Zur Sprache bringen
Eine Kritik der Architekturkritik
7. Jg., Heft 2 (Januar 2003)    

 

___Ulrich Conrads
Berlin
  Ein Schlusswort als Prolog


Videomitschnitt
des Vortrages

Man gratuliere mir

Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Führ!

Man gratuliere mir
Auch dieses Jahr noch 
haben die Mücken mich gestochen.

So habe ich die Freude, an dieser mich so sehr ehrenden Zusammenkunft, dieser in vieler Hinsicht neugierig machenden Konferenz stehenden Fußes, wie Sie sehen, teilzunehmen.

Und so darf ich mir erlauben, mit einem mir von mir selbst zugedachten Heiku zu beginnen, einem jener knappen japanischen Dreizeiler, die eine längere prosaische Erklärung überflüssig machen. Mit einem solchen Heiku werde ich übermorgen diese Konferenz auch schließen.

Denn hier wird ja nun vieles ganz so, wie es das lateinische Ursprungs-Verb conferre meint – "zusammengetragen" werden. Vieles, was zu meinem Beruf gehört. Genauer: gehörte, denn ich kann ihn, Sie wissen es, seit acht, neun Jahren nicht mehr ausüben. Insofern muss ich, Sie werden es richtig verstehen, hier von hinten nach vorn reden, muss weit zurückliegende Erfahrungen vergegenwärtigen, muss von vergangenem, teils schon ein wenig abgesunkenem Erleben sprechen, statt das Heute und Morgen, die Gegenwart und das, was auf uns zukommen wird, als kritischer Beobachter ins Auge zu fassen. Wenn möglich, anderen drei Tage voraus. Das täte ich weit lieber. Über ungefähre Eindrücke aber, über bloße Vermutungen ist schlecht reden. Vom Hörensagen her lässt sich Architektur nicht betrachten.

Ja, und dann indem man ihn ums erste Wort zum Thema bittet sieht sich der mit dieser Konferenz so ausdrücklich Geehrte natürlich auf die Probe gestellt, ob er dem Aufwand genügt. Ich sage das nicht aus Koketterie. Auch Sie werden eines Tages die Erfahrung machen, wenn Sie sie nicht schon gemacht haben, dass mit der Zunahme von Wissen oder sagen wir ruhig: Halbwissen die Zweifel umgekehrt proportional zunehmen, ob sich Architektur, wo sie Architektur ist, sprich Baukunst, überhaupt zur Sprache bringen lässt. Das Metapherchen von der "Gefrorenen Musik" ist ja nett und schön, doch taugen tut es nicht. Die Verschiedenheit beider Künste wie überhaupt aller anderen Kunstgattungen auch besteht ja darin, dass "Sein" und "Zeit", die Existenz und die Dauer, in einer jeweils anderen Beziehung zueinander stehen. Nun hat mich Eduard Führ gewiss nicht als ersten der Referenten hierher gestellt, auf dass ich von vornherein eine Hucke voller Zweifel aussäe. Wer hätte sie nicht, die Zweifel? Und wer lacht da nicht? 1. Korinther 13,9: Unser Wissen ist Stückwerk.

Dennoch fahre ich fort mit gutem Wissen und Gewissen, dass die Woche sieben Tage hat, Schneewittchen von sieben Zwergen umsorgt wird, dass wir sieben Raben, Siebenmeilenstiefel, sieben Weltwunder zählen, sieben Halswirbel und sieben sichtbare Planeten; und dass Rom auf sieben Hügeln erbaut wurde und der Tempel zu Babylon sich sieben Geschosse hoch über die Stadt erhob ( vielleicht ).

An einem aber halte ich ganz fest, nämlich daran, dass dem wahren Architekturkritiker sieben Tugenden zueigen sind. Ich sagte: dem wahren Kritiker, weil ich den heute gängigen Qualitätshinweis "professionell" meiden möchte. Es sind mir sowohl Laien als auch Architekten und Planer bekannt, die nicht minder scharf zu urteilen wissen als unsereins, der sein kritisches Hinsehen zum Beruf machte. Ich sage also: der wahre Architekturkritiker, denn die Tugenden, von denen jetzt die Rede sein soll, sind eben ein wenig anspruchsvoll.

Und die möchte ich Ihnen nun nennen in Form von sieben Behauptungen. Und damit sich das nicht wie eine Belehrung ausnimmt, flechte ich dann und wann persönliche Erfahrungen, Erlebnisse, Glücksfälle und auch Widerwärtigkeiten ein. Etwa so, wie Illustrationen einen Text begründen helfen.

Die sieben Tugenden des Architekturkritikers lassen sich mit sieben Begriffen ans Licht bringen. Ich werde sie für die Wolkenkuckucksheimer römisch beziffern. Das erleichtert auch Ihnen, verehrte Zuhörer, den Durchblick. Denn wir werden uns aufhalten wie gesagt: sieben Mal –

bei

dem Maßstab,

den Rissen und Schnitten,

der Baustelle,

dem Vorher-Nachher,

dem Vergleich,

dem Einwirken,

dem Mitmenschen.

Sie sehen, ich gehorche wieder meiner unüberwindlichen Neigung zum Labyrinthischen. Ariadne, steh mir bei!

I.

Der wahre Architekturkritiker kennt nur einen Maßstab. Dieser Maßstab ist der Maßstab 1:1. Der Kritiker lässt sich zwar im Vorhinein von glänzend gesehenen Fotos und raffiniert geschnittenen Videos informieren, jedoch nicht täuschen. Denn er arbeitet an Ort und Stelle. Er fährt hin. Er berichtet nur über Bauten, die er selbst aus wechselnden Distanzen gesehen, mehrmals umschritten und all ihre Räume und Raumfolgen von den Kellern bis unters Dach ganz in Ruhe begangen hat.

Diese Tugend, werden Sie sagen, sei nun wirklich banal. Und da haben Sie recht. Tugendhaftes ist im Gegensatz zu den Lastern immer banal und ein bisschen langweilig.

Gleichwohl ist es oft gar nicht so selbstverständlich, sich einen Bau nicht nur als eben diesen Bau anzusehen, sondern auch seine "Angemessenheit". Und die ist ja wiederum nur im Maßstab 1:1 abzuleiten und zu erkennen. Mehr noch als für Architektur gilt das für städtebauliche Gestaltungen. Zum Stadträumlichen tritt da das landschaftliche, das topographische Befinden, treten die weiter gefassten Perspektiven, die oft komplizierten und nicht immer gleich augenfälligen Beziehungen. Erst bei solcher Beobachtung ist ja auszumachen, ob da ein freundschaftlicher oder ein feindlicher Zu- und Eingriff geschehen ist.

Die Forderung nach Unmittelbarkeit das bedeutet ja die Maßgabe 1:1 sollte auch für Skizzen, Handskizzen gelten. Das ist wichtig vor allem, wenn auch die Idee, der Werdeprozess eines Bauwerks, schließlich der Bauprozess selbst kritisch kommentiert werden sollen.

Ich wiederhole meine erste Behauptung: Dem wahren Kritiker gilt nur der Maßstab 1:1.

II.

Der wahre Kritiker verlangt, dass ihm sämtliche Grundrisse, Ansichten und wesentlichen Schnitte des Bauwerks vor Augen kommen, vom Lageplan ganz zu schweigen. Obschon gerade er oft, und manchmal aus schlechtem Grund, im Safe bleibt.

Hier spielt nun aufs neue der Maßstab eine wichtige Rolle, sprich: die Informationsdichte, die die jeweilige lineare Verkleinerung hergibt. Wohnungsgrundrisse im Maßstab 1:1000 zum Beispiel sind für eine kritische Beurteilung der Räumlichkeit und der mutmaßlichen Wohnlichkeit oder gar Bewohnbarkeit schlichtweg unbrauchbar. Zwar sind diese weitgehenden Verkleinerungen auf dem Papier oft von schöner Strenge eben, weil sie nichts sonst mitteilen. Abstracts der Wohnung. So lästig wie überflüssig. Immer ist ja die Frage, was beurteilt werden soll und also auch dargestellt sein muss.

Auch das ist wiederum so etwas wie ein Gemeinplatz, also eigentlich von schöner Selbstverständlichkeit.

Doch auch mit den exakten, den richtigen Bauzeichnungen ist es so eine Sache. Die allerrichtigsten zeichnerischen Darstellungen, die das Ganze eines Bauwerks stets winkelrichtig und alle Kanten unverkürzt und in ihrer eigentlichen Bemessung darstellen, ist die Axonometrie. Sie war in den achtziger Jahren die große Mode. "Zwischen Wahrheit und Lüge das geborgte Dasein der Architektur" so zog Gerd Neumann dieser Darstellungsmethode die Maske ab. Für Laien nur mühsam lesbar, verleiht ihre unanfechtbare "Richtigkeit" dem dargestellten Bauwerk einen Anschein absoluter Gültigkeit, wenn nicht gar von Ewigkeit. Doch selbst die war ja nach Stanisław Lec früher von längerer Dauer.

So geschah es denn auch, dass bei einem der Berliner IBA-Wettbewerbe in den achtziger Jahren eine sorgsam auf Karton kaschierte Axonometrie 1:100 wie vergessen an einer Wand lehnt. Ein beflissener Mensch kommt vorbei, stutzt, schüttelt den Kopf und dreht die Tafel um. Oben ist nun unten. Wenig später eilt ein zweiter Helfer dort vorbei, stutzt, verhält den Schritt und stellt die Tafel wieder auf den Kopf. Und solches, noch selbst beobachtet, geschieht ein drittes Mal. Frage: Stand die Tafel mit der axonometrischen Darstellung anfangs richtig?

Eine zweite, weniger lustige Frage: Resultiert aus solchen Begebenheiten etwa die Angst der Fernsehleute vor Bauplänen, insbesondere Grundrissen? Sie können offensichtlich nur Fassaden lesen, aber das, man staunt immer wieder, in zwei Sekunden. Ihre Welt: die eingeebnete Matrize. So dann auch, kein Wunder, die Welt der Bild-Konsumenten.

Nun aber, ehe ich in obsolete Kulturkritik ausbreche, die dritte Behauptung.

III.

Der wahre Architekturkritiker ist neugierig darauf, wie der Bau, auf den er es abgesehen hat zu gegebener Zeit , entsteht. Er verfolgt, soweit es ihm örtlich und zeitlich möglich ist, die Stadien des Baufortschritts. Ist er ganz darauf versessen, läuft er alle Nase lang auf die Baustelle. Er sieht da, was ihm später weitgehend verborgen bleiben wird: die Details, die Materialien, die nackte Konstruktion, ehe sie teilweise ins Verborgene geraten. Diese Einblicke erleichtern es ihm, später Aufwand und Zweck, Zielsetzung und Ausführung gegeneinander kritisch aufzurechnen. Abgesehen davon: es bringen die Baustellenbesuche zumeist unwiederholbare Erlebnisse von Raum und Baukörper.

Nur sollte der Kritiker sich nicht scheuen, etwa weil er sich von besserer Art hält als die Bauarbeiter, bei diesen Besuchen einen Schutzhelm aufzusetzen. Der Kritiker möge bedenken, dass die Schwerkraft im unfertigen Bau noch nicht bewältigt ist und auf Gegenstände, Bauteile, Werkzeuge noch befreiend einwirkt.

Es fällt allerlei und immer herunter; und allerlei wird fallen gelassen.

Wer aber Bauaufzüge oder noch unfertige Personenlifts zu benutzen wagt, sollte zuvor ein Stoßgebet flüstern. Ich erinnere, wie mich weiland Ferdinand Kramer mit ungespielter Begeisterung durch einen seiner Frankfurter Universitätsbauten führte und einem Aufzugmechaniker befahl, uns unverzüglich ins oberste Stockwerk von wegen der Aussicht zu fahren. Der Mann zögerte, betätigte dann aber entschlossen die provisorische Steuerung. Die nackte türlose Kabine ging hoch bis es einen fürchterlichen Schlag gab: auf dem Kabinendeckel stand eine Leiter. Der liebe Gott oder ein höherer Engel muss in den Stahlseilen gesessen haben.

Zeit, zur vierten Behauptung zu kommen.

IV.

Der wahre Architekturkritiker wüsste gern, sieht er ein neues Haus, steht er in einer neu geschaffenen städtebaulichen Situation, wie es da früher ausgesehen hat. Ist die verdeckt viergeschossige Stadtvilla unterm schwarz engobierten Sargdach eine wenigstens halbwegs tragbare Zuwiderhandlung gegen das sich ehemals an dieser Stelle so bescheiden in den Raum einordnende Landhaus von Fritz Höger? Vor drei Jahren abgerissen und schon kennt es keiner mehr. War da was? Was war da? Erstaunliche Unsicherheit auch bei Eingesessenen.

Eine Stadt ich personifiziere ist unglaublich vergesslich. Vor Jahresfrist erst erinnerte sich Renzo Piano in einem Interview lebhaft daran, welche Freude es ihm bei seinem ersten Besuch in Berlin vor zwanzig Jahren gemacht habe, dass Scharoun der Mauer Arsch und Rücken seiner Staatsbibliothek zukehre. Piano hat am Potsdamer Platz tüchtig mitgewirkt. Hat ihm niemand gesagt, dass Scharoun die Bibliothek nach Osten darum dichtmachte, weil da die geplante Westtangente eines Tages aus dem Boden schießen sollte? Nun läuft der Verkehr sechsspurig vor den Glasfronten der Lesesäle übers so genannte Kulturforum. Mit der vergessenen weitschauenden Planung ist gleich auch die Kultur vergessen. Kaum anderswo wird so konkret fassbar, wie unglaublich naiv und halbherzig Senat und Abgeordnetenhaus Berlins mit Kultur und Bauen umgehen. Hauptstädtische Baukultur.

Vorher-Nachher ich denke, der Kritiker muss, indem er urteilend vergleicht, das Verlorene, Ersetzte, zu anderer Gestalt Gebrachte dem Vergessen entreißen. Er macht die Mitmenschen zu Zeugen, Augenzeugen wahrhaftig, ihrer eigenen Bau- und Stadtbaugeschichte: Was ist unter unseren Augen und mit unserem Zutun gefallen, was an dessen Stelle gewachsen? Und dies nicht einfach über Nacht.

Juristen geben einem niedergegangenen Bestand zwei Jahre Erinnerungsfrist. Ein Forsthaus brannte ab und wurde nicht wieder aufgebaut. Zwei Jahre später will ein unternehmenslustiger Gastwirt das Forsthaus neu errichten, nun als Waldhotel und -wirtschaft. Es wird ihm versagt: das abgebrannte Forsthaus habe nicht nur im nicht bebaubaren Außenbereich gelegen, sondern sei mittlerweile im Gedächtnis der umwohnenden Bevölkerung gänzlich gelöscht. So urteilte ein Senat eines unserer Oberlandesgerichte. Die Richter lagen damit nicht ganz falsch.

V.

Der wahre Architekturkritiker findet sich im Labyrinth der Baugeschichte und der Baugeschichten das ist zweierlei soweit zurecht, dass er verlässliche qualitative Vergleiche anstellen kann. Mehr ist zu dieser Tugend nicht zu sagen.

Hier berühren wir das Wissen vom nie und nimmer genug wissen. Und wir geraten zumindest in die Nähe der Erfahrung, wie schnell ein passables Wissen auch ein spezielles Wissen so tief absinken kann, dass es nur mit Anstoß und Mühe wieder heraufzuholen ist.

VI.

Der wahre Architekturkritiker übt zeitlebens das Beschreiben von Körpern und Räumen, statischen und dynamischen Haltungen, von Fassaden und Erstreckungen in die Tiefe. Während es über das Beschreiben von Werken der Bildenden Kunst zahlreiche Abhandlungen gibt, ist mir bislang kein Titel "Über das Beschreiben von Werken der Baukunst" zu Gesicht gekommen. Es wird offenbar nicht gelehrt. Und so erleiden wir permanent die Armseligkeit der meisten professionellen Bau- und Projektbeschreibungen.

Der wahre Architekturkritiker weiß also, warum er sich müht, ein Bauwerk so verständlich zu beschreiben, dass einer, der den Bau nicht kennt, ihn dennoch vor sich sieht. Erst dann kann der Zuhörer oder Leser ja nachvollziehen, was der Kritiker an Lob oder Tadel als seine eigentliche Aussage hinzufügt.

Er will ja sein Ziel , dass seine Kritik beim Publikum "ankommt" und Wirkung hat. Wenn schon nicht mehr auf das kritisierte Bauwerk, so doch für alles weitere, das künftige Konzipieren, Entwerfen und Bauen.

Doch wer ist mit der Kritik gemeint? An wen richtet sie sich? Wer soll sie zur Kenntnis nehmen und Honig daraus saugen?

Die Architekten und Planer, die Bauherren, die Bauverwaltungen, die politischen Entscheidungsträger, die Gesetzgeber, die Großmuftis? Oder soll überhaupt ein ganzes, des Lesens und Auffassens kundiges Volk, dargestellt durch die immer klugen Köpfe dahinter oder die ,mangels Zeit’ fortwährend mit der "Zeit" in Rückstand Befindlichen, auf die Kritik des Bauens im Einzelnen wie im Ganzen, will sagen: auf die Kritik unserer immer wieder hinkenden Baukultur eingestimmt werden? Mal zieht die den rechten, mal den linken Fuß nach. Und die Bodenpolitik kennt sowieso nur Plattfüße.

Der wahre Architekturkritiker hat sich also gründliche Kenntnis auch der Planungs- und Bauvoraussetzungen verschafft. Und ein Arsenal von Sprachen: den Holzhammer, den eisigen Sarkasmus, die ruhige Zurede, den sanften Hinweis, die beiläufige Empfehlung.

Immer aber geht der Frage: Wie sag ich ´s und wem? die Beschreibung des corpus delicti voraus. Und schon in ihr, der Beschreibung, ist der wahre Kritiker höchst persönlich anwesend. Die Beschreibung schon enthält in nuce sein Urteil.

Die Holzhämmer bringen meist wenig, die säuselnden Zureden noch weniger. Wer indes einen Bau "Marmelade auf Käse" nennt oder die Vorstandsmitglieder einer Wohnungsbaugesellschaft als "kaufmännische Nagetiere" bezeichnet, handelt sich hierzulande lediglich Beleidigungsklagen ein. Man darf so etwas nicht schreiben; geschweige denn drucken lassen. Warum man die unfeinen Worte gewählt hat, wird vor Gericht nicht erörtert und verhandelt.

 

Bleibt uns

VII.

 

Der Mitmensch. Insofern nämlich, als der wahre Kritiker ein solcher ist. Das ist seine letzte, für mich persönlich seine erste Tugend. Jeder Kritiker ist natürlich erst einmal ein Mensch. Der Architekturkritiker aber ist ein Mit-Mensch, der Akzent auf der Vorsilbe "mit". Das heißt, er besitzt die Fähigkeit, sich in die Biographien der neben ihm Lebenden, ganz gleich wo und wie, einzufühlen, sich mit den Lebensweisen, Lebensrhythmen, Lebensbedürfnissen der Armen wie der Reichen, der Versklavten und Bedrängten wie der den Existenznöten Entkommenen für eine geraume Weile zu identifizieren. Für die Vielen ja, wer sind sie denn? wer sieht sie? , die in den Favellas der so genannten Schwellenländer oder die, die in unseren Städten mit 40 Prozent Erwerbslosen zu Hause sind?

Der wahre Architekturkritiker weiß, dass in naher Zukunft die momentan grassierende Große Beliebigkeit des Bauens ein Ende haben wird, dass das Herzeigen von Fassaden von den virulenten sozialen Kräften in dieser unserer Weltzeit alsbald vernünftig korrigiert werden wird, dass die natürlichen Energien nicht länger in Repräsentationsbauten verheizt oder verkühlt werden können.

Der wahre Architekturkritiker weiß als Mitmensch, dass in dieser selbstmörderischen Welt, in dieser Zeit der Wiederkehr des Menschenopfers (Enzensberger) erst Katastrophen über Katastrophen der Überschwemmungen sind noch nicht genug zu einem neuen Denken und Handeln führen werden.

Er spricht, er schreibt, er vermittelt, er publiziert - obschon ohne nennbaren Erfolg und scheinbar widersinnig - dennoch weiter. Er sieht sich als eine Minderheit unter den Minderheiten. Und das begreift er als seine Stärke. Es ist ein gutes Gefühl, wenn niemand hinter einem steht und man sich einbilden kann, einen wenn auch geringen Beitrag zur Wiederherstellung verlorener Gleichgewichte und zur intensiveren, glückbringenderen Nutzung unserer Lebenszeit, dem Kostbarsten, was ein jeder besitzt, beizutragen. Mit einem Wort: im wahren Architekturkritiker steckt insgeheim ein Pädagoge in Angewandter Politik. Er lehrt die bauenden Leute Mores.
 



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