8. Jg., Heft 2 (März 2004)    

 

___Christine Dissmann
Berlin
  Baukultur – ein Ausdruck herrschender Machtverhältnisse?

 

   

Im Rahmen des Gründungsprozesses zur Nationalen Stiftung Baukultur wird auf den verschiedensten Ebenen um die inhaltliche Auskleidung des Begriffes „Baukultur“ gerungen. Neben der Schwierigkeit, sich auf eine Sprachregelung zu einigen und verbindliche baukulturelle Qualitätskriterien festzuschreiben, scheint vor allem die Frage nach einer angemessenen Diskursführung, an der sich Fachleute wie interessierte Laien gleichermaßen in produktiver Weise beteiligen können, offen. Denn der Anspruch einer breiten gesellschaftlichen Debatte über Instrumente und Ziele der Stiftung ist nicht nur ein aufwändiges Unterfangen, sondern rührt auch empfindlich an kulturelle Hoheitsverhältnisse und damit herrschende gesellschaftliche Machtgefüge, die unabhängig von sozialen, technischen, ökonomischen und ökologischen Implikationen wesensbestimmend für die Gestalt unserer gebauten Umwelt ist.

Folgender Beitrag untersucht die These, dass Baukultur im Kern Ergebnis einer Auseinandersetzung unterschiedlicher „Kulturen“ um die Durchsetzung ihrer jeweiligen Sichtweisen und Interessen ist.
Dabei ist es vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte und zum allgemeinen Verständnis notwendig, das in folgendem Kontext verwendete Verständnis von Baukultur zu klären.
Zurückgegriffen wird hier auf die Basisdefinition, die sich während der Diskussionen der vergangenen zwei, drei Jahre herausgebildet hat, (siehe: Statusbericht Baukultur 1 Berichte BBR, Band 11), und die Baukultur als „die Produktion von und den Umgang mit der gebauten Umwelt“ bezeichnet. Dieses Verständnis von Baukultur bezieht sich auf unseren gesamten Lebensraum, auf den nicht bebauten Raum ebenso wie die trivialen, als „Unorte“ geschmähten Zonen jenseits der medial bedingt als „herausragend“ wahrgenommenen architektonischen Spitzenleistungen. Und es impliziert, dass Ausgestaltung dieses Begriffes eine Angelegenheit der gesamten Bevölkerung sein muss, und nicht allein dem exklusiven Kreis einzelner Machtgruppen vorbehalten bleiben darf.
Es liegt im Wesen von Machtstrukturen, nicht eindimensional und in linearer Nachvollziehbarkeit zu verlaufen, sondern sich als komplexes, vielschichtiges und mehrfach miteinander rückkoppelndes System über menschliche Beziehungen zu legen. Die jeweilige Spielart von Machtgeflechten ist milieu- und kontextspezifisch, zudem von einer nicht zu unterschätzenden Instabilität. Der Klarheit halber sollen daher im Folgenden die Territorien kultureller Einflussnahme voneinander losgelöst und die unterschiedlichen Aspekte der Macht aus ihrer wechselseitigen Verquickung herausgenommen betrachtet werden.



1. Macht des Besitzes


Besitz von Raum
Die sicherlich einfachste Art, Einfluss auf die Gestaltung unseres Lebensraumes auszuüben, ist der Besitz desselben. Unter diesem Blickwinkel ist die Frage nach Machtverhältnissen also deckungsgleich mit der Frage nach den Besitzverhältnissen von Grund und Boden, respektive von flüssigem Kapital als Möglichkeit, diese Verhältnisse in Frage zu stellen.
In unserer Hemisphäre ist jedes Stückchen Raum vermessen, kartiert, in Nutzungsplänen definiert und in Grundbüchern einem Besitzer zugeordnet; die strukturelle Ordnung des Lebensraumes ist Abdruck historischer Verteilungsprozesse. Der Besitz von Land ist für die Gewinner dieser Verteilungsprozesse nicht nur ein Ausdruck ihrer Macht, sondern auch Machtinstrument: der Besitz sichert ihnen die weit gehende Kontrolle über Nutzung und Gestaltung dieses Raumes. (Einschränkungen bieten allein das Baugesetzbuch, die Bauordnungen der Länder sowie die kommunalen Flächenplanungen mit ihren Rahmenvorgaben). Ihr Vermögen, die räumlichen Strukturen und Oberflächen festzulegen, ihre Definitionsgewalt über Bilder und Vorstellungswelten prägen unsere Rezeptionsmechanismen von „Baukultur“ oder „Stadtkultur“ entscheidend. Der seit Jahren bestehende Trend zur Privatisierung öffentlicher Räume lässt uns unter dieser Perspektive weniger den Schwund von Bürgern in der Öffentlichkeit beklagen (oder deren Verwandlung in „Konsumenten“), als vielmehr die Kontrolle über Programm dieser Räume durch einige wenige Machtinhaber. Statt einer demokratischen Vielfalt bestimmen zunehmend die Partikularinteressen mächtiger Unternehmen über Gestalt und Qualität unserer gebauten Umwelt.
Als direkte Folge dieses Phänomens wartet ein weiterer Trend auf, dessen stadträumliche Auswirkungen Gegenstand der Kritik sind: die ungebrochene Sehnsucht der Bürger nach ihrer „Scholle“, dem Reich innerhalb der eigenen vier Wände. Sind die viel beklagten, Flächen fressenden Eigenheimsiedlungen denn anderes als ein Sichtbarwerden dieser Sehnsucht des Einzelnen nach Sicherung eines wenn auch noch so kleinen Anteils an der Macht über den eigenen Lebensraum?


Besitz von Kapital

Wenn – abgesehen von einer Revolution – allein Besitz von Kapital eine Veränderung der bestehenden Raumzuteilung ermöglichen kann, liegt ein neugieriger Blick auf Höhe und Verteilung von Kapitalvermögen und Einkommen hierzulande nahe. Zwei Entwicklungstendenzen erscheinen dabei von besonderem Interesse: zum einen das steigende Ungleichgewicht der Vermögen und Einkommen zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen Stadt und Land und zwischen Kernen und Rändern, das zur Folge hat, dass sich Kommunen, Städte und Regionen trotz massiver staatlicher Umverteilungsmaßnahmen stark unterschiedlich entwickeln. Die unvermeidlich wachsende soziale Segregation wird am deutlichsten ablesbar an Quartieren, die zu „sozialen Brennpunkten“ werden. Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, Substanzverlust der Bau- und Infrastruktur und die Sichtbarkeit der Armut im Stadtbild sind ein Aspekt unseres ökonomischen Systems und damit auch eine Hervorbringung unserer Lebens- und Baukultur. Bemerkenswert ist dabei unsere selektive Wahrnehmung: sozialräumliche Segregation nehmen wir nur im Falle von Armut  als „problematisch“ wahr, das gutbürgerliche, gesellschaftlich homogene Wohnviertel am Stadtrand, bewohnt vom „erwünschten Milieu“, bleibt auch von Fachleuten weitestgehend unkritisiert.
Der zweite interessante Trend ist die „Popularisierung“ des Kapitals und deren Auswirkung auf die Qualität von Baukultur: während früher Kapital ebenso wie Grund im Besitz weniger mächtiger Familien war, ist es heute in den Händen vieler als Anlagemasse. Vermögende Familien bauten einst mit dem langfristigen Anspruch, ihren Besitz über viele Generationen hin zu erhalten und ihr Ansehen durch besondere Bauwerke zu verewigen. Heute ist das Kapital trotz ungleicher Vermögensverhältnisse verteilt auf eine große, anonyme Menge. Es wird gebündelt durch institutionelle Kapitalanlagegesellschaften, deren Auftrag vornehmlich die Vermehrung des Kapitals ist und die entsprechend als Bauherr der Anonymität ihrer Auftraggeber Rechnung tragen. Es ist also nur folgerichtig, wenn die moderne Investorenarchitektur gesichtslos, charakterlos und unspezifisch ist. Die Masse als Bauherr bringt Massenware hervor – Baukultur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, für die niemand persönlich Verantwortung trägt.


Macht der Besitzlosen

Kulturelle Hoheitsräume sind stark, aber nicht ausschließlich durch grundbuchamtlich bestätigten Besitz von Raum bedingt. Auch und trotz der Privatisierung von Räumen gibt es immer Nischen in den fest gefügten Strukturen, und in diesen Zwischenräumen finden auch die vordergründig Machtlosen die Möglichkeit, sich Raum anzueignen. Die Subkultur verhält sich als Gegenstück zur so genannten Hochkultur und stellt sie in Frage durch alternative Lebensweisen, experimentelle künstlerische Ausdrucksformen, oder aber – gewissermaßen als Ausdruck der eigenen Ohnmacht – durch die Manipulation und Zerstörung des Besitzes des Etablissements.
Nicht selten ist das Treiben der Nischenexistenzen der Nährboden für die kulturelle Erneuerung der Mächtigen; die vielfältigen Beispiele von Projektentwicklungen [1] in den ehemaligen Jagdgründen des „kreativen Untergrunds“ zeugen davon ebenso wie die Entdeckung des wirtschaftlichen Potentials der „Zwischennutzer“. Sogar der marodierende Überlebenskämpfer schrumpfender Städte [2] hat jüngst seine Adelung auf dem deutschen Sprechtheater erfahren.



2. Macht der Geschichte


Ob es sich in bewusster Ablehnung von oder Hinwendung zur Vergangenheit äußert: das historische Erbe einer Gesellschaft bestimmt das Wesen seiner Gegenwart. „Geschichte“ ist hierbei auf zwei Ebenen zu betrachten:


Machtkampf in der Geschichte
Die uns umgebenden räumlichen Strukturen sind Folgen jahrhundertelanger Auseinandersetzungen um Herrschaft über Besitzanteile an diesem Raum, sei es in Form von Krieg, Revolution, Migration oder ganz einfach Handel. Dabei ging es – und geht es noch – in aller Regel weniger um Ansehen und Prestige als um den elementaren und evolutionsbedingt notwendigen Überlebenskampf, also um die Sicherung von Raum für die eigene Art als die natürliche Form ihrer Erhaltung. Der „Kampf um Lebensraum" ist heute eine historisch vorbelastete Phrase, sieht man jedoch einmal von nationalsozialistischer Konnotation ab, beschreibt sie einen Vorgang, mit dem wir in unserem Alltag permanent konfrontiert sind.
In ihrer gewaltsamen Erscheinung heißt die Auseinandersetzung um Boden und die darin enthaltenen Ressourcen Krieg, Besetzung, Vertreibung, Umsiedlung. Die Durchsetzung der eigenen Interessen wird mit den krudesten zur Verfügung stehenden Mittel erlangt, nämlich mit Gewalt. Die Folgen für die Baukultur sind Zerstörung, Verstümmelung, Demontage, Plünderung.
Der Wellenschlag von Machtkonflikten in anderen Teilen der Welt pflanzt sich bis in unser scheinbar in Frieden lebendes Land fort, z. B. durch die Aktivitäten des internationalen Terrorismus. Bei Angriffen auf viel frequentierte und baukulturell bedeutsame Gebäude geht es den Aggressoren in der Regel nicht um den konkret angegriffenen Raum und um die tatsächlich zerstörten Gebäude, als vielmehr um den Gewinn von ideellem, moralischen und in Folge davon ökonomischen Raum. Die Zerstörung des WTC in New York hat nicht nur weit reichende Folgen für den Stadtgrundriss New Yorks, sondern auch für unsere Stadt- und Lebenskultur: seit 9/11 sehen wir uns mit neuen Formen von Angsträumen konfrontiert, der eigentliche Landgewinn fremder Mächte hat sich in unserem Bewusstsein vollzogen. Betonpoller versperren den Durchgang vor „gefährdeten Objekten“, Gitterzäune, Videokameras und schwer bewaffnete Grenzschutzbeamte sind im Stadtraum präsent. In einer Reihe von Gesetzesänderungen sind unsere persönlichen Freiräume – der Lebensraum, über den wir ganz individuell bestimmen – schrittweise beschnitten worden.
Es wird jedoch auch mit weniger drastischen Mitteln täglich um Raumansprüche gerungen, sei es im Stadtraum als Hausbesetzung, Demonstration oder temporäre, offensive Inbesitznahme von fremdem Grund, sei es in den subtilen Revierkämpfen im Büro und im Wohnzimmer, die sich durch Platzierung des Ficus Benjaminii, der Bürotasse oder des Lieblingssessels äußert.


Machtkampf um die Geschichte
Geschichte ist nicht nur eine zeitliche Abfolge von Ereignissen, deren Spuren in unserer Wahrnehmung mehr oder weniger präsent bleiben, sondern auch eine kulturelle Ressource, ein Reservoir an Bildern, über deren Verwendung sich trefflich streiten lässt.
Im Wettbewerb der Städte um Standortqualitäten gewinnt die Kulisse der Geschichte bei der Konstruktion ihrer eigenen städtischen Identität eine wachsende Bedeutung. Dabei ist die Versuchung immer schon sehr groß gewesen, selektiv zu unterscheiden zwischen genehmer, den eigenen Darstellungsbedürfnissen und Selbstverständnis entgegenkommender Vergangenheit, und ungeliebter Vergangenheit. Die Definitionshoheit von Geschichte obliegt klassischerweise den jeweiligen Inhabern der politischen und wirtschaftlichen Macht. Ihre den eigenen Machtanspruch rechtfertigende Geschichtsversion wird dabei, wenn auch nicht wissenschaftlich salonfähig, doch letztendlich mehrheitlich hingenommen. Wert bzw. Wertlosigkeit von Gebäuden sind in diesem Zusammenhang also keine objektivierbaren Größen, sondern unterliegen den jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen einer Epoche. Deren Wertmaßstäbe bestimmen über Gedeih und Verderb, über Erhalt und Abriss von Baukultur, denn naturgemäß müssen zur Festigung des eigenen Machtanspruches die Spuren und Zeichen der anderen Macht ausgelöscht oder doch mindestens desavouiert werden.
Wie schnell sich die Wahrnehmung von raumgebenden Strukturen verändern kann, belegt als sehr plakatives Beispiel die Berliner Mauer, die vor 14 Jahren in einem dramatischen Akt der Befreiung von staatlicher Macht und als Demonstration der Macht einer friedlichen Menge in Besitz genommen wurde und in ihrer Substanz alsbald und bis auf wenige Überreste weggeräumt wurde. Heute sind die kaum noch lesbaren Reste Objekt wissenschaftlicher Rekonstruktion, ihre Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe wird angestrebt.
Der Fall macht deutlich, dass die aus machtstruktureller Motivation heraus betriebene Abrisstradition aus Sicht der Denkmalpfleger ein großer Verlust ist. In Fachkreisen, aber auch als allgemeiner gesellschaftlicher Konsens wird heute generell gefordert, Geschichte nicht nur als touristische Dienstleistung zu pflegen, sondern als Leitsystem im kollektiven Gedächtnis einer Stadt, als „Geschichtslandschaft“ mit all ihren Brüchen und Disparitäten zu bewahren. Doch obwohl der Streit um die Erhaltung historischer Bausubstanz heute mehr als in anderen Epochen Teil einer produktiven und „gereiften“ gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte geworden ist, begründen im ideologischen Wettstreit auch heute noch die einflussreicheren Mächte den selektiven Erhalt von Baukultur, oft wider die bessere Einsicht. Von Zeitgeist oder Markt bestimmte „Korrekturen“ am Grundriss vieler Städte haben den Verlust historischer Denkmale zur Folge, geschichtlich aufgeladene Bausubstanz wird, so ihr auf dem Immobilienmarkt keine Chance mehr eingeräumt wird, durch das bessere ökonomische Modell ausgetauscht oder aber dem Verfall anheim gegeben. Dass eine Neubespielung von Flächen in der Politik als „höheres öffentliches Interesse“ betrachtet wird und diese Abriss und Neubebauung von geschichtsträchtiger Bausubstanz duldend hinnimmt, ist in Zeiten schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse nicht weiter verwunderlich, die Dehnbarkeit des Denkmalschutzes wird in der Hoffnung auf einen finanziellen Mehrwert gerne ausgetestet. Im Kräftespiel des Marktes unterliegen die Anwälte der Denkmalpflege dem Diktat des ökonomisch Möglichen, in vielen Fällen ist die Rettung eines Bauwerkes allein durch eine Bündelung der Kräfte von Konservatoren, Finanzexperten, und Immobilienmanagern, also der Verschwisterung der geschichtlichen Macht mit den Mächten des Marktes möglich. Die Überlagerung geschichtlicher Wahrheit und ihre zeitgeistgenehme Neuinterpretation, eine zunehmende Verquickung öffentlicher und kommerzieller Botschaften im Stadtraum sind die Folge.



3. Macht des Marktes

Der Markt – in seiner derzeitigen Erscheinungsform als „neoliberaler Turbokapitalismus“ – ist in der heutigen Zeit ganz offensichtlich in den meisten Fällen das schlagendste Argument für ein Bauprojekt. Tatsächlich ist die Rentabilität von Gebäuden fast immer entscheidend für Größe und Gestalt, Flächen werden – oft zu Lasten der architektonischen Qualitäten – hinsichtlich ihrer Vermietbarkeit optimiert, die gemeinhin erwünschte „Nachhaltigkeit“ einer Immobilie misst sich an ihrem Amortisationszeitrahmen. Dass dieser den Marktrandbedingungen der Globalisierung unterliegt und ergo immer kürzer wird, wird stillschweigend hingenommen. Doch nicht nur strukturell-tektonische Qualitäten unterliegen dem Diktat des Marktes, auch die Nachfrage nach bestimmten Baustilen und Oberflächen prägt unsere Umwelt.
Neben den Akteuren des Immobilienmarktes sind es vor allem die Mächtigen des Handelsmarktes, deren Aktivitäten unseren Lebensraum und unsere Baukultur beeinflussen.
Über ihre gewaltige Vermarktungsmaschinerie prägen sie die Bilder und generieren die Emotionen, derer wir uns im Stadtraum kaum noch entziehen können, ihre immer ausgefeilteren Attacken auf unser Wahrnehmungssystem (unter dem Schlagwort „Neuromarketing“ derzeit im Fokus der Forscher) machen einen unvoreingenommenen Blick auf die dahinter liegende Architektur immer unmöglicher. Die großen Marken und Ketten besitzen durch ihre mediale Präsenz eine massive visuelle Macht über unseren Raum, auch wenn sie keinen konkreten Grund und Boden ihr Eigen nennen. Ebenfalls Ergebnis von marktwirtschaftlichem Wettbewerb (und zwar nicht nur der Einzelhändler um Kunden, sondern auch der Kommunen um Einzelhändler) ist die viel beklagte Zunahme der suburbanen Einkaufscenter. In ihr spiegelt sich die Macht der Nachfrager nach Discount- und Billigangeboten im Konsum, die Maxime „Geiz ist Geil“ bedingt die entsprechend banale, anspruchslose Architektur, kein Extra-Cent wird veranschlagt für andere Qualitäten als die, den Wetterschutz für das billige Produkt abzugeben. Discount-Mentalität herrscht auch bei dem Erwerb des ersehnten Eigenheims vor, und keine Sehnsucht, die nicht ihre Befriedigung auf dem Markt fände.



4. Macht der Menge

Der Exkurs über die Macht der Menge der Anleger, die Menge der Eigenheimbesitzer, die Menge der  Konsumenten, der Autofahrer etc. zeigt, welchen Druck der Einzelne, gefasst in der Menge, organisiert in gesellschaftlichen Interessensverbänden, auf den Markt, auf die Politik und damit auch auf unsere Raumstrukturen ausüben kann. Dass diese Mengen in ihren Entscheidungen nicht frei von Manipulationen durch andere, unter Umständen mächtigere Mengen bleiben, und dass sie ihre Ziele oft wider bessere Einsicht durchzusetzen versuchen, ist dabei keine neue Erkenntnis. Deutliches Beispiel gibt in diesem Zusammenhang die Macht der großen Auto-Lobbys, die trotz der wissenschaftlich fundierten Einsicht, dass gegen den Verkehrskollaps nicht mehr, sondern nur weniger Straßen helfen, weiteren Straßenbau fordern. Die Inhaber der institutionellen Macht, also die Politiker, kommen aus Angst vor Verlust derselbigen (denn im Autobauerland No. 1 dieser Welt hätte eine Beschränkung des Verkehrsaufkommens geradezu umstürzlerische Anmutung!) dieser Forderung nach, mit dem Ergebnis, dass die Neuversiegelung von Freifläche in Deutschland nach wie vor bei über 100 Hektar pro Tag liegt, und der „Lebensraum Autobahn“ unser Land prägt wie nie zuvor, jedoch von Gestaltern als Betätigungsfeld immer noch nur sehr zögerlich entdeckt wird.
Es lassen sich aber nicht nur milieubedingte Interessensgemeinschaften als Akteure ausmachen, sondern auch herkunftsbedingte oder altersstrukturelle. Hierbei stellen die gesellschaftlichen Transformationsprozesse die Frage nach den Mehrheitsverhältnissen von morgen, prognostizierte Trends lassen uns über die Auswirkungen auf unsere Baukultur spekulieren: wie wird die Masse der älteren Menschen unser Lebensumfeld verändern? Der Katalog für Gestaltungselemente für körperlich benachteiligte Mitbürger – oder ein Blick nach Florida – geben erste Hinweise auf zu erwartende „Anpassungen“. Und sollte sich Deutschland tatsächlich jemals einer Zuwanderungsgesellschaft öffnen, so ist damit zu rechnen, dass unser kulturelles Hoheitsgebiet mit Zeichen „fremder Kulturen“ überlagert wird.
Das Mehrheitsvotum als Mittel zur Entscheidungsfindung über Sein oder Nichtsein von Gebäuden wird derzeit in einem ganz unmittelbaren Sinn in England praktiziert, wo in einer TV-Show nach der Art „England-sucht-das-Superhaus“ per Anruf über das Schicksal historischer Bauten, die keinesfalls sämtlich erhalten werden können, abgestimmt wird. [3]



5. Macht von Status

Der Einfluss statusbedingter Macht auf unsere Baukultur wird am nachvollziehbarsten deutlich an der Tätigkeit jener Mächte, die durch demokratische Wahl (also durch die Macht der Menge) legitimiert worden sind. Die Legislativmacht definiert Gesetzesrahmen, Steuerinstrumente und Fördermaßnahmen, die Exekutivmacht kümmert sich um deren Anwendung und Umsetzung, betätigt sich darüber hinaus als Bauherr, dem Wohle der gesamten Gesellschaft verpflichtet. Soweit die Theorie. In der Praxis unterliegen Politiker naturgemäß einer Vielzahl fremder Mächte, die im Streit der Partikularinteressen sich durchzusetzen suchen. Der Einfluss der bereits  beschriebenen Lobbys und Verbände, aber auch von Banken, Medien, sowie einflussreichen Einzelpersönlichkeiten (man denke an die aktuelle „Berater“-Debatte) auf die Politik ist groß und keineswegs kongruent mit dem Wählerwillen.



6. Macht des Zeitgeistes

Die Macht eines mehrheitlichen, gesellschaftlichen Wollens, das man gemeinhin mit Zeitgeist umschreibt, ist womöglich die am schwierigsten dingfest zu machende Macht. Definiert man den Geist einer Epoche mit Bazon Brock [4] als die Zukunftserwartungen einer Zeitgenossenschaft, die unsichtbare und doch eigentliche Kraft der Gestaltung einer Gesellschaft, lässt einen die aktuelle Visionslosigkeit nachdenklich werden: unsere Zeitgenossenschaft zeichnet sich mehrheitlich durch eine große Skepsis gegenüber dem Neuen aus, die richtige Richtung des Blickes ist rückwärts gewandt, und „Zukunft“ besteht vornehmlich aus beängstigenden statistischen Rechenexempeln. Dass sich diese Stimmung im ästhetischen Repertoire zeitgenössischer Gestaltung abbildet, und eine Retrowelle die nächste ablöst, mag nicht weiter überraschen, bemerkenswert ist vielmehr die Beliebigkeit der Nachfrage nach Aufladung der vielfach zuvor als seelenlose Funktionsbauten wahrgenommen Architekturen mit „Atmosphäre“. Die Werbung als Seismograph kommunikativer und ästhetischer Inhalte macht es uns vor: im Wettbewerb um Auffälligkeit schwankt auch der Dress-Code unserer Baukultur zwischen Trash („Geiz ist geil“) und dem großen Gefühl, der emotionalen Inszenierung.



7. Höhere Macht

Angesichts der zunehmend in die Bedeutungslosigkeit versinkenden „Stilfrage“ und angesichts der Eitelkeit menschlicher Machtanstrengungen drängt sich die Frage auf, ob nicht die so genannte „Höhere Macht“ das endgültige Wort spricht im Wechselspiel der Kräfte auf dem Schachbrett unserer Beziehungen. Produktion und Benutzung unserer gebauten Umwelt ist aus klimatischen, geologischen und geographischen Bedingungen heraus entstanden. Die Zunahme von Folgen globaler Klimaveränderungen wie z. B. die Flutkatastrophe in Sachsen 2002 zeigen, wie diese Bedingungen (neben dem Faktor Zeit) die Dynamik aus Werden und Vergehen auch von Architektur determinieren und unsere Wahrnehmung diesbezüglich verändern.



Fazit

Die Baukulturdebatte zeigt, dass eigentlich ein nur sehr allgemeiner Konsens rund um die Frage, wie zu bauen sei, herrscht. Die Fachwelt ist sich problemlos darin einig geworden, dass Bauprojekte doch bitte schön ökologisch korrekt, nachhaltig und innovativ sein sollten, die Identität von Orten stärken und  darüber hinaus sich förderlich auf den sozialen Zusammenhalt auswirken sollten.
Dieses Leitbild ist außerordentlich diffus und frei interpretierbar, so dass es nicht schwer fällt, sich als Mehrheit dahinter zu stellen, jedoch bietet es keinesfalls eine klare Orientierung für die Baupraxis. Für eine erfolgreiche Formulierung von Richtlinien ist es notwendig, diesen allgemeinen Rahmen zu spezifizieren. Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist eine denkbar offene Formel; angewandt auf Ökologie, Ökonomie, Sozialstruktur oder den Denkmalschutz bringt sie die unterschiedlichsten Lösungen hervor. Die Sehnsucht nach Identität, also die Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen, Charakteristischen, aber verlangt nach mehr Mut zur herausragenden Leistung, also auch mehr Mut zum Risiko, Mut, auch zum Scheitern. Allerdings ist das Bedürfnis nach Behaust-Sein ein zutiefst konventionelles. Futuristische Raumvisionen, Blobs und Blubbs sind heute weder besonders mutig noch besonders innovativ zu nennen. Dennoch gibt es einen erheblichen Innovationsbedarf für unsere Baukultur im Hinblick auf intelligente, ressourcenschonende Material- und Energieverwendung. Unser Gebäudebestand ist nach wie vor sowohl Energieverbraucher Nr. 1, als auch Abfallproduzent Nr. 1, eine Tatsache, die sich angesichts der damit einhergehenden Probleme nur als unmissverständliche Herausforderung an Politik und Wissenschaft interpretieren lässt.

Für ein deutliches Engagement der Bevölkerung für die Baukultur, für eine weitergehende „Sozialverträglichkeit“ von Gebautem als nur die immer wieder zum Scheitern verurteilte Beglückungsarchitektur ist es jedoch notwendig, die gesellschaftliche Debatte auf breiterer Basis als bisher zu führen, eine intensivere und faire Streitkultur um die Frage „Wie Wollen Wir Bauen?“ jenseits machtpolitischer Erwägungen zu etablieren. Ansprüche an unsere gebaute Umwelt hat jeder Bürger von der Wiege bis zum Sterbebett, warum sollte man ihm die Fähigkeit absprechen, diese auch zu artikulieren? Bundesländer wie Bayern mit seinem BDA-Publikumspreis (der bedauerlicherweise aufgrund eines Angriffes von Hackern ergebnislos blieb) und Nordrhein-Westfalen mit seinem architektonischen Bildungsprogramm für Schüler machen uns vor, wie auch die Nicht-Fachwelt in die Diskussion einbezogen werden kann. Ideen dazu gibt es zuhauf. Die Gründung einer Nationalen Stiftung Baukultur böte eine gute Gelegenheit, einige davon umzusetzen. Bislang jedoch bleibt der Gesprächskreis beschränkt auf den exklusiven Zirkel derjenigen, die an ohnehin an der Macht sind.


Anmerkungen

[1] z. B. Neuprojektierung des ehemaligen Künstlerhauses „Tacheles“ in Berlin-Mitte durch die Fundusgruppe, u. v. m.

[2] Veranstaltung vom 17. November 2003, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz,
Diskurs: Schrumpfende Städte 02
„PANIK STADT – URBAN SURVIVAL“
Vandalismus, Plünderung und Kleinkriminalität als Überlebenspraktiken in schrumpfenden Städten

[3] „England sucht das Superhaus“, Artikel Süddeutsche Zeitung vom 24. Juli 2003

[4] Bazon Brock, geb. 1936, Lehrstuhlinhaber Ästhetik, Universität Wuppertal
Zeitgeist
Bazon Brock sieht im Zeitgeist die Zukunftserwartungen einer Zeitgenossenschaft, die trotz beträchtlicher Unterschiede in den konkreten Lebensformen erstaunliche Übereinstimmungen aufweisen kann. Beinhaltet sowohl die Furcht vor der Zukunft als auch die Hoffnung auf die Zukunft, und wird von ihm als die eigentliche Kraft der Gestaltung des Formwillens, der Vision und Wertung verstanden.

 
   

Literatur

·         Soziale Benachteiligung und Stadtentwicklung, Informationen zur Raumentwicklung, Heft 3/4.2003, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn

·         Baukultur in Deutschland 1, Statusbericht Langfassung, Berichte Band 11, Gerd Kähler, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn 2002
 


feedback

 


8. Jg., Heft 2 (März 2004)