Der
öffentliche Raum |
||
8. Jg., Heft 1 (September 2003) |
___Christine Weiske Chemnitz |
Straße und Platz: Über die politische Verfassung von Öffentlichkeiten |
Zwei thematische Zusammenhänge und ihr Bezug zueinander stehen im Mittelpunkt meines Vortrages:
I. Öffentlichkeiten als szenische Ereignisse
Straße und Platz
'Straße' und 'Platz' sind in der uns geläufigen europäischen Kultur gut
etablierte Metaphern.
In ihnen verbindet sich das uns gemeinsam verfügbare Wissen über die Stadt und
ihre Baugeschichte mit dem Wissen über städtische Lebensweisen und politisch
organisierte Formen des Zusammenlebens in der Stadt.
'Straße' und 'Platz' sind städtische Räume, deren Zugang schwach reglementiert
ist. Je demokratischer eine Gesellschaft, desto freizügiger die Zugänge. Die
Reglementierungen der Zugänge – z. B. Ausgangssperren für Juden im Dritten
Reich oder Zugangssperren für unerwünschte Personen – verweisen direkt auf
Diskriminierungen und Beschränkungen von Rechten.
Das Recht auf Zugang und Teilhabe ist eine wesentliche Bedingung für
Öffentlichkeit.
'Straße' und 'Platz' sind Sequenzen im Text der Kulturform STADT.
Sie gehören sowohl zum alltäglichen Lebenszusammenhang individueller
StädterInnen als auch zu dem der politischen Gemeinde der Stadt. Allerdings
sind diese Links oder Verknüpfungen nicht permanent in gleicher Intensität
aktiv. Die Ebenen können zu- und weggeschaltet werden. Dafür gibt es
kulturelle Techniken, die die TeilnehmerInnen der Kultur beherrschen. In den
Rollenvorgaben für einen Auftritt in der Stadt sind diese Techniken enthalten:
es gibt Rollen wie die Spaziergängerin, der Dieb, das Liebespaar, der
Festredner, die Demonstranten, die Besatzer...
Der Festredner ist per se eine öffentliche Figur. Das Liebespaar ist eher eine
privatime, also auf sich (und nicht auf eine Öffentlichkeit hin) bezogene
Gruppe – es sei denn ihr Benehmen erlangt öffentliche Aufmerksamkeit. Dann
können Personen in ihren Rollen aus dem introvertierten Privaten in das
Öffentliche treten oder hineingerissen werden.
Wenn das gemeinhin Erwartbare für Auftritte im städtischen Raum (die
kulturelle Norm) überstiegen wird, kann Aufmerksamkeit entstehen.
Öffentliche Aufmerksamkeit: Arena-Situation
und Arena-Effekt
Die öffentliche Aufmerksamkeit ist der Modus, der eine private von
einer öffentlichen Situation unterscheidet. Das Aufnehmen und Variieren von
Rollenvorgaben, die Selbstthematisierung in der Rolle und die Einführung
weiterer Themen, die die Rolle übersteigen oder neue kreieren können,
entzünden das Spiel um die Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit schafft das
Gemeinsame, das eine Gruppe interessiert.
Öffentlichkeiten sind Ereignisse, die auf städtischen Szenen stattfinden. Sie
benötigen Akteure, die sich über ein Thema austauschen und ein Publikum, das
diese Kommunikation mit Aufmerksamkeit beobachtet. Das sind die Elemente einer
Arena-Situation der Öffentlichkeit.
"Eine Arenasituation ist vollzogen, wenn sich zwei klar unterscheidbare Lager
gebildet haben – das Publikum und die Akteure. Aus dieser Konstellation ergibt
sich eine doppelbödige Interaktion zwischen den Akteuren einerseits und den
Akteuren und dem Publikum andererseits: Die Akteure wissen, dass sie
beobachtet werden, und das Publikum weiß, dass die Akteure das wissen. Die
Interaktion mit dem Publikum überformt die Interaktion zwischen den Akteuren,
eine Überformung, die man als Arena-Effekt bezeichnen kann."
(Boettner u. a., 1996)
Dieser Arena-Effekt, der die mehrfache Überlagerung von Interaktionen zwischen
den Akteuren und ihrem Publikum bezeichnet, kreiert Öffentlichkeit als eine
reflexive Situation der Kommunikation und der Orientierung für alle
TeilnehmerInnen.
In diesen Situationen der face-to-face-Kommunikation werden psychische und
soziale Dynamiken generiert, die als kausale Energien Ursache weiterer
Ereignisse werden können (nicht müssen).
Ob sich der Arena-Effekt entzündet, ob die 'Spontaneität' aufbricht, ist nicht
wirklich berechenbar. Das hängt von der politischen Verfassung des Publikums
ab, als das ich die anonymen Mitmenschen auffasse, die ein Thema, eine
Position, eine Rolle in einer Arena annehmen und aktivieren oder nicht.
Eine Arena-Situation – die Öffentlichkeit – ist durch ihre sozialen Dynamiken
gekennzeichnet. Das lässt sich an zwei Fotos auf demselben Platz gut zeigen:
Die Szene und ihre materiellen Konstituanten sind weit übereinstimmend, die
Dynamiken sind überaus verschieden. Die soziale Dynamik erschließt sich meines
Erachtens über folgende analytische Kriterien:
Der Zugang zur Öffentlichkeit
– selbstbestimmte An- oder Abwesenheit, Wahl der Rolle im Arrangement der
Öffentlichkeit
a) verpflichtende Anwesenheit, Vorgabe eines engen Verhaltensspektrums
b) gewählte Anwesenheit, Möglichkeiten eines weiteren Verhaltensspektrums
Das Thema – in dem das Engagement zum Handeln eingeschlossen ist
a) Legitimation von politischer Herrschaft
b) Delegitimation von politischer Herrschaft
Die Mitsprache (Partizipation) – auf dem die Reflexivität öffentlicher Arrangements beruht.
Sie wirkt auf die Folgen des Ereignisses – gesellschaftliches Lernen und sozialer Wandel.
Zusammenfassung
Öffentlichkeiten sind szenische und damit kommunikative Arrangements, in denen
zumindest die Rollen der Akteure und des Publikums besetzt sein müssen. Sie
setzen eine demokratische Kultur voraus. Sie inszenieren mehrfach reflexive
Beziehungen zwischen den Akteuren und dem Publikum, in denen das Thema und
seine Bedeutung verhandelt wird. Öffentlichkeiten können spontane soziale
Dynamiken kreieren und damit den sozialen Wandel vorantreiben.
Öffentlichkeiten entscheiden über die Legitimierung oder Delegitimierung von
Akteuren und deren Strategien (hier rekurriere ich auf den Macht-Begriff bei
Hannah Arendt). Sie sind sozusagen ursprünglicher oder archaischer als das
verfasste Recht und eignen sich demnach in besonderer Weise, wenn das Recht
oder die Routinen obsolet geworden sind und reformiert werden müssen.
Öffentlichkeiten können von unterschiedlichsten Akteuren angestoßen werden:
politische Organisationen und Interessenvertretungen, Regierungen und
Verwaltungen, Ausstellungsmacher und Künstler, Architektinnen und Planer und
jeder Mensch mit Bürgerrechten.
Öffentlichkeitsarbeit, Public Relations oder Public Design entwickelt sich zu
einem eigenen Berufsfeld.
II. Der Zusammenhang
zwischen der Kultur städtischer Öffentlichkeiten und dem Verlauf der
regressiven Entwicklung/der Schrumpfung von Städten
Was haben Öffentlichkeit als szenisches Ereignis und Regression oder
Schrumpfung miteinander zu tun?
Regression und Schrumpfung sind
Entwicklungen, die Werte außer Kraft und Geltung setzen. Das ist mit Leerstand
und Brachflächen ausgedrückt. Anders als bei Kleidern oder Möbeln oder
Computern, die ja auch zyklisch abgewertet und recycelt werden, werfen die
Immobilität der entwerteten Güter und ihre Allokationen Probleme auf.
Die professionellen Routinen der Entscheider greifen und steuern nicht mehr
ausreichend, die bisherigen Logiken des Wirtschaftens verlieren ihren Sinn.
Das Aussetzen von Entscheidungen ist die Folge – der Prozess läuft weiter
ungesteuert.
Die Schrumpfung von Städten und die Regression des Siedlungssystems wird als
solche von niemandem gewollt – das sind die nicht intendierten Folgen von
Handlungen, die auf ganz andere Ziele gerichtet sind.
Die Verursacher der Regression sind zumeist abwesend am Ort des Problems: es
sind die Abwanderer, die Suburbaniten, die Nicht-Mütter und Nicht-Väter, die
Nicht-Investoren, die Nicht-Unternehmer usw. Das Verursacherprinzip ist nicht
anwendbar auf sie.
Die professionelle Planung – die vor allem eine top-down-Planung mittels
Expertenhandeln ist – sucht nach angemessenen Instrumenten und Verfahren, um
eine Kontraktionspolitik zu betreiben.
Die ersten Erfahrungen mit den Integrierten Stadtentwicklungskonzepten liegen
vor und bieten interessante Anstöße zum Thema: Kontraktions-Politiken.
Ich möchte die folgenden Thesen zur Diskussion stellen:
In der Phase der Kontraktion des Siedlungssystems müssen sich dessen
NutzerInnen sammeln (oder kontrahieren). Das ist das Bild von der Oase in der
Wüste. Bei einer Oase, weiß man, sammelt man sich um einen Brunnen – das
Wasser gibt den ausschlaggebenden Anlass zur Sammlung.
Das ist der Unterschied zur Situation der Regression des Siedlungssystems.
Wasser gibt es überall wie Wohnungen, Straßen, Schulen etc. Aber keiner kann
wissen, wo es das demnächst noch geben wird. Dafür gibt es keine objektiven
Kriterien. Die Regression sozialer Systeme verläuft nach Kriterien, die
abhängig sind von den Subjekten der Entscheidungen. In modernen
und demokratischen Gesellschaften haben viele individuelle und entbundene
Menschen hohe Entscheidungskompetenzen, die sie auch praktizieren.
Wo die entscheidungsfähigen Subjekte mit ihrer öffentlichen Ausstrahlung sind,
werden sich die frei flottierenden NutzerInnen mit ihren Erwartungen und
Nachfragen ansammeln. In diesen kommunikativen Kontexten können die Werte
der Güter aufrechterhalten werden, die Entwertung ist kein
flächendeckendes Phänomen. Die Sicherung der Werte in Kontraktionszentren wird
in einer öffentlichen Kommunikation per Verhandlung betrieben. Die Analogien
zu Friedensverhandlungen liegen auf der Hand.
Die Kultur der lokalen Verhandlungssysteme entscheidet über die Muster der
Kontraktion. Die bisher erfolgreichen Verhandlungssysteme sind eher klein –
ich denke an Fallbeispiele wie die Stadtteilinitiative Hutholz in Chemnitz und
kleinere Städte wie Gröditz (Sieger im Bundeswettbewerb Stadtumbau Ost 2002).
'Klein' meint hier: übersichtlich, berechenbar, ohne böse Überraschungen und
auf Teilräume bezogen. Die Veranstalter der Öffentlichkeiten schließen
anscheinend den Arena-Effekt von vornherein aus durch die Reglementierung der
Zugänge für die TeilnehmerInnen und durch die a-priori-Beschränkung der
Themen. Dadurch entstehen 'kleine Welten' als kleine Städte oder Stadtteile,
deren Zusammenhang untereinander vorläufig unverhandelt bleibt. Spätestens die
offenen Fragen bei der Betreibung der technischen und sozialen Infrastrukturen
machen klar, dass die kleinen Welten nicht autonom sind.
Alles, was wir über das Funktionieren von Öffentlichkeiten wissen, sollten wir
einsetzen, um solche Öffentlichkeiten zu betreiben, die dem Problem angemessen
sind. Einsame Entscheidungen – auch wenn sie kompetent und wissensbasiert sind
– sind nicht möglich, weil der Verlauf der sozialen Regressionen
Verhandlungssache ist.
Literatur:
Arendt, Hannah (1981): Macht und Gewalt. München.
Boettner, Johannes & Rempel, Katja (1996): Kleine Stadt, was nun? Weimar auf
dem Weg zur Kulturstadt Europas. Bauhaus-Universität Weimar.