Der öffentliche Raum
in Zeiten der Schrumpfung

8. Jg., Heft 1 (September 2003)    

 

___Heinz Nagler
& Ulrike Sturm

Cottbus
  Der öffentliche Raum in der DDR -
Wandel nach der Wende

 

 

I. Zentrale öffentliche Räume in der DDR

Die Identität einer Stadt – die spezifischen Eigenschaften, die auch das Zugehörigkeitsgefühl ihrer Bewohner prägen – wird wesentlich durch die zentralen öffentlichen Räume definiert. Unabhängig vom gesellschaftlichen System erscheint dies als ein Kontinuum, das sich in 40 Jahren DDR und auch in der Zeit nach der Wende von 1989 nicht verändert hat. Doch obwohl sich die Bewohner nach wie vor mit den und durch die zentralen Orte einer Stadt identifizieren, haben diese Orte nach der politischen Wende weit reichende Veränderungen erfahren. Im folgenden Beitrag geht es darum, die Umgestaltungen der zentralen städtischen Räume der DDR nach der Wende und den damit verbundenen Wandel in ihrer Bedeutung und Wertschätzung zu betrachten. Wir gehen dabei davon aus, dass sich an den zentralen öffentlichen Räumen die Einstellung zu den öffentlichen Räumen insgesamt in zugespitzter Form ablesen lässt. Im Anschluss daran wollen wir uns der Frage zuwenden, welche Schlussfolgerungen sich daraus für den zukünftigen Umgang mit den zentralen öffentlichen Räumen der Städte in Ostdeutschland unter den Bedingungen der Schrumpfung ziehen lassen.

In seiner klassisch gewordenen soziologischen Untersuchung zum kollektiven Gedächtnis aus dem Jahr 1925 untersucht Maurice Halbwachs den Zusammenhang zwischen einer Gesellschaft und ihrer gebauten Umwelt. Er führt aus:
„Der Ort, an dem eine Gruppe lebt, ist nicht gleich einer schwarzen Tafel, auf der man Zahlen und Gestalten aufzeichnet und dann auswischt. [...] der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt. Alsdann können alle Unternehmungen der Gruppe räumlich ausgedrückt werden, und der Ort, an dem sie lebt, ist nur die Vereinigung all dieser Ausdrücke.“ [M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, FfM, 1985, S. 130]
Halbwachs gelangt zu dem weit reichenden Schluss, dass das Gedächtnis räumlich strukturiert ist. Eine Gesellschaft definiert sich über den Umgang mit Raum und die gebaute Umwelt bildet eine wesentliche Voraussetzung dafür, die Geschichte einer Gesellschaft als Teil ihrer selbst präsent zu halten. Der Raum und die Stadt sind in diesem Sinne eine Erinnerungsstruktur.

Wie verhält sich in unserem Fall der konkrete Ort zu abstrakten Konstruktionen von Identität und Erinnerung? Aufgabe der Stadtplanung in der DDR war nach offizieller Auffassung die Umsetzung der sozialistischen Lebensweise in gebaute Umwelt. Das Ergebnis sollte, vereinfacht ausgedrückt, die sozialistische Stadt sein. Die revolutionäre Ankunft einer neuen Gesellschaft erlaubte jedoch keinen Rückgriff auf die Permanenz und Geschichtlichkeit des Raumes, wie ihn Maurice Halbwachs als Bedingung der kulturellen Selbstvergewisserung einer Gruppe vor sich sah.

Auf dieser Basis konnte das Verhältnis zur vorhandenen Stadt nur ein problematisches sein. Mit dem Versuch, für eine neue Gesellschaft neue Räume zu schaffen, wurde die Kontinuität der räumlich gefassten Erinnerung zunächst vollständig negiert. Zwar besann sich auch die Führung der DDR ab den späten 60er Jahren auf das gebaute kulturelle Erbe, doch blieb der Umgang mit der alten Stadt dabei stets zwiespältig. Sei es, dass der zeitliche Rahmen, also 40 Jahre DDR-Geschichte, dafür nicht ausreichten, sei es, dass der Anspruch vermessen war: Der Versuch, das kollektive Gedächtnis im Städtebau neu zu begründen, schlug jedenfalls gründlich fehl.

In den 80er Jahren zeigten stadtsoziologische Untersuchungen der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar unter der Leitung von Fred Staufenbiel das Scheitern der Bemühungen, mit der sozialistischen Stadt neue Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen. Bezeichnenderweise lagen diese in zahlreichen Städten vorgenommenen Untersuchungen zwar gedruckt vor, trugen jedoch den Vermerk „nur für den Dienstgebrauch“.

In einer Befragung von Bewohnern der Städte Halle/Saale und Halle-Neustadt kommt Fred Staufenbiel mit seinem Autorenkollektiv zu folgendem Ergebnis: „Die Bindungen, die von einer Stadt als Ganzes ausgehen können, werden von ihrer Einmaligkeit, von ihrer Originalität und Unverwechselbarkeit getragen. Das Erleben der Unterschiede zu anderen Städten ist dabei sehr wichtig. Das gilt sowohl für die lokale Spezifik der Lebensweise (besondere Traditionen und Gepflogenheiten, Mannigfaltigkeit und Vielfalt) als auch für die baulich-räumliche Gestalt dieser Unterschiede.“ [Autorenkollektiv unter der Leitung von Fred Staufenbiel: Stadtentwicklung und Wohnmilieu von Halle/S. und Halle-Neustadt – Soziologische Studie, Weimar, 1985, S. 45]

Die Weimarer Stadtsoziologen unterschieden zwischen der Stadtgestalt als objektiver Beschreibung räumlicher Zusammenhänge einerseits und dem Stadtbild als subjektivem Ausschnitt der Stadt, wie sie von den Bewohnern erlebt wird, andererseits. Dabei gelangen sie zu dem Schluss: „Fassen wir das Bild der Stadt als Widerspiegelung des Charakters der Stadt und der Besonderheiten ihrer Gestalt im Bewusstsein ihrer Bewohner, so wird dieses Bild von Seiten der gebauten Umwelt fast ausschließlich durch Elemente der Architektur der Altstadt geprägt. Die neuen und anderen Wohngebiete [...] sind offensichtlich (als typische Merkmale der Stadtgestalt) von untergeordneter Bedeutung für das Stadtbild der Bewohner.“ [Fred Staufenbiel: Leben in Städten. Weimar, 1989, S. 39]

Die alte Stadt besitzt demnach nicht nur einen Gebrauchswert für die Nutzer, sondern auch einen Kulturwert für die Stadtgesellschaft. Unseres Erachtens nehmen beide nicht in gleicher Weise zu oder ab. Obwohl vielerorts eine Abnahme der Attraktivität der Innenstädte konstatiert wird, kommt diesen, wie zahlreiche Untersuchungen nach der Wende belegen, nach wie vor ein hoher Identifikationswert zu.

Es erscheint also gerechtfertigt, sich erneut mit den zentralen öffentlichen Räumen der Städte in der DDR zu beschäftigen. Wie sahen diese aus? Was für öffentliche städtische Räume gab es? Neben den repräsentativen Räumen einer Stadt, wie beispielsweise dem Karl-Marx-Forum mit dem zugehörigen Denkmal im ehemaligen Karl-Marx-Stadt, oder alltäglichen Räumen des Wohnumfeldes entstanden in der DDR in den 70er Jahren innerstädtische Fußgängerzonen. Diese Räume des Bedarfs waren als Orte des Konsums gedacht und übernahmen insofern eine politische Funktion, als sie als Schaufenster für die gute Versorgung der Bevölkerung im Sozialismus dienten. Interessant ist, dass man sich bei der Konzeption dieser Stadträume gerade auf die alte Stadt besann und sich ihrer räumlichen Strukturen bediente. Die Zweiheit von repräsentativen Orten und Räumen des Bedarfs, wie sie die innerstädtische Entwicklung in den Städten der DDR kennzeichnet, ist, so ein erstes Ergebnis unseres Blicks auf die post-sozialistische Stadt, nach wie vor gut ablesbar.

Nach der Wende wurde mit den überkommenen repräsentativen Räumen und den Räumen des Bedarfs jeweils sehr unterschiedlich verfahren. Während die repräsentativen Räume häufig erheblichen Umbauprozessen bis zu ihrer völligen Aufhebung unterworfen wurden – verwiesen sei an dieser Stelle auf den Sachsenplatz in Leipzig oder das bereits oben erwähnte Karl-Marx-Forum im heutigen Chemnitz –, überlebte die Gestaltung der Räume des Bedarfs trotz Alterungserscheinungen vielerorts, so beispielsweise am Erfurter Anger, im Chemnitzer Brühl oder der Friedrichstraße in Prenzlau.

Im folgenden Kapitel werden anhand von fünf Städten Räume der Repräsentation sowie Räume des Bedarfs in ihrer Gestalt und Gestaltung während der DDR-Zeit vorgestellt und der Umgang mit diesen Orten nach der Wende nachgezeichnet.



II. Wandel nach der Wende – Fünf Orte in den Neuen Bundesländern
 

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Abb.1: Stadtzentrum Chemnitz 1939

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Abb.2: Stadtzentrum Chemnitz 1985

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Abb.3: Das ehemalige Karl-Marx-Forum vom Denkmal aus gesehen

 

Rekonstruktion am Beispiel Chemnitz, ehemals Karl-Marx-Stadt

Chemnitz, dessen Altstadt im Krieg fast vollständig zerstört wurde, entstand in den 50er und 60er Jahren als Karl-Marx-Stadt neu. Der Wiederaufbau griff in die Struktur der geschlossenen Grundfigur der Altstadt derart grundlegend ein, dass der Altstadtring und die ehemaligen Wallanlagen im Nordosten vollständig aufgehoben wurden. An die Stelle der Ringstraße trat ein offenes orthogonales Straßensystem, in dem die wenigen erhalten gebliebenen Bauten der Altstadt wie Rathaus und Roter Turm als erratische Elemente verblieben. Nord-östlich des Roten Turms entstand als zentraler Platz und damit politischer Hauptraum der Stadt das Karl-Marx-Forum mit Hotel- und Kongresszentrum, für dessen nördlichen Abschluss der kürzlich verstorbene Künstler Lew Kerbel ein imposantes Karl-Marx-Denkmal schuf. Noch heute beeindruckt der mächtige Kopf des revolutionären Vordenkers mit der zentralen Botschaft des Manifests der kommunistischen Partei von 1848 im Rücken, die in mehreren Sprachen in die Gebäudewand eingelassen ist: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“. Als Ort von Paraden und offiziellen Demonstrationen war für die Platzgestaltung zu Füßen des Denkmals ursprünglich keine Begrünung vorgesehen. Bei der schließlich doch erfolgten Begrünung blieb der Bezug des Platzes zum Denkmal des Namenspatrons der Stadt gewahrt.
 
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Abb.4: Rahmenplan Stadtzentrum Chemnitz 2000

 

Langjährige Diskussionen führten nach der Wende zu der Entscheidung, die Ringstraße mit den Wallanlagen sowie die konzentrische Straßenstruktur der Altstadt zu rekonstruieren. Durch eine Blockbebauung wurden die historischen Proportionen des öffentlichen Raumes wieder hergestellt. Dabei kommt die neue Blockbebauung in Chemnitz nicht bürgerschaftlich klein parzelliert daher, sondern arbeitet in der Körnung mit großen Bausteinen, die meist mit einer großflächigen kommerziellen Nutzung belegt sind. – Wir werden später noch einmal darauf zurückkommen.
 
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Abb.5: Der Blick vom Karl-Marx-Denkmal heute

 

In Chemnitz lässt sich deutlich aufzeigen, wie der repräsentative Hauptraum der sozialistischen Stadt nach der Wende eine klare Umdeutung und Umwertung erfuhr. Obwohl sich, im Gegensatz zu vielen anderen Orten, Chemnitz für einen Erhalt des Karl-Marx-Denkmals entschied, wurden die Bezüge der sozialistischen Stadt vollständig aufgehoben. So ist in den Plänen zur Neugestaltung des Bereichs zwischen Brückenstraße und Rotem Turm das Denkmal nicht einmal mehr eingezeichnet. Das ehemalige Karl-Marx-Forum wandelt sich unversehens zum Park am Roten Turm. Karl Marx erhält ein grün tapeziertes Zimmer ohne Aussicht und kann im benachbarten Touristenladen entweder in Schokolade oder Marzipan erworben werden.
 
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Abb.6: Das Karl-Marx-Denkmal mit Genom

 

Unlängst veranstaltete die Stadt Chemnitz unter dem Titel InSicht ein Kunstprojekt für den öffentlichen Raum. Zu Füßen des Marx-Denkmals wurde vom Künstler Gregor Torsten Kozik ein leuchtendes Genom platziert. Der künstlerische Beitrag reflektiert den Wandel, den die Stadt und insbesondere der Ort des Denkmals nach der Wende erfahren haben. Während für Kozik das Denkmal Kerbels Starre, Unveränderlichkeit und Schwere ausstrahlt, steht sein Genom für Transparenz. Leichtigkeit und ein ständiges Im-Fluss-Sein.
 
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Abb.7: Der Chemnitzer Brühl

 

Der repräsentative zentrale Platz, der die Mitte von Karl-Marx-Stadt bildete, existiert nicht mehr. Was aber geschah mit den so genannten Bedarfsräumen, die auch im sozialistischen Karl-Marx-Stadt nicht fehlten? In Ermangelung einer Altstadt wurde das sozialistische Schaufenster in den 70er Jahren nord-östlich des Zentrums in ein Gründerzeitviertel gelegt, das die Kriegszerstörungen unbeschadet überstanden hatte. Im so genannten Brühl wurde, dem Geschmack der Zeit entsprechend, ein kleinteiliges Einkaufsparadies als Fußgängerzone geschaffen. Die Gestaltungsmerkmale entsprachen denen bundesdeutscher Fußgängerzonen der gleichen Zeit: Der Straßenraum ist in seiner Räumlichkeit nicht betont. Stattdessen wurde er durch zu Gruppen zusammengefasste Bäume, Bänke und Brunnen in Teilbereiche aufgegliedert, um Verweilzonen zwischen den Laufzonen zu schaffen.
 
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Abb.8: Der Chemnitzer Brühl

 

Durch große Einkaufszentren außerhalb der Innenstadt und durch die Re-Kommerzialisierung der Altstadt war der Brühl nach der Wende nicht mehr konkurrenzfähig. Die Geschäfte stehen heute größtenteils leer und auch die Wohnungen darüber finden keine Mieter mehr. Das ehemalige Paradies des Konsumenten ist heute eine Geisterstraße. Dennoch, und dies ist unseres Erachtens bemerkenswert, ist die Gestaltung des Brühl nach wie vor intakt: die Beete werden gepflegt und die Brunnen laufen. Offensichtlich fällt der Abschied von den kleinteilig gestalteten und politisch weniger besetzen Räumen schwerer als der Abschied von den offiziellen Räumen der Repräsentation. Die Räume des Bedarfs waren in ihrer Identifikationswirkung für die Bevölkerung anscheinend wichtiger als die offiziellen Räume der Repräsentation. Die Gestaltung der kommerziellen Räume des Bedarfs brachte es mit sich, dass diese Räume nur indirekt als Schaufenster der Sozialismus repräsentative Funktionen übernehmen konnten. Sie eigneten sich zwar zur Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse, nicht jedoch zur Aufnahme politischer Paraden etc. Diese weit gehende Entlastung von politischer Bedeutung wirkt sich bis heute auf den Umgang mit dem nicht mehr genutzten, aber dennoch gehegten Brühl in Chemnitz aus.
 
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Abb.9: Neue Mitte Chemnitz

 

Die Gestaltung der Chemnitzer Innenstadt nach der Wende stieß auf ein ambivalentes Verhältnis zur Leere im Stadtraum seitens der Bevölkerung. Die majestätische Leere von Magistrale und zentralem Platz der DDR-Gestaltung – auch das Platz haben – wurde durchaus als Qualität und Luxus empfunden, dem das „Zubauen“ der Innenstadt mit großformatigen Gebäudeblöcken nach der Wende entgegenstand. Die städtebauliche Figur stieß infolge dessen auch auf Kritik und wurde als „zu eng“ bezeichnet – möglicherweise eine Folge der 40-jährigen Entwöhnung des Städters von der Stadt? Dem repräsentativen Raum der Stadt zwischen Karl-Marx-Denkmal und Rathaus kam in Chemnitz durchaus die Funktion eines Schauraumes zu, der jedoch in seiner Nutzbarkeit stark eingeschränkt war.

Im Vergleich mit der kleinteiligen Gestaltung der kommerziellen Flächen der 70er Jahre wird die ästhetische Leere der Gestaltungen der 90er Jahre als „zu leer“ wahrgenommen. So kommt ein zweischneidiges Urteil über die neue Mitte der Stadt in Chemnitz zustande, die einerseits „zu eng“ und andererseits „zu leer“ ist. Allen kritischen Stimmen zum Trotz spricht die Nutzung der Innenstadt dafür, dass die Aneignung durch Nutzung zu einer rein ästhetischen Aneignung als „schönem Platz“ hinzu kommen muss. Die Inanspruchnahme der Innenstadt durch Konsum wird unseres Erachtens auf Dauer die Identitätsbildung einer funktionalen wie emotionalen Mitte von Chemnitz weitaus stärker prägen als es das Weiterbestehen der sozialistischen Stadtstruktur vermocht hätte.



Kommerzialisierung am Beispiel Erfurt
 
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Abb.10: Die zentralen öffentlichen Räume in Erfurt

 

Die Trennung von repräsentativem Raum und Bedarfsraum mit ihrer jeweils unterschiedlichen Behandlung in der DDR lässt sich am Stadtraum Erfurts noch heute nachvollziehen.
 
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Abb.11: Der Domplatz heute

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Abb.12: Der Domplatz in sozialistischer Planung

 

Während dem bereits durch die Napoleonischen Kriege aufgeweiteten Domvorplatz eine repräsentative Funktion zukam, die zu einer Neugestaltung der Platzoberfläche führte, blieben die übrigen Straßenräume der Erfurter Innenstadt wie der Anger und die Schlösserstraße zunächst ungestaltet. Als Platz für Kundgebungen wurde der Domvorplatz einheitlich gepflastert, wobei unter Verwendung von zwei Steinsorten ein helles Gitter mit dunklerer Füllung entstand, eine Form der Platzgestaltung, die in zahlreichen Städten der DDR Anwendung fand. Nicht ausgeführte Planungen zeigen für den Domvorplatz als dritte – sozialistische – Höhendominante in Konkurrenz zu Dom und Severikirche ein Hotelhochhaus am Petersberg, das der sozialistischen Überhöhung des Vorhandenen dienen sollte. Bislang wurde der Domvorplatz keiner größeren Veränderung unterzogen. Die Aktionsschwerpunkte der Stadt Erfurt lagen nach der Wende an anderer Stelle.

Das alte „bürgerliche“ Zentrum um das Rathaus und der Anger als traditionsreiche Geschäftsstraße blieben bei den Überlegungen zur repräsentativen Gestaltung der sozialistischen Stadt zunächst unberücksichtigt. Als jedoch in den 70er Jahren die Räume des Bedarfs gerade in alte städtische Strukturen gelegt wurden, wurde auch der Anger zur Fußgängerzone nach westlichem Vorbild umgestaltet.

Nach der Wende wurde der Anger als Zentrum des Kommerzes mit zahlreichen Kaufhäusern und Geschäften ausgebaut. Während dieses Konzept am östlichen Ende des Angers erfolgreich umgesetzt werden konnte, ist es an dessen westlichem Ende, dem Hirschgarten, mit Problemen verbunden. Als weiterer zentraler Ort der sozialistischen Stadt war an dieser Stelle der Bau eines Kulturhauses des Volkes vorgesehen, mit dessen Bau in den letzten Jahren des Bestehens der DDR begonnen wurde. Nach der Wende beschloss die Stadt, den Bau nicht fortzuführen, sondern einen neuen Standort für Oper- bzw. Theater auszuweisen. Die neue Oper ist als Zentrum eines neuen Stadtviertels auf dem Standort ehemaliger Fabriken hinter dem Domberg geplant. Zur Finanzierung des neuen Theaterstandortes wurde das alte Grundstück veräußert. Dadurch wurde die Chance vergeben, am Hirschgarten einen neuen repräsentativen Ort zu definieren, und dies, obwohl der heutige Amtssitz der Thüringer Regierung unmittelbar benachbart ist. Anstelle eines repräsentativen Platzes von Kultur und Regierung soll nun am Hirschgarten eine kommerzielle Attraktion angesiedelt werden, die aufgrund des nachlassenden Entwicklungsdruckes bislang jedoch auf sich warten lässt. Ziel ist es, einen handelstechnischen Doppelmagneten mit dem Anger als eingespanntem Laufbogen zu implementieren.
 
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Abb.13: Der Anger nach der Neugestaltung

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Abb.14: Der Anger vor der Neugstaltung

 

Trotz der starken Kommerzialisierung entschloss sich die Stadt nach der Wende erst relativ spät zu einer gestalterischen Aufwertung der innerstädtischen Straßenzüge. Dabei wurde der Anger als erstes in Angriff genommen und bis heute etwa zur Hälfte umgestaltet. Während Bäume und Rückzugsnischen verschwanden, entstanden zahlreiche Stadtmöbel – Bushaltestellen, Pflanzentröge, Lampen, Bänke, Drehstühle, Papierkörbe etc. –, deren Design aufeinander abgestimmt ist. Wesentlich ist dabei, dass alle Elemente gegenüber der Gesamtgestaltung zurücktreten, d.h. sich dem großen Raum-System des Platzes unterordnen, anstatt diesen räumlich in kleinere Unterabschnitte und Teilplätze zu zergliedern. Das Pflaster wird, allein unterbrochen von den Schienensträngen der Straßenbahn, einheitlich von der einen Platzseite zur anderen gespannt. Im Unterschied hierzu seien noch einmal die Gestaltungsprinzipien der 70er Jahre ins Gedächtnis gerufen: diese waren, analog zu Gestaltungsmustern westdeutscher Innenstädte dieser Zeit, räumliche Kleinteiligkeit, die häufig auch in der Pflasterung aufgenommen wurde, Begrünung und Befreiung vom Individualverkehr. Durch die Kleinteiligkeit in der Gestaltung wurde die Aneignung durch die Bewohner erleichtert. Der Wohlfühl- und Traulichkeitsfaktor erschien hoch.
 
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Abb. 15: Perspektive Anger-Neugestaltung

 

Die GTL-Landschaftsarchitekten aus Kassel, Entwurfsverfasser der Neugestaltung des Erfurter Angers in den 90er Jahren, verfolgen hingegen andere Ziele: „Es gilt, eine Oberfläche zu planen, die den langen schmalen und gebogenen Raum zusammenhält [...]. Und komfortabel und repräsentativ muss es sein, damit Erfurt über den Anger promenieren kann. [...] Der Anger füllt sich von alleine. Die Aufgabe der Planung ist es, den Platz frei zu machen. Wir wünschen ein ´So-wenig-als-möglich´ bei hoher Attraktivität des Raumes in Gestalt und Nutzung.“ Die Entwurfshaltung ist räumlich motiviert. Raum wird als bindender Rahmen gesehen, in dem sich das städtische Leben frei ereignen können soll. Auf das Wechselverhältnis von Bindung und Freiheit, das dem Entwurfsgedanken zugrunde liegt, werden wir später noch einmal zu sprechen kommen.

Als Reaktion auf die Neugestaltung des Angers erhoben sich in jüngster Zeit heftige Bürgerproteste, die sich gegen die gewollte ästhetische Leere wenden. Wie sind diese Proteste zu deuten? Wird die beabsichtigte – demokratisch motivierte – räumliche und ästhetische Leere analog zur Leere politischer Räume gelesen, die dem Individuum Möglichkeiten des Rückzugs verweigert? Fühlt sich der Stadtbürger verloren, sobald Repräsentation ins Spiel kommt, auch wenn das abstrakte Subjekt dieser Repräsentation nun nicht mehr der Staat, sondern die Stadtgesellschaft ist?

Waren zentrale Plätze in der DDR als weite offene Räume mit einheitlicher Pflasterung gestaltet, um Platz für Paraden und Fließdemonstrationen zu bieten, bedient sich die Gestaltung nach der politischen Wende häufig großflächiger Gliederung und Weite mit dem Ziel, Nutzungen nicht festzulegen, sondern Vielfalt und Offenheit zuzulassen. In ästhetischer Hinsicht besteht hier eine fatale Ähnlichkeit, die eine ablehnende Haltung der Bevölkerung, wie das Beispiel des Erfurter Angers zeigt, nach sich ziehen kann. Räume des Bedarfs, so scheint es, sollen Räume des Rückzugs bleiben und nicht mit repräsentativen Gesten belegt werden. Für das unauffällige Bad in der Menge werden nach wie vor kleinteilige Räume mit Aufenthaltsnischen gewünscht.

Auch wenn die Abwehr politisch motiviert erscheint, ist an dieser Stelle kritisch anzumerken, dass sie sich trotz unterschiedlicher Geschichte auch als Reaktion auf die Neugestaltung von Innenstadtbereichen in der alten Bundesrepublik findet. Handelt es sich also um eine Reaktion auf die Zumutungen der Moderne, die in den Stadtgestaltungen der 90er Jahre wieder aufscheinen? Oder besteht eine Abneigung gegen repräsentative Auftritte in West wie Ost gleichermaßen? Die Frage muss an dieser Stelle offen bleiben.



Aufhebung und Entwidmung – der Leipziger Sachsenplatz
 
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Abb.16: Der Sachsenplatz

 

Da die Leipziger Altstadt im Krieg weit gehend erhalten blieb, beschränkten sich die sozialistischen Umgestaltungen auf einzelne Bereiche. So heißt es in einer Veröffentlichung zur Stadtgestaltung der DDR aus dem Jahr 1989: „In Leipzig behielt man die Grundstruktur des historischen Zentrums innerhalb des Promenadenrings im wesentlichen bei. Neue räumliche Konzeptionen wurden innerhalb des Altstadtringes zwischen Brühl und Marktplatz (Sachsenplatz), außerhalb durch die Neugestaltung des Karl-Marx-Platzes mit einer vierfachen Größe des Marktes sowie im Bereich zwischen Oper und Hauptbahnhof verwirklicht.“ [Gerd Zeuchner: Stadtgestaltung, Hrsg. vom Institut für Städtebau und Architektur der Bauakademie der DDR, Berlin, 1989, S. 114] Der Sachsenplatz zwischen Markt und Brühl, der bis zum Krieg vollständig bebaut war, erhielt dadurch im Gefüge der Stadt ein besonderes Gewicht. Innerhalb des Rings war dies der einzige Ort, an dem eine „offizielle“, der städtebaulichen Moderne verpflichtete Gestaltung umgesetzt werden konnte. Drei Brunnen an der Ostseite fanden ein formales Pendant in drei Pavillons auf der Westseite des Platzes. Am Brühl entstand eine Kammbebauung, welcher der Informationspavillon der Stadt mit seiner hyperboloiden Dachkonstruktion vorgelagert war.
 
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Abb.17: Lage des Sachsenplatzes in der Innenstadt

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Abb.18: Axonometrie des neuen Museums

 

Nach der Wende besann man sich sehr schnell auf den Vorkriegszustand des Quartiers, so dass der Sachsenplatz als Standort für den Neubau des Kunstmuseums ausgewählt und die Entwidmung des öffentlichen Raums in Angriff genommen wurde. Der im Wettbewerb prämierte Entwurf des Berliner Büros Hufnagel, Pütz, Rafaelian arbeitet mit der Ambivalenz von Platz und Nicht-Platz, indem das Museumsgebäude ganz nach innen gewandt und von einem Rand von Bürgerhäusern umgeben ist. Das Öffentliche verschwindet gewissermaßen im Inneren des Blocks, der sich nach außen als ein ganz gewöhnlicher Stadtbaustein gibt.
 
  Die Akzeptanz dieser Maßnahme wurde dadurch begünstigt, dass der Sachsenplatz als Ort der Begegnung, als Treffpunkt der „Bürger“ oder der „Bürgerbewegung“ im Gegensatz zum benachbarten Markt und dem Thomaskirchhof nie eine Rolle spielte. Als Einschnitt in den historischen Stadtkörper, mit einer offiziellen Gestaltung belegt, deren Architekten sich zudem den Ideen der Moderne verpflichtet fühlten, stieß der Sachsenplatz gewissermaßen auf doppelte Ablehnung seitens der Leipziger Bürger.

Die Inversion oder Umstülpung des öffentlichen Raumes nach Innen durch den neuen Museumsbau bedeutet eine drastische Maßnahme: nicht allein wird der verbleibende öffentliche Raum nach Innen gewendet, die Mittel kultureller Repräsentation werden bewusst aufgegeben und durch ein artifizielles Spiel mit Innen und Außen ersetzt, das sich vom Typus des Messehauses in der Leipziger Altstadt inspirieren ließ. Die Gestaltung des Areals ist auf zweierlei Weise lesbar: Durch die Bürgerhäuser als Blockrand wird der historische Kontext zitiert, während die öffentliche Museumsnutzung in der Mitte des Blocks das moderne Platzkonzept der DDR aufgreift. Die Kombination von beidem erscheint als postmodernes Spiel mit einer doppelten Kodierung des Ortes. Ob sich dieses Konzept der Inversion des Öffentlichen auf Dauer als tragfähig erweisen wird, bleibt abzuwarten.



Banalisierung oder Komplexität? – der Marktplatz in Neustrelitz
 
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Abb.19: Neustrelitz im 18. Jahrhundert

 

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erbauten die Herzöge von Mecklenburg-Neustrelitz das gleichnamige Städtchen als Residenzstadt unweit ihres Herrschersitzes. Das Schloss ist geradlinig mit dem Zentrum der Stadt, einem 1,4 ha großen zentralen quadratischen Marktplatz mit einer Kantenlänge von je 120 m, verbunden. Die Verbindung zum Schloss ist dabei eine von acht Straßen, die sternförmig jeweils von den Ecken bzw. der Kantenmitte des Quadrats ausgehen und von einem achteckigen Vermessungsstein in der Mitte des Platzes aus angelegt wurden. Einer der Eckstrahlen verbindet das Städtchen mit dem nahe gelegenen See. Das Schloss und die direkt am Platz gelegenen Bauten der Hauptkirche und des Rathauses bilden zusammen ein aufeinander bezogenes System öffentlicher Bauten. Unter Vorgabe bauordnerischer Regeln konnten an jeder Kante des Platzes vier Gebäude errichtet werden, wobei sich auch das Rathaus in dieses Schema einfügt. Allein die Kirche nimmt die doppelte Breite ein. Der Marktplatz mit seiner imposanten Geometrie besaß selbst keine weitere Unterteilung und konnte daher den Herzögen als Repräsentationsplatz, den Bürgern für Markt- und Jahrmärkte dienen. Gepflastert war der Platz, wie zu damaliger Zeit üblich, zunächst nicht.
 
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Abb.20: Neustrelitz im 19. Jahrhundert

 

Anderthalb Jahrhunderte lang änderte sich mit Ausnahme einer Teilpflasterung wenig an der Gestalt des Platzes. 1866 wurde dem verstorbenen Großherzog Georg in der Mitte des Platzes ein Denkmal gesetzt, das, dem Geschmack der Zeit entsprechend, mit einem als Grünanlage gestalteten Rondell umgeben wurde. Aufgrund der neuen Gestaltung musste der Marktbetrieb auf einen anderen Platz verlegt werden. Der Platz um die Grünanlage wurde befestigt; das Pflaster wies unterschiedliche Beläge für Fußgänger und Fahrverkehr auf. „Der Neustrelitzer Marktplatz nach 1866 war ein determinierter, durch unterschiedliche Gestalt in verschiedene Nutzungszonen unterteilter Stadtraum: in eine Zone zum Verweilen als Grünanlage und eine Verkehrszone als gepflasterte Fläche“ [Neustrelitz: Denkmalpflegerische Zielplanung für den Marktplatz, o. J.]. Der Platz wandelte sich dadurch langsam vom Multifunktionsplatz zum Verkehrsknotenpunkt.
 
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Abb.21: Planungen für den Markt im III. Reich
 
Die Nationalsozialisten sahen eine vollständige Umgestaltung des ehemaligen Marktplatzes zum „Horst-Wessel-Platz“ vor, durch die der Bezug zum Schloss ebenso verloren gegangen wäre wie die ursprüngliche Einheitlichkeit der Platzanlage. Unter Ausnutzung der natürlichen Schräge des Platzes sollte eine Säulenhalle den Platz in Flächen unterschiedlicher Niveaus aufteilen. Der obere Bereich sollte dabei dem Rathaus zugeordnet werden und als Platz für Versammlungen und Aufmärsche dienen. Der untere Platzteil war als kleinerer Vorplatz für die Kirche gedacht. Ein Drittel der Platzfläche verblieb dem fahrenden und ruhenden Verkehr. Durch den Kriegsbeginn und die damit verbundene Finanzknappheit konnten die Pläne jedoch nicht umgesetzt werden.

Nach Kriegsende diente der Platz als Begräbnisort für gefallene Rotarmisten, welcher mit einem kleinen Tempelchen als Ehrenmal gestaltet wurde. Während das Rondell auf diese Weise erhalten blieb, musste 1956 das Standbild des Großherzogs Georg als Ausdruck einer überwundenen Gesellschaftsform weichen. Nach dem Ende der DDR erging es dem Denkmal für die Rotarmisten nicht anders. Wie andernorts auch, wurde das Gefallenendenkmal abgebaut, der Rotarmist entschwand am Haken eines Baukranes – wie das Lenindenkmal am Platz der Vereinten Nationen in Berlin, dessen Abtransport dem Film „Good bye Lenin“ seinen Namen gab. Die Skelette der Gefallenen wurden exhumiert und an anderer Stelle beerdigt. Die Stadt Neustrelitz stand vor der schwierigen Frage, was an die Stelle des Ehrenmals treten könne.
 
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Abb.22: Die geplante Gestaltung mit Fontäne und Baumrondell

 

In Ermangelung eines Herzogs, eines anonymen Rotarmisten oder einer anderen Bedeutung tragenden Figur nimmt man derzeit Zuflucht zu einer gleichsam positiv besetzten Gestaltungsform mit Naturraumelementen. Im Entwurf der Landschaftsarchitekten Lohaus und Carl aus Hannover, der aus einem Wettbewerb als erster Preis hervorgegangen ist, wird auf die historischen Merkmale des Platzes Bezug genommen, so dass dieser mehrfach lesbar wird. Während der steinerne Belag analog zur einheitlichen Form des Platzes im ersten Jahrhundert seines Bestehens sich über den ganzen Platz zieht, bildet eine Baumgruppe als vertikales Grün in der Mitte des Platzes das Rondell nach. Eine Fontäne nimmt Bezug zum nahe gelegenen See. Die Vogelperspektive der Landschaftsarchitekten zeigt entsprechend nicht mehr das Schloss als Bezugspunkt des Platzes, sondern die blaue Spiegelfläche des Sees.

So bildet nun ein „unschuldiges“ Wasserspiel die Mitte des Platzes und wirft die Frage auf, ob die Aufladung mit Bedeutung, wie sie im Großherzogtum und in der DDR erfolgte und während des Nationalsozialismus geplant war, endgültig ausgedient hat. Kann es nur noch verspielte, mit unverdächtigen Naturelementen ausgestattete öffentliche Räume geben? Ist dies eine Form der Banalisierung öffentlichen Raumes und reicht es aus, der Gestaltung mit ihrer Bezugnahme auf verschiedene historische Zustände des Platzes eine gewisse Komplexität zu verleihen? Gibt es außer gestalterischen Elementen keine Formen öffentlichen Bedeutens?



Partizipation – neue Bürgerstadt Lübben
 
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Abb.23 und 24: Der Lübbener Markt heute

 

In Lübben/Spreewald wurde die Mitte der ehemaligen Altstadt nach den Kriegszerstörungen als Brache liegengelassen. Die Einwohner Lübbens hatten sich nach 40 Jahren an die unbesetzte Mitte gewöhnt und schätzten sogar den Blick von der Kirche bis an den grünen Rand der Spree. Nach der Wende stellte sich die Frage, wie ein erneuter Aneignungsprozess der leeren Mitte als repräsentativem Ort vonstatten gehen könnte.
 
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Abb.25: Alte und neue Bebauung der Westseite

 

Durch einen komplizierten und langwierigen Abstimmungsprozess konnte nicht nur die Wiederbebauung, sondern auch deren konkrete Form beschlossen und eine Einigung über das Verfahren zur Durchführung erzielt werden. Der Entwurf entstand im Rahmen eines Workshops der BTU Cottbus und wurde anschließend vom Büro Nagler, Cottbus, weiter ausgearbeitet, welches den Abstimmungsprozess auch durchgehend begleitete. Die Neubebauung des Marktplatzes greift nicht die historische Form auf. Das historische Rathaus, das ehemals zwischen Marktplatz und Hauptstraße stand, wurde im Krieg zerstört. Vor wenigen Jahren wurde das ehemalige Postgebäude am nördlichen Rand des Platzes zum Rathaus umgebaut. Ein Wiederaufbau um den Markt nach historischem Muster war daher mit Schwierigkeiten behaftet. Einerseits fand sich für einen städtebaulich exponierten Bau wie das ehemalige Rathaus keine passende Nutzung. Andererseits waren die Dimensionen des Platzes ohne die Zeilenbebauung an der Stelle des ehemaligen Rathauses problematisch. Der zur Umsetzung vorgeschlagene Entwurf sieht daher vor, die westliche Platzfront weiter in den Platz hinein zu versetzen, so dass anstelle des west-östlich ausgerichteten ehemaligen Marktes ein nord-südlich ausgerichteter Platz entsteht, der nur wenig kleiner ist als der historische Markt und sich auf das neue Rathausgebäude an der Nordseite des Platzes bezieht. Der neue städtische Blockrand als westlicher Abschluss des Platzes wird auf Einzelparzellen durch lokale Investoren, die am Abstimmungsprozess teilgenommen haben, in den nächsten Jahren errichtet werden.
 
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Abb.26: Entwurf für den Markt in Lübben

 

Die Gestaltungselemente dieses zentralen Raumes inszenieren auf verschiedene Weise Bedeutungselemente der Kleinstadt. Durch die Form des Platzes ist der Bezug zum neuen Rathaus gegeben. Das alte Rathaus wird durch Bepflanzung in etwa an seinem Standort angedeutet. Die alten Parzellenzuschnitte ziehen sich in der Pflasterung als Schnittmuster über den gesamten Platz. Wasserflächen und Bänke in Anlehnung an große Spreekähne sowie Lampenmasten analog zu Spreekahn-Rudeln (Steuerstöcken, mit denen die Spreekähne fortbewegt werden) weisen Lübben als zentralen Ort des Spreewaldes aus. Mit dem Paul-Gerhardt-Denkmal vor der Kirche wird die repräsentative Geste des 19. Jahrhunderts in die Platzgestaltung integriert. Eine unregelmäßige breite Streifenpflasterung um die Kirche führt zu einem bewussteren Schreiten über den ehemaligen Gottesacker.

Für die Umsetzung der Ideen ist es wichtig, dass alle Bedeutungselemente auf abstrakte Art und Weise in Gestaltung übersetzt sind und die Elemente sich nicht hierarchisch einander zuordnen lassen. Wenn zu den vielschichtigen, sinnlich narrativen Gestaltungselementen jedoch der Prozess der Vermittlung hinzukommt, so besteht die Chance, dass der neue Marktplatz von den Bewohnern Lübbens als Eigenes empfunden und angenommen werden kann.



III. Wandel städtischer Identität – Schlussfolgerungen

Abschließend möchten wir auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen, inwiefern der Bedeutungswandel der untersuchten Orte nach der Wende durch gestalterische Eingriffe oder deren Unterlassung Schlussfolgerungen für den zukünftigen Umgang mit öffentlichem Raum zulässt. Diese Frage gewinnt umso mehr an Aktualität als viele Städte in den östlichen Bundesländern von Schrumpfung betroffen sind.

In Zeiten der Schrumpfung sind die öffentlichen Räume kein Luxusobjekt, ist ihre Gestaltung nicht ein freiwilliger Kostenfaktor, der weggespart werden kann. Im Gegenteil, der Pflege der Identitätsfaktoren der Innenstadt kommt ein besonderes Gewicht zu, denn mit der Gestaltung der zentralen Räume hat die Stadt die Chance, sich Raum im Sinne einer aktuellen Selbstvergewisserung anzueignen. Es ist daher zu fragen, welche Formen des Umgangs mit öffentlichem Raum Bindekräfte entfalten können, die eine positive Identifikation mit der Stadt auch unter den Bedingungen der Schrumpfung erlauben.

Die Betrachtung der unterschiedlichen Beispiele zeigt, dass ein positiver Umgang mit öffentlichem Raum zu einer Vielfalt von Aneignungsformen führen sollte. Die anzustrebende Komplexität des Öffentlichen hat dabei mehrere Aspekte, als deren wesentlichste wir Nutzungsvielfalt, eine durch Partizipation vermittelte Gestaltung und die Notwendigkeit der Repräsentation anführen möchten. Während Nutzung den Gebrauchswert des öffentlichen Raumes in einem sehr dinglichen Sinne benennt, ist mit Partizipation die Aneignung des Raumes durch den Einzelnen im Sinne eines ganz konkreten Anteilnehmens gemeint. Für die Gestaltung öffentlicher Räume bedeutet dies, dass der Einzelne nicht nur als Benutzer, sondern gerade auch mit seinen sinnlichen und ästhetischen Bedürfnissen durch die Gestaltung angesprochen werden muss. Vermittlungsprozesse sind an dieser Stelle häufig unerlässlich. Zum dritten geht es aber nicht allein um eine „Anpassung an den Einzelnen“. Als eine wesentliche Aufgabe verbleibt unseres Erachtens dem öffentlichen Raum die Re-Präsentation der Gemeinschaft. Die Stadtgesellschaft als Gemeinwesen ist ihrer Natur nach ein Abstraktum, das allenfalls zu besonderen Anlässen gegenwärtig ist. Der öffentliche Raum hat unseres Erachtens daher die Aufgabe, durch Zeichen und Symbole eine Gemeinschaft zu repräsentieren, d.h. zu vergegenwärtigen, die über die Sphäre des Einzelnen und Privaten hinausgeht. Die drei genannten Aspekte können dabei nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Nur ihre gleichzeitige Berücksichtigung trägt dazu bei, den öffentlichen Raum als komplexes gesellschaftliches Phänomen zu erhalten.



Kommerzialisierung als Nutzungsstrategie – Kulturverlust oder Aneignungsform?

Räume des Bedarfs waren in der DDR als Identifikationsorte geeigneter als die repräsentativen Haupträume der Stadt. Zur kommerziellen Funktion kam häufig jedoch, wie beim geplanten Kulturhaus Erfurt, auch ein kultureller Schwerpunkt als Mittelpunkt der Stadt hinzu. Die Zentren einer Arbeiterkultur dienten zwar auch repräsentativen Zwecken, waren jedoch, anders als die Paradeplätze und Demonstrationsrouten durchaus in der Bevölkerung verwurzelt. An den Wunsch nach einer kulturellen Identität gilt es unseres Erachtens anzuknüpfen.
 
Die Verlagerung des Theaterstandortes in Erfurt dient einer Innenstadterweiterung auf einer ehemaligen Produktionsfläche, so dass die Kommerzialisierung des Angers keiner „Entkulturalisierung“ der Innenstadt gleichkommt. Andernorts, wie beispielsweise in der Kleinstadt Prenzlau, mussten die ehemaligen Kulturzentren in der Innenstadt jedoch ganz dem Kommerz weichen. Im ehemaligen Kinosaal in der Friedrichstraße, der von den Neustrelitzer Bühnen regelmäßig für Gastspiele genutzt wurde und Aufführungsort des Staatlichen Estradenorchesters des Bezirks Neubrandenburg mit Sitz in Prenzlau war, befindet sich heute, unter eingezogener Zwischendecke, ein Discounter. Kulturelle Veranstaltungen sind in ein ehemaliges Kloster am Rande der Innenstadt umgezogen. Der Bedeutungsverlust der Friedrichstraße wird in Prenzlau von den Bewohnern deutlich als solcher wahrgenommen und zutiefst bedauert.


Wie die Beispiele Chemnitz und Erfurt zeigen, leistet die Kommerzialisierung der innerstädtischen Räume jedoch auch einen wichtigen Beitrag zur (Wieder-)Aneignung der Innenstädte durch die Bewohner. Nur durch ein entsprechendes Kaufangebot kommen die Kauf- und Schaulustigen in die Innenstädte. Wir sehen eine direkte Abfolge der Funktion des Kaufens, des Brauchens und Gebrauchens von Stadt, dem Anteilnehmen an und der Identifikation mit der Stadt. Die Kommerzialisierung ist insofern eine Aneignungsform, die zur Identifikation mit der Mitte der Stadt beiträgt.



Die Ambivalenz von Partizipation und Gestaltung

Eine Wegnahme der durch die Veränderung des politischen Systems negativ besetzten Bedeutung und die Auslagerung kultureller und anderer gesellschaftlicher Institutionen mit dem Ergebnis einer reinen Kommerzialisierung und Ästhetisierung des öffentlichen Raumes sind auf Dauer und gerade unter den Bedingungen der Schrumpfung nicht tragfähig. Nur eine neue Aufladung mit Bedeutung – beispielsweise als Standort wichtiger städtischer und kultureller Institutionen –, welche gleichzeitig als Partizipationsbewegung durch die Bevölkerung mit vollzogen wird, kann gemeinschaftliche Räume schaffen, welche im anstehenden Schrumpfungsprozess als Ankerstrukturen dienen können. Den Ankerstrukturen kommt die Aufgabe zu, Gewissheit, Sicherheit und ein Ziel, auf das hin geschrumpft wird, zu vermitteln. Dabei wird Bedeutungshaftigkeit wesentlich durch die Komplexität der Gestaltung gesichert, die lokale Eigenheiten ebenso einbinden sollte wie historische und repräsentative Elemente.

Die Teilhabe am Gestaltungsprozess ist, wie das Beispiel des Lübbener Marktplatzes zeigt, eine wichtige Form der Aneignung, die mit den gestalterischen Absichten und Ansprüchen der Planenden und Entwerfenden vermittelt werden muss, ohne gestalterische Qualität in Frage zu stellen – zugegebenermaßen ein Spagat.



Ein Plädoyer für Repräsentation

Welche Rolle spielen bei einer Neugestaltung die ästhetischen Vorgaben der 90er Jahre, die nicht den kleinteiligen Bedarfsraum nachbilden, sondern Ähnlichkeiten mit den politisch aufgeladenen Paradeplätzen der DDR zu besitzen scheinen? Ist die Ablehnung einer Gestaltungsmaßnahme wie derjenigen am Erfurter Anger ein Indiz dafür, derartige Projekte in Zukunft besser sein zu lassen? Oder müsste die Aufgabe von Partizipation nicht vielmehr darin liegen, die Vorzüge einer Gestaltung deutlicher zu vermitteln, die für eine nutzbare und „erwartungsvolle“ Leere plädiert?

Wird aus der Kritik der Leere die Konsequenz gezogen, Gestaltung nur noch auf das offenkundige Bedürfnis nach Kleinteiligkeit zuzuschneiden, so besteht unseres Erachtens die Gefahr, das Öffentliche dem Bedürfnis nach Privatheit, auch im städtischen Raum, zu opfern. Der repräsentative Auftritt einer abstrakten Institution, sei es der Stadt oder der Demokratie, ist wesentlich für die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft. Maurice Halbwachs sprach von einer „Macht des materiellen Milieus“, welche das Andenken an eine Gruppe bewahrt. [M. Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, FfM, 1985, S. 127] In einer schrumpfenden Gesellschaft wird es auch gerade darum gehen, an die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Gemeinschaft zu erinnern und sich dafür entsprechender Zeichen zu bedienen.

Gerade die Leere als Unbestimmtheit garantiert eine vielfältige Nutzbarkeit der städtischen Innenräume und ist repräsentativ aufladbar. Leere und Zurücknahme können, demokratisch motiviert, als Repräsentationsfigur interpretiert werden. Dabei geht es darum, bindende Elemente vorzugeben, die einen Rahmen aufspannen, der in sich Freiheit birgt und vielfältige Aneignung ermöglicht.

Abschließend sei an ein Schlagwort der arte povera erinnert, die intendierte, so einfach wie möglich zu sein, koste es was es wolle. Die öffentliche Unbestimmtheit und Ungewissheit ist Voraussetzung dafür, dass der städtische Raum soziale Kommunikation und Qualifizierung stiften kann, Ort potenzieller Begegnung wird. Nur unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehender Mittel kann der öffentliche Raum seiner Funktion, zur Förderung sozialer Kompetenz beizutragen, gerecht werden.


Wir danken den Stadtverwaltungen und Stadtarchiven Chemnitz, Erfurt, Neustrelitz und Prenzlau für die Bereitstellung von Plänen, Abbildungen und Informationen. Unser Dank gilt insbesondere auch unseren Gesprächspartnern vor Ort:
Gregor Torsten Kozik, Chemnitz
Dieter Schmitten, Chemnitz
Paul Börsch, Erfurt
Klaus Thomann, Erfurt
Bernd Sikura, Leipzig
Andreas Wolf, Leipzig
Christian Peters, Neustrelitz
Klaus Köhler, Prenzlau
 


 

Literaturverzeichnis:

Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main, 1985 (La mémoire collective, Paris, 1950)

Karl-Marx-Stadt. Wie wir es bauen, Karl-Marx-Stadt, 1962

Autorenkollektiv unter der Leitung von Fred Staufenbiel: Stadtentwicklung und Wohnmilieu von Halle/S. und Halle-Neustadt – Soziologische Studie, Weimar, 1985

Thomas Topfstedt: Städtebau in der DDR 1955-1971, Leipzig, 1988

Fred Staufenbiel: Leben in Städten. Soziale Ziele und Probleme der intensiven Stadtreproduktion – Aspekte kultursoziologischer Architekturforschung, Berlin, 1989

Gerd Zeucher: Stadtgestaltung, Hrsg. vom Institut für Städtebau und Architektur der Bauakademie der DDR, Berlin, 1989

Thomas Topfstedt: Stadtdenkmale im Osten Deutschlands. Fotografien von Bertram Kober, Leipzig, 1994

„Drei Städte in Sachsen“, StadtBauwelt 12 (1996)

Stadt Leipzig, Dezernat Planung und Bau: Gestaltungskonzept für den öffentlichen Raum der Innenstadt, Straßen und Plätze – Funktion und Gestaltung, Leipzig 1997 (Beiträge zur Stadtentwicklung 14)

Hochbauamt der Stadt Leipzig: Geschichte, Aufgaben, Bauvorhaben, Leipzig o. J.

Stadtarchiv Neustrelitz: Neustrelitzer Marktplatzgeschichte in Zahlen, 2001


Abbildungsverzeichnis:

Abb. 1: Stadtplanung und Architektur, Prospekt der Stadt Chemnitz, 2002
Abb. 2: Stadtplanung und Architektur, Prospekt der Stadt Chemnitz, 2002
Abb. 3: Karl-Marx-Stadt. Wie wir es bauen. Karl-Marx-Stadt 1962
Abb. 4: Stadtplanung und Architektur, Prospekt der Stadt Chemnitz, 2002
Abb. 5: Photo Ulrike Sturm
Abb. 6: Kunstprojekt InSicht, Chemnitz 2001
Abb. 7: Photo Ulrike Sturm
Abb. 8: Photo Ulrike Sturm
Abb. 9: Photo Ulrike Sturm
Abb. 10: Stadtkarte Vermessungsamt der Stadt Erfurt; Eintragungen Heinz Nagler
Abb. 11: Thomas Topfstedt: Stadtdenkmale im Osten Deutschlands. Fotografien von Bertram Kober, Leipzig, 1994, Bild 148
Abb. 12: Thomas Topfstedt: Städtebau in der DDR 1955-1971, Leipzig, 1988, S. 117
Abb. 13: Photo Ulrike Sturm
Abb. 14: Photo Ulrike Sturm
Abb. 15: Perspektive GTL-Landschaftsarchitekten, Kassel
Abb. 16: Thomas Topfstedt: Städtebau in der DDR 1955-1971, Leipzig, 1988, Bild 34
Abb. 17: Stadt Leipzig, Dezernat Planung und Bau: Gestaltungskonzept für den öffentlichen Raum der Innenstadt, Straßen und Plätze – Funktion und Gestaltung, Leipzig 1997
Abb. 18: Hochbauamt der Stadt Leipzig: Geschichte, Aufgaben, Bauvorhaben, Leipzig o. J., S. 27
Abb. 19: Stadtarchiv Neustrelitz
Abb. 20: Stadtarchiv Neustrelitz
Abb. 21: Stadtarchiv Neustrelitz
Abb. 22: Perspektive, Büro Lohaus und Carl Hannover
Abb. 23: Photo Heinz Nagler
Abb. 24: Photo Heinz Nagler
Abb. 25: Broschüre Blockkonzept, Büro Nagler, Cottbus
Abb. 26: Plan Büro Nagler, Cottbus
 

 

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8. Jg., Heft 1 (September 2003)