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Der Beitrag führt das Thema „Kultur der Anlage und Nutzung von Raum“ ein,
indem er den Blick öffnet für die vielfältigen Dimensionen von
Siedlungskultur im Sinne von „Anlegen, Bearbeiten, Pflegen, Entwickeln und
für die Entwicklung prozess-begleitend Verantwortung tragen“
[1].
Er wirft die Frage auf, was Baukultur im Sinne einer Kultur der
Gestaltung und Nutzung von Räumen vor dem Hintergrund der industriellen
Geschichte heute sein kann. Um dieser Frage nachzugehen, skizziert er unter
dem Aspekt „Standards of living“ – „Quality of life“ einen Rahmen,
der spätindustrielle Erkenntnisse der Innovations-
[2], der
Modernisierungs- [3] sowie
der Systemtheorie [4]
zugrunde
legt. Diese Theorien werden mit folgender These zusammengeführt und der
Gegenwart gegenüber gestellt:
„Mit zunehmender Entfaltung industrieller Bedingungen von Gesellschaft und
Wirtschaft werden die innovativen Werte der Produkte (so auch Raum)
insgesamt geringfügiger; dies entspricht ihren – obsolet werdenden –
Vermarktungsbedingungen. Die Differenzierung von Bedingungen (so auch von
Raum) geht solange und soweit einher mit der Erschöpfung innovativer Kräfte,
wie nicht umfassender struktureller Wandel gesellschaftlicher Bedingungen
ein Umdenken erfordert und neue Werte einführt. Dieses Umdenken bedarf der
umfassenden Steuerung durch regional wirksame Kooperationen von Wirtschaft,
Gesellschaft und Politik.“
Diese These wird auf den „Stadtumbau Ost“ bezogen, da in
Ostdeutschland neue Erfordernisse der Siedlungskultur für die
spätindustrielle Entwicklung in Europa massiv sichtbar geworden sind. Die
Betrachtung von Städtebau-, Kultur-, Gestalt- und Kunsttheorie sowie
Soziologie nimmt für die einzelnen Felder Stellung zu dieser These. Eine
kritisch-kreative Kritik an Tendenzen der Differenzierung in Gesellschaft
und Raum ist Gegenstand der Schlussfolgerungen: Hierbei umfasst der
perspektivische Blick die verloren gegangenen Möglichkeiten der Moderne,
Gebrauchs- und Gestaltwerte im Sinne ihres „Nutzwertes“ neu zu
bestimmen. Auf dieser Basis werden evolutionäre Veränderungen in Verhältnis
gesetzt zu Innovationen.
Der Beitrag hat folgende Inhalte:
1. „Standards of living“ – „Quality of life“
2. Zum Wesen von Raumkultur
3. Aktuelle Fragen zur Raumkultur
3.1.
Städtebautheoretische Perspektive
3.2.
Perspektive der räumlichen Planung
3.3.
Gestalt- und kunsttheoretische Perspektive
3.4.
Soziale und soziologische Perspektive
4. Perspektiven für
spätindustrielle Prozesse – Ostdeutschland
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1. „Standards of living“ - „Quality of life“
Das Leben in den besiedelten Räumen Europas ist zunehmend bestimmt durch
die Märkte der „standards of living“, die durch die Modernisierung
der Städte getragen werden und durch die Konsumption der Produkte von
Bebauung und Räumen erfüllt werden. Das Anspruchsdenken der Konsumenten, das
den Motor für den Erfolg der involvierten Zweige der Wirtschaft bildet, ist
vielfältig begründet, meist durch technologischen Fortschritt, Suche nach technischer
und sozialer Sicherheit und Optimierung der Bodennutzung. Werbung,
individuelle Unzufriedenheiten, soziale Fragmentierung und damit verbundene
soziale Darstellungswünsche ... sind Anlässe der Nachfrage nach
diesen Produkten. Je breiter mehr die Konsumption greift, desto mehr breitet
sich eine Ahnung von der Endlichkeit der „glückbringenden“
Marktprozesse aus. Dies hat zunächst zur Konsequenz, dass auf gleicher, -
d. h. Marktebene -, „neue“ Angebote auftauchen, die den „standards of
living“ vermeintlich eine „quality of life“ entgegensetzen. Ein Beispiel
hierfür liegt im Werbeslogan der Firma IKEA „Wohnen Sie noch oder leben
Sie schon?“.
Die spätindustriellen Vermächtnisse realsozialistischer und
spätkapitalistischer Prägung in Ostdeutschland haben gezeigt, dass die
industrielle Entwicklung dort einen Endzustand der Schaffung
wirtschaftlicher Werte erreicht hat. Das dramatische Zutagetreten dieses
Endzustandes in ostdeutschen Städten ist ein ganz besonderer Ausdruck des
Auseinanderklaffens von „standards of living“ und „quality of life“.
Folgende Theorien zu spätindustriellen Prozessen des Verlustes von Werten
seien den Betrachtungen zur Raumkultur nachfolgend zugrunde gelegt:
Spätindustrielle Prozesse bis zum Umbruch nach der industriellen Krise
wurden bisher unter westlichem Blickwinkel kritisch erfasst. Gerhard
Mensch hat die These der geringer werdenden innovativen Werte für die
Logik industrieller Prozesse von Produktion und Konsumption entfaltet.
Johannes Berger spricht von der zunehmend verzweigten Differenzierung
von materiellen Bedingungen und Denkweisen und dem Mangel an umfassender
Neuerung. Niklas Luhmann sieht die Grenzen der gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Ressourcen in ihrer Erschöpfung und appelliert an
kollektive Grenzsetzung zugunsten der Erhaltung und Erneuerung von
Ressourcen.
Die These vom geringer werdenden Innovationsgehalt von Neuerungen ist
hinsichtlich der Geschichte der Stadt Duisburg für die Zeit 1830-1995
[5]
mit Blick
auf die Aufnahme und Verbreitung von Neuerungen in Städtebau und im
Transportwesen geprüft worden. Zugrunde lag
eine Untersuchung zum Wandel von Transportsystemen
[6]. Diese
Prüfungen ergaben ein zweifaches Gerüst zur Bewertung der Einflüsse von
technologischen und sozialen Innovationen auf Räume und Funktionen. Im
Ergebnis betrifft dies einen Tiefstand von städtebaulichen
Innovationsgehalten zu Zeiten der industriellen Krise
[7]
mit
Umbruch seit 1989: von der auslaufenden Differenzierung von Räumen durch
Integration von einzelnen Werken der „Technik-Kunst-Architektur“[8]
hin zu
der aufkommenden Idee der Stärkung von Teilräumen als Bestandteile des
Gesamtraumes – unter der regionalen Steuerung der IBA Emscher Park.
Im Transportwesen wurde, parallel dazu, für die Zeit nach der industriellen
Krise bestätigt, dass die drei klassischen Stadien der Anlage, des Auf- und
des Ausbaus von Transportnetzes evolutionär erfolgen, während das 4.
Stadium, der Umbaus der Systeme, die politische Steuerung erfordert.
Was heißt das für Bau- und Raumkultur? Stehen wir am Ende der evolutionären
Möglichkeiten sinnvoller Veränderung? Sind wir fähig zu Innovationen? Was
wäre wie zu verändern?
Bau- und Raumkultur haben im Sinne der genannten These eine wesentliche
Bedeutung für die Steuerung von Prozessen der Er-Neuerung von
sozial-räumlichen Bedingungen und damit verbundenen Identitäten in
Ostdeutschland, nachdem die Zeit seit 1989 tatsächlich vor allem Ausdruck
der Erschöpfung von Innovationsgehalten im Städtebau war: z. B. die additive
Anlage von Einfamilienhausgebieten, Überbauung von ‚zentralen Plätzen’
durch Einkaufszentren, Vervollständigung und Anlage von „neuen Städten“/
„Marktplätzen“ und Gewerbebauten auf der „grünen Wiese“, wie die Ansiedlung
Großkugel bei Leipzig.
2. Zum Wesen von Raumkultur
Die generelle Frage nach dem Wesen von Baukultur führt zu dem Verb „kultivieren“.
Hier finden wir einen wesentlichen Schlüssel zu einem Verständnis, das
unmittelbar aus dem Grundverständnis des Siedelns abgeleitet ist.
Entsprechend umfasst der Begriff „Kultur“ nachhaltig ertragreiche
Prozesse der Anlage, Bearbeitung und Pflege von Gütern, ursprünglich in der
Landwirtschaft (agri-cultura). Im Sinne aller mit dem Siedeln
verbundenen Handlungen betrifft er die Anlage und Pflege von „inneren“ und
„äußeren“ Räume, die begleitende Gestaltung von Bebauung und Freiräumen,
ihren groß- und kleinräumlichen Zusammenhängen und deren Veränderungen im
Laufe der Zeit. Mit Wirkung für groß- und kleinräumliche Zusammenhänge gehen
Bau-, Stadt- und Lebenskultur idealerweise Synthesen ein und können eine
regions- oder ortsspezifische Kultur der Anlage und Nutzung von Raum
begründen und tragen. Um die Wirtschaftlichkeit eingesetzter Mittel und Energien zu
sichern, sind wesentliche Qualitäten für die Dauerhaftigkeit der Anlage und
für die fortlaufende Erneuerung der Nutzungen zeitgemäß umzusetzen.
Dieses Verständnis von Wirtschaftlichkeit ist ein einfaches. Es entspricht
nicht den komplizierten Bedingungen spätindustrieller globaler Einflüsse in
den Großstädten, die Verfall und Leerstand in Prozesse der Gewinnmaximierung
systematisch integriert haben, wie zum Beispiel in Houston/Texas. Es
entspricht aber durchaus, auch in Großstädten und ihren inneren und äußeren
Rändern, spätindustriellen Anforderungen an eine Rückbettung globaler
Funktionen in ortsspezifische Bedingungen. Diese Notwendigkeit der
Rückbettung entsteht infolge der spätindustriellen Schwächung globaler
Mechanismen zum Ausgleich ungleichwertiger Lebens- und Arbeitsbedingungen im
Verhältnis zum Abbau von Sozialleistungen. Sie entsteht überall in der Welt,
findet aber derzeit in Ostdeutschland besonderen Ausdruck in der dringenden
Notwendigkeit zur Stabilisierung der verbleibenden Bevölkerung.
3. Aktuelle Fragen zur Raumkultur
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Abb. 1 und 2
Bewohnte Holzhäuser ursprünglich gemischter Nutzung in Zgierz / Region
Łódz,
Polen
Abb. 3
Leer stehende Wohn-Gebäude
in Halle-Süd |
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Die Frage nach den Inhalten von Baukultur umreißt insbesondere dann
drängende Fragen zur Stadt- und Lebenskultur, wenn angesichts knapper
öffentlicher Mittel politisch zu entscheiden ist, ob und wie Vermächtnisse
der Geschichte zu erhalten oder zu erneuern sind, insbesondere solche, die
aktuellen Anforderungen an Transformation nicht mehr entsprechen:
-
Die halb
verfallenen, aber dicht bewohnten Holzhäuser auf tiefen, offenen Parzellen
in einer klassizistischen Kolonie frühindustrieller Textilheimindustrie -
für die Mischung von Wohnen und Arbeiten in Haus und rückwärtigen Freiräumen
angelegt -, die das mittelalterliche Zentrum der kleinen polnischen Stadt
Zgierz erweitert hat in der Nähe der großen, industriell gegründeten
Stadt
Łódz, bevor die Industrialisierung dort Blüte zeigte (s. Abb.
1-2).
-
Die mehrfach
modernisierten, spätindustriell angelegten Großsiedlungen in Ostdeutschland
am Rande großer Städte, - mit ersten Anzeichen des Leerstands infolge der
Abwanderung junger Einwohner -, zur Deckung eines unterstellten massenhaften
Bedarfs an Wohnungen noch zu Zeiten auslaufender Industrialisierung
angelegt, wie z. B. Berlin-Marzahn, Halle-Süd (s. Abb. 3).
Die beiden Bespiele vertreten zwei sehr
unterschiedliche Seiten der Vermächtnisse früh- bis spätindustrieller
Entwicklung von Raum. Räumlich-bauliche Veränderungen sind in beiden Fällen
mit Rücksicht auf die Bewohner und deren sozialräumliche Einbettung nur
eingeschränkt zumutbar und nicht von ihnen finanziell zu tragen.
Fragen zur Art der notwendigen Veränderung werden nicht durch herrschende
Marktbedingungen beantwortet.
Fragen zu einer für die Nutzer sinnvollen und auch „leistbaren“ Veränderung
der Gebiete oder der Lebensbedingungen der Bewohner werden gar nicht
gestellt.
Verlangen Bau- und Raumkultur nicht genau dies im Sinne der gesellschaftlich
und wirtschaftlich zunehmend relevanten räumlichen „Einbettung“ von Menschen
und Funktionen ? –
Dies mag die zunehmende - überwiegend ökonomisch erzwungene -
sozialräumliche Mobilität ausgleichen und beitragen zu einem neuen
Verständnis von „Nutzwert“ für örtliche Bedingungen einer „quality
of life“.
3.1. Städtebautheoretische Perspektive
Raumkultur im
Sinne der Anlage, kontinuierlichen Nutzung und Pflege von Raum umfasst den
Raumbegriff der Moderne bis ca. 1930, der einzelne Elemente der
Raumbildung zu eindeutig erfahrbaren sozial-räumlichen Zusammenhängen
hinführte und diese aufgrund ihrer Anlage für die Erneuerung
unterschiedlicher „Nutzwerte“ offen hielt. In der Anlage liegt
bereits eine Bandbreite an räumlichen Differenzierungen (des
Künstlerischen Städtebaus neben denen der Sachlichkeit des Neuen
Bauens) für öffentliche und private Räume. Hiermit waren wesentliche
Möglichkeiten der Urbanisierung damaliger sub-urbaner Räume durch
nachfolgende Nutzungen bis heute angelegt. Die Grenze zu einer anderen,
ausschließlich funktionalen Bestimmung der Bebauung und Freiräume, die
Erneuerung nur für ganz bestimmte „Nutzwerte“ zuließ, war um 1930
erreicht:
Martin Wagner, Stadtbaurat von Berlin, hatte um 1930 die
Unterscheidung von „Daseinswert“ und „Nutzwert“ von Gebäuden,
Straßen etc. thematisiert. Sein Interesse lag vor allem im „Nutzwert“,
sein Verständnis davon war jedoch bereits Ausdruck der beginnenden Trennung
von Funktionen infolge der seriellen Produktion und der zunehmenden
großräumlichen Verflechtungen von Transport und anderen Funktionen, die den
Eindruck von fortdauernder ökonomischer „Dynamik“ erzeugten. Die „Stadt
als Maschine“ - seit 1914 von Sant´Elia bereits in Form von
teilräumlichen Konzepten für Transportknoten und komplexe Bebauung entworfen
- stand als Idee hinter diesem neuen Verständnis und wurde zur Basis der „funktionalen
Stadt“.
Die nachfolgende Bedeutung von Funktionalität in den 1930er Jahren vertrieb
diejenigen, die das Gedankengut der Einbindung von Funktionen in den Raum in
mehrdisziplinärer Ausgewogenheit hervorgebracht hatten, die Vertreter des
Neuen Bauens, ins amerikanische Ausland. Soweit die Etablierung von
Funktionen dies erforderte, wurde auch der „Daseinswert“
künstlerischer Bautraditionen für die Erfüllung von Funktionen (z. B. „Heimat“)
wieder strapaziert. Die innovative Kraft der industriellen Moderne,
um 1930 noch im Gleichgewicht mit sozialräumlichen Werten, verlor damit an
Gewicht und wurde dem Sog der seriellen Produktion, nicht zuletzt zu
Kriegszwecken, unterstellt. Diese Einflüsse schufen Leitbilder für
Architektur und Städtebau („fließender Raum“), die die Trennung von
Funktionen über die örtlichen Ganzheiten der individuellen Aneignung und
privaten Nutzung von Raum stellten und die umfassende Bedeutung von
Architektur für Kommunikation zwischen Individuen aufhoben (Le Corbusier,
Wagner).
Eine räumliche Differenzierung eines Zusammenhanges von Stadtteilen wurde
dadurch unterbrochen. Städte wurden aufgeteilt in Funktionen und
gesellschaftlich definierte Gebiete unterschiedlicher „standards of
living“. In Westeuropa betrifft dies in der Folge der
spätkapitalistischen Entwicklung der Anlage und Nutzung von Räumen die
Postmoderne und die Neomoderne im Übergang zum Neotraditionalismus. In
Ostdeutschland führte die Funktionstrennung vor allem zur Trennung „gebauter“
und gelebter“ Räume infolge der Produktion der Großwohnsiedlungen.
Frage: Gilt es nicht, die verlorenen mehrschichtigen strukturellen
Bedingungen der Verbindung „gebauter und gelebter Räume“ gerade in
Ostdeutschland zugunsten einer bevölkerungsnahen Aneignung von Raum unter
neuen Vorzeichen sozialräumlicher Verflechtung in ihrer zeitgemäßen Prägung
privater Nutzungen und neuer öffentlicher Räume neu zu entdecken und diese
mit einer örtlichen Neubestimmung des „Nutzwertes“ von Räumen zu
verbinden? Die bestehenden „Daseinswerte“ von Räumen (z. B. der
‚zentrale Platz’ in Ostdeutschland) könnten hierbei als Basis für
Veränderungsprozesse gesamträumlich integriert werden, ohne die
Neubestimmung der Nutzwerte hierdurch einzuschränken. Der
Gemeinschaftsgedanke des Neuen Bauens könnte zugunsten der (Wieder-)Herstellung
von alten/ neuen teilräumlichen Zusammenhängen aufgegriffen und additiven
Formen der Individualisierung in Einfamilienhausgebieten oder deren
gemeinschaftlich angelegter, elitärer Form von „gated communities“
gegenübergestellt werden.
3.2. Perspektive der räumlichen
Planung
Die
kulturtheoretische Perspektive von Raumkultur wird hier auf die
Planungskultur bezogen. Auch diese zeigt im Rückblick auf die Geschichte der
industriellen Entwicklung im Gebiet der heutigen Bundesrepublik
Deutschland, dass bis etwa 1930 wesentliche Qualitäten der Steuerung von
räumlicher Entwicklung Umsetzung gefunden hatten.
Räumliche Qualität in der
Anlage einzelner Siedlungszusammenhänge für deren nachhaltige Erneuerung ist
vor allem zu Zeiten des Liberalismus im 19. Jahrhundert entstanden
unter Einfluss individueller Geldgeber, meist Fabrikanten oder Bankiers,
später Terraingesellschaften. Planung war die Vorbereitung von
Bauland, angepasst an die konkreten Erfordernisse der Besiedelung in
örtlichen Situationen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Rahmen zunehmender
Verflechtung von Produktion und Transport, wurden diese individuellen
Initiativen seltener. In Anbetracht der komplexer werdenden Aufgaben
räumlicher Planung zu Zeiten des Fordismus übernahmen besoldete
Beamte im Sinne der Wahrung sozialstaatlicher Aufgaben in den Preußischen
Kommunen die Vorbereitung der Besiedelung, überwiegend durch
Fluchtlinienplanung.
Die Ausführung der Aufgaben diente dem Auffangen gemeindlicher und
übergemeindlicher Erfordernisse zur Erschließung und Parzellierung von
Bauland sowie zur Bereitstellung technischer und sozialer Infrastruktur. Um
1911 entstand im Ruhrgebiet, wo die Industrialisierung einen
Schwerpunkt hatte, das regionale, rahmensetzende Konzept von Robert
Schmidt zum Schutz von Grünzügen in Verbindung mit regionalen
Überlegungen zum Ausbau von Transportnetzen, vor allem Straßen, – durchaus
ein Vorläufer heutiger Abstimmung zwischengemeindlicher Interessen. Die
flächenhaftes Wachstum und zunehmend auch Spezialisierung von Funktionen
unterstützende Planung wurde um 1960 in ihrer heutigen Systematik mit
unterschiedlichen räumlichen Ebenen und Inhalten von Planung durch den
Erlass des Bundesbaugesetzes etabliert und unter dem Vorzeichen des „Gegenstromprinzips“
an die Vorgaben der Bundesraumordnung gebunden. Die hierin enthaltene
und bis heute vorhandene Möglichkeit der Koppelung von top-down- und
bottom-up-Prozessen der demokratischen Entscheidungsfindung bietet
grundsätzlich ein hohes Potential für die Ausübung von Pflichten der
Planungshoheit der Kommunen, - als kleinster und stärkster Einheit im
Planungssystem -, zur Sicherung der Kontinuität zwischen der Anlage und
Pflege von Nutzungen an einzelnen Orten innerhalb regionaler und örtlicher
Zusammenhänge.
Unter Einwirkung der Kraft industrieller Entwicklung wurde die Bedeutung
einzelner Orte jedoch zunehmend der Konvergenz der flächenhaften Ausdehnung
von Wachstum unterstellt. Hierin enthalten war die Zerstörung
sozialräumlicher Zusammenhänge, die in ihrer Anlage langfristig beste
Voraussetzungen für die Erneuerung von Nutzungen aufwiesen:
-
Die Firma
Thyssen in Duisburg-Marxloh „überrollte“ aufgrund ihrer
Ausdehnung gewerblicher Nutzungen seit etwa 1960 vorindustriell und
gründerzeitlich angelegte Besiedelungen; die Stadtmitte von Duisburg
sowie Siedlungen und Parkanlagen aus der Zeit bis 1930 wurden seit 1955
durch die hochgelegte Stadtautobahn durchschnitten.
-
In
Halle-Neustadt führte die Anlage der gleichnamigen Großsiedlung
zugunsten der Bereitstellung massenhafter Wohnungen für die Ausdehnung der
Chemieindustrie im Süden der Stadt Halle seit etwa 1965 dazu, dass
das Dorf „Passendorf“ in Teilen ersetzt und die Stadtmitte von
Halle-Altstadt durch eine autobahnähnliche Straße, die „Magistrale“
zerschnitten, wurde.
Die Wiederherstellung der industriellen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg
hatte in beiden Teilen Deutschlands um 1965 ein Höchstmaß von „Dynamik“
erreicht, das zwar planerisch zugunsten einer Optimierung von Ansprüchen der
treibenden wirtschaftlichen Kräfte „verwaltet“ wurde, nicht aber im Sinne
des Schutzes und der Erneuerung bestehender „Nutzwerte“ gesteuert
wurde.
Zu dieser Zeit war ein Verständnis der Notwendigkeit zu inhaltlich und
gesamtstädtisch umfassender „Entwicklungsplanung“ im Sinne einer
erweiterten Daseinsvorsorge für Natur und Menschen bereits entstanden
(Definition von Lenort, 1960). Dieses Verständnis wurde in seiner
möglichen Ausführung durch die bereits in den 1960er Jahren beginnende
industrielle Krise eingeschränkt und wurde nirgendwo dort umgesetzt, wo die
Industrie traditionell Herrschaft über Bodennutzung und Transportsysteme
hatte, - wie z. B. im Ruhrgebiet. In den Städten, die aufgrund
gemischter wirtschaftlicher Kräfte in geringerem Maße unter dem direkten
Einfluss der Industrialisierung standen, wie z.B. Köln und München,
entstanden seitdem umfassende Analysen zur Bewertung und zum Schutz
benachteiligter sozial-räumlicher Situationen. Obwohl diese Beiträge nicht
unmittelbar umgesetzt wurden, hinterließen sie doch ein inhaltliches
Zielgerüst zur gesamträumlichen Steuerung teilräumlicher Veränderungen.
Diese Gerüste haben dezentrale Erneuerung auf der Basis der hierfür
tauglichen kleinräumlichen Potentiale gefördert und konzentrierten Ersatz
von räumlichen Bedingungen kanalisiert.
Etwa 10 Jahre nach der industriellen Krise - mit Tiefstand im Ruhrgebiet
um 1979 - wurde die Idee der „Perspektiven-Planung“ im Ruhrgebiet
durch die IBA Emscher Park um 1989 etabliert. Diese Idee nahm
Abstand von den umfassenden Ansprüchen der “Entwicklungsplanung“ und
setzte, in post-fordistischer Weise, erfolgreich Impulse an einzelnen
Orten in der Region, die eine eigene wirtschaftliche und kulturelle
Entwicklung aufgrund dieser Anregungen erwarten ließen. Diese
Planungshaltung betrifft die Konzeption örtlich besonderer Strategien und
Maßnahmen und deren beginnende Prozesshaftigkeit, über die Konzeption von
Maßnahmen hinaus, deren Umsetzung begleitend. Im Verhältnis zu
vorausgegangenen Positionen der kommunalen und regionalen Planung bedeutet
dies eine Differenzierung von Planungs-Inhalten zugunsten der Stärkung
örtlicher Besonderheiten.
Die Übersetzung der Idee der „Perspektiven-Planung“ in Bezug zu den
Notwendigkeiten zur Steuerung im Arbeitsfeld „Stadtumbau-Ost“ ist
nicht ohne weiteres möglich, da es hier nicht „nur“ um eine Region, sondern
um einen Teil der Bundesrepublik geht. Dieser Teil hat die monofunktionalen
Konzentrationen infolge spätindustrieller Einflüsse bis 1990 unter
realsozialistischen Bedingungen, d. h. ohne die umfassende Möglichkeit zur
Eigentumsbildung, erfahren und war seit 1990 erst einmal von den Wehen der
nachholenden spätindustriellen kapitalistischen Entwicklung geprägt. Ein
empfohlenes „Liegenlassen“ von Beständen der Großsiedlungen an den
Stadträndern als Alternative zum Abriss ist grundsätzlich vernünftig
[9], -
sofern die Bevölkerung durch nicht-investive Maßnahmen in der
Hervorbringung eigenständiger Beiträge zur Transformation ihrer
Lebenssituationen im Verhältnis zum Strukturwandel begleitend gestützt wird
[10].
Ein tendenzieller Verlust an Innovationsgehalt von Planung der Gegenwart ist
im Verhältnis zu den teilräumlichen Siedlungsplanungen im Liberalismus
festzustellen, hatte jedoch in diesem zeitlichen Rahmen aufgrund
geringerer Einflüsse einer internationalen Vernetzung ein wesentlich
geringeres Maß an gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Komplexität zu
beantworten. Auch ist, unter Einfluss fortgeschrittener Globalisierung, ein
Verlust an Innovationsgehalt für die Planung nach der
industriellen Krise im Verhältnis zu der Idee der „Entwicklungsplanung“
festzustellen, - nicht jedoch im Verhältnis zu einer denkbaren qualitativ
andersartigen Praxis! Verluste betreffen vor allem die inhaltliche und
räumliche Reduzierung der Regelungsansprüche. Die aktuelle Novellierung des
Baugesetzbuches und des Raumordnungsgesetzes korrigieren diese
Tendenz qua Gesetz.
Die Umsetzung der gesetzlich verankerten Ansprüche an mehrdisziplinäre
Planung, an Baukultur und den vorbeugenden Ausgleich sozialräumlicher
Belange des Stadtumbaus bleibt jedoch insbesondere in Ostdeutschland, - wo
die größten Erfordernisse einer umfassenden Steuerung durch ein nahezu
vollständiges Aussetzen von Steuerung seit 1990 beantwortet wurden -,
abzuwarten. Hier ist, nach fast 40 Jahren zentralistischer Planung, das „Gegenstromprinzip“
noch nicht zur Denk- und Handlungsgewohnheit geworden. Hier geben die
Erfahrungen von De-ökonomisierung und De-sozialisierung dem Investor immer
noch alle Vorrechte vor einer sozialgerechten Abwägung und Sicherung der
öffentlichen und privaten Belange im Rahmen der Planungshoheit der Kommune.
Raumkultur wird der Durchsetzung dieser Interessen in althergebrachter Weise
zugunsten der Dominanz von Funktionen unterworfen.
Frage: Läge nicht, hinsichtlich der besonderen Problematik und
Herausforderung ungleichwertiger Lebensbedingungen in Ostdeutschland, eine
ausstehende Innovation von kommunaler und regionaler Planung
sozial-räumlicher Veränderungen in der tatsächlichen Daseinsvorsorge für
Mensch und Natur? Diese wäre durch dialoghafte Anregungen von Bildern und
Prozessen einer neuen Demokratie den obsoleten Praktiken der
Effizienzsicherung von Wirtschaftlichkeit durch Erschöpfung bestehender
Märkte gegenüberzustellen.
Ansätze hierzu bestehen bereits in Sachsen-Anhalt
[11]. Die
erwähnten Ansätze gehen aus von der Profilierung einzelner Kommunen
hinsichtlich ihrer örtlichen Besonderheiten. Die Strategie des Landes
Sachsen-Anhalt zur Umsetzung von Steuerungsinhalten liegt in einer
vorrangigen Förderung kleiner Kommunen mit geringen Anteilen von
Rückbau-Beständen und in einer daran anschließenden Bündelung von Mitteln
auf die größeren Kommunen mit größeren Rückbau-Erfordernissen. Es ist
offensichtlich, dass kleinere Einheiten räumlicher Zusammenhänge das Gerüst
bilden für die regionalen Dimensionen des Stadtumbaus, ebenso in größeren
Städten. Diese räumliche Differenzierung macht eine Differenzierung
planerischer Inhalte unerlässlich.
3.3 Gestalt- und kunsttheoretische Perspektive
Die skizzierte Position für städtebautheoretische Perspektiven ist eng
verbunden mit den Wurzeln und der Blüte der Moderne in allen Zweigen
gestaltbildender Kunst und Architektur bis 1930. Sowohl der Bezug zur Natur
in Malerei und Fotografie – Vorläufer der frühen, skulpturalen Moderne
der Architektur aus der Zeit bis 1920 – wie auch die nachfolgenden
Abstraktionen der bildenden Künste in den Werken von Ernst Kandinsky,
Paul Klee etc. sind in dieses Verständnis von gestaltbildenden Werten
eingeschlossen. Das Erbe des Bauhauses wird hierbei voll zugrunde
gelegt. Eine Kontinuität raumbildender Gestaltung wird für die Zeit vor und
nach dem II. Weltkrieg gesehen zwischen Peter Behrens, Mart Stam, Rudolf
Schwarz und Ludwig Mies van der Rohe. Vertreter einer späten
rationalistischen Moderne, wie z. B. Norman Foster oder auch
Luis Barragan, werden ebenfalls in diese Reihe gestellt.
Die hierbei hervorgebrachte Grammatik der Gestaltung ist eindeutig in ihrem
Innovationsgehalt - in flächenhaftem sowie skulpturalem Ausdruck.
Nicht einbezogen in dieses Verständnis werden Kunst und Architektur der
Postmoderne aus der Zeit von 1965 bis etwa 2000, z. B. Frank Gehry, da sie Mängel an Transparenz von grundlegenden Strukturprinzipien zeigen
und vor allem dem Marktprinzip „Aufmerksamkeit“ entsprechen. Ähnlich ist es
mit der Inszenierung vieler „events“ in Kunst und Architektur. Die Beiträge
differenzieren das Angebot für die Wahrnehmung, bereichern es aber nicht
nachhaltig.
Das Verlassen von Gegenständlichkeit in der Malerei, wie Jackson Pollock,
oder in der Kunst von Joseph Beuys haben eine andere Qualität mit
hohem Innovationsgehalt, der in der Wahl ihrer Themen begründet liegt. Die
Vernetzung von Vereinzelungen - Pollock - oder die Simulation von
Bewusstseinsveränderungen - Beuys - sind Themen, die
gesellschaftliche Beziehungen reflektieren, somit vorhandene Bedingungen
kritisch-kreativ differenzieren und zu einer anderen, möglicherweise
umfassend neuen Qualität von Bedingung überleiten können.
In Ostdeutschland war der Kunstbegriff lange Zeit auf das Gegenständliche
konzentriert. Eine Überwindung dieser Gegenständlichkeit hat jedoch auch
hier eigene Tradition. Eine gemeinsame Sprache westlicher und östlicher
Prägungen kann durch die Verfremdung von räumlichen Situationen in Form von
„events“, Film und Theater örtlich hervorgebracht werden. Die dadurch
hervorgerufene Differenzierung liegt in einer Reflektion von Raumerfahrung.
Sie kann zur Bewusstwerdung sozial-räumlicher Bedingungen und Handlungen
beitragen und Phänomene, Gefühle, Mängel oder Orte neu sichtbar machen.
Kunst trägt hierbei, im Sinne der Bedeutung für den „Nutzwert“ von
Räumen, eine Bedeutung für die bisher noch ausstehende Innovation in der
Haltung vieler einzelner: Es geht darum, den besonderen Weg der ostdeutschen
Entwicklung vor einer Dominanz durch eindimensionale Werthaltungen der
marktbestimmten Entwicklung Westeuropas zu schützen und ein neues
Miteinander im Sinne einer ostdeutschen Tradition von Gemeinschaftlichkeit
zu ermöglichen.
Frage: Sollte im Sinne der Bestimmung von „Nutzwerten“ nicht stärker
darauf geachtet werden, dass einfache örtliche Besonderheiten, die die Sinne
binden, wie z. B. Gerüche, gutes Essen, frisches Brot, Wein, etc., oder
Sonneneinstrahlung und Schutz vor Wind und Regen zur ganzheitlichen Raumerfahrung beitragen? Gerade letztgenannte Angebote zur sinnlichen
Wahrnehmung von Raum werden in der Realität von Räumen nur eingeschränkt als
Werte sichtbar, leisten jedoch unbedingt Beiträge zur Unterstützung
eigenständiger sozialer Prozesse der Aneignung, Sicherung oder Veränderung
von Räumen. Sie könnten das zusätzliche Ergebnis einer breiteren Streuung
von Versorgungsangeboten sein, könnten die bestehenden Hierarchien
öffentlicher Räume in ihrer bestehenden Anlage temporär oder langfristig
durch ergänzende Nutzungen anreichern und so mit geringem Einsatz von
Mitteln im Sinne einer höheren „quality of life“ differenzieren.
3.4. Soziale und soziologische Perspektive
Die Einbindung von Raumkultur in eine kontinuierliche Fortsetzung und
schrittweise Erneuerung von sozial-räumlichen Traditionen war mit dem
Dritten Deutschen Reich und danach mit der Etablierung zweier deutscher
Staaten in der Nachkriegsgeschichte in dreifacher Weise gebrochen. Die
Herausbildung von Schichten unterschiedlicher Begünstigung durch Staat (Ost)
oder Bürgerlichkeit (West) wurde nach dem II. Weltkrieg bestimmend für
Wertbildung und Erfahrung von Stadt- und Lebenskultur(en). Während in
Westdeutschland die industrielle Nachfrage nach Arbeitskräften bis zu den
1970er Jahren aus wirtschaftlichen Gründen ausländische, z. B. türkische,
Lebens-Kulturen in den Städten etablierte, geschah die umfassende Begegnung
mit anderen Herkunftskulturen in Ostdeutschland erst nach 1989.
Das für West-Europa bezeichnende zunehmende Miteinander unterschiedlicher
Herkunfts-Kulturen in den Städten ist einerseits vielschichtige Begegnung,
andererseits sozialräumliche Differenzierung zum Schutz tradierter
Herkunftswerte. Hier entspricht die teilräumliche Differenzierung der
Stadträume in unterschiedliche Kulturen der ganzheitlichen Zusammenführung
von tradierten Werten an einzelnen Orten und sichert so die Erfüllung
grundlegender Anforderungen an geeignete Voraussetzungen für gruppenbezogene
Kommunikation. Wichtig für die Fortführung, Erneuerung und Erkennbarkeit der
individuellen Charaktere der Städte ist, dass diese stadtteilräumliche
Differenzierung durch stadtöffentliche Begegnungsräume für jedermann
ganzheitlich ausgeglichen wird.
Im Sinne der einführend dargestellten Bau- und Raumkultur werden soziale
Perspektiven der stadtteilräumlichen Differenzierung in Ostdeutschland vor
allem in der Anregung und begleitenden Unterstützung von Initiativen
gesehen, die „den Umbau selbst tragen und ungeplant voranbringen“[12]. Solche
Initiativen sind eine tragende Kraft der Erneuerung von Räumen, wenn ihr
Interesse am Raum ökonomisch begründet ist. Dies umfasst das Interesse am
Aufbau lokaler Arbeitsnutzungen und führt idealerweise zu „örtlichen
Kulturen“, die durch gemeinsame wirtschaftliche Interessen definiert sind
und, deshalb, friedlich in Koexistenz miteinander leben können. Grundlegende
räumliche Bedingungen hierfür sind vorhanden in inneren und äußeren
Randlagen der Städte, wo Raum in vielfältiger Weise für Veränderungen offen
ist [13].
Grundlegende soziale Bedingungen für solche Initiativen sind vor allem
fremdländischen Kulturen vertraut, während die einheimischen Kulturen in
Ostdeutschland noch sehr stark von Prozessen der sozialen Ausgrenzung und
Segregation bestimmt sind und erst allmählich, infolge beginnender
wirtschaftlicher Selbstorganisation, offener werden für wirtschaftlich
begründete Koexistenzen und ihre unterschiedlichen örtlichen Kulturen.
Für laufende Prozesse der Entstehung von Beziehungen zwischen Menschen und
Orten werden [14]
folgende
sozial-räumliche Situationen für Dessau unterschieden und lokalisiert:
-
Erzwungene
Selbstorganisation durch den Markt und Rückzug auf das Private (Zentrum,
Subzentrum an der Peripherie)
-
Leben einer
reduzierten Form der Selbstbestimmung im selbst gewählten Freundeskreis
(Innenstadtnähe, nach außen geschlossene Strukturen, teilweise Eigenheim)
-
Selbstmanagement, Arbeit als Mittelpunkt des Lebens in Verbindung mit der
Wohnsituation (Altbau in Innenstadtnähe, Eigenheim)
-
Reduzierte
Formen der Individualisierung, Ansprüche auf Selbstverwirklichung und Formen
von Mobilität bis hin zum „Job-Nomaden“ (Innenstadt, periphere Orte).
Die genannten Bedingungen sind zunehmend offen für Veränderung, meist in
Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt. Resultierende Prozesse der Herstellung
ortsbezogener Identitäten mögen zunächst als Fortführung und Differenzierung
überkommener Werte betrachtet werden; sie mögen in Zukunft ein neues
Verständnis der Aneignung von Raum, seinen neuen „Nutzwerten“ und
deren fortsetzbarer Erneuerung an einzelnen Orten, durchaus in Konkurrenz
zueinander, als „örtliche Kulturen“ hervorbringen.
Frage: Sind nicht gerade diejenigen sozialen Kräfte, die Privatheit „nur“ in
der gesellschaftlich elitären Situation der Großsiedlungen, d. h. in der
Minimierung von Raum und in der Reduzierung der Möglichkeiten zur Aneignung
von Raum auf die Kleingartensiedlungen erfahren haben, die stärksten
gesellschaftlichen Kräfte für eine Transformation der Städte in
Ostdeutschland? Hierfür
spricht, dass ein Bewohner der Großsiedlung Berlin-Marzahn sagte,
dass er gerne, gemeinsam mit anderen, „Dorf“ werden wolle, dass aber der
Berliner Senat nicht die erforderlichen Mittel hierfür bereit stellen
würde ... [15]. Es ist
wohl bekannt, dass Dorfgemeinschaften in Ostdeutschland eine starke
Tradition darin haben, lokale Ökonomien und „örtliche Kulturen“
erfolgreich aufzubauen und zu führen, trotz der Einflüsse der Deutschen
Demokratischen Republik auf die Rationalisierung der Landwirtschaft. Das
Problem liegt im Warten auf die zentrale Steuerung von finanzieller Hilfe.
4. Perspektiven für spätindustrielle Prozesse – Ostdeutschland
Die eingangs vorgestellte These führt - insbesondere mit Blick auf die
Theorien von Berger und Mensch - zu der Frage, ob und unter welchen
Bedingungen evolutionäre Differenzierungen neuen Innovationsgehalt
hervorbringen können.
Luhmann hilft uns bei der Suche nach der näheren Bestimmung von
Innovationsgehalt, indem er davon ausgeht, dass das gesellschaftliche
Anerkennen von Grenzen der Erschöpfung von Ressourcen eine wesentliche
Voraussetzung dafür ist, ihre Erneuerung zu sichern; dies wird hier bezogen
auf die Notwendigkeit der fortgesetzten Erneuerung von „Nutzwerten“.
Wie die Betrachtung der vier Aspekte für eine Raumkultur gezeigt hat, ist
der perspektivisch gesuchte „Nutzwert“ vor allem bestimmt durch die
räumliche Integration von Voraussetzungen für eine angenehme Organisation
des Alltags im Lebensraum. Dies bedeutet im Verhältnis zu dem Wandel in
Gesellschaft und Wirtschaft Voraussetzzungen für die Integration von Arbeit
zu schaffen.
Das hierfür erforderliche soziale Anerkennen von Grenzen muss bezogen werden
auf die Wiedereinfügung von Arbeitsnutzungen in Stadträume. Dies muss über
Anstöße zur Bewusstmachung von historischen und gegenwärtigen Prozessen der
Zerstörung gegen die Kräfte der Wirtschaft und gegen die Trägheit der
Gesellschaft kollektiv angestrebt werden, um Innovationen anstelle
evolutionärer Differenzierungen für das bestehende System durch Teile des Systems
herbeizuführen.
Dem Bild des einführend dargestellten Verständnisses von Bau- und Raumkultur
entgegen standen während der industriellen Entwicklung
-
das
Prinzip der erschöpfenden Weiter-Nutzung von Ressourcen jeglicher Art ohne
grundlegende Investitionen in ihre Erhaltung oder in ihre Veränderbarkeit
zugunsten eines neuen Nutzwertes auf der tiefen Parzelle (Beispiel der
Holzhäuser in Polen),
-
das
Prinzip der Ignoranz gegenüber den Werten kleinteilig erneuerbarer
Ressourcen der Raumnutzung im Altbaubestand zugunsten der künstlichen
Aufrechterhaltung einer „florierenden“ Wirtschaft auf der Basis vorwiegend
rationalistischer Prinzipien der Anlage von Großsiedlungen (Beispiel der
Groß-Siedlungen in Ost-Deutschland).
Beide Prinzipien haben längst die Grenzen zukünftig möglicher ökonomischer
Wertschöpfung in Europa erreicht, sofern nicht auslaufende Prozesse
quantitativen städtischen Wachstums zu ihrer Rechtfertigung genutzt werden.
In beiden Fällen wird dem Prinzip der Nachhaltigkeit zugunsten der
strukturellen Erneuerung von Räumen nicht Rechnung getragen. Anlage und
Pflege von Bebauung und Freiräumen sind ausschließlich unter Aspekten
temporärer Gewinnmaximierung bewertet worden. Die hohen städtebaulichen
Werte kleinteilig strukturierter Gebiete für eine kontinuierliche Erneuerung
durch individuelle Kräfte sind nicht anerkannt worden. Die raumbildenden
Werte aus den Zeiten der frühen Moderne und der Blüte der Moderne sind in
ihrem zeitlosen Zusammenspiel von einzelnen Elementen und dezentralen
teilräumlichen Zusammenhängen und in ihrer potentiellen Bedeutung für die
regionalen Ansprüche an Qualitäten der umfassenden Schaffung von
Lebensräumen, Wirtschaftsstandorten und Versorgungsleistungen (Energie,
Wasser und Abwasser, Gesundheit, Bildung ...) übergangen worden.
Die Fachdiskussion zu Bau- und Raumkultur kann einen wesentlichen Beitrag
dazu leisten, diese „Sackgassen“ zu überwinden, indem das Kriterium der
„Transformationsfähigkeit“, auch für Arbeitsnutzungen, generell einer
Bewertung der Anlage von Räumen zugrunde gelegt wird und örtlich die
notwendigen materiellen und immateriellen Bedingungen fortsetzbarer
Erneuerung von teilräumlichen Zusammenhängen im Sinne der vielfältigen
Nutzung und Pflege von bestehenden Räumen bestimmt werden.
Auf dieser Basis gibt die vorausgegangene Betrachtung der vier Aspekte
historischer Beiträge zur Raumkultur dem Einfluss evolutionärer Prozesse und
Phänomene folgende Bedeutungen:
-
Differenzierungen von Nutzung und Bebauung können obsolete Konzentrationen
von Monofunktionen ersetzen; sie können kleinteilig „Nutzwerte“
integrieren, die für die Entfaltung „örtlicher Kulturen“ geeignet
sind.
-
Die „Einbettung“
von Funktionen in stadträumliche Situationen kann durch Prozesse der
Differenzierung von Nutzungen und Bebauung gestärkt werden; diese Prozesse
können durch örtliche Planung angeregt und begleitet werden.
-
Die
Differenzierung von Architektur und Kunst kann neue „Nutzwerte“
induzieren. Es gilt, diese auf ihre Qualität für ein Wecken der sinnlichen Erfahrung von
Raum hin zu prüfen und neue Werte einzusetzen, um Qualitäten von Raum gesamtgesellschaftlich leistbar
zu machen.
-
Räumliche
Hierarchien können durch „örtliche Kulturen“ differenziert werden;
die Koexistenz der „örtlichen Kulturen“ in Städten und Dörfern kann
durch die regionale Verflechtung der öffentlichen Räume erfahrbar gemacht
werden.
Aber:
-
Differenzierungen sind nicht zukunftsfähig, wenn sie bestehende obsolete
Strukturen erhärten durch Modernisierung, Modifizierung oder Make-up
transformationsunfähiger Bedingungen.
Dies zeigt: Das Prinzip der Evolution reicht als Handlungsmaxime gerade in
wirtschaftlichen Krisen allein nicht mehr aus und muss durch politische
Strategien zur Herstellung und Sicherung langfristiger Ziele im Sinne der
Daseinsvorsorge gesteuert und ausgeglichen werden. Die Perspektiven der
Daseinsvorsorge liegen gerade im Spätkapitalismus in individuellen Prozessen
der Selbstorganisation; dies betrifft in erster Linie die räumliche
Integration von Arbeitsnutzungen.
Geeignete materielle Bedingungen hierfür liegen in der Anlage eindeutiger
Trennung/ Verbindung öffentlicher und privater Räume sowie in der
Möglichkeit, eine Vielfalt von Arbeitsnutzungen mit der Wohnnutzung in enger
Verflechtung von Bebauung und Freiräumen zu kombinieren. Gute
Voraussetzungen hierfür bieten tiefe Parzellen und eine unmittelbare
Zuordnung von Freiräumen zur Bebauung sowie eine Aufteilbarkeit der Bebauung
in einzelne, baulich und energietechnisch veränderbare Elemente.
Dies bedeutet für Ostdeutschland: Die Phase des Umbaus erfordert örtlich
besondere Antworten auf den globalen Fortschritt, zugunsten der Integration
veränderter Bedingungen von Leben und Arbeiten sowie zugunsten der
Integration von Menschen andersartiger Herkunft. Dies wiederum erfordert ein
Kennen und Durchbrechen von Traditionen und herrschenden Marktprinzipien
zugunsten von Konzepten für eine „quality of life“ zu leistbaren
Bedingungen.
Dies wiederum ist von Bedeutung für die uneingeschränkte Aneignung der Räume
durch die Nutzer: Nur da, wo die Menschen sich selbst vertrauen dürfen
[16], kommt
die Qualität einer authentischen „Einbettung“ in Räume zustande.
Im Sinne eines grundlegenden Respekts vor Raum-Qualitäten, deren Anlage
individuelle oder gemeinschaftliche Initiativen solcher Art strukturell
ermöglicht, geht es um die Erneuerung von teilräumlichen Zusammenhängen, vor
allem im Verhältnis von „inneren“ und „äußeren“ Rändern der Stadträume
zueinander und in ihrem Verhältnis zu dezentralen Kernen
[17]. Die
Anlage von Räumen aus der Zeit der industriellen Blüte bis 1930 ermöglicht
eine Vielfalt an Maßnahmen des Stadtumbaus mit Ergebnissen von Urbanisierung
durch Integration von Arbeitsnutzungen.
Ein neuer „Nutzwert“ von Räumen könnte in Ostdeutschland auch durch
die kleinteilige Erneuerung von kleinen Städten und Dörfern mit Besinnung
auf ihre spezifischen räumlichen Anlagen und bestehende eindeutige
Eigentumsverhältnisse sowie gemeinschaftliche Nutzung von Ressourcen
hergestellt und gepflegt werden können. Die Strategien des Landes
Sachsen-Anhalt und der IBA Sachsen-Anhalt umfassen bereits die
Vorrangstellung von kleinen Städten und Dörfern.
Abweichend vom Vortrag, der anlässlich der
dieses Heft vorbereitenden Konferenz gehalten wurde, ist die Anzahl der Abbildungen von etwa 50 auf drei
reduziert worden. Diese Beispiele kennzeichnen Beginn und Ende der Reihe
industrieller städtebaulicher Leitbilder vor der industriellen Krise;
Quelle: Haase, Andrea, 2003.
Literatur:
-
Berger, Johannes (1986). Einleitung, in: Berger, Johannes (Hrsg.), Die
Moderne - Kontinuitäten und Zäsuren, Soziale Welt, Sonderband 4,
Göttingen
-
Haase, Andrea (1999),
Entwicklung der Stadt Duisburg – Der Einfluss von Innovationen auf Räume
und Funktionen, Dortmund
-
Haase, Andrea (2003),
Gegenwart und Zukunft der Stadtentwicklung in Sachsen-Anhalt.
Magdeburg-Halle-Dessau. Perspektiven und strukturelle Rahmenbedingungen
zukünftiger Entwicklung, Dessau
-
Kill, Heinrich
(1991), Erfolgsstrategien von Verkehrssystemen. Eine evolutionsorientierte
Analyse der europäischen Verkehrsentwicklung, Berlin
-
Luhmann, Niklas
(1988), Die Wirtschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt a. M.
-
Mensch, Gerhard (1975), Das
technologische Patt, Innovationen überwinden die Depression, Frankfurt a.
M.
[1]
lat. „cultivare“
[2]
s. Mensch, G.,1975
[3]
s. Berger, J., 1986
[4]
s. Luhmann, N., 1988
[5]
s. Haase, A., 1999
[7]
unkontrollierte
Bebauung nach § 34 Baugesetzbuch, Fertigeinfamilienhäuser
[8]
s. Norman Foster:
Technologie-Zentrum, Duisburg, südlich Mühlheimerstraße
[9]
s. Ganser, K.,
zitiert in: Die Welt, 4. September 2003
[10]
s. A. Haase, 2003,
Transformation spätindustrieller Großsiedlungen an den Stadträndern“,
Vortrag in Berlin-Hellersdorf/ Marzahn am 23.10.
[11]
s. Vortrag von R.
Sonnabend, 2003, Beauftragte der IBA Sachsen-Anhalt am Bauhaus Dessau,
anlässlich der Kooperations-Veranstaltung von Hochschule Anhalt und
Stiftung Bauhaus Dessau zum Thema „Stadtumbau lernen“ am 13.11., Dessau,
sowie Vortrag von Herrn Dr. R. Daehre, 2003, Städtebauminister des
Landes Sachsen-Anhalt, anlässlich des 4. Architektentages in
Sachsen-Anhalt am 22.11., Halle
[12]
s. Rettich, St.,
2003, Leserbriefe, BW 34, Wochenschau S. 6
[13]
s. Haase, A., 2003, Verflechtungsräume, Beitrag zu der Tagung „Der
öffentliche Raum zu Zeiten der Schrumpfung“, BTU Cottbus, 21. Juni
[14]
Kremer, E., 2003, Stiftung Bauhaus Dessau, Manuskript zur Vorbereitung
der Tagung „Stadtumbau lernen“, 13.11., Dessau
[15]
Reaktion im Rahmen einer öffentlichen Vortragsreihe der Plattform
Marzahn in Kooperation mit der Alice-Salomon-Fachhochschule, am
23.10.2003 in Berlin-Hellersdorf
[16]
s. Prof. Niebergall, 4. Architektentag, 22.11.2003, Halle
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