Der öffentliche Raum
in Zeiten der Schrumpfung

8. Jg., Heft 1 (September 2003)    

 

___Andrea Haase
Aachen/Dessau
  Verflechtungsräume

 

 

Individuelle und gemeinschaftliche Initiativen der Aneignung und Nutzung von Raum sollen gestärkt werden. Land soll dafür verfügbar gemacht werden,

-          Nutzungsvielfalt zu ermöglichen,

-          kleinteilige Erneuerung von Stadträumen zu stärken und

-          eine Rückbettung von globalen Funktionen in örtliche Bedingungen einzuleiten.

 

Das Thema “Der öffentliche Raum in Zeiten der Schrumpfung" ist eine großartige Herausforderung, die Phänomene und Verständnisse von Raum und Stadt für aktuelle Prozesse von Wandel grundsätzlich zu erörtern, Ressourcen der gesellschaftlichen Aneignung von Räumen zu identifizieren, die zu Grunde liegenden Synthesen von Gebrauchs- und Gestaltwerten zu lokalisieren und diese in ihrer Bedeutung für langfristige Perspektiven der Erneuerung von Stadträumen in den Blick zu nehmen. Gegenstand dieses Beitrages sind die Verflechtung öffentlicher und privater, gebauter und gelebter Räume im Zuge

-          der allmählichen Erschöpfung der Prinzipien der “funktionalen Stadt", d.h. der auslaufenden industriellen Prägung von Konzentration, Trennung, Spezialisierung und allmählichem Wegbrechen der großflächigen Mono-Funktionen,

-          eines Neubeginns spätindustrieller Erneuerung von Stadtraum an den Orten, die “reif" sind für Erneuerung und neue Arten der Verflechtung strukturell tragen.

 

Der Beitrag nimmt Stellung zu Fragen, die sinngemäß in den Beiträgen von Christine Hannemann (“Wie gehen wir um mit der De-Ökonomisierung und dem steigenden Flächenverbrauch?") und Frank Schwartze (“Was machen wir mit der Transformationsunfähigkeit vieler Städte?") gestellt werden. Er geht hinsichtlich der Möglichkeiten von Erneuerung aus von der Notwendigkeit, die westlichen Einflüsse auf den Bodenmarkt ostdeutscher Städte grundsätzlich zu akzeptieren, jedoch einzubinden in eine Nutzung der besonderen Potenziale ostdeutscher Städte: dem Bewusstsein vieler Menschen vom Wert gemeinschaftlicher Aktionen. Dieses Bewusstsein sei perspektivisch zum Bestandteil von Prozessen der Aneignung von Flächen gemacht; den Prozessen wird die Kraft zur Herstellung neuer Identitäten für einzelne Orte der Erneuerung unterstellt. Der Beitrag behandelt folgende Inhalte:

 

Was? Verständnis

Raum – Verflechtungsraum - Erneuerung

 

Warum? Historischer Längsschnitt

Verflechtung – Entflechtung - Verflechtung

 

Wo? Welcher Art? Gesamt- und teilräumliche Profile

 

Schlussfolgerungen: Perspektiven für Stadträume –

Verflechtungsräume in Zeiten der Schrumpfung

 



Abb. 1 Untersuchungsschwerpunkte

 


Abb. 2 Foundation D´art contemporaine. Trennung / Verbindung öffentlicher-privater Räume

 


Abb. 3 Beziehungsgefüge gebauter und gelebter Räume

 


Abb. 4 Modellskizze zur industriellen Entwicklung der Städte

Was? Verständnis

Raum – Verflechtungsraum - Erneuerung

 

Verständnisse

Raum wird mehrdisziplinär verstanden als “Verflechtungsraum" von “Kommunikationsbeziehungen sowie materiell-physischen Transferbeziehungen" (s. Krätke, 1995: 15). Er ist Struktur, Materie, gesellschaftliche Bedeutung und Verknüpfungsbeziehung zwischen Materie und Menschen. Er umfasst hierbei grundsätzlich die Komplementarität öffentlicher und privater Räume (s. Selle, Arendt).  Als materielle Basis für Verknüpfung in unterschiedlichen Dimensionen werden raumstrukturelle Voraussetzungen seiner großräumlichen Lesbarkeit und seiner kleinräumlichen Nutz- und Wandelbarkeit (s. Bentley e. a., 1985) angenommen. Diese Kriterien finden eine Entsprechung in den Raum-Syntax-Theorien, die das Verhältnis zwischen der Bewegung in Räumen und der Art der Integration von Flächennutzung und Bebauung in Systemen öffentlicher Räume behandeln (s. Hillier, 1996)

 

-         “Öffentliche Räume" sind Räume der Erschließung und des Aufenthaltes im Freien. Ihre ununterbrochene Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit charakterisiert sie als primäre, verbindende Elemente der sie umgebenden “privaten Räume". Diese bestimmen ihre Bedeutung für die Lesbarkeit der Stadtprofile als Wirtschaftsstandorte in der Region (s. Abb.1).

-         “Private Räume" sind Räume baulicher und sonstiger Nutzung auf den Grundstücksflächen. Bauliche und sonstige Nutzungen werden verstanden als primäre, raumbildende Elemente der sie erschließenden “öffentlichen Räume". Ihre Beschaffenheit auf den Grundstücken und ihre Orientierung hin zu öffentlichen Räumen bestimmt zu großen Teilen die Nutzbarkeit und Wandelbarkeit der Stadtteilräume als Lebensräume (s. Abb.1)

-         Öffentliche und private Räume sind nur mit Einschränkung definitorisch voneinander abzugrenzen. Ihre Übergänge sind fließend und abhängig von der Durchlässigkeit von Blick- und Wegebeziehungen. Die räumliche Gestalt der Übergänge - Trennung und/ oder Verbindung - bestimmt, welchen Charakter die Räume entweder für den Schutz von Privatheit oder für die Zugänglichkeit von Öffentlichkeit haben (s. Abb. 2: Prinzipien der Trennung/ Verbindung).

-         “Gebaute" und “gelebte" Räume sind komplementärer Ausdruck der materiellen Bedingungen von Raum einerseits und der gesellschaftlichen Erfahrung ihrer möglichen Aneignungen andererseits, z. B. durch Verflechtungen von Nutzung und Kommunikation im jeweiligen komplementären Gefüge “öffentlicher" und “privater" Räume zur Zeit am Ort (s. Abb. 3).

 

Verflechtungsraum - materielle/ immaterielle strukturelle Voraussetzung für gesellschaftliche (Re)Produktion

-          Raum ist Lebensraum für das individuelle und gemeinschaftliche Erleben von Alltag, d.h. Wohnen, Arbeiten, Zeit verbringen. Er hat Bedeutung über den materiellen Wert hinaus.

-          In dem Maße, wie die abstrakten globalen Systemwelten aufgrund des fortgeschrittenen Kapitalismus spätindustrieller Einflüsse als Ausgleichsmechanismen des “Sozialstaates" versagen, übernimmt Raum wesentliche Bedeutung für die Verortung (“Rückbettung") von global bestimmten Funktionen in örtliche Bedingungen (Giddens, 1996) (s. Abb. 4.).

-          Raum stellt die Voraussetzungen dafür bereit, dass Kommunikation, Dienstleistungen und Warenaustausch miteinander verflochten werden. Dies geschieht auf unterschiedlichen Dimensionen und dient auch der Unterstützung und dem Aufbau örtlicher Ökonomien.

-          Als Lebensraum trägt und erfüllt Raum Aufgaben der Daseinsvorsorge (die Wohnung, als ein im Grundgesetz verbrieftes Recht für das Existenzminimum, neben Bildung, Gesundheit und Eigentumsrechten, wird für zunehmend breitere Kreise der Bevölkerung Ausgangsort von Aktivitäten, die auch dem Gelderwerb dienen).

-          Als Lebensraum trägt er in besonderem Maße die Anforderungen von Zeit und Gesellschaft. Diese sind grundsätzlich von zunehmender Individualisierung bestimmt, haben jedoch in Ostdeutschland und anderen osteuropäisch sozialisierten Ländern gute Chancen, durch eine Rückbesinnung auf gemeinschaftliche Ziele und Werte einen grundsätzlich neuen Kurs zu nehmen.

 

Verflechtungsraum -

Produkt der “Produktion von Raum"

-          Raum ist Ergebnis der Konkurrenz um Standorte innerhalb und zwischen den Städten (Krätke, 1991)

-          Raum ist Ausdruck der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anforderungen an Raumnutzung (spatial practices, Lefebvre, 1991)

-          Raum ist Ausdruck unserer Vorstellungen von der räumlichen Organisation der Funktionen durch räumliche Konzepte (Vorstellungsräume = representations of spaces, Lefebvre, 1991)

-          Raum ist Ausdruck der im Rahmen der Wirtschaftlichkeit von Nutzungen und Konzepten unerfüllt gebliebenen Wünsche und Sehnsüchte seiner Nutzer und deren Ab-Bildungen im Raum (Darstellungsräume = representational spaces, Lefebvre, 1991)

-          Raum ist aus Gründen der Wirtschaftlichkeit von Nutzungen an Standorten zunehmend funktionsgetrennt gewesen in der “funktionalen Stadt". Raum beginnt derzeit wieder gemischt genutzter Raum zu werden, da dies im Rahmen des Auseinanderbrechens von großflächig konzentrierten Funktionen einerseits und dezentralen Inseln der Erneuerung von Stadt andererseits in neuer Weise wirtschaftlich interessant, technologisch möglich und gesellschaftlich notwendig wird.

-          Die Aktivität der Verflechtung an und zwischen Orten dient der Erneuerung von Raum im Sinne der Erfüllung zeitgemäßer Anforderungen der Wirtschaft.

-          Die Aktivität der Erneuerung dient der Herstellung von Identitäten im Sinne eines Vollzuges von Prozessen; diese eröffnen neue, umfassende Aufgaben der sozialräumlichen und wirtschaftlichen Steuerung.

 

 

Warum? Historischer Längsschnitt

Verflechtung – Entflechtung – Verflechtung

 

Die Faktoren Raumnutzung, Vorstellungs- und Darstellungsräume haben ein gesellschaftlich, wirtschaftlich und technologisch begründetes Verhältnis zueinander. Während die Vorstellungsräume die Konzeptionen zur Ordnung und Gestaltung von Raum umfassen, beziehen die Darstellungsräume all das ein, was weder durch räumliche Praktiken noch durch Konzeption strukturelle Voraussetzungen gefunden hat, was aber mittels Erfahrung von Symbolen gelebt wird. Mit dieser Unterscheidung gibt die Theorie von Lefebvre die Möglichkeit, “gebaute Räume" historisch in ihrem Verhältnis zu “gelebten Räumen" zu fassen, bzw. Synthesen festzustellen. Die Komplementarität öffentlicher und privater Räume bildet den Rahmen hierfür.

 

Die nachfolgende Auswertung eines Längsschnittes durch die Geschichte der Verflechtung gebauter und gelebter Räume wendet die Theorie von Lefebvre zur “Produktion von Raum" in freier Interpretation an, indem Raumnutzung, Vorstellungs- und Darstellungsräume für die unterschiedenen Perioden in ihrer Verbindung oder Trennung skizziert werden.

 

Wesentliche Paradigmenwechsel werden festgestellt für den Sprung vom Mittelalter zur Zeit des Dritten Reiches und von dort bis zur Gegenwart: Die örtlich besonderen Bedingungen örtlicher Gemeinschaften im Mittelalter, bestimmt durch Grundbesitz, grundbesitzgebundene Herrschaft und gesellschaftliche Regeln der Produktion bestimmten Synthesen von Raumnutzung, Vorstellungs- und Darstellungsräumen mit sozialräumlicher Differenzierung. Öffentlicher Raum war vielfältig genutzter sozialer Raum und erschloss die umgebenden privaten Räume in ihrer Vielfalt bis in die einzelnen Höfe der Produktionsgemeinschaften hinein. Die Aneignung von Raum war in diesem Rahmen bestimmt durch die Verortung von Nutzungen und durch die Herrschaft dieser Bedingungen im Rahmen der örtlichen Gemeinschaft (“governance", s. Beck, 2002). Die nachfolgenden Perioden der Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat haben diese Synthesen durch die räumliche Trennung der Funktionen einerseits zunehmend auseinander gerissen, andererseits versuchsweise durch staatliche Maßnahmen ausgeglichen. Erst die Diktatur des Dritten Reiches trennte die Raumnutzung im Rahmen staatlicher Konzepte (Vorstellungsräume) konsequent nach Funktionen (Wohnen, Industrie, Verwaltung/ Politik) und überschrieb diese Funktionsbereiche mit unterschiedlichen Bildern für Darstellungsräume (“Heimat", “Waffenschmiede", “Regierungspaläste"). Die individuelle oder gemeinschaftliche Aneignung von Raum war diesen Bedingungen der Regierung unterstellt (“government", s. Beck, 2002). Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg hob die Dominanz der Funktionstrennung über die Raumnutzung nicht grundsätzlich auf, sondern unterstellte sie nur, bis in die Zeit vor der Wende, den jeweils unterschiedlichen Staatssystemen und ihren Verwertungsbedingungen. 10 Jahre nach der Wende sind die Organisationsstrukturen der DDR (und auch wesentliche Sicherheiten westdeutscher Wirtschaft und Gesellschaft) so weit zusammengebrochen, dass die Frage nach dem Sinn der Raumnutzung für Wirtschaft und Gesellschaft neu gestellt werden muss.

 

Perspektiven für die Erneuerung von Raum werden als mögliche neue Synthesen von Raumnutzung, Vorstellungs- und Darstellungsräumen mit der Möglichkeit weitgehender Selbstbestimmung im Rahmen örtlicher Gegebenheiten (“governance") gesehen. Solche Synthesen werden zum grundsätzlichen Maßstab der Kritik an der historischen Entwicklung der industriellen, funktionalen Stadt erklärt. Die nachfolgende Betrachtung der räumlichen Veränderungen ergänzt die vorausgehend dargestellten wesentlichen Paradigmenwechsel der Geschichte mit Blick auf die Vermächtnisse der Geschichte für Synthesen von Raumnutzung, Vorstellungs- und Darstellungsräumen:

 

Mittelalter: Die gesellschaftlichen Bedeutungszuweisungen für gebaute und gelebte Räume sind durch die örtlichen Gemeinschaften, deren Kommunikation und Grundbesitzverhältnisse bestimmt und finden Ausdruck in engen Verflechtungen auf der Parzelle und in den Teil- sowie Gesamträumen von Stadt (Raumnutzung). Die Verflechtungen der Raumnutzung prägen, im Rahmen von gesamträumlichen Stadt-Land-Gegensätzen, Synthesen von stadträumlichen Hierarchien einerseits und sozialräumlicher Differenzierung innerhalb von Nutzungs- und Bebauungszusammenhängen andererseits. Öffentlicher Raum erstreckt sich bis auf die Parzellen und ist verbindender sozialer Raum.

Es entstehen strukturelle Merkmale, die bis heute offen sind für neue Synthesen von gebauten und gelebten Räumen hinsichtlich Raumnutzung und Darstellungsräumen im Verhältnis zu alten räumlichen Hierarchien und neuen Ergänzungen. Von Bedeutung für die Verflechtung sind eindeutige Trennungen/ Verbindungen, d.h. Neubestimmungen von Raumnutzung, Vor- und Darstellungsräumen in den kleinräumlichen Zusammenhängen der Stadtgrundrisse.

 

Klassizismus, Gründerzeit: Die Erweiterung der Städte durch industrielle Produktion und Wohnen (Raumnutzung) bestimmt gesamt- und teilräumlich neue Hierarchiegefüge von öffentlichen und privaten Räumen. Schornstein, Fabriktor und Fabrikantenvilla sowie Arbeitersiedlung erhalten, als gebaute Räume, Bedeutung für gesamt- und teilräumliche Differenzierungen der gelebten Räume in den entstehenden Agglomerationen. Die Wirtschaftlichkeit von Erschließung und Parzellierung für Gründer, Banken und Terraingesellschaften bestimmt die Synthesen von Raumnutzung und Vorstellungsraum als Einheiten der Bodenaufteilung. Die Gliederung von Darstellungsräumen in den Stadtteilen schafft Spielraum für sozialräumliche Differenzierung in mehr oder weniger großzügig bemessenen privaten Räumen von Bebauung und Begrünung. Öffentlicher Raum ist Erschließungs- und Repräsentationsraum mit Profilierung durch Begrünung im Verhältnis zur Lage. Erste Trennungen von Fahr- und Fußverkehren werden räumlich integriert angelegt.

Die Synthesen von Raumnutzung und Vorstellungsräumen mit räumlicher Differenzierung von Darstellungsräumen bestehen bis heute strukturell fort. Einschränkungen bzw. Potenziale für die Erneuerung liegen, wo die massenhafte Bereitstellung von Raumnutzung ursprünglich einen Mangel an Investition in die Dauerhaftigkeit der Vor- und Darstellungsräume begründet hat und heutiges Brachfallen von Flächen neue Zuordnungen von Freiräumen auf privaten und öffentlichen Flächen und damit neue Synthesen von Raumnutzung, Vor- und Darstellungsräumen – auch im Sinne eines Wandels der ursprünglich angelegten teilräumlichen Hierarchien ermöglicht. Von Bedeutung für die Verflechtung sind eindeutige Trennungen/ Verbindungen von teilräumlichen Zusammenhängen der Raumnutzung, welche die alten Vorstellungsräume der Aufteilung von Blöcken neu ordnen und durch die veränderte Zuordnung von Freiräumen neue Vor- und  Darstellungsräume ermöglichen.

 

1920er Jahre: Siedlungsanlagen im Sinne von Randerweiterungen entsprechen sich in der zunehmenden Bedeutung der Freiräume in privaten und öffentlichen Räumen. Der Sozialstaat unterstellt Raumnutzung und Vorstellungsräume der beginnenden Funktionstrennung, schafft jedoch Ausgleich durch verbindende Begrünung. Die Vorstellungsräume integrieren die Raumnutzung in groß- und kleinräumliche Anlagen von Freiräumen. Die räumlich integrierten Trennungen öffentlicher Räume für Fahr- und Fußverkehr werden noch verstärkt. Die Trennung/ Verbindung öffentlicher und privater Räume wird im Sinne der kleinteiligen Verflechtung gebauter und gelebter Räume fortgeführt. Übergänge zur Landschaft werden gestaltet, öffentliche Räume prägen eindeutige Ränder. Darstellungsräume werden zunehmend bestimmt durch sozialräumliche Differenzierung: Arbeiterwohnen in Kolonien und in Höfen, wie in Wien; Wohnen der Bürger in Stadtvillen und in Villen entlang der Ausfallstraßen, etc. Erste Ansätze zur Aufteilung von Nutzungen und Schichten entstehen im Verhältnis zum Lagewert von Vierteln. Dieser ist bemessen an integrierten Freiräumen, an der Nähe zu Landschaft, Parkanlagen und Grün im öffentlichen Raum. Die stadt-umgebende Landschaft ist über Straßenbahnen gut erschlossen; Ausflugsziele im Umland sind Treffpunkte einer aufblühenden industriellen Gesellschaft mit Trennung von Arbeits- und Freizeit. Die Natur wird - nach Ausdehnung der industriellen Stadt - gesellschaftlicher Gegenstand der Erfahrung von Stadtraum. Dies betrifft in Form entstehender Darstellungsräume die Sehnsüchte von Städtern sowie Maßnahmen der Daseinsvorsorge von Politikern.

Die Übereinstimmung von Raumnutzung und Vorstellungsräumen - z.B. sorgfältig gestaltete Zier- und Nutzgärten sowie öffentliche Räume und Straßen, die noch für Fahrzeuge und Fußgänger gleichwertig angelegt waren - besteht bis heute fort, sofern in eine kontinuierliche Erneuerung dieser Vermächtnisse investiert worden ist. Darstellungsräume dieser Zeit sind bis heute im Verhältnis zu ihren Nutzergruppen zu unterscheiden.

 

1930 - 1940er Jahre: Die Diktatur des dritten Reichs trennt Raumnutzung und Darstellungsräume im Rahmen der Vorstellungsräume. Die Vorstellungsräume dienen vor allem der Festigung des nationalsozialistischen Staates in seiner Vorbereitung auf die Kriegsführung. Sie manifestieren die Herrschaftsstrukturen und binden den einzelnen an Haus und Garten ("Scholle"). Die gesellschaftlich offenen Übergänge zwischen öffentlichen und privaten Räumen der 1920er Jahre werden zunehmend eingeschränkt durch eine räumliche, funktionale und politische Trennung von privaten Räumen ("Heimat", Vereine), von "volksöffentlichen" gewerblich genutzten Räumen (Produktion von Gütern für das deutsche Volk, z.B. Waffenschmiede, Rüstungszentrum) und von elitären Zentralen der politischen Macht. Die Darstellungsräume der 1920er Jahre werden somit eingebunden in die nationalsozialistischen Ideale der "völkischen" Gemeinsamkeit und Öffentlichkeit. Individuelle Raumnutzung erfährt massive Einschränkungen in der Daseinsentfaltung durch politische Kontrolle. Hier wird die Voraussetzung geschaffen für die nachfolgende gesellschaftliche Akzeptanz der verstärkten Trennung öffentlicher und privater sowie gebauter und gelebter Räume in den Wohnungen des Großsiedlungsbaus. Diese Bedingungen leiten auch die Funktionalisierung und räumliche Trennung von Fahr- und Fußverkehr ein und bereiten die globale Verflechtung der “funktionalen Stadt" vor. Örtliche Dimensionen von Verflechtung werden nur dort strukturell gestützt, wo tiefe Gärten eine Synthese von gebauten und gelebten Räumen angelegt haben. 

 

1950er Jahre: Die Regierungen der beiden deutschen Staaten stellen die Raumnutzung wieder her. Die Vorstellungsräume hierfür sind - zunächst ohne größere Veränderungen - bestimmt durch die Wiederherstellung von Bausubstanz unter Einbeziehung “moderner" Funktionsansprüche an die Stadtgrundrisse sowie unter Fortführung von Freiraumgestaltung in gemeinschaftlicher Nutzung. Straßenverbreiterung, Neuordnungspläne der Kommunen und Zurücknahme von Fluchten sind die innerstädtischen Maßstäbe für Raumnutzung und Vorstellungsräume. Darstellungsräume sind vor allem öffentliche Gebäude und Einfamilienhäuser in Westdeutschland und die Zentren des Wiederaufbaus in Ostdeutschland. Die Modernisierung der Städte/ West verstärkt die Funktionstrennung großräumlich und öffnet die Landschaft für die Wochenenderholung. Die Vorstellungsräume der "autogerechten Stadt" trennen gebaute und gelebte Räume, mit zeitlicher Verzögerung auch in Ostdeutschland, massiv und verstärken bestehende Tendenzen der Funktionalisierung von Räumen. Der Durchsetzung dieses Leitbildes liegt wirtschaftlich die beginnende überregionale Entflechtung des räumlichen Nebeneinanders von Wohnen und Arbeiten, Fabrik und Wohnsiedlung, zugrunde. Der städtebauliche Wettbewerb Duisburg-Rheinhausen ist z. B. Ausdruck des Vorstellungsraumes, Wohnen an einer mehrspurigen Straße anzusiedeln und für neue Pendelbeziehungen zu erschließen und zugleich die “funktionale Enge" der gründerzeitlich angelegten räumlichen Hierarchien von Wege- und Blickbeziehungen zu Fabriktor und Schornstein aufzuheben. Die Schornsteine bestehen fort, die Blickbeziehungen zu ihnen auch, und das Auto dient zunehmend dem Darstellungsraum “der grauen Arbeitswelt entkommen durch Sonntagsfahrten der Familie ins Grüne". Raumnutzung und Darstellungsräume werden durch neue Vorstellungsräume hinsichtlich der Verflechtung von Landschaft und Stadt in ihren Grundzügen verändert. Nicht mehr die aktive Bewegung durch die Natur und die Begegnung mit anderen dabei, sondern das Durchfahren der Natur bestimmt Raumnutzung und Darstellungsräume im Ausgleich zu der Enge schichtenspezifischer Wohnsituationen; dabei sind Stadt und Land aber zunächst noch eindeutig erfahrbar als Zusammenhang von "Innen" und "Außen".

Bei großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung ist dieser Darstellungsraum in Verbindung mit der anhaltenden Tendenz zur Individualisierung heute noch ungebrochen in seiner Nachkriegs-Bedeutung. Er stößt in Ostdeutschland auf vergleichsweise geringe Siedlungsdichte und geringe Ausbaustandards der Straßen und auf ein relativ hohes Maß noch vorhandener Ländlichkeit im Umland der Städte - vergleichbar der Situation der 1950er Jahre in Westdeutschland. Die noch erhaltenen Dörfer bergen ein hohes Potenzial für Synthesen von Raumnutzung, Vorstellung und Darstellung.

 

1960er-1970er Jahre: Die beginnende industrielle Krise in Westdeutschland stellt letzte Synthesen von Raumnutzung und Darstellungsräumen in Form von verdichtetem Wohnungsbau her. Insbesondere in ostdeutschen Städten hat die Vorkriegs-Tradition der "gebauten und gelebten Räume" um 1960 einen heftigen Bruch infolge der Trennung von Funktionen erfahren. Die Vorstellungsräume der Nachkriegszeit haben zu einer Angleichung von Siedlungsräumen und Landschaft geführt und Darstellungsräume auf das "Durchfahren" und auf das Wohnen in den Siedlungen der "Urbanität durch Dichte" reduziert. Die Raumnutzung wird, den internationalen wirtschaftlichen Anforderungen entsprechend, auf unterschiedlichen Maßstabsebenen aufgeteilt in ein "Innen" und  ein "Außen". Die Vorstellungsräume nutzen einerseits die Prinzipien der Wirtschaftlichkeit des massenhaften Wohnungsbaus, andererseits die ausgleichende Idee des "Wohnens im Grünen" am Stadtrand. In West- und Ostdeutschland sind diese Vorstellungsräume zugleich gesellschaftlich definierte Darstellungsräume; in Westdeutschland bestimmen sie vor allem die Entstehung von Randsiedlungen, in Ostdeutschland werden sie verstärkt auch auf die Innenstädte projiziert. Ihre soziale Bedeutung für den individuellen und gesellschaftlichen "Fortschritt" wird bestimmt durch die Vergabe- und Belegungskriterien für diese Wohnungen. Es gilt, die Ehre zu verdienen, in solchen "Neubauvierteln" wohnen zu dürfen. Raumnutzung und Darstellungsräume belohnen für staatstreues Verhalten und bestätigen die Vorstellungsräume. Mit der Raumnutzung verbunden ist der materielle Vorteil abgeschlossener Wohneinheiten und sanitärer Einrichtungen sowie Heizung: ein erster Schritt in Richtung "klein-familialer Privatheit". In Westdeutschland bestimmt eher die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht darüber, ob das "Wohnen im Grünen" im Einfamilienhaus oder im mehrgeschossigen Mietwohnungsbau erfolgt. Der Vorstellungsraum "soziale Mischung" führt dort in vielen Fällen zu Großwohnsiedlungen mit einem Rand von (privilegierten) Einfamilienhäusern.  Diese Mischung differenziert die Darstellungsräume nach Einkommen. Das Image der mehrgeschossigen Mietwohnungsbauten sank - auch in Ostdeutschland  - bis heute in dem Maße, wie Bedürfnisse nach Verbindungen zwischen Bebauung und Freiräumen aufkamen und individuelle Lebensraumgestaltung gesellschaftlich gewünscht wurde. Dementsprechend sank die Bedeutung der Großwohnsiedlungen als Darstellungsräume insgesamt. Übrig blieben dort individuell wahrgenommene Nischen der Darstellung innerhalb der Wohneinheiten, auf Balkonen und in Vorgärten sowie in den zeitgleich angelegten, großflächig benachbarten Kleingartensiedlungen. Diese stellen bis heute ein umfassendes Potenzial zeitlos erfahrbarer und erneuerbarer "gelebter Räume" dar.

 

1980er - 1990er Jahre: Die auslaufende industrielle Krise schafft in Westdeutschland Aufmerksamkeit für räumliche Qualitäten an einzelnen Standorten. Vorstellungsräume schaffen Raumnutzung in Verbindung mit Darstellungsräumen. In Ostdeutschland werden - mit 10-jähriger Verzögerung im Verhältnis zu Westdeutschland - Altstadtviertel vor dem Abriss gerettet; eine Besinnung auf Synthesen von Gebrauchs- und Gestaltwerten beginnt auch hier. Der Bruch zwischen gebauten und gelebten Räumen aus der Zeit um 1960 wird in Ostdeutschland durch die Suburbanisierungen der Nachwendezeit und einsetzende massive räumliche Trennungen von Lebens- und Arbeitsräumen zunächst verstärkt. Erst dieses Auseinanderbrechen von Zusammenhängen gesellschaftlicher, familiärer und wirtschaftlicher Art macht Verflechtungen in neuer Weise, auch und vor allem im unmittelbaren Lebensumfeld, notwendig. Sie werden als Gegenstand der Daseinsvorsorge wieder aktuell und damit beispielhaft auch für Westdeutschland. Die Vorstellungsräume in Ostdeutschland lösen sich von Darstellungsräumen der Individualisierung und erhalten allmählich eigenständige neue Perspektiven, die initiiert werden durch Pilotprojekte der Professionen Architektur, Städtebau und Landschaftsarchitektur, getragen durch öffentliche Subventionen oder Stiftungen. Gebaute und gelebte Räume sind in alten und neuen Bundesländern in ihren spezifischen Prägungen verstärkt vom Einkommen und von der sozialen Situation der Nutzer abhängig. Die Rückkehr in die Städte oder aber die Randwanderung ins Einfamilienhaus stehen in Ost- und Westdeutschland in klassischer Nachkriegstradition westlicher Prägung noch nebeneinander. Die Vorstellungs- und Darstellungsräume entsprechen zunehmend den alters- und schichtenspezifischen Anforderungen an die Raumnutzung.

Vorstellungsräume sind auch in Ostdeutschland wieder Bestandteil kreativer Verbindungen von örtlich besonderer Besiedelung und Landschaftsgestaltung in Verbindung mit der Besinnung auf die Tradition gemeinschaftlich genutzter Freiräume. Darstellungsräume gehen wieder mögliche Verbindungen ein mit örtlichen, stadtökonomischen Strategien zur Aufwertung einer Stadt als Wirtschaftsstandort. Öffentliche Räume werden in ihren Hierarchien differenziert. Einzelne Architekturen setzen Zeichen und lassen Orte neu erfahrbar werden. Diese sind im Gefüge globaler Vernetzungen der Informationstechnologie in größeren Dimensionen miteinander verbunden als in den vorausgehenden Perioden. Als Standortfaktor für Lebens- und Wirtschaftsräume hat die "Einmaligkeit" der Situation als natürlicher und als gestaltbarer Raum Vorrang vor allen funktionalen Standortfaktoren und bestimmt international Vorstellungs- und Darstellungsräume. In Ostdeutschland hat dieser Standortfaktor bisher wenig faktische Bedeutung, z. B. für die Umnutzung von Hafengebieten, da die notwendigen umfangreichen Investitionen in Vermächtnisse der Industriegeschichte zur Aufbereitung solcher Situationen derzeit nur zu Lasten der Subventionierung der Wohnungswirtschaft möglich wären.

 

Strukturelle Voraussetzungen für Synthesen von Raumnutzung, Vorstellungs- und Darstellungsräumen werden als Voraussetzung gesehen für Verflechtungsmöglichkeiten zwischen gebauten und gelebten Räumen. Sie werden mit Bezug zu dem historischen Längsschnitt grundsätzlich für folgende Kategorien der Erneuerung unterschieden:

-          Die Räume, die bereits Geschichte tragen und historische Identitäten im Laufe der Zeit als "gefangene Standortvorteile" (s. Messerli, 2001) tradiert haben (vorindustrielle und industrielle Kerne), werden als Räume "fortgesetzter Erneuerung" betrachtet.

-          Diejenigen Räume, die für eine vollzogene oder bevorstehende Erneuerung besondere Tauglichkeit zeigen (Siedlungen aus der Zeit seit 1910), werden als Räume "fortsetzbarer Erneuerung" gesehen.

-          Diejenigen Räume, die für eine Erneuerung noch zu entdecken sind, werden als "Potentiale der Erneuerung" klassifiziert.


Abb. 5 Typologien privater Räume (Grundtypen)


Abb. 6 Gebaute und gelebte Räume


Abb. 6 a-c Gebaute und gelebte Räume - heute


Abb. 7 Verflechtungsräume




Abb. 7 a-c Verflechtungsräume bis zum Jahr 2050


Abb. 8 a-c Vorindustriell angelegter Kern Alten / Dessau


Abb. 9 a-c Industriell begründete Siedlung Törten / Dessau


Abb. 10 a-b Implantate in Alt-Olvenstedt / Magdeburg

Wo? Welcher Art?

Verflechtungsräume im Gefüge gebauter und gelebter Räume

 

Im Rahmen des Forschungsprojektes "Gegenwart und Zukunft der Stadtentwicklung in Sachsen-Anhalt: Magdeburg, Halle, Dessau - Perspektiven und strukturelle Rahmenbedingungen zukünftiger Entwicklung" wurden die Gefüge gebauter und gelebter Räume untersucht. Zentraler Gegenstand waren die örtlichen Besonderheiten der Stadträume vor dem Hintergrund des Langzeit-Paradigmenwechsels der "funktionalen Stadt" hin zur dezentralen Erneuerung von einzelnen Orten neuer Nutzungsmischungen. Gesucht waren Empfehlungen für Synthesen groß- und kleinräumlicher Qualifizierung an Orten, die für den Wandel "reif" sind, d. h. die transformationsfähig sind, um strukturell der De-Ökonomisierung und auch dem Flächenverbrauch entgegen zu wirken. Das Thema Verflechtungsräume erhielt in diesem Rahmen zunehmende Bedeutung für die Identifizierung von transformationsfähigen Bereichen, die für die Raumgefüge der Städte nachhaltig hochwertige, kleinteilig erneuerbare Lebensräume mit strukturellen Potentialen für die Daseinsvorsorge bieten und "gebaute" mit "gelebten" Räumen verknüpfen.

 

Der Suche nach diesen Orten der Transformationsfähigkeit, oder auch Verflechtungsräumen, wurde ausgerichtet auf Orte mit höchsten Werten für das Zusammentreffen von Lesbarkeit, Nutzbarkeit und Wandelbarkeit in Zusammenhängen von Nutzung und Bebauung der privaten Räume. Die Erfassung dieser Werte hatte ostdeutsche Besonderheiten der Entwicklung (z. B. Vorbereiche – in Plattenbausiedlungen und Kleingartensiedlungen) im Vorfeld der Untersuchung als wesentliche Merkmale einbezogen, um nicht ortsuntypische Wertegefüge zu erhalten.

 

Lesbarkeit wurde erfasst nach

-          der Maß­stäblichkeit der Bebauung (Höhe und Ausdehnung)

-          der Fassung des öffentlichen  Raumes

-          Orientierung der Bebauung zur Haupterschließung.

 
Nutzbarkeit wurde erfasst nach

-          der Art von Trennung/Verbindung zwischen öffentlichem und privatem Raum

-          der privaten Erschließbarkeit der Flächen

-          der Durchlässigkeit der Bebauung

-          dem Schutz der privaten Nutzung

-          der räumlichen Gliederung der rückwärtigen Flächen durch Anbauten und Begrenzungen

-          der Zuordnung von Vorbereichen.

 
Wandelbarkeit wurde erfasst nach

-          den Anbau-, Rückbau- und baulichen Ergänzungsmöglichkeiten

-          den Möglichkeiten der Neuteilung des Grundstücks

-          der Veränderbarkeit der Zugänglichkeit des Grundstücks

-          der Verbindung von Bebauung und Freiraum.

Die gesuchten Werte wurden zunächst kartographisch einzeln pro Stadt auf der Grundlage der typologischen Erfassung bebauter Räume (s. Abb. 5) ermittelt, dann digital dargestellt und in digitaler Fassung überlagert. Diese Identifizierung und Lokalisierung einer "Topographie der Werte" in privaten Räumen (im Gegensatz zu den "Löchern" der Perforierung von Stadtraum durch Leerstand und Nutzungsaufgabe) war eingebunden in andere großräumliche Untersuchungen

-          zur Inanspruchnahme von Raum durch Kerne und Ränder

-          zur Funktionsverteilung (3 Zeitschnitte, Szenarien)

-          zu öffentlichen Räumen (Raumgefüge, Hierarchien, Brüche)

-          zu unbebauten Räumen (Bestand, Potenziale, Szenarien)

-          zu gebauten und gelebten Räumen (Zusammentreffen zentraler öffentlicher Räume und der "Topographie der Werte" in privaten Räumen) (s. Abb. 6 a-c)

-          zu Verflechtungsräumen im Verhältnis zur Typologie der privaten Räume (s. Abb.7 a-c).

 

Großräumlich zeigte sich, dass die gesellschaftliche Bedeutung zentraler öffentlicher Räume (wie z. B. "zentrale Plätze") die Verflechtungsintensität von umgebenden "gebauten" Räumen großräumlich durchaus unterstützen kann, ohne dass die unmittelbar umgebende Bebauung selbst hohe Werte von Lesbarkeit, Nutzbarkeit und Wandelbarkeit aufzeigen muss. Im Sinne der dezentralen Entfaltung einer Heterarchie öffentlicher Räume an Orten des Wandels, ist allerdings eine auch örtliche Verflechtung von Kommunikation und Diensten zusätzlich erforderlich.

Die kleinräumlichen Untersuchungen dienten der Erfassung der örtlich besonderen Strukturmerkmale und ihrer Vermächtnisse für die Erneuerung der Raumgefüge der Städte. Sie erfolgten in allen drei Städten so, dass die Kriterien für Erneuerung (fortgesetzt, fortsetzbar, unentdeckte Potentiale) umfassend berücksichtigt wurden und betrafen: den Altstadtkern, einen vorindustriell geprägten Kern, einen industriell geprägten Kern an einer Ausfallstraße, eine Siedlung aus der Zeit bis 1930. Für alle Teilräume ergaben sich Erfordernisse und Möglichkeiten zusätzlicher örtlicher Verflechtung, meist im Sinne der Hervorhebung oder Anbindung von markanten Orten (z. B. Kerne, Kreuzungen) oder im Sinne der Überbrückung von Verkehrsbarrieren, z. B. zugunsten der Öffnung der Städte zu ihren Flussufern.

 Zur Illustration kleinräumlicher Verflechtungsräume wird der vorindustriell angelegte Kern Alten in Dessau mit seinen frühen Erweiterungen auf tiefen Parzellen in seiner Bedeutung für eine vielfältige Integration von unterschiedlichen Nutzungen auf den tiefen Parzellen (Schreinerei neben Garten!) vorgestellt (s. Abb. 8 a-c). Für später angelegte Siedlungen, z.B. Törten in Dessau gelten ähnliche Werte, wenngleich auch diese relevant sind für die aktuelle Integration anderer, insgesamt weniger auf Produktion oder Handwerk als vielmehr Bürotätigkeit ausgerichteter Arbeitsnutzungen (s. Abb. 9 a-c). Ein großes Fragezeichen bilden die ehemaligen Dorfkerne, die derzeit für neue Nutzungen durch Einfamilienhausbebauung umfassende Erneuerung finden, aber in ihrer Bedeutung für die Aufnahme von Arbeitsnutzungen und in diesem Sinne hinsichtlich der Trennung/ Verbindung öffentlicher und privater Räume noch zu wenig Unterstützung in der Steuerung von Qualifizierung finden (s. Abb. 10.a-b). Sie stehen in Kontrast zu den Dorfkernen, in deren Mitte oder an deren Rändern die Grundstücke groß genug sind und die Anordnung der Bebauung dafür geeignet ist, vielfältige Arbeitsnutzungen zu integrieren – ohne neue Strukturbrüche hervorzurufen, wie dies z. B. in den Verflechtungsgemeinden Halle/Peißen und Magdeburg/Barleben der Fall ist.

 

Die Untersuchungsergebnisse können im Einzelnen den Veröffentlichungen zur Forschung (s. a. www.stadtentwicklung-sachsen-anhalt.de) entnommen werden. Hier seien vor allem die Hypothese und die zentralen Befunde der Untersuchung dargestellt:

Die Untersuchung ging ursprünglich davon aus, dass die vorindustriell und industriell angelegten Kerne vorrangige Bedeutung als Verflechtungsräume haben.

Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen jedoch für alle drei Städte, dass vor allem die Ränder dieser Kerne mit Siedlungen der ersten Erweiterung aus der Zeit bis 1930 sowie Kleingartensiedlungen – von ihrer Gründung her also erste suburbane Räume – höchste Wertigkeiten für das gleichwertige Zusammentreffen von Lesbarkeit, Nutzbarkeit und Wandelbarkeit zeigen und in diesem Sinne auch höchste Potenziale der Transformationsfähigkeit für aktuelle Anforderungen an Wandel umfassen (s. Abb. 6 und 7).

 

Dieses Ergebnis ist in folgender Hinsicht interessant: Es gilt infolge dessen,

-          die mittlerweile etablierte "Urbanität" der frühen suburbanen Räume zu akzeptieren,

-          das unmittelbare Umfeld der dezentralen Kerne im Zusammenhang mit den Kernen als Orte der Erneuerung von Stadt in den Blick zu nehmen und in ihrer Qualifizierung zu unterstützen,

-          innerhalb der Kerne nach Qualitäten zu suchen, die denen ihrer Ränder in der Zuordnung von Freiräumen zu Bebauung entsprechen.

Die Empfehlungen für Synthesen groß- und kleinräumlichen Wandels schlagen eine kleinteiligere Unterstützung der Mischung von Nutzungen vor und zielen darauf, diese Mischungen an dafür geeigneten Orten im Netz der Gefüge öffentlicher Räume (z. B. siedlungszentrale Plätze, Kreuzungen an Ausfallstraßen ...) verstärkt zu etablieren. Diese Perspektive würde ein dezentrales, heterarchisch orientiertes Verständnis von Raumkategorien im Prinzip der zentralörtlichen Gliederung von Räumen durch die Raumordnung und ihre Förderungsinstrumente erfordern, und – in diesem Sinne – Innovationssupportstrategien zur Veränderung der Impulsgebung für die Erneuerung von Stadtraum an einer neuen Heterarchie von öffentlichen/ privaten Räumen (auch und gerade innerhalb der Städte) ausrichten. Bisher bekannte und tradierte Hierarchien öffentlicher Räume (s. Abb. 11), die vor allem auf sozialen Bedeutungen oder, seit den 1920er Jahren, funktionalen Konzentrationen beruhen, wären damit einer Transformation ausgesetzt. Diese Veränderung von Hierarchien käme einer kleinteiligeren Verortung von Verflechtung zugute.

 



Abb. 11 Tradierte Hierarchien öffentlicher Räume

Für das Thema “Öffentliche Räume in Zeiten der Schrumpfung" bedeutet dieses Ergebnis, dass bei der Qualifizierung von Stadträumen durch Prozesse der Erneuerung vor allem darauf zu achten ist, dass Arbeitsnutzungen in geeigneter Weise dezentral und kleinteilig in bestehende Strukturen aufgenommen werden und erneuerte teilräumliche Zusammenhänge als solche lesbar, d. h. strukturell und mittels Symbolen räumlich erfahrbar sind. Welche Strukturen für welche Nutzungen und welche Nutzer in strukturell und örtlich besonderer Weise geeignet wären, bedarf genauerer Untersuchungen mit Zusammenführung von Bedingungen der Räume und Anforderungen an Räume durch Nutzergruppen. Für solche Untersuchungen sind Milieustudien von wesentlicher Bedeutung (s. Kremer, 2003).

 

 

Schlussfolgerungen: Perspektiven für Stadträume -

Verflechtungsräume in Zeiten der Schrumpfung

 

-          Globale Einflüsse fordern lokale Verflechtungen. Lokale Verflechtungen beziehen globale Verflechtung ein und erfordern regionale Verflechtung, z.B. über mobile Dienste.

-          Lokale Verflechtungen erfordern ein neues Denken, das die Muster der Trennung und Konzentration von Funktionen überwindet und damit der Fragmentierung von Stadträumen gerecht wird.

-          Lokale Verflechtung umfasst Nutzungsvielfalt und Austausch von Kommunikation und Dienstleistung innerhalb der Bandbreite vom Versorgungsangebot für den täglichen Bedarf bis hin zu pionierhaften Anlagen lokaler Ökonomien.

-          Individuen und Gemeinschaften können Synthesen der kleinteiligen Erneuerung von Stadt bilden durch Verflechtung von Raum mit aktiver Stellungnahme zu Raumnutzung, Konzeption und Erfahrung des Raumes. Die Erfahrung des Raumes ist in der Regel gebunden an Symbole der Lesbarkeit von Zusammenhängen (zu Zeiten der Industrialisierung: Schornstein, Fabriktor ...)

-          Verflechtungen entstehen entweder kleinteilig in Nischen (Anreicherung von Flächen) oder großräumlich an dafür geeigneten Orten (Schnittstellen zwischen groß- und kleinräumlichen Verbindungen im Raumgefüge, z. B. Kreuzungen, Siedlungseingänge, Plätze an Kirchen).

-          Verflechtungsräume können bestehende räumliche Hierarchien unterstützen und differenzierend ergänzen.

-          Erneuerung sucht Orientierung an einer "Topographie der Werte" (Lesbarkeit, vielfältige Nutzbarkeit im Verhältnis von Bebauung zu Freiräumen, Wandelbarkeit auf der Parzelle). Standorte treten dann miteinander in überörtliche Kommunikation, wenn die Verflechtung am Ort den Ort dafür stark genug gemacht hat.

-          Erneuerung zugunsten von Verflechtung braucht Ressourcen der Aneignung von Raum in Form von geeigneten Lagebedingungen, Verfügbarkeit von Land zu niedrigen Preisen und Finanzierung der Aneignungs- und Erneuerungsprozesse (Innovationssupport).

-          Die Steuerung von Erneuerung sollte zugunsten der Daseinsvorsorge nur Rahmen setzende Nutzungsbeschränkungen oder Gestaltungsvorgaben machen. Die Erneuerungsprozesse sollten selbst Motor und Inhalt der Verflechtung und Identitätsbildung werden.

-          Neue Förderungsbedingungen der Aneignung von Raum können ihren Gegenstand finden in einer Raumordnungskategorie "Verflechtungsraum Grundversorgung". Diese Kategorie wäre auch innerhalb von Städten relevant und noch weit unter den "Grundzentren" im Rahmen der zentralörtlichen Gliederung von Siedlungsschwerpunkten einzuordnen. Sie beträfe perspektivisch verbleibende Fragmente und neue Orte der Besiedelung.

-          Die unbebauten Räume werden zunehmen und werden eine erhebliche Bedeutung erfüllen müssen für die historische Dimension in der Erfahrbarkeit vom Wandel der Kulturlandschaft. Punktuelle, lineare und flächenhafte Maßnahmen der Gestaltung werden hierbei der Herausarbeitung und auch der Verbindung von Verflechtungsräumen dienen müssen.

 

 

Literatur

Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben (Leck: Clausen & Bosse, 1996).

 

Ulrich Beck, Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter: Neue weltpolitische Ökonomie (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2002).

 

Ian Bentley et al., Responsive Environments – A manual for designers (Oxford: Butterworth Heinemann, 1985).

Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996).

 

Bill Hillier, Space is the machine (London: Cambridge University Press, 1996).

 

Stefan Krätke, Strukturwandel der Städte. Städtesystem und Grundstücksmarkt in der "post-fordistischen" Ära (Frankfurt/M.: Campus, 1991).

 

Stefan Krätke, Stadt Raum Ökonomie. Eine Einführung in aktuelle Problemfelder der Stadtökonomie und Wirtschaftsgeographie, Stadtforschung aktuell, Bd. 53. (Basel: Birkhäuser, 1995).

 

Elisabeth Kremer,  Die Stadt Dessau – Im Übergang von der industriellen Moderne zur zweiten Moderne (Akademie Stiftung Bauhaus Dessau, 1999).

 

Elisabeth Kremer, Schrumpfende Städte in Ostdeutschland und ihre Milieus (Stiftung Bauhaus Dessau, unveröffentlichtes Manuskript, 2003).

 

Henri Lefèbvre, The production of space (Oxford: Blackwell, 1991)

 

Paul Messerli, (2001), Innovationsräume in Vergangenheit und Gegenwart - Versuch einer Synthese, in R. C. Schwinges, Paul Messerle, & T. Münger (Hrsg.),  Innovationsräume, Woher das Neue kommt - in Vergangenheit und Gegenwart (Zürich: vdf, Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, 2001), S. 17-28

 

Klaus Selle, Öffentlicher Raum - von was ist die Rede? in: Jahrbuch Stadterneuerung 2001 (Berlin: Arbeitskreis Stadterneuerung an deutschsprachigen Hochschulen zusammen mit dem Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin, 2001), S. 21-34.

 

Abbildungsverzeichnis

Quelle: Forschungsprojekt Haase, A., Gegenwart und Zukunft der Stadtentwicklung in Sachsen-Anhalt, Magdeburg – Halle – Dessau, Perspektiven und strukturelle Rahmenbedingungen zukünftiger Entwicklung

Abb. 1 Untersuchungsschwerpunkte

Abb. 2 Foundation D’art contemporaine. Trennung/ Verbindung öffentlicher-privater Räume

Abb. 3 Beziehungsgefüge gebauter und gelebter Räume

Abb. 4 Modellskizze zur industriellen Entwicklung der Städte

Abb. 5 Typologien privater Räume (Grundtypen)

Abb. 6 a-c Gebaute und gelebte Räume – heute

Abb. 7 a-c Verflechtungsräume bis zum Jahr 2050

Abb. 8 a-c Vorindustriell angelegter Kern Alten/ Dessau

Abb. 9 a-c Industriell begründete Siedlung Törten/ Dessau 

Abb. 10 a-b Implantate in Alt-Olvenstedt/ Magdeburg

Abb. 11 Tradierte Hierarchien öffentlicher Räume

 



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8. Jg., Heft 1 (September 2003)