Der öffentliche Raum
in Zeiten der Schrumpfung

8. Jg., Heft 1 (September 2003)    

 

___Gunther Laux
München
  Open System - Die Stadt als Prozess

 

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this must be the place,
Roy Lichtenstein, 1965

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München, Frauenkirche

Vorbemerkung

 

‚Der öffentliche Raum in Zeiten der Schrumpfung’ lautet das Motto der Konferenz.

Man fragt sich natürlich, was macht jemand aus München auf einem Kongress, in dem man sich mit dem Phänomen der Schrumpfung von Städten auseinandersetzt, denn München gilt ja gemeinhin als die ‘Stadt des ewigen Wachstums’.


Die Frage ist berechtigt, vergegenwärtigen wir uns doch die Situation in München: die Stichworte, die in der aktuellen Diskussion um die Stadtentwicklung genannt werden und diese Situation charakterisieren, sind Bevölkerungsexplosion, ständige Baugebietsneuausweisung, steigende Flächenknappheit, Wohnungsnot, Mietpreisspirale, usw. Jährlich werden in München etwa 7000 Wohnungen neu errichtet, es werden gleichzeitig mehrere Großsiedlungen entwickelt, auf ein Wohnungsinserat melden sich zumeist über 100 Interessenten und das trotz eines Mietpreises von durchschnittlich 15 Euro pro Quadratmeter.


Von Schrumpfung kann also hier wirklich nicht gesprochen werden. Wenn ich dennoch mit der antithetischen Situation meines Wohnortes beginne, dann deshalb, weil ich anhand Münchens eine generelle planerische Strategie zum Umgang mit Stadt entwickelt habe, die nachfolgend eingehend vorgestellt wird.
 

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Flächenverbrauch der Stadt München 1950

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Flächenverbrauch der Stadt München 1990

Situation

 

In München wird nach einer Phase der Stagnation aufgrund einer weltweiten konjunkturellen Krise wieder von weiterem Wachstum für die Stadt ausgegangen. So wird bis 2020 eine Zunahme von insgesamt bis zu 300.000 Einwohnern und 150.000 Arbeitsplätzen zusätzlich für die Region prognostiziert. Denn lebten allein im Verwaltungsbereich der Stadt München 1990 insgesamt 1,26 Millionen Menschen, so stieg diese Zahl bis 1997 bereits auf 1,34 Millionen an, ein Bevölkerungsanstieg um 100.000 Einwohner innerhalb von nur sieben Jahren. Der prognostizierte, regionale Bevölkerungsanstieg folgt damit zugleich der Kontinuität der vergangenen zwanzig Jahre.


Um diesen hierfür notwendigen Raumbedarf zu ermöglichen, wird an die Stadt und die Region München die Forderung nach einer verstärkten Ausweisung von Siedlungsflächen für Wohnen und Arbeiten mit Folgeinfrastruktur gestellt, und besonders in den letzten Jahren auch nach baulicher Verdichtung, Sanierung, Konversion und Umstrukturierung bereits existierender Quartiere.

Dies geschieht speziell unter dem Aspekt zunehmender Flächenverknappung von Bauflächen bei einem gleichzeitig extremen Anstieg des Preisniveaus.
 

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Nolliplan von Rom.
Homogenes städtisches Gesamtgefüge

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e-world von apple.
Architektonische Einzelelemente, ohne räumlichen Kontext, aber mit funktionaler Spezialisierung

Im Gegensatz zu vielen anderen Ballungsräumen hat sich München aufgrund seiner spezifischen Mischung von weichen und harten Standortfaktoren bislang als relativ stabil und resistent gegen rezessionelle Einbrüche erwiesen. Denn wenn wir generell die aktuelle Situation innerhalb Europas betrachten, ist zu verzeichnen, dass die Realität eine komplett andere ist. Viele Städte registrieren bereits seit den 90er Jahren einen massiven Rückgang baulicher Entwicklungen. Besonders der öffentliche Raum befindet sich im Prozess der Transformation.

 

Bereits seit Beginn der 80er Jahre wird unter Architekten, Stadtplanern, Soziologen und Politikern immer wieder die Zukunft der Stadt diskutiert, die angebliche Auflösung der Zentren, der Verlust der Urbanität und die Verdrängung von natürlichen Lebensräumen.

Seit Beginn der 90er Jahre registrieren viele Städte de facto einen massiven Rückgang baulicher Entwicklungen.

 

Besonders deutlich wirkt sich diese Veränderung in den Städten Ostdeutschlands aus. Das traditionelle Bild der Stadt hat sich dabei grundlegend verändert. Es ist geprägt von Leerstand, Abriss, Brachflächen, fehlendem Nutzungszusammenhang und dem Phänomen der Schrumpfung.
 

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Leerstand, Abriss, brachgefallene Nutzung

These

 

Was mit dem Begriff der Schrumpfung aus planerischer Sicht gemeint ist, das ist ein anhaltender und massiver Nachfragerückgang nach Wohn- oder Büroraum, sowie generell nach allen Formen nutzbarer Räume.

 

Schrumpfung steht für den Leerstand von bestehender Gebäudesubstanz, die Verringerung der Zahl von Haushalten, damit einhergehend das Ausdünnen von Funktionen und der Verlust räumlicher und sozialer Dichte. Dies betrifft besonders die strukturschwachen Orte, Stadtteile und Grundstücke, die dabei aus der Nutzung herausfallen und somit dem gesamtem Markt die Dynamik nehmen. Die Bauindustrie und Immobilienwirtschaft gerät ins Stocken, bis sie stagniert oder gar völlig zusammenbricht.

 

Es handelt sich also um einen Prozess der Umverteilung, der Verdünnung und der Dezentralisierung, denn gleichzeitig werden immer mehr Neubaugebiete am Stadtrand entwickelt, so dass die Nutzungsoberfläche immer dünner wird, Lücken aufweist und letztendlich sogar zerreißt. Die Ursachen hierfür sind äußerst vielfältig, oftmals ist gerade das Zusammenspiel verschiedener Faktoren verantwortlich, Einflüsse wirtschaftlicher, demografischer, sozialer oder politischer Natur. Einmal begonnen, kann ein solcher Prozess sehr schnell in Gang kommen.

 

Denken wir an Leipzig. Vor wenigen Jahren noch die boomtown des Ostens, weist die Stadt in ihrem Kernbereich einen Leerstand von über 40 000 Altbauwohnungen auf. Mit dem Modell der ‘dispersen’ oder der ‘perforierten Stadt’, einem bewussten Leitbild für Leipzig, versucht die Stadtplanung diese Problematik aufzufangen und den räumlichen Prozess der Umverteilung zu beeinflussen.

Der Begriff der Perforation bezeichnet in seiner Anwendung die bewusste Installation von Lücken, Schnittstellen, Interferenzen, Störungen oder gar Sollbruchstellen in seinem ursprünglich kompakten, städtischen Kontext. Der kompakte Stadt-Typus scheint inzwischen immer mehr überkommen, aufgrund dieser gesellschaftlichen und städtebaulichen Veränderungen.

 

Die Aufgabe für die Zukunft unserer Städte wird also sein, ein neues Verständnis zuzulassen, für die Veränderung wesentlicher städtischer Eigenschaften und hierfür neue Strategien zu entwickeln, mit denen wir den transformatorischen Prozess steuern können.
 

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Bebauungsmorphologie

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Landschaftsmorphologie

Strategie

 

Es sind bereits neue Formen von Stadt entstanden, die mit den herkömmlichen Planungsinstrumenten kaum mehr zu steuern scheinen. Denn sich verändernde gesellschaftliche Bedürfnisse bewirken gleichzeitig einen stetigen Erneuerungsprozess urbaner Räume. Während der traditionelle, öffentliche Raum noch durch Stabilität charakterisiert ist, sind die heutigen Anforderungen räumliche Variabilität, funktionale Indeterminiertheit und Neutralität. Dabei bedarf es neuer Mittel zur Steuerung durch Aktivierung des vorhandenen Potenzials zur Flexibilisierung von prozessualen Entwicklungen.

 

Ist Schrumpfen immer gleichbedeutend mit Verlust? Oder ermöglichen Wegfall und Verschiebung auch einen Neubeginn? Wie erleben Bewohner von schrumpfenden Städten die starke Veränderung ihrer Umgebung? Und wie verändert sich dabei der öffentliche Raum? Wird er seine Bedeutung behalten? Werden offene Räume, wenn sie ungenutzt sind, immer als negativ empfunden? Oder haben wir nicht die einmalige Chance, unsere Städte räumlich aufzuwerten, durch Licht und Luft aufzulockern? Oder gar die Möglichkeit, die Städte stärker zu begrünen und dadurch auch attraktiver zu gestalten? Oder ist dies schlichtweg eine Utopie, weil aus wirtschaftlicher Sicht nicht finanzierbar?

 

Meine Überzeugung, und zugleich die These des Beitrags ist: Schrumpfen funktioniert wie Wachstum, lediglich mit umgekehrtem Vorzeichen. Beides sind Formen städtischer Entwicklungsprozesse. Es erscheint nicht zielführend, vornehmlich entweder auf städtisches Wachstum oder Schrumpfung zu setzen und hierzu spezielle Strategien zu entwickeln. Vielmehr wird m. E. die Zukunft der europäischen Städte darin begründet sein, dass sie in der Lage sind, neutrale Entwicklungsstrategien zu formulieren.

 

In meiner Dissertation ‘Transformation’ habe ich mich mit Stadtentwicklungsstrategien auseinandergesetzt und nach neuen Instrumenten geforscht. Neuzeitliche städtebauliche Entwicklungsstrategien müssen sowohl auf schrumpfende, als auch wachsende Städte anzuwenden sein, sie folgen verwandten planerischen Prinzipien und müssen als solche formuliert werden.

 

Zahlreiche europäische Großstädte haben bereits Konzeptionen einer prospektiven statt einer reaktiven Strategie zur Stadtentwicklung formuliert, zumal sich der gesamte gesellschaftliche und stadtstrukturelle Kontext in Europa deutlich verändert hat. Denn neben die bekannten städtebaulichen Herausforderungen mit den vertrauten Positionen und den bewährten Konzeptionen in der Umsetzung, sind und werden immer mehr neue Aufgaben, an neuen Standorten mit neuen Konzepten treten.

 

Zwar ist keine einheitliche städtebauliche Position, im Sinne eines Leitbildes, festzustellen, denn es gibt Wachstum und Schrumpfung zugleich, als ein zentraler Schwerpunkt erscheint jedoch das Prinzip der Simultaneität parallel existierender Phänomene an unterschiedlich beeinflussten, europäischen Standorten. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Aufgaben und Orten, die zeitliche und räumliche Parallelität von Projekten und die Widersprüchlichkeit ihrer Zielsetzungen sowie die Gegenläufigkeit ihrer Auswirkungen definieren dabei die gegenwärtige städtebauliche Realität.

 

Das Bild der europäischen Großstadt befindet sich derzeit in einem prozesshaften Umbau, in einer Phase der Neuorientierung aufgrund der beschriebenen Konditionen. Zwei grundsätzliche Modelle zur Interpretation von Stadt sind einerseits das Kompaktstadtmodell und andererseits das Netzstadtmodell. Die Auseinandersetzung mit diesen kontrovers wirkenden Sichtweisen ist wichtig für die Formulierung und Orientierung zukünftiger Entwicklungskonzeptionen. Beide Modellkonzepte artikulieren unterschiedliche Gewichtungen im Verständnis von Stadt:
 

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Kompaktstadtmodell

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Netzstadtmodell

Das Modell der kompakten Stadt steht für die Vorstellungen, die sich an dem traditionellen Bild der historisch entwickelten, europäischen Stadtstruktur orientieren. Mit den städtebaulichen Elementen der Funktionsmischung und der Bebauungsdichte sollen dabei gestalterisch anspruchsvolle und besonders ökologische Qualitäten für die öffentlichen Räume entwickelt und geprägt werden, um so in der kompakten Stadt Urbanität entstehen zu lassen, eingebunden in einen Maßnahmenkatalog übergreifender Strategien der Steuer-, Verkehrs-, Umwelt-, Sozial- und Wohnungspolitik.

 

Das hierzu antithetische Raummodell der Netzstadt basiert auf dem Prinzip der Überformung und der allmählichen Auflösung der europäischen Stadtstrukturen in die Region, bei gleichzeitiger Zunahme der Komplexität interdisziplinärer Wirkungszusammenhänge. Derzeit erfährt der städtische Dispersionsprozess einen weiteren Dezentralisierungsschub mit Suburbanisierungstendenzen, ausgelöst u. a. durch den Anstieg der Mobilität, die Innovationen von Transport-, Informations- und Kommunikationstechnologien. Neue Wachstumsbranchen haben sich bereits herausgebildet. Vorhandene Märkte weiten sich sprunghaft aus, die Mobilität von Mensch, Gütern und Information steigt gleichzeitig drastisch an und verändert deutlich das vertraute Bild existierender Siedlungsmuster. Im Netzstadtmodell wird die Grenze zwischen dem Planbaren und Nichtplanbaren zum Prinzip der städtebaulichen Konzeption.

 

In der Gegenüberstellung dieser beiden Stadtmodelle demonstrieren die Kompaktstadt- und die Netzstadtidee grundsätzlich nicht nur konträre Positionen, sondern auch widersprüchliche Vorstellungen davon, was Stadtentwicklung derzeit zu leisten vermag. Beide Modelle scheinen sich zunächst gegenseitig auszuschließen. Unter dem Aspekt gesellschaftlicher Veränderungen kann das monozentrale Modell der kompakten Stadt dabei kaum mehr aufrechterhalten werden.
 

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Hans Hemmert, Unterwegs, 1996

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MVRDV, Interpretation nach Guy Debord zum Prinzip der subjektiven Stadtwahrnehmung

Bereits in den 60er Jahren haben sich die Situationisten mit der Wahrnehmung von Stadt beschäftigt und haben konstatiert, dass Stadt von unterschiedlichen Bewohnern jeweils auch unterschiedlich empfunden wird. Die Orientierungspunkte sind Orte innerhalb der Stadt, welche losgelöst voneinander ein Netz aus Beziehungen aufspannen. Die Verbindungen zwischen diesen Markierungen werden hingegen nicht empfunden, sondern definieren sich über ihre Entfernung, über Mobilität und Zeit. Bezogen auf das Verständnis von Stadträumen bedeutet dies, dass das Bild der Stadt kein geschlossenes Ganzes, keine Kompaktheit mehr darstellt, sondern dass jeder in seiner eigenen Stadtkarte agiert, in Abhängigkeit vom individuellen Aktionsradius. Der Stadtraum ist nicht mehr homogen, sondern er besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Räume als Abbild einer Gesellschaft mit vielschichtigen Bedürfnissen, so dass von einer Stadt zugleich unterschiedliche Images existieren können.

 

Strukturelle Untersuchungen lassen dabei auf unterschiedlichen thematischen Ebenen sowohl Teilaspekte des kompakten Stadtmodells erkennen, jedoch auch Elemente, welche aufgrund ihrer spezifischen Eigenart netzartige Stadtstrukturen beinhalten. Das monozentrale Modell der kompakten Stadt kann dabei nicht aufrechterhalten werden.

 

Die Verortung der Netzknotenpunkte im Grundriss des Stadtgefüges erzeugt das neue städtische Bild der so genannten ‘Kompakten Netzstadt’. In diesem hybriden Modell ist die Differenzierung zwischen Innenstadt und Peripherie zwar räumlich eindeutig definiert, gleichzeitig übernehmen Stadtteilzentren allerdings wesentlich mehr ‘Zentralräte’, so dass eine Netzstruktur mit kompakten Knoten entstehen kann. Der Prozess der Umstrukturierung von existierenden, urbanen Ordnungsschemata entwickelt dabei neue räumliche Relationen, welche in der individuellen Benutzung, in der persönlichen Identifikation und in der visuellen Wahrnehmung ihren Ausdruck finden. Die Organisationsform erfordert eine prozesshafte, flexible Strategie, die allerdings der Definition neuer Instrumente zur Realisierung bedarf.
 

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öffentlich - privat

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privat - öffentlich

Open System

 

Auf der Basis dieser kompakten Netzstadt habe ich ein Alternativmodell zur existierenden, planungsrechtlichen Fixierung entwickelt. Das Modell stellt eine Strategie dar in Form einer möglichen Handlungsanweisung, für eine morphologisch basierte Planungsstrategie. Es ist anwendbar auf städtebauliche Entwicklungen, also auf Wachstum und Schrumpfung zugleich. Der Ausgangspunkt für die Entwicklung dieser planerischen Strategie ist der Bedeutungswandel im öffentlichen Raum. Das statische Raumverständnis verändert sich durch die Privatisierung von öffentlichen Lebensbereichen. In diesem Bedeutungswandel kehren sich Öffentlichkeit und Privatheit um.

Diese Tendenz zur Privatisierung basiert ursächlich auf der Kommerzialisierung von urbanen Räumen und deren medialer Inszenierung. Dabei sind drei neue Tendenzen feststellbar:

 

Erstens: die traditionellen Formen des öffentlichen Raums haben sich besonders inhaltlich und strukturell erweitert. Unterschiedliche Arten öffentlicher Räume werden ablesbar. Sie sind Abbild der multiplen Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse.

 

Zweitens: öffentliche Räume werden fortschreitend privatisiert und suggerieren nur noch Öffentlichkeit. Dabei entsteht eine Verlagerung von Verantwortung und Besitzverhältnis.

 

Drittens: sich verändernde gesellschaftliche Bedürfnisse erwirken einen stetigen Erneuerungsprozess von Räumen. Während der traditionelle, öffentliche Raum von Stabilität charakterisiert ist, sind seine heutigen Anforderungen Varianz, Neutralität und Flexibilität.

 

Die vorgestellte planerische Methode soll die existierende Ordnung der Bauleitplanung, bestehend aus Flächennutzungsplan und Bebauungsplan, nicht ergänzen, sondern ersetzen.

Das Instrument zur Steuerung ist die ‘Prozessorientierte Morphologieplanung’, sie stellt eine

Konzeption einer zukünftigen Stadtentwicklung dar und basiert auf drei maßstäblichen Gliederungsebenen.
 

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Prozessorientierte Morphologieplanung.
Ebene 1: Matrix, Gesamtansicht

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Matrix, Detailansicht

1. Matrix

Auf der ersten Betrachtungsstufe geht es um eine übergeordnete Strategie zur gesamtstädtischen Gliederung, die sich mit dem Verständnis des gesamten Stadtgebiets beschäftigt und auf die Entwicklung einer generellen strukturellen Ordnung abzielt. Als Stadtgebiet wird nicht der städtische Verwaltungsbereich, sondern vielmehr der morphologische, also interkommunale Siedlungszusammenhang bezeichnet.

 

2. Open System

Auf der anschließenden zweiten Stufe steht die daraus resultierende teilräumliche Betrachtung im Blickpunkt der Auseinandersetzung, mit dem Fokus der Formulierung eines konzeptionellen Expansionspotenzials innerhalb dieser Struktur.

 

3. Raummodulation

Auf der dritten Betrachtungsstufe wird die logische Fortsetzung weiter in die Abbildung objekthafter Stadtbausteine übertragen und findet ihren Endpunkt in der räumlichen Darstellung einzelner urbaner Einheiten. Alle drei Darstellungen bedingen sich und können nur interdependent angewandt werden.
 

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Prozessorientierte Morphologieplanung.
Ebene 2: Open System, Gesamtansicht

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Open System, Detailansicht.
Netz aus Freiräumen unterschiedlicher Gewichtung strukturiert den städtischen Raum

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Prozessorientierte Morphologieplanung.
Ebene 2: Open System, Gesamtansicht

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Open System, Detailansicht.
Potenzielle Bebauungsstruktur
 

Die erwähnte, zweite Gliederungsebene, das ‘Open System’, bildet mit der teilräumlichen Betrachtung den Schwerpunkt der Auseinandersetzung, mit Fokus auf die potenzielle Expansion innerhalb dieser Struktur.

Das statische Raumverständnis des öffentlichen Raums wandelt sich durch Privatisierung öffentlicher Lebensbereiche. In diesem Bedeutungswandel kehren sich Öffentlichkeit und Privatheit um. Die Strategie zur Umsetzung dieser Zielsetzung sieht die Umkehrung der traditionellen städtebaulichen Planung vor: statt einer Formulierung von Gebäuden wird im ‘Open System’ nach dem Umkehrprinzip ein Netz aus Freiräumen planerisch fixiert.

 

Der so strukturierte Freiraum formuliert die Baustruktur, quasi als Negativvolumen, zugunsten einer maximalen Flexibilität der architektonischen Füllungen. Diese Füllungen müssen jedoch gar nicht belegt werden, denn die Stabilität des Netzes wird ausschließlich durch die offenen Räume erreicht, nicht etwa durch eine Bebauung.

 

Dabei stellt sich natürlich besonders die Frage nach dem Aufwand, der Pflege, der Finanzierung und dem Unterhalt dieser neuen Freiräume. Denn angesichts der finanziellen Situation der Städte können klassische Parkanlagen und Platzgestaltungen lediglich einen geringen Anteil definieren, sie erfordern deutlichen Aufwand an Herstellung und Unterhalt. Allerdings kann nur durch die Einrichtung von Biotopen und Brachen oder die Anlage von Sukzessionsflächen oder Ruderalgrün das gestalterische Spektrum der öffentlichen Räume auch nicht abgedeckt werden.

 

Hier werden verstärkt die Landschaftsarchitekten und Freiraumplaner gefordert sein. Es werden neue Formen einer Freiflächenkultur entstehen müssen, welche die Formulierung und Nutzungsintensität der gewohnten städtischen Freiräume überwinden, aber dennoch stadträumlich wirksam sind. Dabei wird die Freiraumplanung zum Steuerungselement von Öffentlichkeit, das in seiner vernetzten Struktur zu einem erweiterbaren und veränderbaren, teilräumlich wirksamen, determinierenden Ordnungssystem wird.
 

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Prozessorientierte Morphologie
Ebene 2: Open System, Gesamtansicht

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Open System, Detailansicht.
Überlagerung der Strukturen: Offene Räume und die Bebauungspotenziale

Ergebnis

 

Drei Aspekte charakterisieren die Unterscheidung der im Zuge der Arbeit entwickelten Stadtentwicklungsstrategie im Vergleich zur existierenden Planungshierarchie: Organisation, Struktur und Prozess.

 

1. Organisatorisch.

Die dreistufige ‘Prozessorientierte Morphologieplanung’ ist nicht hierarchisch organisiert, sondern wechselwirkend. Alle drei Stufen sind keine statischen Instrumente, sondern flexibel anwendbar und jederzeit veränderbar. Sie definieren nicht mittels Ausschlusskriterien, sondern durch ein Angebot von Möglichkeiten. Die ‘Prozessorientierte Morphologieplanung’ fokussiert nicht auf die Funktion, sondern auf die Form. Sie schafft eine Planungsstrategie mit dem Ziel der Deregulierung innerhalb eines bestimmten vordefinierten Rahmens.

 

2. Strukturell.

Das Modell der ‘Kompakten Netzstadt’ charakterisiert eine neuartige stadtstrukturelle Konzeption.

In der Darstellung des ‘Open System’ werden Freiräume anstelle von Bauräumen planerisch fixiert. Die resultierenden Baufelder sind mit den bisherigen Typologien umzusetzen. Ihre Struktur erlaubt allerdings ebenso die Entwicklung neuer Typen. Die vorgesehene Gliederung und Parzellierung auf den unterschiedlichen maßstäblichen Ebenen ist dabei funktionsneutral und damit typologisch ungebunden.

 

3. Prozessual.

Die Neutralität, Variabilität und Flexibilität werden zum System. Die bisherige Aufgabe der Stadtplanung, langfristig zu planen, wird zugunsten eines weicheren, prospektiven Entwicklungsprozesses verändert. Der Aufgabenbereich der Genehmigung von Vorhaben verändert sich demzufolge hin zur Initiierung, Moderation, Beurteilung und Dokumentation von städtischen Situationen. Die ausschließliche Binärdenkweise wird dabei zugunsten einer Formulierung unterschiedlicher Möglichkeiten aufgegeben, die diskursiv, interdisziplinär und besonders interkommunal entwickelt werden.

 

Aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen kommt einer morphologischen Ausprägung und einer typologischen Gestaltung von Öffentlichkeit und ‘offenen Räumen’ immer mehr Bedeutung zu.

Gleichzeitig liegt in der aktuellen Entwicklung aber auch die Notwendigkeit zu einem grundsätzlich neuen Denkansatz begründet, der eine Abkehr von hierarchischen und statischen Prinzipien fordert und eine Hinwendung zu sehr viel dynamischeren, diskursiven Prozessen postuliert.

 

Das gilt insbesondere für planerische Abläufe. Auf der Basis der ‘Prozessorientierten Morphologieplanung’ mit ihren Darstellungsebenen kann die Entwicklung prozessorientierter Stadtplanung diskursiv ermöglicht werden, um auf bereits vorhandene gesellschaftliche Veränderungen mit zeitgenössischer und nachhaltiger Umsetzung reagieren zu können.
 

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Zukunft Stadt

Ausblick

 

Ein neues Leitbild oder gar ein neuer Stadt-Typus? Ich glaube nicht. Viel eher stellt das Planungsmodell eine Methode dar, die auf gesellschaftliche Phänomene reagiert und diese stadträumlich formuliert.

 

Das Modell ermöglicht dabei eine gewisse Stabilität, sei es in Zeiten der Schrumpfung oder Phasen des Wachstums: Ausbau, Umbau oder Abbau von Stadt. Die Stadtplanung ist heute mehr als ein räumlicher Prozess, als eine Festschreibung baulicher Einheiten zu begreifen. Wir müssen uns mit Stadtstrukturen auseinanderzusetzen lernen, die sich viel eher wie Organismen verhalten als wie starre Muster.

 

Dabei wird das traditionelle, europäische Stadtbild nicht aufgegeben, es verändert sich vielmehr und wird um eine weitere Facette erweitert. Auch wenn wir Stadt immer mehr als einen ständigen transformatorischen Prozess begreifen, bedeutet dies nicht das Ende von Planung, sondern die Art der Planung verändert sich in gleichem Maße wie soziale Bedürfnisse und Verhaltensweisen.

Und darin ist zugleich auch eine Chance für die Zukunft des öffentlichen Raums und die Bedeutung von Öffentlichkeit begründet.
 

 

© 2003 Gunter Laux

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Literaturangaben (Links)

 

http://www.jatschlaux.com

http://tumb1.biblio.tu-muenchen.de/publ/diss/ar/2003/laux.html

 


 

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8. Jg., Heft 1 (September 2003)