8. Jg., Heft 2 (März 2004)    

 

___Uwe Altrock
Cottbus
  Stadtbaukultur – Modebegriff oder innovatives Programm?

 

   

1. Einführung

Im Anspruch der Stadtplanung sind die beiden wesentlichen Hoffnungen, die sich mit dem Einsatz des Begriffs „Kultur“ als Richtschnur für die Berufspraxis im Bauwesen verbinden, auf eine äußerst widersprüchliche Weise miteinander verquickt. D
abei geht es einerseits um das Verständnis von Kultur als Prozesskultur und andererseits um die ergebnisorientierte Planungskultur im engeren Sinne, die sich in einer besonderen Qualität unserer planerischen Leitvorstellungen niederschlagen soll, also, wenn man so will, in einem Bekenntnis zu Ästhetik, ökologischer Sensibilität oder auch Verantwortungsbewusstsein für die sozial Benachteiligten. Auf diese Verquickung kann hier schon aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden – sie bestimmt weite Teile der internationalen planungstheoretischen Debatte (für einen knappen aktuellen Überblick vgl. Allmendinger/Tewdwr-Jones 2002). Die Vielfalt der Ansprüche an „Planungskultur“ ist einerseits beachtlich, da in ihnen großes Verantwortungsbewusstsein für öffentliches Handeln mitschwingt. Andererseits droht die Planungspraxis an der herkulischen Aufgabe einer Integration dieser auseinander strebenden Ansprüche immer wieder zu scheitern. Doch nicht nur im Einzelfall – beinahe in periodischen Abständen wird die Planung insgesamt in Frage gestellt und erlebt dann eine Neuaufladung mit Leitbegriffen, die nun endlich eine Verbesserung der Planungspraxis sicherstellen sollen. So auch im Fall der aktuellen Debatte um „Planungskultur“ oder „Stadtbaukultur“. Wenn bisweilen der Eindruck aufkommt, es handle sich bei diesen Begriffen um alten Wein in neuen Schläuchen, so liegt das auch an der beschriebenen Tendenz zum Scheitern und zur Wiederauferstehung.



2. Statt einer Definition: eine persönliche Positionsbestimmung zum Begriff der „Stadtbaukultur“

So kritisch man die Wirkungen der Propagierung des Leitbegriffs der „Stadtbaukultur“ auch einschätzen mag, wird man nicht umhin können, die öffentliche Debatte um diesen Begriff als Ausdruck eines neuerlichen Versuchs der Stärkung von Planung im gesellschaftspolitischen Diskurs zu begreifen. Deswegen möchte ich mich an dieser Stelle auch ausdrücklich zum Begriff der Stadtbaukultur bekennen, so wenig ich an die schöpferische Kraft des Begriffs glaube. Allein die stets aktuelle Notwendigkeit von Stadtbaukultur ins gesellschaftliche Bewusstsein zu heben, verdient Beachtung.

Wenn aber im Folgenden fast ausschließlich skeptische oder gar negativ klingende Einschätzungen zur Sprache kommen, soll das also keineswegs eine Absage an Stadtbaukultur bedeuten. Nein, ganz im Gegenteil. Gerade aus einer Befürwortung des Begriffs heraus halte ich es allerdings für geboten, kritische Anmerkungen zu der Verwendung des Begriffs zu machen. Ich möchte damit den Blick schärfen für die Grenzen, denen sich eine Stadtbaukultur-Bewegung stellen muss. Damit will ich auf die folgende Kernthese meiner Ausführungen aufmerksam machen:

Es ist nicht damit zu rechnen, dass durch Einführung eines neuen Leitbegriffs auf einmal grundlegende Veränderungen in der Praxis zu erwarten sind. Ja, ich würde sogar noch weiter gehen und davor warnen, durch einen sehr allgemein formulierten Begriff möglicherweise falsche Partner ins Boot zu holen. Wenn die lange bekannten Ansprüche an Planung durch die Diskussion über Stadtbaukultur ein wenig mehr gesellschaftliches Gehör finden, war dies vermutlich den Aufwand bereits wert.

Lassen Sie mich dazu einleitend gleichnisartig eine Anekdote erzählen. Ich bin seit einigen Jahren Mitglied einer weltweit tätigen Menschenrechtsorganisation. Diese hat in Deutschland etwa 35.000 Mitglieder, in den sehr viel kleineren Niederlanden
aber etwa 100.000. Da sich seit den 1990er Jahren zahlreiche soziale Bewegungen in einer Finanzkrise befinden – die Gründe sind vielfältig, und ich will nur den gesellschaftlichen Trend zur Individualisierung nennen -, wird auf Jahresversammlungen immer wieder daran appelliert, sich für ein Wachstum der Organisation einzusetzen. Das Beispiel der Niederlande zeige doch, welches Wachstumspotential bestehe, und eine größere Basis an Mitgliedern stärke die inhaltlichen und damit letztlich auch die finanziellen Möglichkeiten der Organisation. Es wird an alle Mitglieder appelliert, sich verstärkt an Mitgliederwerbung zu beteiligen, Finanzpläne werden aufgestellt, die von erhöhten Einnahmen ausgehen – selbstverständlich sehr vorsichtig -, und Strategiepapiere entworfen, in denen sich vielfältige Maßnahmen dazu finden. Tatsächlich ist dadurch die Organisation auch gewachsen, doch in einem weitaus bescheideneren Umfang als erhofft, und die Verhältnisse der Niederlande sind selbstverständlich nicht erreicht worden. Der Schlüssel zum Verständnis dessen, was in dieser Organisation passiert ist, dürfte in einer oberflächlichen Analyse der Pfadabhängigkeit von gesellschaftlichen Bewegungen, in einer unzureichenden Wahrnehmung gesamtgesellschaftlicher Trends der 1990er Jahre und in einer Überschätzung der Mobilisierungsfähigkeit von Bewegungen aus sich selbst heraus liegen.

Ich möchte das dahinter steckende Muster, das in ähnlichen Situationen häufig anzutreffen ist, das Münchhausen-Phänomen nennen. Interessant an ihm ist nicht die Tatsache, dass wir an ihm auf einmal neue, unerforschte gesellschaftswissenschaftliche Rahmenbedingungen entdecken würden. Die von mir genannten sind alle hinlänglich bekannt und analysiert. Interessant ist vielmehr, dass dennoch, also trotz der Kenntnis dieser Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Subsysteme in der Lage sind, die darin liegenden Begrenzungen ihres Handelns auszublenden.

Meine Befürchtung ist, dass uns so etwas mit dem Begriff der „Stadtbaukultur“ auch passieren könnte. Aber warum eigentlich Befürchtung? Die von mir geschilderte Organisation ist doch gewachsen, wenn auch nicht in dem angepeilten Umfang, so mögen Sie sagen. Die Problematik liegt in zweierlei. Erstens liegt sie in der Gefahr, aus Überschätzung der Möglichkeiten auch überoptimistische Prognosen zu erstellen und auf ihnen aufbauend dann – z. B. mit einer knappen Finanzdecke – auf einmal überambitionierte Projekte zu beginnen. Zweitens liegt sie darin, dass wegen der hochgesteckten Ziele, wenn sich andeutet, dass diese kaum erreichbar sind, schließlich et
ablierte und wohlüberlegte Institutionen entwertet werden, um die Ziele vielleicht doch noch erreichbar zu machen. In der Sprache der beschriebenen Organisation bedeutet das, die Gefahr des inflationären Einsatzes von professionellen Mitgliedswerbern (um eben das angepeilte Wachstum zu erreichen, das die Mitglieder selbst mit ihren Anstrengungen nicht geschafft haben), die nicht einmal der Organisation angehören. Diese Mitgliedswerber stehen auf der Straße in einer Reihe mit Zeitungsabonnentenwerbern oder noch aufdringlicheren Werbestrategien und schaden damit u. U. dem Renommee der Organisation, für die sie werben.

Mein Beitrag will also im Wesentlichen auf die Gefahren einer Überschätzung der Möglichkeiten des Münchhausen-Phänomens bei der Hinwendung zum Leitbegriff der „Stadtbaukultur“ hinweisen. In meinen Folgerungen werde ich zu diskutieren versuchen, was die Kenntnis dieser Gefahren für die Stadtbaukultur-Bewegung bedeuten könnte.



3. Analyse

Meine Untersuchung stützt sich d
abei auf den Vergleich der derzeitigen Begriffskonjunktur, die Baukultur oder Stadtbaukultur durchlebt, mit drei anderen gesellschaftlichen Prozessen, die Ihnen allen im Prinzip bekannt sind, und die Hinweise auf den möglichen Verlauf der weiteren Debatte um Bau- und Stadtbaukultur geben können. Es handelt sich um die drei Leitbegriffe „Partizipation“, „Nutzungsmischung“ und „Nachhaltigkeit“, die alle aus der Planung stammen und damit in einem ähnlichen gesellschaftlichen Kontext wie der Begriff Stadtbaukultur zum Einsatz kommen bzw. gekommen sind. Ich werde an dieser Stelle nicht auf die andernorts analysierten Widersprüche zwischen zwei verschiedenen Anwendungsbereichen des Begriffs „Leitbild“ eingehen (Altrock 2002), möchte aber dennoch darauf hinweisen, was üblicherweise von Leitbildern erwartet wird, nämlich eine gewisse „Motivationsfunktion“, eine „Orientierungsfunktion“ und eine „Koordinierungsfunktion“ in gesellschaftlichen Debatten und Entscheidungsprozessen (Sieverts 1999). Für die folgenden Ausführungen sind Motivations- und Orientierungsfunktion entscheidend, d. h. ich gehe davon aus, dass die genannten Leitbegriffe bis zu einem gewissen Grad als planerische „Leitbilder“ angesehen werden können. Ich behaupte - und versuche, dies anhand der Konjunktur der drei Begriffe zu belegen -, dass diese nur sehr unzureichend motivierend und orientierend wirken, ihre koordinierende Wirkung aber schnell einmal in eine hegemoniale Verkürzung von Debatten umschlagen kann.


3.1  Partizipation
Begreifen wir die Debatte um Partizipation im engeren Sinne als Frage nach dem Umfang von Bürgerbeteiligung bzw. Bürgermitwirkung am Planungsprozess, dann handelt es sich um einen schillernden Leitbegriff, der inzwischen zumindest in den akademischen Auseinandersetzungen über Planung hegemonialen Charakter erlangt hat (auf die Wege dorthin soll hier nicht näher eingegangen werden, vgl. zur aktuellen Praxis z. B. Healey 1997). Das bedeutet freilich nicht, dass deshalb der Standard von Beteiligung in der Praxis dem entspricht oder dort eine breite Bürgerbeteiligung auch nur unumstritten wäre. Der Anspruch nach Partizipation lässt sich bereits sehr früh nachweisen, doch findet er seinen breiten Niederschlag in der Planung nach den Umwälzungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Seitdem ist es bekanntermaßen mit dem informellen Stellenwert von Bürgerbeteiligung nicht nur aufwärts gegangen, ja selbst die Praxis nach dem planungsrechtlich gebotenen Standard gibt immer wieder zu Frustration Anlass.
Versuchen wir, die Konjunktur von Bürgerbeteiligung seit ihrer Einführung in das Bauleitplanverfahren näher zu beleuchten, lassen sich einige Beobachtungen anstellen, von denen hier lediglich auf diejenigen eingegangen werden soll, die am Begriff der Bürgerbeteiligung besonders gut nachvollziehbar sind – einige der Beobachtungen, die nachfolgend bei der Untersuchung von Nutzungsmischung und Nachhaltigkeit vorgestellt werden, könnten auch bei der Bürgerbeteiligung gemacht werden und umgekehrt:
 

·         Abhängigkeit von wirtschaftlicher Dynamik

·         Begrenzte Möglichkeit des „Mainstreaming“

·         Gleichzeitigkeit von methodischer Vertiefung und gesamtgesellschaftlicher Infragestellung

·         Herausdifferenzierung eines „zugebilligten Einsatzbereichs“

 

Die Abhängigkeit des Grades von Partizipation von der wirtschaftlichen Dynamik bildet für mich einen Schlüssel zum Verständnis der Städtebaukulturdebatte. Es geht in dieser um den Versuch eines Mainstreaming in der Profession weitgehend anerkannter und zumindest theoretisch gängiger Anforderungen an die Planung. Im planungspolitischen Alltag wird über sie allerdings dann tendenziell hinweggegangen, wenn in stürmischen Zeiten oder in einer totalen wirtschaftlichen Flaute stark auf außerplanerische Gegebenheiten eingegangen wird. In weniger außergewöhnlichen Zeiten wird dann versucht, mittels Planungskultur das zu reparieren, was unter vermeintlichen Sonderbedingungen schief gegangen ist. Mit anderen Worten kämpft die Planungsprofession dann wieder stärker um Gehör, wenn andere Akteure ihr gerade einmal nicht die Argumentationshoheit streitig machen (Altrock 2001, Lenhart 1998). Doch das wird wohl immer wieder passieren.
Es ist weiter interessant zu beobachten, dass weitgehend unabhängig von einander einerseits Verfechter von Partizipation immer weiter an einer Optimierung und Verfeinerung der dafür wichtigen Modelle arbeiten (Bischoff et al. 1995), während sich andererseits gesamtgesellschaftlich die Kräfte formieren, die aus der Frustration über die (geringen) Alltagswirkungen von Partizipation und deren störendem Charakter in der geschmeidigen Durchsetzung von Entscheidungen an ihrer gesellschaftlichen Infragestellung arbeiten – und das natürlich auch wissenschaftlich (vgl. für die Praxis beispielsweise die weit reichenden Änderungen des Planungsrechts nach der deutschen Einigung im Jahre 1993, die sämtlich Beschleunigungsziele verfolgten, und für die Wissenschaft beispielsweise die Debatte um NIMBYismus (von not in my backyard, deutsch: St.-Florians-Prinzip, vgl. Wolsink 2002). Diese widersprüchliche Gleichzeitigkeit ist übrigens keineswegs ein Spezifikum des hier behandelten Gegenstands, doch sie trägt zu einer ständigen Neuverhandlung des gesellschaftlichen Einflusses von Partizipationskonzepten bei, was die Sicherung des Erreichten so schwierig macht.
Man kann sogar weitergehend konstatieren, dass sich inzwischen gewissermaßen ein „zugebilligter Einsatzbereich“ herausgebildet hat. Damit ist gemeint, dass unter allen einflussreichen Akteuren der Stadtproduktion ein Konsens darüber herrscht, dass in bestimmten Aufgabenfeldern der Stadtplanung – wie etwa die behutsame Stadterneuerung und das Quartiersmanagement – Partizipation nicht nur formal, sondern auch darüber hinaus inhaltlich ernst zu nehmen sei. Andererseits sieht es außerhalb dieses Bereichs – etwa im Aus- und Umbau von central business districts und anderer wichtiger Büroagglomerationen - eher mau aus (als eindrucksvollster Beleg sei hier nur die Stadtentwicklungspolitik in London genannt, wo der Stadtbezirk City of London weit reichende Entscheidungsvollmachten für die Weiterentwicklung der City besitzt und die London Docklands Development Corporation in den 1980er und 1990er Jahren die Konversion der Docklands ohne maßgeblichen Einfluss partizipativer Prozesse durchführen konnte (Brindley et al 1989, vgl. auch Altrock 2001 für eine Analyse der Situation in Berlin). Je stärker die Lebenswelt von Bewohnern ganz konkret betroffen ist, desto eindeutiger ist der oben erwähnte Konsens. Dagegen ist er nur eingeschränkt eindeutiger, je mehr Personen nur mittelbar betroffen sind. Kein Bewohner muss den Einsatzbereich wirklich einfordern, wenn der Konsens herrscht. Vielmehr wird er von vornherein von den übrigen Akteuren akzeptiert. Der Grad der Akzeptanz durch sie bestimmt auch die tatsächliche Rolle von Partizipation, die letztlich nicht so sehr viel mit den planungsrechtlichen Standards zu tun hat – viele Planungsämter könnten sehr häufig nachweisen, dass sie über die juristisch geforderten Standards hinausgehen, ohne dass dies viel bewirken würde (und selbstverständlich gab es auch bei der Konversion der Londoner Docklands formale Beteiligungsprozesse).


3.2  Nutzungsmischung
Der Aufschwung des für die normativ ausgerichtete Planungspraxis paradigmatischen Begriffs der Nutzungsmischung wird für gewöhnlich mit der Überwindung der städtebaulichen Moderne assoziiert. Sieht man genauer hin, so stellt man mehrerlei fest:
 

·         Frühe akademische Vorgeschichte des Begriffs und Befruchtung von außen

·         Auseinanderklaffen von Begriffsverwendung und ökonomischer Realität

·         Unscharfe Verwendung des Begriffs als Motor von weiteren innovativen Differenzierungen

·         Anpassung des Begriffs im Lauf der Zeit


Erstens geht die Hochkonjunktur des Begriffs viel weiter zurück, nämlich mindestens bis zu Jane Jacobs, wie so oft in ähnlichen Situationen einer Nicht-Planerin, die bereits in den frühen 1960er Jahren für eine Verbreitung der damit zusammenhängenden Ideen sorgte (Jacobs 1961). Selbst in der Planungspraxis ist zu beobachten, dass die eigentlichen Ziele von Nutzungsmischung wie etwa eine fußläufige Nähe von Wohnen und Arbeiten oder die Lebendigkeit von Stadtquartieren durch die enge räumliche Verschränkung von unterschiedlichen Nutzungen bereits im städtebaulichen Leitbild „Urbanität durch Dichte“ zu finden sind, wie immer man seine Resultate beurteilen mag – retrospektiv betrachtet üblicherweise der späten industrialisierten Moderne zugeordnet. Mit anderen Worten liegen die Wurzeln des Leitbegriffs mindestens zehn, wenn nicht gar zwanzig Jahre vor seiner hegemonialen Verbreitung, der massive Versuch einer Ablösung des Vorgängerleitbilds hat also ausgeprägte Wurzeln in der Fachwelt und über sie hinaus. Auch die wissenschaftliche Untersuchung der Möglichkeiten von Nutzungsmischung hat lange vor den entsprechenden Forschungsvorhaben des „Experimentellen Wohnungs- und Städtebaus“ (ExWoSt) oder anderen Gutachten von Bundeseinrichtungen stattgefunden, nämlich mindestens ab Anfang der 1970er Jahre (vgl. dazu ausführlich Kuder 2002). Die Vorbereitungen für eine Hegemonie des Begriffs dauerten eine Planergeneration, und das ist, wie andere Beispiele zeigen, vermutlich kein Zufall, sondern deutet auf die Art und Weise der Erringung von Hegemonie, die ganz wesentlich mit der Ablösung einer professionellen Kohorte zusammenzuhängen scheint.
Man ist also versucht, Stillstand beim Thema Nutzungsmischung für eine Reihe von Jahren zu konstatieren. Dies hängt ganz eng mit einer weiteren Beobachtung zusammen, der Tatsache, dass Leitbegriff und ökonomische Realität weit auseinanderklaffen. Mit planerischen Mitteln die weiterhin nutzungstrennenden Tendenzen von Unternehmenskonzentrationen und Optimierung des Warenflusses usw. umkehren zu können, ist in der späten Industriegesellschaft zum Scheitern verurteilt, vor allem, wenn man noch die Problematik der Trägerschaft in der Stadtproduktion hinzuzieht, wo beispielsweise gebäudebezogene Nutzungsmischung lange an der Bequemlichkeit von Investoren im sozialen Wohnungsbau oder auch an der Logik von Büroimmobilienfonds zu scheitern drohte.
Gleichzeitig kann eine allmähliche Verbreitung von Nutzungsmischung zunächst auf der Stadtteilebene und später auch bis hinunter auf die grundstücksbezogene Ebene beobachtet werden. Welche Form der Nutzungsmischung bzw. welche Körnigkeit eigentlich als stadtplanerischer Erfolg bezeichnet werden soll, war lange in der Debatte weitgehend offen. Die Schwammigkeit des Begriffs übte eine gewisse Faszination aus, doch konnte sie unterschiedlich vorgehende Akteure der Stadtproduktion auf kein gemeinsames Kriterienraster der Messung des Nutzungsmischungserfolgs verpflichten. Somit hatte der Begriff das Zeug zur kreativen Stimulation von neuen Ansätzen und zur Mobilisierung, ohne jedoch in der Debatte die erfolgreiche Einforderung von klaren Standards zu bewirken.
Dennoch hat die große Verbreitung der Nutzungsmischungsdiskussion vermutlich auch Einfluss auf die reale Stadtproduktion gehabt. Zwar wird man eingestehen müssen, dass die Neigung von Developern insbesondere größerer Konversionsflächen o. ä. zur Realisierung eines gar nicht so schmalen Nutzungsmixes inzwischen ubiquitär ist und dabei eher auf die Vermarktungshoffnungen in einer Zeit zurückgeht, die die altmodisch anmutende Emissionsdebatte mit ihren Abstandserlassen für Produktionsbetriebe unterschiedlichster Branchen längst hinter sich gelassen hat. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben also eine engere Verzahnung von Arbeiten im Büro und Wohnen im Geschoss erst wieder im größeren Maßstab ermöglicht und die sich pluralisierenden Lebensstile – letztendlich also wohl die zurückgehende durchschnittliche Haushaltsgröße bzw. Kinderzahl - haben vor allem in innenstadtnahen Umstrukturierungsgebieten von Großstädten die Nachfrage dafür geschaffen. Dabei ist aber keineswegs die Form von Nutzungsmischung entstanden, die sich romantisierende Planer immer gewünscht haben, die einer harmonischen Verschmelzung der Ideale von urbaner Vitalität und breiter Chancengleichheit bzw. sozialer Mischung. Die hegemoniale Verbreitung des Leitbegriffs von der Nutzungsmischung war, das ist nun das auf andere Leitbegriffe weitgehend Übertragbare an der Entwicklung, mit seiner Umformung und Inkorporierung in den gängigen Modus der Stadtproduktion verbunden. Es entstand selektive Nutzungsmischung, die dafür weit über die Kataloge von Best-Practice-Beispielen des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (verantwortlich z. B. für die ExWoSt-Forschung) hinaus beinahe überall als unterliegendes Muster anzutreffen ist.


3.3  Nachhaltigkeit
Wenn man heute jemandem aus der Planerwelt mit dem Begriff Nachhaltigkeit kommt, wird man schnell feststellen, dass alle ihn im Munde führen, aber alle auch darüber genervt sind, dass er trotz seiner Schwammigkeit und seines Widerstands gegen eine Operationalisierung so in aller Munde ist. Wir können an ihm und der Konjunktur des Begriffs insbesondere folgende Beobachtungen machen:
 

·         Gesellschaftlicher Megatrend als Voraussetzung für die Reifung des Leitbegriffs

·         Unterschiedliche Rezeption des schwammigen Begriffs und dadurch ausgelöste Innovativität und Breite der gesellschaftlichen Debatte

·         Infragestellung von Bewegungen durch Übersättigung von Bedeutungszuschreibungen an Leitbegriffe

·         Selektive Instrumentalisierung zur Durchsetzung von Partikularinteressen


Betrachten wir nur den Bereich der Planung, dann können wir feststellen, dass es einen breiten Vorläufer der Nachhaltigkeitsdebatte gibt, die Forderung nach „Sozial- und Umweltverträglichkeit“, die sich aus der aufkommenden Umweltbewegung in den 1980er Jahren entwickelt hatte. Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen werden wir lange vorweg wirkende Megatrends wie den der Ökologiebewegung identifizieren, die erst eine offizielle Heiligsprechung des sperrigen Nachhaltigkeitsbegriffs in Rio de Janeiro Anfang der 1990er Jahre möglich machten.
Einmal „losgetreten“, wirkt die Nachhaltigkeitsdebatte dadurch, dass sich an dem schwammigen Begriff unterschiedlichste Akteure abarbeiten. Dies liegt am Zusammentreffen von Schwammigkeit und gesellschaftlichem Megatrend. Dabei ist das Rezeptionsverhalten sehr unterschiedlich und von der gesellschaftlichen Verortung des jeweiligen Akteurs
abhängig. Wissenschaftler, Behördenmitarbeiter, Mitglieder von Bürgerinitiativen oder auch Developer sind wegen der Schwammigkeit sämtlich anschlussfähig an die Debatte. Sie produzieren unterschiedlichste Operationalisierungsversuche für den Begriff von der Indikatorenliste (Fuhrich 2000) bis zur Selbstdarstellung. Auf diese Weise entsteht zunächst eine große Breite der Auseinandersetzung.
Diese Breite ist
aber auch mit ausschlaggebend für die Enttäuschung an der Debatte, wenn die gesamte Bewegung übersättigt ist und dem Leitbegriff „Nachhaltigkeit“ schließlich eine Überfülle von Bedeutungen zuschreibt. Die Ausdifferenzierungen sind nicht mehr beherrschbar, aber aus der Vielfalt wird kein floristisch komponierter Blumenstrauß, sondern eine unübersichtliche scheckige Wiese (Hübler/Weiland 1996). Die anfängliche Stärke der Bewegung, die große Motivationsfähigkeit des Begriffs, verkehrt sich schließlich angesichts der mangelnden Koordinationsfähigkeit in ihr Gegenteil. Abwinken der Akteure und profanisiertes Mainstreaming durch Schablonisierung von hoffentlich, aber keineswegs garantiert qualitätssichernden Verfahren sind die Folge (als plastisches Beispiel hierfür sei nur die extrem schwierige Geschichte der Eingriffs-/Ausgleichssystematik der deutschen Naturschutzgesetze genannt, die ökologische Sensibilität indirekt u. a. durch die inflationäre Förderung von Streuobstwiesen sicherstellen wollten, aber letztlich durch die veränderte Logik der Abwägung z. B. in der Bauleitplanung geschwächt wurden).
Verliert die Bewegung an produktivem Schwung, ist die Zeit der selektiven Instrumentalisierung gekommen. Es wird zur sinnentleerten Pflicht, sich zum Leitbegriff zu bekennen, was nicht weiter schlimm wäre als andere lästige Rituale. Aber darüber hinaus versuchen bestimmte Akteure, ihre Partikularinteressen durch Garnierung mit den Insignien des Leitbegriffs besser durchsetzen zu können, und die Wirkung ist im ungünstigen Fall sogar einseitig. Dennoch darf man natürlich nicht übersehen, dass weiterhin eine Reihe von vertiefenden Erkenntnissen generiert wird. Ob schließlich überwiegt, dass sie unser aller Lebenswelt deutlich verbessern, wie etwa der Einbau von Filtern in Kohlekraftwerke, oder ob die gesellschaftspolitische Lähmung durch die Kakophonie sich gegenseitig widersprechender Resultate obsiegt wie manchmal im Falle der Klimadebatte zu befürchten, ist noch gar nicht abzusehen. Linearer Fortschritt durch das ursprüngliche Innovationspotential der Bewegung ist jedenfalls nicht eindeutig auszumachen.


3.4  Folgerungen für planerische und architektonische Leitbegriffe
Leitbegriffe fallen nicht vom Himmel. Und sie weisen eine Reihe ähnlicher oder gemeinsamer Merkmale auf. Es lohnt sich daher, sich auch für die Stadtbaukultur-Bewegung auf ähnliche Phänomene vorzubereiten.
Die Bewegungen, die sich um Leitbegriffe ranken, werden durch gesellschaftliche Mega-Trends und die Ablösung von Generationen oder Kohorten eingeleitet. Die Begriffe legen eine gewisse begriffliche Unschärfe nie ab. Im günstigen Fall entsteht daraus mehr produktive Unruhe als Frustration. In jedem Fall wird ein Leitbegriff durch den Modus der Stadtproduktion und die Inkorporierung in die überkommenen Traditionen umgeformt.
Durch Leitbegriffe ausgelöste Bewegungen, so selbstverständlich deren Anliegen uns scheinen mögen, bergen d
abei eine Reihe von Gefahren. Eine schließlich erreichte Hegemonie grenzt andere Denkrichtungen aus, immunisiert einflussreiche, aber argumentationsschwache Akteure gegenüber Kritik und verwischt notwendige Differenzierungen. Falsche Freunde sind bisweilen in der Lage, ihre Anliegen selektiv durchzusetzen, indem sie geschickt auf den fahrenden Zug aufspringen (Konter 1997).
Ich muss leider an dieser Stelle aus Platzgründen darauf verzichten, eine Art verallgemeinertes Modell der Struktur von leitbildgetriebenen Bewegungen und ihres Ablaufs vorzustellen. Ich hoffe dennoch, dass durch den ansatzweise chronologischen Aufbau meiner analytischen Beobachtungen klar wurde, worauf es mir in diesem Zusammenhang ankommt.



4. Folgerungen für die Stadtbaukultur-Bewegung

Welche Folgerungen lassen sich nun für den möglichen Verlauf der Stadtbaukultur-Debatte ziehen? Ich begreife Baukultur und Stadtbaukultur als letzte Ergänzung oder auch einen Schlussstein in einem gesellschaftlichen Großtrend der Überwindung der verhassten Nachkriegsmoderne. Und genau deshalb habe ich auch die drei anderen Begriffe näher betrachtet, sogar grob chronologisch. Wenn ich Klaus Selles Idee von einer stufenweisen Erweiterung des Planungsverständnisses als Ausgangspunkt der Weiterentwicklung von Planung nehme (Selle 1995), lässt sich das Aufkommen eines eher gestalterisch motivierten Stadtbaukultur-Begriffs als eine gewisse Kurskorrektur des vorher im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts Erreichten begreifen. Stadtbaukultur wäre damit eine Synthese aus allen diesen Begriffen, und der derzeitige Schwerpunkt auf dem gestalterischen Aspekt kommt nicht von ungefähr.

Doch ist viel gewonnen, wenn die verschiedenen Ansprüche an den Begriff planungstheoretisch versöhnt sind, lediglich indem ihre Thematisierung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Mega-Trends als folgerichtig erkannt ist? Zunächst klingt das danach, dass wir gar keine einflussreichen Akteure in diesem Spiel seien. Und eine kritische Einschätzung der gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten von Architekten und Planern schadet sicher nicht.

Dennoch gibt es selbstverständlich Spielräume für Veränderung. Ausgehend von meinen Beobachtungen sehe ich sie wie folgt:
 

·         Die starke Rolle von Nicht-Planern für die Veränderung der Planerdebatte – manchmal ohne viel Substanzielles an den Anliegen der Planung zu verändern – legt nahe, dass nur durch ein ganz offensives Zugehen der Planungsprofession auf andere Gesellschaftsbereiche Fortschritte für die eigenen Anliegen zu erwarten sind. Die strategische Identifizierung von Bündnispartnern spielt dabei eine wesentliche Rolle, und zwar weit über das Tagesgeschäft hinaus. Hier sind Universitäten, Fachverbände und Planer als Bürger und Bewohner gefragt.
 

·         Wir sollten uns dabei vor falschen Freunden hüten und beherzt offen legen, wenn uns selektive Instrumentalisierungen unserer geschätzten Leitbegriffe auffallen. Selbstverständlich ist dabei vor verallgemeinerten Freund-Feind-Schemata zu warnen. Weder sind die Investoren grundsätzlich böse noch die Behörden grundsätzlich borniert.
 

·         Eine Instrumentalisierung lässt sich auch feststellen, wenn einfache Rezepte für die Umsetzung von Leitbegriffen herhalten sollen. So handelt es sich bei der stereotypen Forderung bestimmter Standesvertreter, in Planung und vor allem Architektur stets offene Wettbewerbe durchzuführen, mindestens ebenso oft um Lobbyismus einer Zunft wie um ein altruistisches Eintreten für Baukultur.
 

·         Eine kritische Einschätzung der Operationalisierbarkeit von Leitbegriffen wie der Stadtbaukultur darf uns nicht vom innovativen Handeln im Einzelfall abhalten. In der Rechtfertigung dieses Handelns sollten wir aber James Throgmorton folgen und Nachhaltigkeit – das lässt sich auch auf Stadtbaukultur übertragen – als „persuasive story-telling“ verstehen (Throgmorton 1992). Überzeugungskraft gewinnen wir gerade gegenüber den politischen Entscheidungsträgern eher durch die Vermittlung unserer Urteilskraft als durch die unserer ohnehin beschränkten naturwissenschaftlich gekleideten Exaktheit.
 

·         Da wir unter den gegebenen Rahmenbedingungen unserer aller Unvollkommenheit vom Politiker bis zum Planer oder Bürger damit rechnen müssen, dass den Fortschritten im Ringen um Stadtbaukultur immer auch Rückschläge gegenüber stehen werden, plädiere ich abschließend für zweierlei. Erstens rufe ich zu einer lustvollen Auseinandersetzung über politisches Handeln im Sinne einer stetigen Neuverständigung auf unser niemals nachlassendes Interesse an möglichst viel Baukultur auf. Zweitens wünsche ich mir, dass wir in der Lage sind, dennoch das Erreichte zu würdigen und nicht zu denken, es wäre selbstverständlich gewesen.


 

Literatur
:
  • Allmendinger, Philip / Tewdwr-Jones, Mark (Hg.): Planning Futures. New Directions for Planning Theory, London / New York 2002

  • Altrock, Uwe: Die Berlin-Studie vor ihrer Umsetzung? In: Planungsrundschau 3/4/2002, S. 85-108

  • Altrock, Uwe: Büroflächenpolitik in Berlin 1981-1999. Akteure, Ziele, Entscheidungen, Berlin 2001 (elektronische Veröffentlichung, abrufbar unter
    http://edocs.tu-berlin.de/diss/2001/altrock_uwe.htm)

  • Bischoff, Ariane / Klaus Selle / Heidi Sinning / Ralf Steffen: Informieren, Beteiligen, Kooperieren, Dortmund 1995

  • Brindley, Tim / Yvonne Rydin / Gerry Stoker: Remaking planning: the politics of urban change in the Thatcher years, London 1989

  • Fuhrich, Manfred: Indikatorengestützte Erfolgskontrolle nachhaltiger Ressourcennutzung in der Stadtentwicklung; in: Altrock, Uwe: Das Schöne im Notwendigen finden - Spielräume nachhaltiger Stadtentwicklung, S. 57-72, Berlin 2000

  • Healey, Patsy: Collaborative Planning: Shaping Places in Fragmented Societies, Basingstoke 1997

  • Hübler, Karl-Hermann und Weiland, Ulrike (Hg.): Nachhaltige Entwicklung. Eine Herausforderung für die Forschung? Berlin 1996

  • Jacobs, Jane: The Death and Life of Great American Cities, Harmondsworth 1961

  • Konter, Erich: Leitbilder - wozu?. In: Arbeitskreis Stadterneuerung / ISR (Hrsg.), Jahrbuch Stadterneuerung 1997, Berlin 1997, S. 53-60

  • Kuder, Thomas: Städtebauliche Leitbilder - Begriff, Inhalt, Funktion und Entwicklung, gezeigt am Beispiel der Funktionstrennung und –mischung, Dissertation TU Berlin (elektronische Veröffentlichung, abrufbar unter
    http://edocs.tu-berlin.de/diss/2002/kuder_thomas.htm)

  • Lenhart, Karin: „Bubble-politics“ in Berlin. In: Prokla, Vol. 28, No. 1 (1998), Heft 110, S. 41-66

  • Selle, Klaus (1995) Phasen oder Stufen? Fortgesetzte Anmerkungen zum Wandel des Planungsverständnisses, in: RaumPlanung, Heft 71, S. 237-242

  • Sieverts, Thomas: Was leisten städtebauliche Leitbilder?. In: Heidede Becker / Johann Jessen / Robert Sander (Hrsg.), Ohne Leitbild? Städtebau in Deutschland und Europa, Stuttgart/Zürich 1999, S. 21-40, 2. Auflage

  • Throgmorton, James: Planning as persuasive story-telling about the future: negotiating an electric power rate settlement in Illinois, in: Journal of Planning Education and Research Vol. 12 (1992), S. 17-31

  • Wolsink, Maarten: Der „Infrastrukturansatz“ und der Versuch zur Neugestaltung des niederländischen Planungssystems, in: Planungsrundschau 6/2002/3, S. 42-67

     

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