8. Jg., Heft 2 (März  2004)    

 

___Andrea Haase
Aachen / Dessau
  Kultur der Anlage und Nutzung von Raum

 

   

Der Beitrag führt das Thema „Kultur der Anlage und Nutzung von Raum“ ein, indem er den Blick öffnet für die vielfältigen Dimensionen von Siedlungskultur im Sinne von „Anlegen, Bearbeiten, Pflegen, Entwickeln und für die Entwicklung prozess-begleitend Verantwortung tragen“ [1].
Er wirft die Frage auf, was Baukultur im Sinne einer Kultur der Gestaltung und Nutzung von Räumen vor dem Hintergrund der industriellen Geschichte heute sein kann. Um dieser Frage nachzugehen, skizziert er unter dem Aspekt „Standards of living“ – „Quality of life“ einen Rahmen, der spätindustrielle Erkenntnisse der Innovations- [2], der Modernisierungs- [3]
sowie der Systemtheorie [4] zugrunde legt. Diese Theorien werden mit folgender These zusammengeführt und der Gegenwart gegenüber gestellt:

„Mit zunehmender Entfaltung industrieller Bedingungen von Gesellschaft und Wirtschaft werden die innovativen Werte der Produkte (so auch Raum) insgesamt geringfügiger; dies entspricht ihren – obsolet werdenden – Vermarktungsbedingungen. Die Differenzierung von Bedingungen (so auch von Raum) geht solange und soweit einher mit der Erschöpfung innovativer Kräfte, wie nicht umfassender struktureller Wandel gesellschaftlicher Bedingungen ein Umdenken erfordert und neue Werte einführt. Dieses Umdenken bedarf der umfassenden Steuerung durch regional wirksame Kooperationen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.“

Diese These wird auf den „Stadtumbau Ost“ bezogen, da in Ostdeutschland neue Erfordernisse der Siedlungskultur für die spätindustrielle Entwicklung in Europa massiv sichtbar geworden sind. Die Betrachtung von Städtebau-, Kultur-, Gestalt- und Kunsttheorie sowie Soziologie nimmt für die einzelnen Felder Stellung zu dieser These. Eine kritisch-kreative Kritik an Tendenzen der Differenzierung in Gesellschaft und Raum ist Gegenstand der Schlussfolgerungen: Hierbei umfasst der perspektivische Blick die verloren gegangenen Möglichkeiten der Moderne, Gebrauchs- und Gestaltwerte im Sinne ihres „Nutzwertes“ neu zu bestimmen. Auf dieser Basis werden evolutionäre Veränderungen in Verhältnis gesetzt zu Innovationen.


Der Beitrag hat folgende Inhalte:

1. „Standards of living“ – „Quality of life“
2. Zum Wesen von Raumkultur
3. Aktuelle Fragen zur Raumkultur

3.1.            Städtebautheoretische Perspektive

3.2.            Perspektive der räumlichen Planung

3.3.            Gestalt- und kunsttheoretische Perspektive

3.4.            Soziale und soziologische Perspektive

4. Perspektiven für spätindustrielle Prozesse – Ostdeutschland
 


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1. „Standards of living“ - „Quality of life“

Das Leben in den besiedelten Räumen Europas ist zunehmend bestimmt durch die Märkte der „standards of living“, die durch die Modernisierung der Städte getragen werden und durch die Konsumption der Produkte von Bebauung und Räumen erfüllt werden. Das Anspruchsdenken der Konsumenten, das den Motor für den Erfolg der involvierten Zweige der Wirtschaft bildet, ist vielfältig begründet, meist durch technologischen Fortschritt, Suche nach technischer und sozialer Sicherheit und Optimierung der Bodennutzung. Werbung, individuelle Unzufriedenheiten, soziale Fragmentierung und damit verbundene soziale Darstellungswünsche ... sind Anlässe der Nachfrage nach diesen Produkten. Je breiter mehr die Konsumption greift, desto mehr breitet sich eine Ahnung von der Endlichkeit der „glückbringenden“ Marktprozesse aus. Dies hat zunächst zur Konsequenz, dass auf gleicher, - d. h. Marktebene -, „neue“ Angebote auftauchen, die den „standards of living“ vermeintlich eine „quality of life“ entgegensetzen. Ein Beispiel hierfür liegt im Werbeslogan der Firma IKEA „Wohnen Sie noch oder leben Sie schon?“.

Die spätindustriellen Vermächtnisse realsozialistischer und spätkapitalistischer Prägung in Ostdeutschland haben gezeigt, dass die industrielle Entwicklung dort einen Endzustand der Schaffung wirtschaftlicher Werte erreicht hat. Das dramatische Zutagetreten dieses Endzustandes in ostdeutschen Städten ist ein ganz besonderer Ausdruck des Auseinanderklaffens von „standards of living“ und „quality of life“.

Folgende Theorien zu spätindustriellen Prozessen des Verlustes von Werten seien den Betrachtungen zur Raumkultur nachfolgend zugrunde gelegt: Spätindustrielle Prozesse bis zum Umbruch nach der industriellen Krise wurden bisher unter westlichem Blickwinkel kritisch erfasst. Gerhard Mensch hat die These der geringer werdenden innovativen Werte für die Logik industrieller Prozesse von Produktion und Konsumption entfaltet. Johannes Berger spricht von der zunehmend verzweigten Differenzierung von materiellen Bedingungen und Denkweisen und dem Mangel an umfassender Neuerung. Niklas Luhmann sieht die Grenzen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen in ihrer Erschöpfung und appelliert an kollektive Grenzsetzung zugunsten der Erhaltung und Erneuerung von Ressourcen.

Die These vom geringer werdenden Innovationsgehalt von Neuerungen ist hinsichtlich der Geschichte der Stadt Duisburg für die Zeit 1830-1995 [5]
mit Blick auf die Aufnahme und Verbreitung von Neuerungen in Städtebau und im Transportwesen geprüft worden. Zugrunde lag eine Untersuchung zum Wandel von Transportsystemen [6]. Diese Prüfungen ergaben ein zweifaches Gerüst zur Bewertung der Einflüsse von technologischen und sozialen Innovationen auf Räume und Funktionen. Im Ergebnis betrifft dies einen Tiefstand von städtebaulichen Innovationsgehalten zu Zeiten der industriellen Krise [7] mit Umbruch seit 1989: von der auslaufenden Differenzierung von Räumen durch Integration von einzelnen Werken der „Technik-Kunst-Architektur[8] hin zu der aufkommenden Idee der Stärkung von Teilräumen als Bestandteile des Gesamtraumes – unter der regionalen Steuerung der IBA Emscher Park. Im Transportwesen wurde, parallel dazu, für die Zeit nach der industriellen Krise bestätigt, dass die drei klassischen Stadien der Anlage, des Auf- und des Ausbaus von Transportnetzes evolutionär erfolgen, während das 4. Stadium, der Umbaus der Systeme, die politische Steuerung erfordert.

Was heißt das für Bau- und Raumkultur? Stehen wir am Ende der evolutionären Möglichkeiten sinnvoller Veränderung? Sind wir fähig zu Innovationen? Was wäre wie zu verändern?

Bau- und Raumkultur haben im Sinne der genannten These eine wesentliche Bedeutung für die Steuerung von Prozessen der Er-Neuerung von sozial-räumlichen Bedingungen und damit verbundenen Identitäten in Ostdeutschland, nachdem die Zeit seit 1989 tatsächlich vor allem Ausdruck der Erschöpfung von Innovationsgehalten im Städtebau war: z. B. die additive Anlage von Einfamilienhausgebieten, Überbauung von ‚zentralen Plätzen’ durch Einkaufszentren, Vervollständigung und Anlage von „neuen Städten“/ „Marktplätzen“ und Gewerbebauten auf der „grünen Wiese“, wie die Ansiedlung Großkugel bei Leipzig.



2. Zum Wesen von Raumkultur

Die generelle Frage nach dem Wesen von Baukultur führt zu dem Verb „kultivieren“. Hier finden wir einen wesentlichen Schlüssel zu einem Verständnis, das unmittelbar aus dem Grundverständnis des Siedelns abgeleitet ist. Entsprechend umfasst der Begriff „Kultur“ nachhaltig ertragreiche Prozesse der Anlage, Bearbeitung und Pflege von Gütern, ursprünglich in der Landwirtschaft (agri-cultura). Im Sinne aller mit dem Siedeln verbundenen Handlungen betrifft er die Anlage und Pflege von „inneren“ und „äußeren“ Räume, die begleitende Gestaltung von Bebauung und Freiräumen, ihren groß- und kleinräumlichen Zusammenhängen und deren Veränderungen im Laufe der Zeit. Mit Wirkung für groß- und kleinräumliche Zusammenhänge gehen Bau-, Stadt- und Lebenskultur idealerweise Synthesen ein und können eine regions- oder ortsspezifische Kultur der Anlage und Nutzung von Raum begründen und tragen. Um die Wirtschaftlichkeit eingesetzter Mittel und Energien zu sichern, sind wesentliche Qualitäten für die Dauerhaftigkeit der Anlage und für die fortlaufende Erneuerung der Nutzungen zeitgemäß umzusetzen.

Dieses Verständnis von Wirtschaftlichkeit ist ein einfaches. Es entspricht nicht den komplizierten Bedingungen spätindustrieller globaler Einflüsse in den Großstädten, die Verfall und Leerstand in Prozesse der Gewinnmaximierung systematisch integriert haben, wie zum Beispiel in Houston/Texas. Es entspricht aber durchaus, auch in Großstädten und ihren inneren und äußeren Rändern, spätindustriellen Anforderungen an eine Rückbettung globaler Funktionen in ortsspezifische Bedingungen. Diese Notwendigkeit der Rückbettung entsteht infolge der spätindustriellen Schwächung globaler Mechanismen zum Ausgleich ungleichwertiger Lebens- und Arbeitsbedingungen im Verhältnis zum Abbau von Sozialleistungen. Sie entsteht überall in der Welt, findet aber derzeit in Ostdeutschland besonderen Ausdruck in der dringenden Notwendigkeit zur Stabilisierung der verbleibenden Bevölkerung.



3. Aktuelle Fragen zur Raumkultur
 

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Abb. 1 und 2
Bewohnte Holzhäuser ursprünglich gemischter Nutzung in Zgierz / Region Łódz, Polen

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Abb. 3
Leer stehende Wohn-Gebäude
in Halle-Süd
 

Die Frage nach den Inhalten von Baukultur umreißt insbesondere dann drängende Fragen zur Stadt- und Lebenskultur, wenn angesichts knapper öffentlicher Mittel politisch zu entscheiden ist, ob und wie Vermächtnisse der Geschichte zu erhalten oder zu erneuern sind, insbesondere solche, die aktuellen Anforderungen an Transformation nicht mehr entsprechen:

-          Die halb verfallenen, aber dicht bewohnten Holzhäuser auf tiefen, offenen Parzellen in einer klassizistischen Kolonie frühindustrieller Textilheimindustrie - für die Mischung von Wohnen und Arbeiten in Haus und rückwärtigen Freiräumen angelegt -, die das mittelalterliche Zentrum der kleinen polnischen Stadt Zgierz erweitert hat in der Nähe der großen, industriell gegründeten Stadt Łódz, bevor die Industrialisierung dort Blüte zeigte (s. Abb. 1-2).

-          Die mehrfach modernisierten, spätindustriell angelegten Großsiedlungen in Ostdeutschland am Rande großer Städte, - mit ersten Anzeichen des Leerstands infolge der Abwanderung junger Einwohner -, zur Deckung eines unterstellten massenhaften Bedarfs an Wohnungen noch zu Zeiten auslaufender Industrialisierung angelegt, wie z. B. Berlin-Marzahn, Halle-Süd (s. Abb. 3).

Die beiden Bespiele vertreten zwei sehr unterschiedliche Seiten der Vermächtnisse früh- bis spätindustrieller Entwicklung von Raum. Räumlich-bauliche Veränderungen sind in beiden Fällen mit Rücksicht auf die Bewohner und deren sozialräumliche Einbettung nur eingeschränkt zumutbar und nicht von ihnen finanziell zu tragen.
Fragen zur Art der notwendigen Veränderung werden nicht durch herrschende Marktbedingungen beantwortet.


Fragen zu einer für die Nutzer sinnvollen und auch „leistbaren“ Veränderung der Gebiete oder der Lebensbedingungen der Bewohner werden gar nicht gestellt.
Verlangen Bau- und Raumkultur nicht genau dies im Sinne der gesellschaftlich und wirtschaftlich zunehmend relevanten räumlichen „Einbettung“ von Menschen und Funktionen ? –
Dies mag die zunehmende - überwiegend ökonomisch erzwungene - sozialräumliche Mobilität ausgleichen und beitragen zu einem neuen Verständnis von „Nutzwert“ für örtliche Bedingungen einer „quality of life“.


3.1. Städtebautheoretische Perspektive
Raumkultur im Sinne der Anlage, kontinuierlichen Nutzung und Pflege von Raum umfasst den Raumbegriff der Moderne bis ca. 1930, der einzelne Elemente der Raumbildung zu eindeutig erfahrbaren sozial-räumlichen Zusammenhängen hinführte und diese aufgrund ihrer Anlage für die Erneuerung unterschiedlicher „Nutzwerte“ offen hielt. In der Anlage liegt bereits eine Bandbreite an räumlichen Differenzierungen (des Künstlerischen Städtebaus neben denen der Sachlichkeit des Neuen Bauens) für öffentliche und private Räume. Hiermit waren wesentliche Möglichkeiten der Urbanisierung damaliger sub-urbaner Räume durch nachfolgende Nutzungen bis heute angelegt. Die Grenze zu einer anderen, ausschließlich funktionalen Bestimmung der Bebauung und Freiräume, die Erneuerung nur für ganz bestimmte „Nutzwerte“ zuließ, war um 1930 erreicht:

Martin Wagner, Stadtbaurat von Berlin, hatte um 1930 die Unterscheidung von „Daseinswert“ und „Nutzwert“ von Gebäuden, Straßen etc. thematisiert. Sein Interesse lag vor allem im „Nutzwert“, sein Verständnis davon war jedoch bereits Ausdruck der beginnenden Trennung von Funktionen infolge der seriellen Produktion und der zunehmenden großräumlichen Verflechtungen von Transport und anderen Funktionen, die den Eindruck von fortdauernder ökonomischer „Dynamik“ erzeugten. Die „Stadt als Maschine“ - seit 1914 von Sant´Elia bereits in Form von teilräumlichen Konzepten für Transportknoten und komplexe Bebauung entworfen - stand als Idee hinter diesem neuen Verständnis und wurde zur Basis der „funktionalen Stadt“.

Die nachfolgende Bedeutung von Funktionalität in den 1930er Jahren vertrieb diejenigen, die das Gedankengut der Einbindung von Funktionen in den Raum in mehrdisziplinärer Ausgewogenheit hervorgebracht hatten, die Vertreter des Neuen Bauens, ins amerikanische Ausland. Soweit die Etablierung von Funktionen dies erforderte, wurde auch der „Daseinswert“ künstlerischer Bautraditionen für die Erfüllung von Funktionen (z. B. „Heimat“) wieder strapaziert. Die innovative Kraft der industriellen Moderne, um 1930 noch im Gleichgewicht mit sozialräumlichen Werten, verlor damit an Gewicht und wurde dem Sog der seriellen Produktion, nicht zuletzt zu Kriegszwecken, unterstellt. Diese Einflüsse schufen Leitbilder für Architektur und Städtebau („fließender Raum“), die die Trennung von Funktionen über die örtlichen Ganzheiten der individuellen Aneignung und privaten Nutzung von Raum stellten und die umfassende Bedeutung von Architektur für Kommunikation zwischen Individuen aufhoben (Le Corbusier, Wagner).

Eine räumliche Differenzierung eines Zusammenhanges von Stadtteilen wurde dadurch unterbrochen. Städte wurden aufgeteilt in Funktionen und gesellschaftlich definierte Gebiete unterschiedlicher „standards of living“. In Westeuropa betrifft dies in der Folge der spätkapitalistischen Entwicklung der Anlage und Nutzung von Räumen die Postmoderne und die Neomoderne im Übergang zum Neotraditionalismus. In Ostdeutschland führte die Funktionstrennung vor allem zur Trennung „gebauter“ und gelebter“ Räume infolge der Produktion der Großwohnsiedlungen.

Frage: Gilt es nicht, die verlorenen mehrschichtigen strukturellen Bedingungen der Verbindung „gebauter und gelebter Räume“ gerade in Ostdeutschland zugunsten einer bevölkerungsnahen Aneignung von Raum unter neuen Vorzeichen sozialräumlicher Verflechtung in ihrer zeitgemäßen Prägung privater Nutzungen und neuer öffentlicher Räume neu zu entdecken und diese mit einer örtlichen Neubestimmung des „Nutzwertes“ von Räumen zu verbinden? Die bestehenden „Daseinswerte“ von Räumen (z. B. der ‚zentrale Platz’ in Ostdeutschland) könnten hierbei als Basis für Veränderungsprozesse gesamträumlich integriert werden, ohne die Neubestimmung der Nutzwerte hierdurch einzuschränken. Der Gemeinschaftsgedanke des Neuen Bauens  könnte zugunsten der (Wieder-)Herstellung von alten/ neuen teilräumlichen Zusammenhängen aufgegriffen und additiven Formen der Individualisierung in Einfamilienhausgebieten oder deren gemeinschaftlich angelegter, elitärer Form von „gated communities“ gegenübergestellt werden.


3.2. Perspektive der räumlichen Planung
Die kulturtheoretische Perspektive von Raumkultur wird hier auf die Planungskultur bezogen. Auch diese zeigt im Rückblick auf die Geschichte der industriellen Entwicklung im Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland, dass bis etwa 1930 wesentliche Qualitäten der Steuerung von räumlicher Entwicklung Umsetzung gefunden hatten.
Räumliche Qualität in der Anlage einzelner Siedlungszusammenhänge für deren nachhaltige Erneuerung ist vor allem zu Zeiten des Liberalismus im 19. Jahrhundert entstanden unter Einfluss individueller Geldgeber, meist Fabrikanten oder Bankiers, später Terraingesellschaften. Planung war die Vorbereitung von Bauland, angepasst an die konkreten Erfordernisse der Besiedelung in örtlichen Situationen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Rahmen zunehmender Verflechtung von Produktion und Transport, wurden diese individuellen Initiativen seltener. In Anbetracht der komplexer werdenden Aufgaben räumlicher Planung zu Zeiten des Fordismus übernahmen besoldete Beamte im Sinne der Wahrung sozialstaatlicher Aufgaben in den Preußischen Kommunen die Vorbereitung der Besiedelung, überwiegend durch Fluchtlinienplanung.
Die Ausführung der Aufgaben diente dem Auffangen gemeindlicher und übergemeindlicher Erfordernisse zur Erschließung und Parzellierung von Bauland sowie zur Bereitstellung technischer und sozialer Infrastruktur. Um 1911 entstand im Ruhrgebiet, wo die Industrialisierung einen Schwerpunkt hatte, das regionale, rahmensetzende Konzept von Robert Schmidt zum Schutz von Grünzügen in Verbindung mit regionalen Überlegungen zum Ausbau von Transportnetzen, vor allem Straßen, – durchaus ein Vorläufer heutiger Abstimmung zwischengemeindlicher Interessen. Die flächenhaftes Wachstum und zunehmend auch Spezialisierung von Funktionen unterstützende Planung wurde um 1960 in ihrer heutigen Systematik mit unterschiedlichen räumlichen Ebenen und Inhalten von Planung durch den Erlass des Bundesbaugesetzes etabliert und unter dem Vorzeichen des „Gegenstromprinzips“ an die Vorgaben der Bundesraumordnung gebunden. Die hierin enthaltene und bis heute vorhandene Möglichkeit der Koppelung von top-down- und bottom-up-Prozessen der demokratischen Entscheidungsfindung bietet grundsätzlich ein hohes Potential für die Ausübung von Pflichten der Planungshoheit der Kommunen, - als kleinster und stärkster Einheit im Planungssystem -, zur Sicherung der Kontinuität zwischen der Anlage und Pflege von Nutzungen an einzelnen Orten innerhalb regionaler und örtlicher Zusammenhänge.

Unter Einwirkung der Kraft industrieller Entwicklung wurde die Bedeutung einzelner Orte jedoch zunehmend der Konvergenz der flächenhaften Ausdehnung von Wachstum unterstellt. Hierin enthalten war die Zerstörung sozialräumlicher Zusammenhänge, die in ihrer Anlage langfristig beste Voraussetzungen für die Erneuerung von Nutzungen aufwiesen:

-          Die Firma Thyssen in Duisburg-Marxloh „überrollte“ aufgrund ihrer Ausdehnung gewerblicher Nutzungen seit etwa 1960 vorindustriell und gründerzeitlich angelegte Besiedelungen; die Stadtmitte von Duisburg sowie Siedlungen und Parkanlagen aus der Zeit bis 1930 wurden seit 1955 durch die hochgelegte Stadtautobahn durchschnitten.

-          In Halle-Neustadt führte die Anlage der gleichnamigen Großsiedlung zugunsten der Bereitstellung massenhafter Wohnungen für die Ausdehnung der Chemieindustrie im Süden der Stadt Halle seit etwa 1965 dazu, dass das Dorf „Passendorf“ in Teilen ersetzt und die Stadtmitte von Halle-Altstadt durch eine autobahnähnliche Straße, die „Magistrale“ zerschnitten, wurde.

Die Wiederherstellung der industriellen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg hatte in beiden Teilen Deutschlands um 1965 ein Höchstmaß von „Dynamik“ erreicht, das zwar planerisch zugunsten einer Optimierung von Ansprüchen der treibenden wirtschaftlichen Kräfte „verwaltet“ wurde, nicht aber im Sinne des Schutzes und der Erneuerung bestehender „Nutzwerte“ gesteuert wurde.

Zu dieser Zeit war ein Verständnis der Notwendigkeit zu inhaltlich und gesamtstädtisch umfassender „Entwicklungsplanung“ im Sinne einer erweiterten Daseinsvorsorge für Natur und Menschen bereits entstanden (Definition von Lenort, 1960). Dieses Verständnis wurde in seiner möglichen Ausführung durch die bereits in den 1960er Jahren beginnende industrielle Krise eingeschränkt und wurde nirgendwo dort umgesetzt, wo die Industrie traditionell Herrschaft über Bodennutzung und Transportsysteme hatte, - wie z. B. im Ruhrgebiet. In den Städten, die aufgrund gemischter wirtschaftlicher Kräfte in geringerem Maße unter dem direkten Einfluss der Industrialisierung standen, wie z.B. Köln und München, entstanden seitdem umfassende Analysen zur Bewertung und zum Schutz benachteiligter sozial-räumlicher Situationen. Obwohl diese Beiträge nicht unmittelbar umgesetzt wurden, hinterließen sie doch ein inhaltliches Zielgerüst zur gesamträumlichen Steuerung teilräumlicher Veränderungen. Diese Gerüste haben dezentrale Erneuerung auf der Basis der hierfür tauglichen kleinräumlichen Potentiale gefördert und konzentrierten Ersatz von räumlichen Bedingungen kanalisiert.

Etwa 10 Jahre nach der industriellen Krise - mit Tiefstand im Ruhrgebiet um 1979 - wurde die Idee der „Perspektiven-Planung“ im Ruhrgebiet durch die IBA Emscher Park um 1989 etabliert. Diese Idee nahm Abstand von den umfassenden Ansprüchen der “Entwicklungsplanung“ und setzte, in post-fordistischer Weise, erfolgreich Impulse an einzelnen Orten in der Region, die eine eigene wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung aufgrund dieser Anregungen erwarten ließen. Diese Planungshaltung betrifft die Konzeption örtlich besonderer Strategien und Maßnahmen und deren beginnende Prozesshaftigkeit, über die Konzeption von Maßnahmen hinaus, deren Umsetzung begleitend. Im Verhältnis zu vorausgegangenen Positionen der kommunalen und regionalen Planung bedeutet dies eine Differenzierung von Planungs-Inhalten zugunsten der Stärkung örtlicher Besonderheiten.

Die Übersetzung der Idee der „Perspektiven-Planung“ in Bezug zu den Notwendigkeiten zur Steuerung im Arbeitsfeld „Stadtumbau-Ost“ ist nicht ohne weiteres möglich, da es hier nicht „nur“ um eine Region, sondern um einen Teil der Bundesrepublik geht. Dieser Teil hat die monofunktionalen Konzentrationen infolge spätindustrieller Einflüsse bis 1990 unter realsozialistischen Bedingungen, d. h. ohne die umfassende Möglichkeit zur Eigentumsbildung, erfahren und war seit 1990 erst einmal von den Wehen der nachholenden spätindustriellen kapitalistischen Entwicklung geprägt. Ein empfohlenes „Liegenlassen“ von Beständen der Großsiedlungen an den Stadträndern als Alternative zum Abriss ist grundsätzlich vernünftig [9], - sofern die Bevölkerung durch nicht-investive Maßnahmen in der Hervorbringung eigenständiger Beiträge zur Transformation ihrer Lebenssituationen im Verhältnis zum Strukturwandel begleitend gestützt wird [10].

Ein tendenzieller Verlust an Innovationsgehalt von Planung der Gegenwart ist im Verhältnis zu den teilräumlichen Siedlungsplanungen im Liberalismus festzustellen, hatte jedoch in diesem zeitlichen Rahmen aufgrund geringerer Einflüsse einer internationalen Vernetzung ein wesentlich geringeres Maß an gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Komplexität zu beantworten. Auch ist, unter Einfluss fortgeschrittener Globalisierung, ein Verlust an Innovationsgehalt für die Planung nach der industriellen Krise im Verhältnis zu der Idee der „Entwicklungsplanung“ festzustellen, - nicht jedoch im Verhältnis zu einer denkbaren qualitativ andersartigen Praxis! Verluste betreffen vor allem die inhaltliche und räumliche Reduzierung der Regelungsansprüche. Die aktuelle Novellierung des Baugesetzbuches und des Raumordnungsgesetzes korrigieren diese Tendenz qua Gesetz.

Die Umsetzung der gesetzlich verankerten Ansprüche an mehrdisziplinäre Planung, an Baukultur und den vorbeugenden Ausgleich sozialräumlicher Belange des Stadtumbaus bleibt jedoch insbesondere in Ostdeutschland, - wo die größten Erfordernisse einer umfassenden Steuerung durch ein nahezu vollständiges Aussetzen von Steuerung seit 1990 beantwortet wurden -, abzuwarten. Hier ist, nach fast 40 Jahren zentralistischer Planung, das „Gegenstromprinzip“ noch nicht zur Denk- und Handlungsgewohnheit geworden. Hier geben die Erfahrungen von De-ökonomisierung und De-sozialisierung dem Investor immer noch alle Vorrechte vor einer sozialgerechten Abwägung und Sicherung der öffentlichen und privaten Belange im Rahmen der Planungshoheit der Kommune. Raumkultur wird der Durchsetzung dieser Interessen in althergebrachter Weise zugunsten der Dominanz von Funktionen unterworfen.

Frage: Läge nicht, hinsichtlich der besonderen Problematik und Herausforderung ungleichwertiger Lebensbedingungen in Ostdeutschland, eine ausstehende Innovation von kommunaler und regionaler Planung sozial-räumlicher Veränderungen in der tatsächlichen Daseinsvorsorge für Mensch und Natur? Diese wäre durch dialoghafte Anregungen von Bildern und Prozessen einer neuen Demokratie den obsoleten Praktiken der Effizienzsicherung von Wirtschaftlichkeit durch Erschöpfung bestehender Märkte gegenüberzustellen.
Ansätze hierzu bestehen bereits in Sachsen-Anhalt [11]. Die erwähnten Ansätze gehen aus von der Profilierung einzelner Kommunen hinsichtlich ihrer örtlichen Besonderheiten. Die Strategie des Landes Sachsen-Anhalt zur Umsetzung von Steuerungsinhalten liegt in einer vorrangigen Förderung kleiner Kommunen mit geringen Anteilen von Rückbau-Beständen und in einer daran anschließenden Bündelung von Mitteln auf die größeren Kommunen mit größeren Rückbau-Erfordernissen. Es ist offensichtlich, dass kleinere Einheiten räumlicher Zusammenhänge das Gerüst bilden für die regionalen Dimensionen des Stadtumbaus, ebenso in größeren Städten. Diese räumliche Differenzierung macht eine Differenzierung planerischer Inhalte unerlässlich.


3.3 Gestalt- und kunsttheoretische Perspektive
Die skizzierte Position für städtebautheoretische Perspektiven ist eng verbunden mit den Wurzeln und der Blüte der Moderne in allen Zweigen gestaltbildender Kunst und Architektur bis 1930. Sowohl der Bezug zur Natur in Malerei und Fotografie – Vorläufer der frühen, skulpturalen Moderne der Architektur aus der Zeit bis 1920 – wie auch die nachfolgenden Abstraktionen der bildenden Künste in den Werken von Ernst Kandinsky, Paul Klee etc. sind in dieses Verständnis von gestaltbildenden Werten eingeschlossen. Das Erbe des Bauhauses wird hierbei voll zugrunde gelegt. Eine Kontinuität raumbildender Gestaltung wird für die Zeit vor und nach dem II. Weltkrieg gesehen zwischen Peter Behrens, Mart Stam, Rudolf Schwarz und Ludwig Mies van der Rohe. Vertreter einer späten rationalistischen Moderne, wie z. B. Norman Foster oder auch Luis Barragan, werden ebenfalls in diese Reihe gestellt.
Die hierbei hervorgebrachte Grammatik der Gestaltung ist eindeutig in ihrem Innovationsgehalt - in flächenhaftem sowie skulpturalem Ausdruck.
Nicht einbezogen in dieses Verständnis werden Kunst und Architektur der Postmoderne aus der Zeit von 1965 bis etwa 2000, z. B. Frank Gehry, da sie Mängel an Transparenz von grundlegenden Strukturprinzipien zeigen und vor allem dem Marktprinzip „Aufmerksamkeit“ entsprechen. Ähnlich ist es mit der Inszenierung vieler „events“ in Kunst und Architektur. Die Beiträge differenzieren das Angebot für die Wahrnehmung, bereichern es aber nicht nachhaltig.
Das Verlassen von Gegenständlichkeit in der Malerei, wie Jackson Pollock, oder in der Kunst von Joseph Beuys haben eine andere Qualität mit hohem Innovationsgehalt, der in der Wahl ihrer Themen begründet liegt. Die Vernetzung von Vereinzelungen - Pollock - oder die Simulation von Bewusstseinsveränderungen - Beuys - sind Themen, die gesellschaftliche Beziehungen reflektieren, somit vorhandene Bedingungen kritisch-kreativ differenzieren und zu einer anderen, möglicherweise umfassend neuen Qualität von Bedingung überleiten können.

In Ostdeutschland war der Kunstbegriff lange Zeit auf das Gegenständliche konzentriert. Eine Überwindung dieser Gegenständlichkeit hat jedoch auch hier eigene Tradition. Eine gemeinsame Sprache westlicher und östlicher Prägungen kann durch die Verfremdung von räumlichen Situationen in Form von „events“, Film und Theater örtlich hervorgebracht werden. Die dadurch hervorgerufene Differenzierung liegt in einer Reflektion von Raumerfahrung. Sie kann zur Bewusstwerdung sozial-räumlicher Bedingungen und Handlungen beitragen und Phänomene, Gefühle, Mängel oder Orte neu sichtbar machen. Kunst trägt hierbei, im Sinne der Bedeutung für den „Nutzwert“ von Räumen, eine Bedeutung für die bisher noch ausstehende Innovation in der Haltung vieler einzelner: Es geht darum, den besonderen Weg der ostdeutschen Entwicklung vor einer Dominanz durch eindimensionale Werthaltungen der marktbestimmten Entwicklung Westeuropas zu schützen und ein neues Miteinander im Sinne einer ostdeutschen Tradition von Gemeinschaftlichkeit zu ermöglichen.

Frage: Sollte im Sinne der Bestimmung von „Nutzwerten“ nicht stärker darauf geachtet werden, dass einfache örtliche Besonderheiten, die die Sinne binden, wie z. B. Gerüche, gutes Essen, frisches Brot, Wein, etc., oder Sonneneinstrahlung und Schutz vor Wind und Regen zur ganzheitlichen Raumerfahrung beitragen? Gerade letztgenannte Angebote zur sinnlichen Wahrnehmung von Raum werden in der Realität von Räumen nur eingeschränkt als Werte sichtbar, leisten jedoch unbedingt Beiträge zur Unterstützung eigenständiger sozialer Prozesse der Aneignung, Sicherung oder Veränderung von Räumen. Sie könnten das zusätzliche Ergebnis einer breiteren Streuung von Versorgungsangeboten sein, könnten die bestehenden Hierarchien öffentlicher Räume in ihrer bestehenden Anlage temporär oder langfristig durch ergänzende Nutzungen anreichern und so mit geringem Einsatz von Mitteln im Sinne einer höheren „quality of life“ differenzieren.


3.4. Soziale und soziologische Perspektive
Die Einbindung von Raumkultur in eine kontinuierliche Fortsetzung und schrittweise Erneuerung von sozial-räumlichen Traditionen war mit dem Dritten Deutschen Reich und danach mit der Etablierung zweier deutscher Staaten in der Nachkriegsgeschichte in dreifacher Weise gebrochen. Die Herausbildung von Schichten unterschiedlicher Begünstigung durch Staat (Ost) oder Bürgerlichkeit (West) wurde nach dem II. Weltkrieg bestimmend für Wertbildung und Erfahrung von Stadt- und Lebenskultur(en). Während in Westdeutschland die industrielle Nachfrage nach Arbeitskräften bis zu den 1970er Jahren aus wirtschaftlichen Gründen ausländische, z. B. türkische, Lebens-Kulturen in den Städten etablierte, geschah die umfassende Begegnung mit anderen Herkunftskulturen in Ostdeutschland erst nach 1989.

Das für West-Europa bezeichnende zunehmende Miteinander unterschiedlicher Herkunfts-Kulturen in den Städten ist einerseits vielschichtige Begegnung, andererseits sozialräumliche Differenzierung zum Schutz tradierter Herkunftswerte. Hier entspricht die teilräumliche Differenzierung der Stadträume in unterschiedliche Kulturen der ganzheitlichen Zusammenführung von tradierten Werten an einzelnen Orten und sichert so die Erfüllung grundlegender Anforderungen an geeignete Voraussetzungen für gruppenbezogene Kommunikation. Wichtig für die Fortführung, Erneuerung und Erkennbarkeit der individuellen Charaktere der Städte ist, dass diese stadtteilräumliche Differenzierung durch stadtöffentliche Begegnungsräume für jedermann ganzheitlich ausgeglichen wird.

Im Sinne der einführend dargestellten Bau- und Raumkultur werden soziale Perspektiven der stadtteilräumlichen Differenzierung in Ostdeutschland vor allem in der Anregung und begleitenden Unterstützung von Initiativen gesehen, die „den Umbau selbst tragen und ungeplant voranbringen[12]. Solche Initiativen sind eine tragende Kraft der Erneuerung von Räumen, wenn ihr Interesse am Raum ökonomisch begründet ist. Dies umfasst das Interesse am Aufbau lokaler Arbeitsnutzungen und führt idealerweise zu „örtlichen Kulturen“, die durch gemeinsame wirtschaftliche Interessen definiert sind und, deshalb, friedlich in Koexistenz miteinander leben können. Grundlegende räumliche Bedingungen hierfür sind vorhanden in inneren und äußeren Randlagen der Städte, wo Raum in vielfältiger Weise für Veränderungen offen ist [13]. Grundlegende soziale Bedingungen für solche Initiativen sind vor allem fremdländischen Kulturen vertraut, während die einheimischen Kulturen in Ostdeutschland noch sehr stark von Prozessen der sozialen Ausgrenzung und Segregation bestimmt sind und erst allmählich, infolge beginnender wirtschaftlicher Selbstorganisation, offener werden für wirtschaftlich begründete Koexistenzen und ihre unterschiedlichen örtlichen Kulturen.

Für laufende Prozesse der Entstehung von Beziehungen zwischen Menschen und Orten werden [14]
folgende sozial-räumliche Situationen für Dessau unterschieden und lokalisiert:

-          Erzwungene Selbstorganisation durch den Markt und Rückzug auf das Private (Zentrum, Subzentrum an der Peripherie)

-          Leben einer reduzierten Form der Selbstbestimmung im selbst gewählten Freundeskreis (Innenstadtnähe, nach außen geschlossene Strukturen, teilweise Eigenheim)

-          Selbstmanagement, Arbeit als Mittelpunkt des Lebens in Verbindung mit der Wohnsituation (Altbau in Innenstadtnähe, Eigenheim)

-          Reduzierte Formen der Individualisierung, Ansprüche auf Selbstverwirklichung und Formen von Mobilität bis hin zum „Job-Nomaden“ (Innenstadt, periphere Orte).

Die genannten Bedingungen sind zunehmend offen für Veränderung, meist in Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt. Resultierende Prozesse der Herstellung ortsbezogener Identitäten mögen zunächst als Fortführung und Differenzierung überkommener Werte betrachtet werden; sie mögen in Zukunft ein neues Verständnis der Aneignung von Raum, seinen neuen „Nutzwerten“ und deren fortsetzbarer Erneuerung an einzelnen Orten, durchaus in Konkurrenz zueinander, als „örtliche Kulturen“ hervorbringen.

Frage: Sind nicht gerade diejenigen sozialen Kräfte, die Privatheit „nur“ in der gesellschaftlich elitären Situation der Großsiedlungen, d. h. in der Minimierung von Raum und in der Reduzierung der Möglichkeiten zur Aneignung von Raum auf die Kleingartensiedlungen erfahren haben, die stärksten gesellschaftlichen Kräfte für eine Transformation der Städte in Ostdeutschland? Hierfür spricht, dass ein Bewohner der Großsiedlung Berlin-Marzahn sagte, dass er gerne, gemeinsam mit anderen, „Dorf“ werden wolle, dass aber der Berliner Senat nicht die erforderlichen Mittel hierfür bereit stellen würde ... [15]. Es ist wohl bekannt, dass Dorfgemeinschaften in Ostdeutschland eine starke Tradition darin haben, lokale Ökonomien und „örtliche Kulturen“ erfolgreich aufzubauen und zu führen, trotz der Einflüsse der Deutschen Demokratischen Republik auf die Rationalisierung der Landwirtschaft. Das Problem liegt im Warten auf die zentrale Steuerung von finanzieller Hilfe.



4. Perspektiven für spätindustrielle Prozesse – Ostdeutschland

Die eingangs vorgestellte These führt - insbesondere mit Blick auf die Theorien von Berger und Mensch - zu der Frage, ob und unter welchen Bedingungen evolutionäre Differenzierungen neuen Innovationsgehalt hervorbringen können. Luhmann hilft uns bei der Suche nach der näheren Bestimmung von Innovationsgehalt, indem er davon ausgeht, dass das gesellschaftliche Anerkennen von Grenzen der Erschöpfung von Ressourcen eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, ihre Erneuerung zu sichern; dies wird hier bezogen auf die Notwendigkeit der fortgesetzten Erneuerung von „Nutzwerten“. Wie die Betrachtung der vier Aspekte für eine Raumkultur gezeigt hat, ist der perspektivisch gesuchte „Nutzwert“ vor allem bestimmt durch die räumliche Integration von Voraussetzungen für eine angenehme Organisation des Alltags im Lebensraum. Dies bedeutet im Verhältnis zu dem Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft Voraussetzzungen für die Integration von Arbeit zu schaffen. Das hierfür erforderliche soziale Anerkennen von Grenzen muss bezogen werden auf die Wiedereinfügung von Arbeitsnutzungen in Stadträume. Dies muss über Anstöße zur Bewusstmachung von historischen und gegenwärtigen Prozessen der Zerstörung gegen die Kräfte der Wirtschaft und gegen die Trägheit der Gesellschaft kollektiv angestrebt werden, um Innovationen anstelle evolutionärer Differenzierungen für das bestehende System durch Teile des Systems herbeizuführen.

Dem Bild des einführend dargestellten Verständnisses von Bau- und Raumkultur entgegen standen während der industriellen Entwicklung

-          das Prinzip der erschöpfenden Weiter-Nutzung von Ressourcen jeglicher Art ohne grundlegende Investitionen in ihre Erhaltung oder in ihre Veränderbarkeit zugunsten eines neuen Nutzwertes auf der tiefen Parzelle (Beispiel der Holzhäuser in Polen),

-          das Prinzip der Ignoranz gegenüber den Werten kleinteilig erneuerbarer Ressourcen der Raumnutzung im Altbaubestand zugunsten der künstlichen Aufrechterhaltung einer „florierenden“ Wirtschaft auf der Basis vorwiegend rationalistischer Prinzipien der Anlage von Großsiedlungen (Beispiel der Groß-Siedlungen in Ost-Deutschland).

Beide Prinzipien haben längst die Grenzen zukünftig möglicher ökonomischer Wertschöpfung in Europa erreicht, sofern nicht auslaufende Prozesse quantitativen städtischen Wachstums zu ihrer Rechtfertigung genutzt werden. In beiden Fällen wird dem Prinzip der Nachhaltigkeit zugunsten der strukturellen Erneuerung von Räumen nicht Rechnung getragen. Anlage und Pflege von Bebauung und Freiräumen sind ausschließlich unter Aspekten temporärer Gewinnmaximierung bewertet worden. Die hohen städtebaulichen Werte kleinteilig strukturierter Gebiete für eine kontinuierliche Erneuerung durch individuelle Kräfte sind nicht anerkannt worden. Die raumbildenden Werte aus den Zeiten der frühen Moderne und der Blüte der Moderne sind in ihrem zeitlosen Zusammenspiel von einzelnen Elementen und dezentralen teilräumlichen Zusammenhängen und in ihrer potentiellen Bedeutung für die regionalen Ansprüche an Qualitäten der umfassenden Schaffung von Lebensräumen, Wirtschaftsstandorten und Versorgungsleistungen (Energie, Wasser und Abwasser, Gesundheit, Bildung ...) übergangen worden.

Die Fachdiskussion zu Bau- und Raumkultur kann einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, diese „Sackgassen“ zu überwinden, indem das Kriterium der „Transformationsfähigkeit“, auch für Arbeitsnutzungen, generell einer Bewertung der Anlage von Räumen zugrunde gelegt wird und örtlich die notwendigen materiellen und immateriellen Bedingungen fortsetzbarer Erneuerung von teilräumlichen Zusammenhängen im Sinne der vielfältigen Nutzung und Pflege von bestehenden Räumen bestimmt werden.

Auf dieser Basis gibt die vorausgegangene Betrachtung der vier Aspekte historischer Beiträge zur Raumkultur dem Einfluss evolutionärer Prozesse und Phänomene folgende Bedeutungen:

-          Differenzierungen von Nutzung und Bebauung können obsolete Konzentrationen von Monofunktionen ersetzen; sie können kleinteilig „Nutzwerte“ integrieren, die für die Entfaltung „örtlicher Kulturen“ geeignet sind.

-          Die „Einbettung“ von Funktionen in stadträumliche Situationen kann durch Prozesse der Differenzierung von Nutzungen und Bebauung gestärkt werden; diese Prozesse können durch örtliche Planung angeregt und begleitet werden.

-          Die Differenzierung von Architektur und Kunst kann neue „Nutzwerte“ induzieren. Es gilt, diese auf ihre Qualität für ein Wecken der sinnlichen Erfahrung von Raum hin zu prüfen und neue Werte einzusetzen, um Qualitäten von Raum gesamtgesellschaftlich leistbar zu machen.

-          Räumliche Hierarchien können durch „örtliche Kulturen“ differenziert werden; die Koexistenz der „örtlichen Kulturen“ in Städten und Dörfern kann durch die regionale Verflechtung der öffentlichen Räume erfahrbar gemacht werden.


Aber:

-          Differenzierungen sind nicht zukunftsfähig, wenn sie bestehende obsolete Strukturen erhärten durch Modernisierung, Modifizierung oder Make-up transformationsunfähiger Bedingungen.


Dies zeigt: Das Prinzip der Evolution reicht als Handlungsmaxime gerade in wirtschaftlichen Krisen allein nicht mehr aus und muss durch politische Strategien zur Herstellung und Sicherung langfristiger Ziele im Sinne der Daseinsvorsorge gesteuert und ausgeglichen werden. Die Perspektiven der Daseinsvorsorge liegen gerade im Spätkapitalismus in individuellen Prozessen der Selbstorganisation; dies betrifft in erster Linie die räumliche Integration von Arbeitsnutzungen.

Geeignete materielle Bedingungen hierfür liegen in der Anlage eindeutiger Trennung/ Verbindung öffentlicher und privater Räume sowie in der Möglichkeit, eine Vielfalt von Arbeitsnutzungen mit der Wohnnutzung in enger Verflechtung von Bebauung und Freiräumen zu kombinieren. Gute Voraussetzungen hierfür bieten tiefe Parzellen und eine unmittelbare Zuordnung von Freiräumen zur Bebauung sowie eine Aufteilbarkeit der Bebauung in einzelne, baulich und energietechnisch veränderbare Elemente.
Dies bedeutet für Ostdeutschland: Die Phase des Umbaus erfordert örtlich besondere Antworten auf den globalen Fortschritt, zugunsten der Integration veränderter Bedingungen von Leben und Arbeiten sowie zugunsten der Integration von Menschen andersartiger Herkunft. Dies wiederum erfordert ein Kennen und Durchbrechen von Traditionen und herrschenden Marktprinzipien zugunsten von Konzepten für eine „quality of life“ zu leistbaren Bedingungen.

Dies wiederum ist von Bedeutung für die uneingeschränkte Aneignung der Räume durch die Nutzer: Nur da, wo die Menschen sich selbst vertrauen dürfen [16], kommt die Qualität einer authentischen „Einbettung“ in Räume zustande.

Im Sinne eines grundlegenden Respekts vor Raum-Qualitäten, deren Anlage individuelle oder gemeinschaftliche Initiativen solcher Art strukturell ermöglicht, geht es um die Erneuerung von teilräumlichen Zusammenhängen, vor allem im Verhältnis von „inneren“ und „äußeren“ Rändern der Stadträume zueinander und in ihrem Verhältnis zu dezentralen Kernen [17]. Die Anlage von Räumen aus der Zeit der industriellen Blüte bis 1930 ermöglicht eine Vielfalt an Maßnahmen des Stadtumbaus mit Ergebnissen von Urbanisierung durch Integration von Arbeitsnutzungen.
Ein neuer „Nutzwert“ von Räumen könnte in Ostdeutschland auch durch die kleinteilige Erneuerung von kleinen Städten und Dörfern mit Besinnung auf ihre spezifischen räumlichen Anlagen und bestehende eindeutige Eigentumsverhältnisse sowie gemeinschaftliche Nutzung von Ressourcen hergestellt und gepflegt werden können. Die Strategien des Landes Sachsen-Anhalt und der IBA Sachsen-Anhalt umfassen bereits die Vorrangstellung von kleinen Städten und Dörfern.

 



Abweichend vom Vortrag, der anlässlich der dieses Heft vorbereitenden Konferenz gehalten wurde, ist die Anzahl der Abbildungen von etwa 50 auf drei reduziert worden. Diese Beispiele kennzeichnen Beginn und Ende der Reihe industrieller städtebaulicher Leitbilder vor der industriellen Krise; Quelle: Haase, Andrea, 2003.

 



Literatur:

  • Berger, Johannes (1986). Einleitung, in: Berger, Johannes (Hrsg.), Die Moderne - Kontinuitäten und Zäsuren, Soziale Welt, Sonder­band 4, Göttingen
  • Haase, Andrea (1999), Entwicklung der Stadt Duisburg – Der Einfluss von Innovationen auf Räume und Funktionen, Dortmund
  • Haase, Andrea (2003), Gegenwart und Zukunft der Stadtentwicklung in Sachsen-Anhalt. Magdeburg-Halle-Dessau. Perspektiven und strukturelle Rahmenbedingungen zukünftiger Entwicklung, Dessau
  • Kill, Heinrich (1991), Erfolgsstrategien von Verkehrssystemen. Eine evolutionsorientierte Analyse der europäischen Verkehrsentwicklung, Berlin
  • Luhmann, Niklas (1988), Die Wirtschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt a. M.
  • Mensch, Gerhard (1975), Das technologische Patt, Innovationen überwinden die Depression, Frankfurt a. M.

Anmerkungen:

[1] lat. „cultivare

[2]
s. Mensch, G.,1975

[3]
s. Berger, J., 1986

[4]
s. Luhmann, N., 1988

[5]
s. Haase, A., 1999

[6] s. Kill, H., 1991

[7] unkontrollierte Bebauung nach § 34 Baugesetzbuch, Fertigeinfamilienhäuser

[8] s. Norman Foster: Technologie-Zentrum, Duisburg, südlich Mühlheimerstraße

[9] s. Ganser, K., zitiert in: Die Welt, 4. September 2003

[10] s. A. Haase, 2003, Transformation spätindustrieller Großsiedlungen an den Stadträndern“, Vortrag in Berlin-Hellersdorf/ Marzahn am 23.10.

[11] s. Vortrag von R. Sonnabend, 2003, Beauftragte der IBA Sachsen-Anhalt am Bauhaus Dessau, anlässlich der Kooperations-Veranstaltung von Hochschule Anhalt und Stiftung Bauhaus Dessau zum Thema „Stadtumbau lernen“ am 13.11., Dessau, sowie Vortrag von Herrn Dr. R. Daehre, 2003, Städtebauminister des Landes Sachsen-Anhalt, anlässlich des 4. Architektentages in Sachsen-Anhalt am 22.11., Halle

[12] s. Rettich, St., 2003,  Leserbriefe, BW 34, Wochenschau S. 6

[13] s. Haase, A., 2003, Verflechtungsräume, Beitrag zu der Tagung „Der öffentliche Raum zu Zeiten der Schrumpfung“, BTU Cottbus, 21. Juni

[14] Kremer, E., 2003, Stiftung Bauhaus Dessau, Manuskript zur Vorbereitung der Tagung „Stadtumbau lernen“, 13.11., Dessau

[15] Reaktion im Rahmen einer öffentlichen Vortragsreihe der Plattform Marzahn in Kooperation mit der Alice-Salomon-Fachhochschule, am 23.10.2003 in Berlin-Hellersdorf

[16] s. Prof. Niebergall, 4. Architektentag, 22.11.2003, Halle

[17] s. Haase, A., 2003

     

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8. Jg., Heft 2 (März 2004)