Zur Sprache bringen
Eine Kritik der Architekturkritik
7. Jg., Heft 2 (Januar 2003)    

 

___Ulrich Conrads
Berlin
  Ein Prolog als Schlusswort

 

 

 

Nachdem Herr Führ mich hat auf Sie einreden lassen, soll ich hier nun auch ausreden. Doch das werde ich nicht tun. Wir haben ja an diesen beiden Tagen festgestellt, dass es eine Menge von Gründen und also auch von Ausreden gibt, warum Architekturkritik nicht in der von uns allen so sehnlich erwünschten Breite wirksam ist.

Jeder Bau ist eben erst einmal ein nützliches, nutzbares Wirtschaftsgut mit jeweils hohen Gestehungs- oder Anschaffungskosten und - leider - von großer Haltbarkeit.
Doch während der Prozess des Alterns, Veraltens, Verfalls und der Erneuerung, des Ersetzens, des Wiederauflebens von Bauten, städtebaulichen Ensembles, ja, ganzer Stadtviertel immer noch sehr langsam vor sich geht, sind die Zeitrhythmen der Veränderung unserer Lebensvollzüge und Existenzmittel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer schnellere geworden. Wir setzen uns immer kürzere Fristen, so als ob die Zeit eine Flucht nach vorn angetreten hätte.
Stabil blieben und bleiben nur wenige Grundbedürfnisse: Licht, Wärme, Bett, Tisch und Stuhl; und - wie es sich auch immer benennen lässt - das Herdfeuer. Und stabil bleiben, jedenfalls relativ, unsere persönlichen Lebensrhythmen von der Kindheit bis ins hohe Alter.
Da beides zu den Gemeinplätzen zu zählen ist, wird darüber wenig gesagt. Planer, Städtebauer, Architekten wissen es ja. Sie vermeinen, es zu wissen.
Mediziner, Physiologen, Psychologen, Ergonomiker und Ergonometriker, nicht zuletzt Zeitforscher und Pädagogen sind dieser Meinung nicht. Sie veranstalten Konferenzen wie diese unter dem Titel "Das beschädigte Leben" und fragen:
Wann, wo und wie bereiten Bauten, insbesondere Neubauten Angst?
Wie lange ist ein Arbeiten in schattenlos belichteten Räumen - 2000 Lux an jedem Platz - den Augen zuträglich, ehe sie dauernde Schäden davontragen?
Ist halbwüchsigen Kindern ein Unterricht in fensterlosen Räumen zuzumuten?
Und was heißt eigentlich kindgerecht?
Taugt Nordlicht nur für Küchen und Schlafzimmer?
Wie wirkt sich die räumliche Zwangsordnung der so genannten Sozialwohnungen auf das Verhalten der Familienmitglieder zueinander aus? Insbesondere auf die erotischen Beziehungen? Was registriert ein Autofahrer bei der Einfahrt in einen ihm unbekannten Wohnort als dessen erstes Merkmal?
Wann wird die Homogenität von Baublöcken dem Fußgänger zur Qual?
Welches Maß von sozialer Kontrolle ist dem Wohnen angemessen? Ich könnte so fortfahren.

Das alles sind Fragen auch an den Planer und den Architekten, nachdem die Kunst-Baustile als "Verbindlichkeiten" unwiderruflich der Vergangenheit angehören. Es sind Fragen, die der Architektur nun im Anbruch einer anderen Stil-Epoche gestellt werden. Fritz Schumacher hat diesen kommenden Stil als den Sozialen Baustil bezeichnet. Dieser Stil bringt auch der Architekturkritik über all die Aspekte hinaus, von denen in diesen beiden Tagen die Rede war, ein neues Aufgabenfeld: Die kritische Information der Planenden und Bauenden über die jüngsten der je belangreichen Erkenntnisse der Humanwissenschaften.
Es ist ein bedenklicher Zustand, dass von diesen Erkenntnissen in den letzten Jahrzehnten nur sehr wenig in die Planungs-, Entwurfs- und Baupraxis Eingang gefunden hat. Der Soziale Stil bedarf dieser kritischen Vermittlung, auf dass er sich mit neuen, eben anderen Verbindlichkeiten von der Beliebigkeit derzeitiger Bauproduktion ablösen, absetzen kann.
Dieser Gesichtspunkt ist, denke ich, in unseren Diskussionen zu kurz gekommen. Sonst aber ist überaus vieles zur Sprache gebracht worden, und ich kehre mit vollen Taschen heim. Und insgeheim etwas getröstet. Denn es hatte letzthin den Anschein, als sei die Architekturkritik zur Hofberichterstattung potenter wie präpotenter Starbüros degeneriert und zahnlos geworden.

Und so kann ich nun endlich Dank sagen für die mir so eng auf die Figur geheftete Zusammenkunft, deren Ertrag nicht nur - pardon! - ins Wolkenkuckucksheim entschwinden möge.

Ich danke Ihnen allen.
Und ich danke - und da sind Sie sicher mit mir einig - der BTU Cottbus und ihrem Präsidenten, Herrn Sigmund, und natürlich ganz besonders und herzlich dem mutigen Initiator dieser Konferenz, Herrn Führ und seinen Mitarbeitern am Lehrstuhl, eingeschlossen Frau Heinzig und das Team, das vor- und nachbereitend fürs Wolkenkuckucksheim tätig war und ist. Nicht vergessen möchte ich die mir durch die Auslobungen des Deutschen Städtebaupreises verbundene SEB AG, der früheren Bank für Gemeinwirtschaft, die der Konferenz einen namhaften Betrag zugewendet hat.

Nun hat Eduard Führ ohne mein Wissen und listig das Thema meiner Eingangsrede umgedreht: Ein Schlusswort als Prolog. Also muss ich denn zum Schluss doch ein wenig nach vorn sehen. Zukunft ins Auge fassen.
Ruskin schon rief aus, dass noch so viele bronzegestirnte Jahrhunderte wie das damals anbrechende zwanzigste mit seinen Stahl- und Glasbauten nicht die Segnungen ehrbarer, solider Handwerkskunst aufwiegen könnten.
Ein Irrtum, wie wir wissen. Wenn auch mit Einschränkungen.
Doch dann die nächste, die neue Zukunft eben dieses zwanzigsten Jahrhunderts: Ernst Bloch, der Verfechter des "Prinzips Hoffnung" konstatiert:
"Der begonnene Grundzug der neuen Baukunst war Offenheit: sie brach die dunklen Steinhöhlen, sie öffnete Blickfelder durch leichte Glaswände, doch dieser Ausgleichwille mit der äußeren Welt war zweifelsohne verfrüht. Die Ent-Innerlichung wurde Hohlheit, die südliche Lust zur Außenwelt wurde, beim gegenwärtigen Anblick der kapitalistischen Außenwelt, kein Glück. Denn nichts Gutes geschieht hier auf der Straße, an der Sonne…“. "Wo ein Lebenszuschnitt so verworfen ist wie der spätbürgerliche, kann eine bloße Baureform nur erreichen, nicht mehr verhüllt-, sondern dezidiert-seelenlos zu sein."
Nicht mehr verhüllt, sondern dezidiert seelenlos! Wo die Seele nicht mehr ernst genommen wird, entflieht sie in Kaiser Wilhelms Zeiten oder nährt sich nostalgisch von Spolien und deren Imitaten.

Ein Verhängnis aber ist nicht aufhebbar: Wohl lassen sich Kenntnisse, kaum aber Erfahrungen weitergeben, zumal nicht persönliche Lebenserfahrungen. Nichts sonst lässt uns Kritiker so resignieren wie diese Erkenntnis.

Nun aber, bitte, stellen Sie sich vor - ich traue Ihnen die  Übertragung auf unsere Situation, auf den derzeitigen Stand der Kritik absolut zu -, bitte, stellen Sie sich vor: Bitterer Winter, es ist stockfinster draußen, der Frost macht alles erstarren, kein Feuer im Ofen, nur ein, zwei Kerzen. - Dieser elende Zustand erst gebiert die zäheste Hoffnung, eine begonnene Arbeit weiterbringen zu können; befreit die nicht zu brechenden Willenskräfte, ein Begonnenes dennoch fortzuführen. Und das lautet, in der knappen Form des Heikus zur Sprache gebracht:


Nacht. Ich kaue
den gefrorenen Pinsel
mit meinem letzten Zahn.
 



feedback