Der öffentliche Raum
in Zeiten der Schrumpfung

8. Jg., Heft 1 (September 2003)    

 

___Frank
Schwartze

Cottbus
  Raum ohne Stadt – zukünftige Gestaltungsaufgaben im offenen und öffentlichen Raum der schrumpfenden Stadt am Beispiel Guben/Gubin

 

 

Die städtebauliche Situation der deutsch-polnischen Grenzstadt Guben/Gubin kann als radikale Überhöhung der erwarteten Konsequenzen der strukturellen Krise in den ostdeutschen Städten gelesen werden: funktionslose Gebäude, leere und abgeräumte Innenstädte, auseinander driftende Siedlungsschollen und ein anhaltender Rückzug der Bewohner aus der Stadt. Die Frage nach dem öffentlichen städtischen Raum in beiden Städten offenbart ein grobes Netz von Räumen ohne Öffentlichkeit, öffentlichen Orten ohne Raum und ideell besetzen Leerräumen, auf die der Wunsch nach Öffentlichkeit projiziert wird.

 

Anhand des Beispieles Guben/Gubin geht der Beitrag zwei Fragen nach, die paradigmatisch für die Frage nach der Bedeutung des öffentlichen Raumes in den ostdeutschen Städten sind:

  1. Brauchen die Städte einen sinnlich und räumlich erfahrbaren öffentlichen Raum als identitätsstiftendes Element für die Zukunft? Die vier Jahrzehnte währende, unvollendete Suche Gubens nach einem neuen Zentrum und der artikulierte Mangel an "städtischem Leben" lassen darauf schließen.
  2. Wie wird mit den anfallenden "offenen" Räumen der Stadt umgegangen, die aufgrund von Nutzungsaufgabe, Abräumung etc. in großem Umfang entstanden sind und zukünftig noch entstehen werden? Eine deutliche Unterscheidung zum öffentlichen städtischen Raum scheint Not zu tun, um angepasste Strategien entwickeln zu können.

 

Im Ausblick wird deutlich, dass die Konstituierung des öffentlichen Raumes keine Frage eines städtebaulichen Projektes ist. Es wird dafür plädiert, die verringerte Nachfrage nach architektonischer und städtebaulicher Gestaltung in den schrumpfenden Städten zu akzeptieren und den Blick für eine städtische Politik zu öffnen, welche die Probleme der schrumpfenden Städte nicht nur gestalterisch und sozial betrachtet. Für diese Politik gibt es allerdings gegenwärtig kaum Akteure und Bewusstsein, was umso mehr die Notwendigkeit eines umfassenden stadtpolitischen Konzeptes für die schrumpfenden Städte in Ostdeutschland verdeutlicht.

 

Grundlage der folgenden Darstellung ist das Forschungsprojekt "Stadt 2030" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), an dem sich die Städte Guben und Gubin in Partnerschaft mit dem Lehrstuhl Städtebau der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) Cottbus und der Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) Brandenburg beteiligen. Die zentrale Frage in diesem Projekt richtet sich auf die gemeinsamen Perspektiven und Umsetzungsstrukturen einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und auf die Frage einer zukünftigen Identität der schrumpfenden Grenzstadt. Den Hintergrund bilden einerseits die Europäische Integration und andererseits die Konsequenzen des massiven Bevölkerungsrückganges auf beiden Seiten der Neiße.

 

Beide Städte befinden sich in einer existenziellen Krise und stehen vor der Aufgabe einer erneuten Umorientierung. Die jüngere Geschichte der Städte ist gekennzeichnet von Brüchen, einschneidenden Entscheidungen und massiven Veränderungsprozessen. Guben ist eine der ältesten Städte der Niederlausitz und war bis Mitte des 19. Jahrhunderts die größte Gemeinde in der Region. 1925 zählte die Stadt über 40.000 Einwohner, vermarktete sich erfolgreich als "Heidelberg des Ostens" und zog scharenweise Ausflügler aus Berlin zum Obst- und Baumblütenfest an. Die Verheerungen des 2. Weltkriegs setzten der voraus gegangenen industriellen Blütezeit der Tuch- und Hutfabrikation allerdings ein jähes Ende. Nach achtwöchigen Kämpfen um die Stadt am Neißeübergang waren 80 % der Stadt östlich des Flusses und 60 % der westlichen Vorstadt vollständig zerstört. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt durch das Potsdamer Abkommen in einen deutschen Teil im Westen und einen polnischen Teil östlich der Neiße geteilt. Der historische Stadtkern, zwischen den Neißebergen und dem Fluss gelegen, befindet sich östlich der Neiße im heutigen Gubin. Im Krieg vollständig zerstört, ist er heute, bis auf das wieder aufgebaute Rathaus und die Ruine der Stadtkirche, nur noch zweidimensional markiert.

 

In Folge der Grenzziehung zogen 13.500 Menschen auf die westliche Seite der Neiße. In der industriell geprägten Klostervorstadt und der gründerzeitlichen Stadterweiterung, wo früher 8.000 Menschen gewohnt hatten, herrschte bis in die 60er Jahre erheblicher Wohnraummangel, der nur langsam durch die Errichtung neuer Wohngebäude ausgeglichen werden konnte. Das Gegenteil war auf der östlichen Seite der Fall. In Gubin wohnten nur noch sieben (!) Prozent der Menschen im Verhältnis zum Stand vor dem Krieg. Die Unsicherheit über die Grenzsituation, die erst mit dem Görlitzer Vertrag von 1950 aufgehoben wurde, und die Beschränkungen des als Militärbezirk ausgewiesenen Stadtkreises Gubin verhinderten bis Mitte der 50er Jahre ein Anwachsen der Bevölkerung. Erst mit dem Beginn der 60er Jahre erfolgte der partielle Wiederaufbau der Stadt und die Bevölkerung stieg auf 12.500 Einwohner. Die neuen Gubiner kamen mit dem Militär oder sie waren Vertriebene aus den von der UdSSR okkupierten polnischen Ostgebieten.

 

Mit dem Bau eines Chemiefaserwerkes im Zuge der DDR-Strukturplanung erlebte Guben ab 1960 einen rasanten Aufschwung. Die 1961 in „Wilhelm-Pieck-Stadt Guben“ umbenannte Stadt wuchs innerhalb von 20 Jahren auf über 37.000 Einwohner an. Zur Sicherung des Wohnungsbedarfes der über 8.000 Beschäftigten des Chemiefaserwerkes wurden mehrere Wohnkomplexe errichtet. Im Zuge dieser Entwicklungen dehnte sich die Stadt in einzelnen Siedlungsschollen immer weiter nach Westen aus.

 

Die aktuelle Situation der beiden Städte ist durch die periphere Lage an der östlichen EU-Außengrenze, durch eine fast 90 %-ige Deindustrialisierung, einen Funktionsverlust sowie einen starken Bevölkerungsrückgang gekennzeichnet. Während in Gubin der Bevölkerungsrückgang nicht genau bezifferbar ist, verliert Guben bereits seit 1981 kontinuierlich an Bevölkerung. 80 % der Migration besteht aus Fernwanderung, derzeit verlassen ca. 70 Personen pro Monat die Stadt. Die Zahl der Einwohner Gubens wird sich laut Prognosen des Landes Brandenburg gemessen an dem Stand 1984 von 34.000 in den kommenden 17 Jahren halbiert haben. Diese Dimension des Bevölkerungsrückganges stellt die Stadt vor die umfassende Aufgabe des Stadtumbaus. Derzeit beträgt die Leerstandsquote stadtweit 21 %, in einigen Quartieren liegt sie bei über 40%. Auch die polnische Nachbarstadt verliert, nach dem Abzug der strukturbestimmenden Garnison, an Bevölkerung, im letzten Jahr allein 1.000 Einwohner.

 

Ausgangspunkt der Arbeit am Forschungsprojekt Stadt 2030 war, dass die Stadt der Zukunft in ihren Baustrukturen und öffentlichen Räumen im Bestand bereits vorhanden ist. Leitfrage war, welche Strukturen, Räume und Orte ein Potenzial für die Zukunft haben und wie dieses aktiviert und quasi aus dem Bestand herausgeschält werden kann. Zur Beantwortung dieser Fragestellung wurde eine umfassende stadtstrukturelle Analyse zur Bewertung der Transformationsfähigkeit der Stadt durchgeführt (Nagler, Kube, Niemann & Schwartze, 2003). Parallel dazu wurde in einem Teilprojekt von Susanne Hauser unter dem Titel "Stadtbilder – eine Erhebung in Guben und Gubin" (Hauser, 2002) eine Interviewstudie durchgeführt, um das Verhältnis der Bewohner der Doppelstadt zu den Orten der Stadt zu ergründen. Auf diese beiden Untersuchungen stützt sich die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum der Stadt.

 

Der Titel "Raum ohne Stadt" bezieht sich auf zwei Arten städtebaulich definierter Räume, nämlich den offenen Raum der Brach- und Leerflächen der Stadt, der durch die Auflassung und Abräumung von Teilen der gebauten Stadt zu einem öffentlichen Gut wird und damit in gestalterische und planerische Verwertungslogik fällt, sowie den städtischen öffentlichen Raum der Straßen und Plätze, der durch seine bauliche, räumliche und funktionale Definition, aber auch durch seine Bedeutung als Ort städtischen Lebens von den Bewohnern als ein für die Stadt wichtiger zentraler Raum der Identifikation betrachtet wird.

 

Diese zwei unterschiedlichen städtebaulich definierten Raumkategorien werden in der Diskussion um den Stadtumbau häufig gleichgesetzt. Es sind aber zwei inhaltlich vollständig unterschiedliche Kategorien. Eine deutliche Trennung voneinander, für die hier plädiert wird, macht deutlich, dass es auch getrennter Strategien und Handlungsansätze für die jeweilige Raumkategorie bedarf.

 

 

Der öffentliche Raum in der Stadt als Identifikationsraum

 

Der zentrale öffentliche Raum beider Städte mit seinen identifikationsstiftenden Strukturen und Elementen von Plätzen, Kirchen etc. ist im Krieg verschwunden. Mit der anschließenden Teilung der Stadt und der Vertreibung der deutschen Bevölkerung auf die Westseite sowie der Ansiedlung aus Ostpolen vertriebener Bevölkerung auf der Ostseite war erst einmal jede Identifikation mit dem für das Innen- und Außenbild der Stadt wichtigen Raum abgerissen.

 

Mit der inhaltlichen Neugründung Gubens als Wilhelm Pieck-Stadt im Jahr 1961 und der durch die Ansiedlung des Chemiefaserkombinates ausgelösten Entwicklung erfolgte die Planung eines neuen Zentrums in der räumlichen Mitte der erweiterten Stadt im Westen. Die Notwendigkeit eines neuen Zentrums wird seitens der Stadtoberen geschickt mit dem politischen Akt der Umbenennung als Wilhelm Pieck-Stadt verbunden. Die durch die Parteiführung gewünschte Aufstellung des Denkmales für Wilhelm Pieck wird mit der Planung eines neuen Zentrums verbunden. In der Begründung zur Ausschreibung des ersten Wettbewerbes zum neuen Zentrum 1961 heißt es: „Die Kommission kam zu dem Schluß, daß der Bau der Gedenkstätte und des Denkmals entsprechend der besonderen Struktur der Stadt nicht losgelöst von einem baulichen Ensemble vorgenommen werden kann. (…) Die Kommission schlägt vor, als erste Maßnahme einen offenen städtebaulichen Wettbewerb durchzuführen, mit dem Ziel, das gesamte Ensemble des sozialistischen Zentrums baulich zu gestalten“ (Bürgermeister Simke in einem Schreiben an den Kreis, 15.12.1960).

 

Die Umsetzung dieses Vorhabens misslingt aus verschiedenen Gründen und führt dazu, dass die drei neu gebauten Wohnkomplexe ihr eigenes "funktionelles" Zentrum bekommen. Dass diese als Orte, die Bindungen und Bezugskräfte entwickeln, nicht geeignet waren, wurde intern thematisiert. Die Werksleitung des Chemiefaserkombinates ging in betriebsinternen sozialpsychologischen Studien der Frage nach, weshalb die Fluktuation der Arbeitskräfte so hoch und wie die konstatierte destruktive Haltung von Jugendlichen zu erklären sei.

 

„Diesen Studien zufolge lagen die Hauptgründe für die Unzufriedenheit der Belegschaft in den zwischenmenschlichen Beziehungen und den Lebensbedingungen, die aus der spezifischen Wohnsituation in den Neubaugebieten resultierten. Diese wiesen nämlich gravierende Mängel hinsichtlich der „geistigen und kulturellen Bildungs- und Unterhaltungsbedürfnisse(n)“ sowie „de(r) ästhetischen Ansprüche(n)“ der Bewohner auf. Dem WK II, einem Wohnbezirk mit 6-8000 Einwohnern, fehle insgesamt „ein Kristallisationspunkt des gesellschaftlichen Lebens“. Dieses Problem sei aber nicht „mit der Gestaltung eines zentralen Platzes“ zu lösen. Deshalb zog es die Werksleitung vor, das für 1974 zu bauende WK IV so zu konstruieren, dass dort von Anfang an ein Zentrum mit Kultureinrichtungen mitgeplant würde. Tatsächlich erhielt diese letzte Neubausiedlung Gubens eine Art Stadtteilzentrum.“ (Rembold, 2003)

 

So wurde dem letzten Wohnkomplex als Zentrum der Stadtneugründer Wilhelm Pieck mit seinem Denkmal hinzugestellt. Das Unbehangen an der Stadt konnte diese Maßnahme aber wohl nicht wesentlich reduzieren, denn bereits seit Anfang der 80er Jahre sank die Einwohnerzahl Gubens kontinuierlich.

 

Der damit zum Ausdruck kommende empfundene Mangel eines Ortes urbaner Öffentlichkeit in der Stadt wirkt bis heute fort. Der letzte Versuch der Rezentrierung, der Gestaltung eines öffentlichen Ortes in der Klostervorstadt direkt westlich der Neiße, harrt bis heute seiner Umsetzung. Er scheitert an den fehlenden Investoren für die beabsichtigten Leitfunktionen Einkaufen und Dienstleistungen. Im polnischen Gubin sind die beabsichtigten Aufbauplanungen in den 90er Jahren für das historische Zentrum mangels Investitionen gescheitert. Ein neuer öffentlicher Ort hat sich quasi als Fehldruck zu dem Zentrum mit dem Markt und einigen Gebäuden am Rand etabliert.

 

Die genannte Befragung zeugt von einem anhaltendem Wunsch nach einem Ort städtischer Öffentlichkeit. "Für alle in Guben Befragten ist die Altstadt in einem nicht befriedigenden Zustand, sie wird meist als zu still, als leer und wenig aktiv und zu wenig attraktiv beschrieben, während sich gleichzeitig viele Wünsche auf das Gebiet richten. (…) Auch diejenigen, die die Altstadt derzeit kaum nutzen, drücken sehr engagiert den Wunsch aus, sie als entspannten und entspannenden urbanen Ort zu erleben" (Hauser, 2002, S. 15f.). Auch in den spielerischen Auseinandersetzungen im Rahmen eines interaktiven Stadtbaukastens, der im Rahmen des Projektes zum Einsatz gekommen ist, ist die Altstadt der Ort, auf den die städtischen Attribute vor allem projiziert werden. Im Rahmen eines Postkartenspiels zum Innenbild der Städte wurde das Café im öffentlichen Raum mit 12 % noch vor der bildhaften Darstellung der Grenzsituation ausgewählt. Dies ist in einer Stadt, die nur über eine Backstube mit Ausschank und ein weiteres Straßencafé verfügt, ein bemerkenswertes Ergebnis.

 

Auch auf der polnischen Seite ist die nicht mehr vorhandene Altstadt der Ort, auf den ein starkes Bedürfnis nach einem öffentlichen Ort und - damit häufig verbunden - einem urbanen Leben projiziert wird. Die kaum noch vorhandene Altstadt wird durchgehend als der Ort der städtischen Mitte und als eigentliches Zentrum thematisiert.

 

Die Persistenz der alten Stadt in den Köpfen der Menschen als ein Ort des öffentlichen und städtischen Lebens scheint somit, selbst wenn sie weitgehend abwesend ist wie im Osten bzw. funktional kaum eine Rolle spielt wie im Westen, immens.

 

Beide Städte leiden so in Ermangelung eines adäquaten Ersatzes bzw. Ersatzangebotes unter dem fast unwiederbringlichem Verlust eines öffentlichen Ortes, den Thomas Sieverts so charakterisiert: "Das alte Stadtgefüge ist nicht wiederholbar, denn der alte historisch geprägte öffentliche Raum ist das Ergebnis Jahrhunderte andauernder räumlicher und zeitlicher Zwänge und deswegen als Erfahrungsraum unwiederbringlich. Er vermittelt eine so reiche Fülle von Austausch und Erlebnisangeboten, wie keine andere räumlich-städtische Struktur, denn er bietet, entstanden unter vorindustriellen räumlich-zeitlichen Zwängen, einen durch jahrhundertelange Entwicklung im Versuch und Irrtum erhärteten Erfahrungsschatz an räumlichen Konfigurationen und Mischungen“ (Sieverts, zit. nach Gerlach & Apolinarski, 1997, S. 170)." Dieser Verlust kann nicht von den eindimensionalen funktionalen Zentren der Siedlungseinheiten übernommen werden, welche die sie bestimmende Funktion ohnehin schon an die großen Märkte abgegeben haben.

 

Auch wenn Guben und Gubin in ihrer Entwicklung einen Sonderfall darstellen, verweist diese spezifische Feststellung auf die Bedeutung des öffentlichen Raumes der kleinteilig organisierten Zentren in den schrumpfenden Städten. Der Verlust der historischen Stadtkerne als identitätsstiftende öffentliche Räume ist kaum zu substituieren und schwächt die Bindekräfte einer Stadt nachhaltig. Die Aktivierung dieser Strukturen oder Reststrukturen ist eine existenzielle Aufgabe für das Überleben der kleinen und mittleren stark schrumpfenden Städte. Diese Aktivierung setzt aber nicht an der baulich-räumlichen Gestalt an, sondern muss an den strukturellen Gegebenheiten beginnen. Basierend auf einer Strategie, die entsprechend des Zitates von Sieverts, eine „Entwicklung in Versuch und Irrtum“ erlaubt. Dies wäre ein Paradigmenwechsel für unsere Profession. Nicht der Entwurf und die Planung eines gewünschten Zustandes steht dabei im Vordergrund, sondern das Eröffnen von Möglichkeiten. Damit wäre untrennbar die Aufgabe der Kontrolle des Ergebnisses verbunden.

 

Hierzu gilt es die Gebiete zu aktivieren, die aufgrund ihrer strukturellen Eigenschaften ein Höchstmaß an Bindungen im öffentlichen Raum mit einem hohen Maß an Freiheit für den Einzelnen verbinden. Im Rahmen der genannten stadtstrukturellen Analyse sind anhand von städtebaulichen Kriterien Gebietskategorien auf Baublockebene ermittelt worden, die hierfür geeignet sind. Dies sind multistabile Gebiete mit hohen Bindungen im öffentlichen Raum und verhältnismäßig großer Freiheit auf dem Grundstück und entwicklungsoffene Gebiete mit geringer Bindung im öffentlichen Raum bei ebenfalls hoher Freiheit auf dem Grundstück. Im Vordergrund steht hier die Entwicklung von Freiheiten, auch ästhetischen Freiheiten, und nicht die Gestalt. Wenn diese Gebiete aktiviert werden sollen, ist es unabdingbar, sich damit auseinanderzusetzen, dass die von Reinheitsvorstellungen geprägten Gestaltvorstellungen von Homogenität und Durchgängigkeit ebenso wie die Fragen des städtebaulichen Denkmalschutzes vor den Fragen der Sicherung einer unwiederbringlichen Vielfalt der Städte zurücktreten müssen, und dass uns der Erhalt der Stadt und ihres öffentlichen Raumes wichtiger ist als der Erhalt eines Hauses, das keine Nutzer findet.

 

Die wichtigste Aufgabe zur Stützung des öffentlichen Raumes ist es deshalb, konkrete Aneignungs- und Nutzungsinteressen zu organisieren. Dies kann, wie im Rahmen des Projektes für Guben und Gubin vorgeschlagen, durch eine Stadtagentur gewährleistet werden. Diese übernimmt drei Aufgaben in einer Hand. Sie ist Stadtumbau-, Stadtentwicklungs- und Beratungs- sowie Marketingorganisation in einem. Sie ist jedoch keinem Teilprogramm verpflichtet, sondern handelt initiativ und querschnittsorientiert im Sinne einer Entwicklungsagentur für die Gesamtstadt.

 

Der offene Raum der Stadt

 

Die zweite Fragestellung bezieht sich auf den Umgang mit den offenen Räumen, die brach gefallen aus der städtischen Nutzung herausgenommen werden. Die bereits existierende Dimension des Leerstands in Guben und Gubin wirft nicht die Frage danach auf, wie die Flächen gestaltet werden können. Es zeichnet sich bereits heute ab, dass der Versuch, alle Quartiere zu halten und die Probleme partiell durch Entdichtung, Umbau und Freiflächengestaltung zu lösen, sowohl die städtische als auch die Siedlungsstruktur vollkommen auflösen wird.

 

Dies wird im Falle Gubens dazu führen, dass die ohnehin geringe Kohärenz auf der Ebene der Gesamtstadt auch in den Quartieren immer weiter abnimmt und mit der gleichzeitigen funktionalen Schwächung alle Bestände in einen Zustand fortdauernder und sich selbst verstärkender Entleerung geraten. Die Kosten für die Maßnahmen zur Gestaltung der durch den Abriss von Wohngebäuden entstehenden Freiflächen, wie am Beispiel des WK IV in Guben ablesbar, sind heute schon nicht mehr aufzubringen und werden von dem rasant anwachsenden Kosten für den Rückbaubedarf aufgefressen. Von der Freiflächenerhaltung ganz zu schweigen.

 

In Anbetracht der Dimension an offenen Flächen, die auf die Städte zukommen könnten, kann es sich als ein großer Fehler erweisen, die entstehende Leere zu ästhetisieren oder als eine neue Qualität zu verkaufen. Über die Frage der Quantität hinaus stellt sich Frage, ob ein gestaltorientierter Ansatz überhaupt die adäquate Reaktion auf das Problem ist. Mit den vielfältigen, in städtebaulichen Workshops und Publikationen dargestellten Konzepten zur Gestaltung der Leerflächen als eine Art "neuer öffentlicher Raum" wird genau das Denken auf die schrumpfenden Städte angewandt, das schon den gesamten Umgang des Städtebaus mit dem städtischen öffentlichen Raum im letzten Jahrhundert gekennzeichnet hat: der aus dem Lebensstilpaternalismus der Moderne erwachsene Versuch, über die Gestalt des Raumes konstitutiv auf die Öffentlichkeit und die öffentliche Nutzung der Stadt einzuwirken.

 

Die Konzepte „Neuer Räume" werden so das gleiche Schicksal erleiden wie die blutarmen Zeugnisse der „Kritischen Rekonstruktion“, die zwar die ästhetische Wiedergewinnung des Stadtraums, aber nicht die Herstellung der strukturellen Eigenheiten der Stadt zum Ziel hatten. Da nützt es nicht viel, wenn zur Unterfütterung der gemapten und animierten Bilder, die von Architekten, Stadtplanern und Landschaftsarchitekten produziert werden, von den Bewohnern neue Interpretationen und Aneignungsformen des Städtischen verlangt werden. In Ermangelung der ja tatsächlich nicht mehr vorhandenen Nachfrage werden temporäre Nutzungen erdacht, welche die Bilder inhaltlich füllen. Wenn dann ein Jahr lang eine Fläche "bespielt" wurde, diese dann wieder dahinsiecht, um darauf zu neuen kreativen Ideen herauszufordern, wenn extensive Grünanlagen, für die sich keine Öffentlichkeit findet, schon im zweiten Jahr nicht mehr gepflegt werden, wird mit der fortschreitenden Überwucherung des wohlmeinenden Ansatzes die Vergeblichkeit des Tuns und der ohnehin als negativ empfundene Prozess des Niedergangs erneut offenbar.

 

Die neue Lust an der Gestaltung dieser Leer-Räume erscheint so als jüngster Versuch der gestaltenden Disziplinen, in Fortführung der Tendenz der vergangenen hundert Jahre dem Ausdruck städtischen Lebens der Menschen ihre Bilder überzustülpen. Die Bewohner der ostdeutschen Schrumpfstädte haben aber mehr Redlichkeit verdient.

 

Die Frage ist doch, wie die Akzeptanz einer ohnehin kommenden Ästhetik des Übergangs in den offenen Räumen der Städte erleichtert wird, ohne dass sie vollkommen als Ästhetik des Untergangs wahrgenommen wird. Das Maß an Umbruch und Erneuerung, dass die Bewohner der Städte in Strukturkrisen erleben, ist ohnehin schon so erheblich, dass nicht der Prozess des Offenen, sondern der Stillstand das Thema sein sollte. Nicht das, was sein könnte in allen Facetten, sondern das was bleibt in aller Normalität.

 

Mögliche Antworten zu der angerissenen Fragestellung zum Umgang mit dem öffentlichen und dem offenen Raum der Stadt lassen sich in vier Konsequenzen darstellen.

 

Die erste Konsequenz heißt, den offenen Raum als öffentlichen städtischen Raum zu minimieren. Weniger Stadt ist nicht mehr, sondern einfach weniger. Die nicht genutzten Bestände und Flächen sind zwar da, fallen aber in einer öffentlich und kollektiv artikulierten Entscheidung nicht mehr unter den gelebten Teil der Stadt. Diesen Prozess haben die Städte Guben und Gubin für einige Teile des Stadtgebietes schon unbewusst vollzogen, und sie tun sich nicht schwer damit. Dies heißt natürlich, zu konzentrieren und Einfluss auf die Lokalisierung dieser Gebiete zu nehmen.

 

Konsequenz zwei heißt Individualisierung und Aneignung. Der in den Veröffentlichungen und Konzepten zum Stadtumbau aufkommende Ruf nach Raumpionieren und Schrebergärtnern, Stadtgründern etc. verbindet sich mit dem Aufgabenspektrum der beschriebenen Stadtagentur. Über die individuelle Zuordnung von Flächen zu einzelnen Nutzern kann der Transformationsprozess erträglich und eine Ästhetik des Übergangs ermöglicht werden. Das wird aber nur über das Prinzip Verantwortung, also durch ziemlich klare Zuordnungen oder Besitz funktionieren. Der abstrakte Prozess des Wandels wird über das Scheitern oder den Erfolg des Einzelnen auf einer Fläche zu einer erzählbaren Geschichte. Dies macht den leeren Raum für den einzelnen nachvollziehbar und erklärbar. Dabei kann sich die Individualisierung auf ganz unterschiedliche Trägerstrukturen wie Personen, Vereine, Stiftungen etc. beziehen.

 

Konsequenz drei: 2D statt 3D. Der Gestaltanspruch an den öffentlichen gebauten Raum der Städte sollte auf seine Funktion als Ordnungsgerüst für Entwicklungsprozesse reduziert werden. Die Gestaltung und Qualität der Oberflächen des öffentlichen Raumes wird weiterhin eine entscheidende Rolle spielen. Seine zukünftige Funktion ist aber Rahmen setzend für Aktivitäten, nicht ästhetisch domestizierend. Das heißt, er muss einfach und klar strukturiert sein und in seiner Ausstattung dort als Impuls wirken, wo es am notwendigsten ist. Hier werden sich die Städte auf die strategisch wichtigen „Gestaltinseln“ konzentrieren müssen.

 

Dies führt zur vierten Konsequenz, die an die erste anknüpft. Die Entscheidung, die geringen Kräfte und Mittel richtig einzusetzen, bedarf einer Auseinandersetzung der Stadtgesellschaft darüber, was ihre Anforderungen an die Stadt sind, was ihnen lieb und teuer ist, worauf sie sich beziehen, was sie schützen und was sie lassen wollen. Hierzu gehört es auch, die Einschränkungen und Bedingungen der kommunalen Haushalte und die Frage der eigenen Beiträge in die Diskussion einzubeziehen. Die bisherigen quartiersbezogenen Ansätze einer Beteiligung der Bewohner an den Abstimmungen über Finanzierungen und Handlungsschwerpunkte muss dazu in einen gesamtstädtischen Aushandlungsprozess übergeleitet werden. Nicht das in der behutsamen Stadterneuerung eingeübte Modell der Besitzstandswahrung kann hier das Vorbild sein, sondern umfassendere Ansätze wie das Modell der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Haushaltsplanung im brasilianischen Porto Alegre (Zimmermann, 2002, S. 283f.). Damit wird die Diskussion um die Gestaltung der schrumpfenden Städte zu einer Diskussion im öffentlichen politischen Raum der Stadt und verdeutlicht die zivilgesellschaftliche Dimension des Projektes.

 

Abschließend kann festgestellt werden, dass in den kurz benannten Konsequenzen, bis auf die Frage der Gestaltung der öffentlichen Flächen des öffentlichen Raums, keine originären Gestaltungsaufgaben für Architektur und Städtebau enthalten sind. Die Bewältigung des städtischen Wandels und damit auch zentral die Frage der Zukunft des öffentlichen Raumes in den schrumpfenden Städten stellt uns nicht vor Fragen nach der Gestaltung des Raums – dieser ist bereits vorhanden. Damit erübrigen sich auch die auf Handlungen fokussierenden Leitbilder oder Raumbilder und/oder Leerraumbilder im Sinne eines "Entwicklungsmodelles, das auf den konkreten Raum projiziert wird und eine räumliche Ausformung kultureller Wertvorstellungen im Sinne einer Idealstruktur darstellt."(Waber, 1996, S. 3)

 

Es geht eher um Strategien, die ein Wiederaufladen der vorhandenen baulich-räumlichen Strukturen ermöglichen, um die Befähigung zur eigenverantwortlichen Entwicklung einer kulturellen Vision über die Stadt und ihren Raum und die Frage, wie entwöhnte Stadtgesellschaften diese Eigenverantwortung übernehmen und umsetzen können. Parallel zu planerischen, technischen und wohnungswirtschaftlichen Fragen des Stadtumbaus wäre also auch ein Programm zur Initiierung von bürgerorientierter Stadtpolitik und eines umsetzungsorientierten Managements notwendig.

 

 

Wenn wir nach Vorbildern suchen, sehe ich den inhaltlichen Bezugspunkt für diese auf die schrumpfenden Städte zukommende Aufgabe nicht in einer Weiterentwicklung eines modernen gestaltorientierten Ansatzes des Städtebaus, sondern in der vormodernen Stadtentwicklung des 19. Jahrhunderts, in der einfache städtebauliche Rahmensetzungen den neuen Entwicklungen Raum gaben und die kommunale Daseinsvorsorge ein rasantes Wachstum organisiert hat. Unter genau umgekehrten Vorzeichen stehen vergleichbare Aufgaben an. Reulecke schreibt hierzu unter dem Titel „Bürgerliche Selbstverwaltung und kommunale Daseinsvorsorge“: „Die Abwehr von im Bürgertum als bedrohlich und potenziell systemzerstörend empfundenen Entscheidungen, die das Wuchern der Städte mit sich gebracht hat, materielle Erwägungen der ihre Selbstverwaltungsfunktionen zunehmend in wirtschaftliche Bereiche ausdehnenden Stadtverwaltungen und das aus älteren Gemeinwohlvorstellungen abgeleitete Pflichtgefühl, den rasant wachsenden Menschenmassen in den Ballungszentren lebensnotwendige Leistungen und Güter zur Verfügung stellen zu müssen, die sie selber nicht erbringen bzw. sich nicht beschaffen konnten, verschmolzen zu einer wachsenden Leistungsbereitschaft im kommunalen Raum."(Reulecke, 1985, S. 62)

 

Dieses als Prozess zu organisieren, braucht geeignete Akteure im Sinne einer New Urban Governance, Initiale durch kulturelle Projekte und konkrete Mitbestimmungsstrukturen, die es erreichen, Engagement für eine lokale Selbstverwaltung der Städte - nicht der Quartiere - zu erzeugen. Der Rückgriff auf das 19. Jahrhundert fordert nicht die Rückkehr der spezifischen Bürgergesellschaft, sondern bezieht sich auf die Art der Problembewältigung, das städtische Management, das die Städte gewählt haben. Dieser Rückgriff lässt verschiedene Analogien und Fragen zu, die es ermöglichen, die Leerstellen zu definieren, die wir im Umgang mit Städten im ergebnisoffenen strukturellen Wandel besetzen müssen.

 

Wer sind die Hobrechts und die namenlosen Ingenieure und Landvermesser, welche die essenzielle Frage der Stadttechnik mit der Aufteilung und Zuteilung der zukünftigen Flächen der Stadt verbunden haben, ohne mit ihren eigenen Gestaltvorstellungen den Einzelnen in seinem persönlichen Gestaltungswillen einzuschränken?

 

Wie kann eine Teilhabe von Interessensgruppen, analog etwa zur Grundbesitzervereinigung, erreicht werden, und welche konkreten Anreize kann es geben, sich in den Umgestaltungsprozess als Stakeholder aktiv einzumischen?

 

Wie gewinnt lokale Politik ihre Selbstbehauptung wieder und entwickelt eine „political leadership", die öffnende Prozesse nach innen zulässt, kreative Beteiligung initiiert und erträgt und nach außen die Städte selbstbewusst vertritt?

 

 

Literatur

Hauser, Susanne, Stadtbilder – Eine Erhebung in Guben und Gubin, 2002. Studie im Rahmen des Forschungsprojektes „Stadt 2030 - Doppelstadt Guben-Gubin“, gefördert mit Mitteln des BMBF (Unv. Projektbericht, BTU Cottbus, 2002).

Nagler, Heinz, Kube, Olaf, Niemann, Lars, Schwartze, Frank, Stadtstrukturelle Untersuchung Guben-Gubin, Studie im Rahmen des Forschungsprojektes „Stadt 2030 - Doppelstadt Guben-Gubin“, gefördert mit Mitteln des BMBF (Unv. Projektbericht, BTU Cottbus, 2003).

Rembold, Elfi: Die Stadt als Großbetrieb: Das Beispiel der Chemiestadt Guben in den sechziger Jahren (Unv. Redemanuskript, 2003).

Reulecke, Jürgen, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1985).

Gerlach, Peter, Apolinarski, Ingrid: Identitätsbildung und Stadtentwicklung (Frankfurt/Main: Lang, 1997).

Simke, Bürgermeister der Stadt Guben in einem Schreiben an den Kreis, 15.12.1960

Waber, Beat: Stadtanalyse auf der Grundlage von Gesellschaftsanalyse in: DISP 125, S. 3, 1996.

Zimmermann, Clovis R, Bürger entscheiden über städtische Investitionen – Porto Alegre, Brasilien: Ein funktionierendes Modell der Partizipation in: Entwicklung und Zusammenarbeit, Nr. 10, 2002.

 


 

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