Reinprodukte dieser Art entsprechen dem Weltkonsum: Das Automobil »Minerva«. Das Motorvelo »F. N«. Der Phonograph »Chantal«. Es ist sinnlos, deren äusserliche Form ästhetischer Betrachtung zu unterwerfen, Sie sind »schön«, weil sie vollkommenstes Ergebnis ihrer Funktionen sind. Sie zeugen, ungeziert und unverziert, für einer neuen Zeit neue Art. Wie Zenith-Uhr und Dreadnought sind sie bewusste Schöpfungen exakter Denkart. Auch in Belgien entwerten sie alte Schönheitswerte: Brüssels Justizpalast und Manneken-pis-Brunnen werden abgelöst durch die Glashäuser der Traubenhügel vor Brüssel, durch die Riesenfabrik der F. N.-Werke in Herstal-lez-Liège, durch die Wellblechnotwohnungen Westflanderns, durch die neuen Docks von Antwerpen.
Epilog: Berge sind Einrichtungen völkischer Abgeschlossenheit und Sinnbilder des Vorurteils. Nur an Festtagen sind sie Schutzwall vaterländischer Unabhängigkeit und Hort der Freiheit. An Werktagen bergen sie Brutstätten inzüchtiger Binnenkultur. Drunten in der Ebene wird Weitblick zwangläufig und obligatorisch. Dort herrscht allseitig einfallender Wind aus der Fremde, und man ertrotzt ihm mit Segel und Windmühle den eigenen Fisch und das eigene Brot.

Hannes Meyer

JKBelgien_39.gif (109901 Byte) DER RUSSISCHE PAVILLON IN PARIS 1925  (Cliché »7 Arts«, Bruxelles)