8. Jg., Heft 2 (März 2004)    

 

___Ulf Matthiesen
Erkner
  Baukultur in Suburbia

 

   

0. Vorbemerkung          

 

Mit drei thesenartigen Punkten und einem Lernschema möchte ich das unübersichtliche Themenfeld baukultureller Formen und Diskurse in und um Suburbia zu strukturieren versuchen.
Diese interdisziplinäre Zeitschrift ist zugleich eine gute Gelegenheit, eher quer zur Furche der disziplinären und Ressort-Diskurse und Praktiken zu argumentieren. Insbesondere die Kopplung von kulturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Zugängen zur – wie immer baukulturellen – Raumentwicklung in Suburbia soll hier an Stück weit erprobt werden.
Ich zeige bewusst keine Bilder. Für diesen disziplinären kreuzenden Argument-Mix passt – so scheint mir – die klassische Textform besser – wenngleich Sie damit natürlich erhebliche Begründungslasten und das in einer hochvisualisierten Diskurslandschaft schultert. Ob das trägt, wird man sehen. Drei thesenartige Punkte und ein Lernschema also.



These 1:         Kompaktstädtische Hintergrundkodierungen im Baukultur-Komplex          

·         Die Perspektive der Flaneure

·         Lesbarkeit als baukulturelles Meta-Kriterium

·         Nach der 'Gemordeten Stadt' die 'Gemeuchelte Suburbia'?


Es gibt massive sozusagen "kompaktstädtische" Hintergrund-Kodierungen im Baukultur-Diskurs. Bei einer umstandslosen Übertragung auf Suburbia führt das zu erheblichen Verzeichnungen.

Vorweg eine Anmerkung zum Begriff Suburbia:
Ich verwende 'suburbia' hier als Kürzel für einen großen Formen-Reichtum von "Stadterweiterungen" und Stadien der Suburbanisierung etc.
Auf Details kann hier nicht eingegangen werden.

Baukulturelle Prozesse und die sie tragenden Diskurse fokussieren nicht nur historisch, sondern bis in ihre Hintergrundannahmen hinein zunächst vor allem Raumverhältnisse in den Kernstädten. Alle Versuche, diese Vor-Einstellung in Richtung auf die „Entstehung polyzentraler Regionen“ [1] sowie die strukturelle Erweiterung von Städten zu Stadtregionen zu expandieren, kämpfen mit erheblichen Schwierigkeiten. Die „kompakte und durchmischte Stadt" bleibt also bis in die Kodierung grundlegender Stadt- und Baukulturentwicklungsparadigmen hinein weiterhin hauptsächlich Quellgrund und Zielraum des Gros' baukultureller Praktiken. Das gilt, wie wir später sehen werden, in gleichsam verschärfter Form auch aktuell für Ost-Deutschland. Ja, es gilt – zumindest was den Titel angeht – auch für dieses Themenheft: Baukultur und eben Stadtkultur scheinen danach siamesische Zwillinge zu sein. Suburbia bleibt räumlich und sachlich draußen vor.

Ich möchte diese These in zwei Punkten
erläutern: einmal mit einer kurzen Skizze zur Flaneursperspektive, dann mit Anmerkungen zur Metapher der 'Lesbarkeit von Räumen'.

 

·         Die Perspektive des Flaneurs


Zur Erinnerung:
Franz Hessels „Spazieren im Berlin" (1929) mit seiner „peripathetischen Stilkunde" - „im noch Sichtbaren Verschwindendes genießen lernend" - ist seit langem einer der Subtexte des deutschsprachigen Urbanismus-Diskurses. Darin klingen Grunderfahrungen der stadtkulturellen Moderne an, etwa von Baudelaire, Bataille, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer.
Das Paradigma des Spaziergängers durch attraktive Stadträume mit ihren Passagen, Sichtachsen, öffentlichen Räumen usw. scheint dabei der nutzungsgemischten, verdichteten Stadt strukturell genau zu entsprechen. Die Kunst, neugierig durch städtische Räume spazieren zu gehen, und die Baukunst, die für flanierfähige, attraktive Stadträume zu sorgen hat, wären in dieser ästhetisierenden Lesart von Stadt strukturelle Geschwister. Ersteres, das Spazieren, gilt danach als ein über Kontrasterfahrungen gebildetes, gestalthaftes Maßnehmen für Letzteres, die Baukultur.
Der Punkt hierbei ist nach These 1, dass das herkömmliche stadtplanerische Vorverständnis von Baukunst diese flanierende, stadtkulturelle Moderne-Erfahrung belehnt: kenntnisreich, mit Gestaltblick begabt, im kontrastierenden Wechsel Sichtbezüge, Sichtachsen oder Schockerfahrungen adorierend.
Der Stadtreisen-Bustourist von heute, aber auch die organisierten Stadt-, Quartiers- und Objektbegehungen urbanistischer Experten lassen sich dann als Schrumpfform der Empirie einer genuinen Flaneurshaltung begreifen.

 

·         Lesbarkeit als baukulturelles Meta-Kriterium


Der herkömmliche Baukultur-Diskurs wird neben der Flaneursperspektive überraschend stark von einer komplementären raumhermeneutischen Grundfigur geprägt: der Leitidee der „Lesbarkeit".
Die Rede von der „Lesbarkeit" bzw. dem „Unleserlichwerden" von Stadt-, Land- und Raumstrukturen ist längst nicht mehr nur in den überregionalen Feuilletons, sondern auch in der nationalstaatlichen Baupolitik heimisch geworden. Allenthalben fungiert das Prädikat der „Lesbarkeit" bzw. des „Wieder-Lesbarmachens" sozialer Räume als scheinbar selbstexplikative Richtschnur für die Re-Strukturierung von Räumen. Besonderer Beliebtheit erfreut sie sich im Umkreis einer baukulturell ausgeflaggten Be-Planung der durch den Industrialismus verformten Stadtlandschaften.
Das Geltungsreich dieser Parole reicht dabei weit: von den anmutungsarmen Siedlungsräumen der funktionsgetrennten Stadt („Läuft die Platte leer?") [2] über die „Zwischenstädte" [3] mit ihrem Raum-Mix von Brachflächen und „wuchernden" Wohn- und Einzelhandelsparks bis hin zu den entkernten und „aufgemöbelten" Innenstädten mit ihren Konsum- und Erlebnis-Hypes - sowie den dazu gehörigen „relativen" Frustrationsgefühlen der altersgemischten Stadt-Nutzer. Besonders verbreitet ist das Credo der Lesbarkeit
aber unter Professionen und Akteursgruppen, die mit dem menschlichen Raum direkt befasst sind - also unter Architekten, Stadt-, Regional- und Landschaftsplanern sowie den in einem weiten Sinne sozialwissenschaftlichen Raum-, Planungs- und Steuerungswissenschaften. Zunehmend gilt die „Lesbarkeit der Räume" inzwischen auch als anspruchsvoller gemeinsamer Nenner für alle Bemühungen um die Weiterentwicklung der baulich-siedlungsstrukturellen und landschaftlichen Hinterlassenschaften der industriellen Moderne - seien sie nun kapitalistischer oder real-sozialistischer Provenienz. Noch ihre postindustriellen Anschlussfiguren werden damit unter gestalthaften Begründungsdruck gesetzt. Auch in den Diskursen rund um die Zukunft der „europäischen Stadt" ist die Leitmetapher der Lesbarkeit der sozialen und baulichsiedlungsstrukturellen Räume äußerst wirkungsmächtig geblieben.
Die zentrale Frage ist natürlich: Lesbar für wen? Für Stadtbaumeister oder Nutzer; für Experten oder Laien, für eine engagierte Öffentlichkeit oder den professionellen Diskurs, für den Flaneur, den Inline-Skater oder den Automobilisten? In Suburbia läuft diese Hoffnungsmetaphorik einer neuerlichen Lesbarkeit unserer Städte und Regionen angesichts des hier vorwaltenden funktionalen Raum-Mixes typischerweise schnell Gefahr, etwas
abgehoben zu tönen.


Ein letzter Punkt zu These 1.
Wolf Jobst Siedler's Buch 'Die Gemordete Stadt' hat sich schon in den frühen 60ern gegen die baukulturellen Desaster der banalisierten weißen Moderne und einer funktions- und autogerechten Stadt gewendet. Fragt man von hier aus in Richtung Suburbia, so ist zunächst zu konstatieren.
Suburbia: Da war noch gar nicht Stadt – es konnte hier also auch nicht so gemordet werden. Gleichwohl gibt es suburbane Wucherungstypen und anästhetische Großflächen, die zumindest zu der Frage Anlass geben, ob es unter suburbanisierungsspezifischen Formen der Baukultur auch solche des baukulturellen Meuchelmordes an stadtregionalen Räumen gibt. Ich komme darauf zurück!



These 2:         Zur alltagskulturellen Syntax von Suburbia und einigen baukulturellen Implikaten – Skizzen zu einem unübersichtlichen Feld

·         Suburbane Orte, hot pots, dünne Räume: lesbar, erfahrbar aber nicht flanierfähig

·         Gegen die These der Ubiquität von Urbanität: Sub-Urbanität - zwischen Heimatgefühlen und relativen Deprivationen


Das dominante, eben mit wenigen Strichen skizzierte Nutzungsparadigma von Stadt wird nun durch die prinzipielle Nicht-Flanierfähigkeit der Suburbia radikal herausgefordert. Bis in unsere Begrifflichkeiten hinein haben wir, und zwar Laien wie Experten gleichermaßen, gegenüber den teils geplanten, teils regellosen und maßlos erscheinenden Bebauungen der suburbia und stadtregionaler Peripherien einen schweren Stand ("planerische Wildschweingebiete"). Statt einer Flanierperspektive und ihren baukulturellen Kriterien begegnen uns hier aufgeweitete Funktions- und Lebensräume mit starken Entwicklungsdisparitäten, die regelmäßig und wie von selbst unter einen allgemeinen urbanistischen Anästhetik-Verdacht geraten. Schon die verwendeten begrifflichen Labels zeigen das an: „Speckgürtel“, „Schlafstädte“ oder „wuchernde Zwischenräume“, „eskalierende Einzelhandels- und Logistikzentren“, „ausufernde Neubau-Ghettos“, „maßsprengende Infrastruktur-Knoten“ oder „Nicht-Orte“, „hybride Verflechtungsräume“ sowie „unübersichtliche Übergangszonen“. Gemeinsam ist diesen Etikettierungsversuchen immer auch die Irritation darüber, dass die gewohnte Flaneurperspektive nicht mehr passen will. Stattdessen dominiert hier seit Jahrzehnten zunehmend massiver die Autokultur - mit eigenen und eigensinnigen Funktions- aber eben auch Geschmackslogiken.
Die sich stellenweise rasant, anderenorts sehr zögerlich entwickelnden suburbanen Räume fallen also bislang weiter durch die Raster herkömmlicher professioneller Baukultur-Typologien hindurch, trotz erheblicher Anstrengungen auf diesem Feld. [4]
Gerade deshalb nun gewinnen die faktischen alltagskulturellen Kodierungen und (automobilen) Gestaltkriterien, wie sie sich im Rahmen der Praxisformen in suburbanen Räumen entwickeln, erheblich an Gewicht. Ohne deren Kenntnis bleiben baukulturelle Experten-Kodierungsversuche für Suburbia besonders blind. Wechselseitige „Lernverhältnisse" zwischen den Raumkodierungen von Experten- und Alltagsmilieus sind also erforderlich (vgl. dazu detaillierter Abschnitt 5). Allerdings fehlt gerade hier noch wissenschaftlich fundiertes Orientierungswissen über die faktischen Nutzungsstrukturen wie auch über die patchworkartigen Realverhältnisse von Baukultur an der „Peripherie".
Wir brauchen also zunächst mehr Wissen über die sich weiter ausdifferenzierende Nutzerstruktur suburbaner Räume in all ihrer Vielfalt - von den Nutzern ökonomisch-verkehrlicher Funktionsräume über Lebenswelten, touristische Rekreationsräume und ruppige Bio- und Soziotope bis zu neuen Lern- und Wissensorten in Suburbia.

Die alltäglichen Nutzer und Regionalisierer dieser Räume selbst haben von diesen hybriden Raumtypen bislang im Wesentlichen nur ein implizites Raummuster „im Kopf“, mit eigensinnigen, interessenbezogenen, stark typisierenden Relevanzurteilen.
Entsprechend ist Suburbia bisher auch im Alltagsdiskurs eher in der Form von Kürzeln und Metaphern präsent (Speckgürtel, Pampa, Schlafstadt). Eine der Aufgaben einer „Baukultur in Suburbia" muss es daher zunächst sein, diesen hybriden Raum in seiner Eigenqualität und seinen mannigfaltigen Entwicklungslogiken öffentlich sichtbarer zu machen.
Die engeren Verflechtungsräume von Stadt und Umland müssen vor allem - über Verwaltungsgrenzen hinweg - als „kritische" Räume ausgeflaggt werden, also als Räume mit eigenen Entwicklungsoptionen, die zugleich aber auch nicht selten aus dem Ruder zu laufen drohen (Verkehr, Flächennutzung, Brachenbildung). In diesen Räumen stoßen nämlich äußerst disparate Nutzungsinteressen aufeinander, mit knallharten Interessengegensätzen und entsprechend interessengebundenen alltagsästhetischen Raumnutzungskriterien. Deren Gestaltlogik ist gerade für baukulturelle Initiativen zentral; Und noch einmal: Zugleich ist sie weitgehend unbekannt. Baukulturell relevante Teile dieser praxisleitenden Raumästhetiken müssen also beispielhaft freigelegt, öffentlich diskutiert und auf ihre ungewollten Nebenfolgen hin befragt und kritisiert werden.
Dabei gilt es zwei Extremlagen zu vermeiden: zunächst natürlich das baukulturelle Vergessen von Suburbia. Das ist ein Skandal, der beendet werden muss. Das andere Extrem offeriert eine komplementäre Falle, die einer „schwarzromantischen“ Feier des Peripheren als des gesellschaftlich Wahren (etwa durch eine intellektualistische Weihe-Rede an die „Nicht-Orte" usw.).
Die sprunghaft gestiegene Auto-Mobilisierung sowie die Dehnung der Siedlungsstrukturen zu Verflechtungsräumen von Stadt und Umland zwingt stattdessen dazu, bei der probenden Entwicklung eines neuen Bewertungskanons für stadtregionale Peripherien komplexer zu argumentieren. Die Perspektive des Fußgängers und seiner Kriterien - zwischen Bodenhaftung, Gestaltblick und Ortsveränderung - sollte natürlich nicht einfach unter dem Druck der automobilen Verkehrsformen storniert werden. Vielmehr ist sie „aufzuheben" und dann als Teilperspektive neu zu profilieren. Es wird aber nicht mehr ausreichen, sie musealisierend zu bewahren, wenn man mit den rasanten Entwicklungsdynamiken der suburbanen, vom Automobil geprägten Orte und Nicht-Orte, von Zwischenlandschaften und Fließräumen baukulturell „mithalten" will. Neue Mischungen von räumlicher und sozialer Mobilität, von flexibilisierten Berufsbiographien und zugleich der Wiedererfindung von Ortsbindungen (reembedding) sind dabei als raumwirksame Nutzungsformen zu berücksichtigen. Teilweise legt das Anmutungspotenzial gebauter Räume, Plätze und Szenen auch in suburbia eher wieder zu (place-making); in anderen Teilen aber wird es irrelevant und lässt sich nur noch funktional auszeichnen (space of flows, Fließ- und Transiträume).

Nicht zuletzt geht es also um eine Verbesserung des Wissens um Bauformen und Traditionen, um „Leuchttürme" der „guten Gestalt" in den Verflechtungsräumen. Diejenigen Gemeinden, die an ein qualitätvolles baukulturelles Erbe anschließen können, sind dabei besonders in der Pflicht. Sie müssen versuchsweise in exemplarische Entwicklungsanstrengungen eingebunden und mit ihren guten wie misslungenen Lösungen öffentlich „ausgeflaggt" werden - im Berliner Raum etwa Klein-Machnow.
Wichtig ist also stets, mit den lokalen Befähigungen und baukulturellen "legacies" vor Ort zu beginnen, diese aber zugleich reflexiv auf Distanz zu bringen.



These 3:         Suburbia im Stadtumbau Ost

·         baukulturell-planerische Zentrumsfixierung gegen alltagspraktische Eroberung des suburbanen Raums

·         "Keine Baukultur ohne Rückbau-Kultur" (Wolfgang Kil)


Insbesondere in Ostdeutschland wird die von mir zu Anfang kommentierte Kernstadtfixierung des Baukultur-Diskurses in letzter Zeit planungspolitisch nochmals verstärkt. Demographische und wirtschaftliche Schrumpfungsprozesse sowie eine zeitweise massive Suburbanisierung von Haushalten, Einzelhandel und Gewerbe, von Freizeiteinrichtungen sowie Wissenschafts- und F&E-Standorten sind dafür die Auslöser. Auf Grund dieser Überlagerung stadträumlicher Schrumpfungsdynamiken kommt den Belebungsversuchen der ostdeutschen Kern- und Innenstädte eine zunehmende Priorität zu.
Die Bildung „kritischer Massen" im Kernstadtbereich wird damit verständlicherweise zu einer zentralen stadtpolitischen Maxime. Denn nur über die Bildung von kritischen Massen und vernetzten Akteurskonstellationen scheinen sich unter Schrumpfungsbedingungen noch attraktive Orte und Plätze zu bilden, in denen innovative Milieubildungen und Urbanitätsansprüche gemeinsam realisierbar werden.

Gleichwohl muss hier auf einen (nicht-intendierten) möglicherweise baukulturpolitischen Nebeneffekt aufmerksam gemacht werden: Der starke Problemdruck stagnierender und schrumpfender Städte im Osten Deutschlands verstärkt die Fokussierung des Baukultur-Diskurses und seiner Umsetzungspraktiken auf die Kernstädte hier noch einmal erheblich (Revitalisierung, Städte, Denkmalschutz etc.). Baukultur in Suburbia tritt darüber noch weiter in den Hintergrund, genauer sie stand hier noch nie im Fokus baupolitischer Programm-Strategien – und jetzt, wo die darbenden,
aber perfekt renovierten ostdeutschen Innenstädte mit hoher Arbeitslosigkeit, brain drain und Frauen-Mangel – ins Licht der Medien geraten sind, versinkt die baukulturelle Seite der ostdeutschen Suburbanisierungsdynamiken völlig in der schwarzen See der Nicht-Thematisierung. Auch hier ist dringend mehr empirisches Wissen gefordert, vor allem über Nutzungsansprüche und milieuspezifische Relevanzen, über lokal oder regional geteilte Raumentwicklungsideen sowie alltagsweltliche Bauästhetiken - bis hin zu den Gründen und Ursachen, aber auch den Verfahren des Umgangs mit raumpolitischer Lethargie oder lokalen Formen des raumpolitischem Protestes (NIMBY, LULU etc.).

Zentrale Fragen bleiben besonders in der ostdeutschen Suburbia:

-          Welches sind die einschlägigen Gestalturteile über suburbane Praxis-Räume? Schon jetzt aber ist klar, dass diese gestalthaften Raumnutzungsurteile in zentralen Fokusbereichen nur scheinbar heillos diffus und nicht finalisierbar sind.

-          Wie lassen sich beispielhafte, problemorientierte baukulturelle Gestaltungsdiskurse in Suburbia anregen und öffentlichkeitswirksam ausflaggen? (Solche Diskurse sind von zielführenden Umsetzungsformen vor Ort oder in der Stadtregion zu ergänzen, um nicht bodenlos zu wirken.)

-          Schließlich werden drittens - gerade in Suburbia gravierende Wissensprobleme über allgemeinere Strukturdynamiken der stadtregionalen Entwicklung auffällig. Andererseits findet sich über die Technik und Instrumentierung von kommunalen Planungsprozessen häufig vor Ort inzwischen erstaunliches Detailwissen. Insofern sind hier gemeinsame Lernprozesse und öffentliche Expertendiskussionen über Optionen und Restriktionen für Baukulturformen in Suburbia möglich.


Fazit: Die verständliche Fokussierung auf Abriss und Schrumpfungsprozesse in den Kernstädten darf die besondere baukulturelle Brisanz der ostdeutschen Suburbia-Entwicklung nicht weiter überschatten.


Profilierungsprozesse der suburbanen Baukultur im Rahmen einer lernenden Stadtregion     

 



Unsere Überlegungen zum Zusammenhang von Baukultur und Suburbia lassen sich in einem entwicklungsoffenen Schema zusammenführen. Dessen pulsierenden Kern bildet das Konzept einer „Baukultur im Rahmen einer lernenden Stadtregion", das die Argumentation dieses Beitrags zusammenfasst: Die Profilierung stadtregionaler Bauqualitäten und baukultureller Entwicklungsleitbilder in Suburbia muss danach mit individuellen und institutionellen Lernprozessen verbunden werden, die zunehmend zum zentralen Motor zukunftsfähiger Stadtregionen werden.
Robuste staatliche Förderkulissen (Kasten ganz rechts) verbinden sich dabei mit baukulturellen Initiativen privater Unternehmen, für die die Qualitätsorientierung im Umgang gerade mit dem suburbanen Raum inzwischen auch als Distinktionssignal, also nicht nur als Kostenfaktor relevant wird (Kasten ganz links). Gerade unter Krisen- und Schrumpfungsbedingungen muss der öffentliche Diskurs darauf hinwirken, dass neue, innovative, qualitative Wachstumsstrategien entwickelt, erprobt, verworfen und verbessert werden. Diese haben - im Guten wie im Schlechten immer auch eine wichtige baukulturelle Dimension.
Wissensmilieus und andere Trägergruppen lokalen und regionalen Wissens - zwischen Low Tech, High Tech und „local knowledge" - spielen hier zunehmend eine wichtige Rolle. Bürgergesellschaftliche Selbstorganisationsformen - in streitbarer Auseinandersetzung ihrer raumwirksamen Alltagsästhetiken mit den Stilkriterien der planenden und bauenden Professionen - können dabei eine „treibende" Funktion übernehmen.
Aber bleiben wir realistisch:
Anspruchsvollere baukulturelle Dynamiken wollen gerade in Suburbia allererst per Verfahren und Beteiligung geweckt werden. Daher sind neue Steuerungs- und Governance-Formen nötig, um die manchmal verhaltenen, häufig aber auch massiv interessenfixiert durchgesetzten Stilimplantate in Suburbia im Sinne eines baukulturellen „enablings" weiterzuentwickeln. Wichtig scheint uns auf jeden Fall die Einbindung und Vernetzung einer komplexen Akteurs-Choreographie, um den Prozess eines lernenden und argumentierenden baukulturellen Coming-outs von Suburbia zu ermöglichen. Auf diesen Wegen gilt es, die Syntax von Suburbia neu zu profilieren - gegen den weiterlaufenden exorbitanten Flächenverbrauch der Suburbanisierung und neue sozialräumliche Disparitätenbildungen.



Schluss?

In diesen Räumen stoßen ganz disparate Nutzungsinteressen aufeinander, mit harschen Interessengegensätzen und entsprechend interessengebundenen alltagsästhetischen Raumnutzungskriterien. Deren Gestaltlogik ist gerade für baukulturelle Initiativen zentral; zugleich ist sie weitgehend unbekannt. Baukulturell relevante Teile dieser praxisleitenden Raumästhetiken müssen also beispielhaft freigelegt, öffentlich diskutiert und auf ihre ungewollten Nebenfolgen hin befragt werden. D
abei ist einmal mit einem hohen, zielführenden Moderationsbedarf zu rechnen. Zugleich sind die komplexer werdenden Herausforderungen für ein stadtregionales Management in „Postsuburbia" angemessen zu berücksichtigen. [5]
Verfahrensziel der dazu erforderlichen Vernetzung von professioneller Expertise, geplanter wie ungeplanter Baupraxis sowie Nutzeransprüchen im suburbanen Raum ist es, argumentative Planungsverfahren weiterzuentwickeln, in denen sich eine neue, erweiterte baukulturelle Diskurs- und Praxis-Konstellation herstellen können. Metaphorisch gesprochen: Den Fokus des Flaneurs mit dem des Automobilisten, Radfahrers, Inline-Skaters usw. verbindend, müssen die massiven Strukturprobleme von Suburbia (etwa Flächenfraß, Schrumpfung dicht neben Wachstum, perforierte Räume, Verkehrsinfarkt) überlokal adressiert und zugleich zukunftsfähigere Entwicklungsoptionen entwickelt werden. Umsetzungsziel können hier wohl keine baukulturellen Masterpläne sein. Leitende Absicht von Aktionen muss es stattdessen zunächst einmal sein, Raum, Kultur, Baukultur in Suburbia zu einem öffentlichen Thema zu machen.
Dass das selbst für Experten nicht ganz ohne ist, erklärt sich unter anderem auch daraus, dass es für den suburbanen Raum - im Gegensatz zur Stadt – weiterhin kaum schon anschlussfähige Entwicklungsparadigmen gibt. Eher befinden wir uns weiter in der Ära der Schlagworte („Edge City", „Post-Suburbanisierung", „Verschwinden der Städte" usw.). Insofern bedarf auch das Leitkriterium der Lesbarkeit von Suburbia einer pragmatischen „argumentativen Wende". Wo immer möglich, ist zunächst das baukulturelle Erbe vor Ort exemplarisch auszuflaggen und nicht-musealisierend entlang diskursiv erstrittener Leitbilder weiterzuentwickeln. Die elektronischen Medien spielen für eine größere Sichtbarkeit dieser Räume eine immer wichtigere Rolle.

Schließlich gibt es auf der Baukultur-Suburbia-Experten-Seite immer noch zu wenig ressort- und disziplinenübergreifende Steuerungsteams, mit Planern, Architekten, Politikwissenschaftlern, Historikern, Geographen, Soziologen, Künstlern und Philosophen etwa.
Gegenüber baukulturellen Masterplänen ist dagegen eher Skepsis angebracht. Schon allein, weil weiterhin mit unklaren Kausalitäten in Sachen Baukultur zu rechnen ist. (Wie wirkt sie faktisch? Befreiend, erlösend, erdrückend? Wer sagt "uns" das? Und wie wirken räumliche Nutzungsformen auf Baukultur zurück?) Nicht unberücksichtigt bleiben sollten auch die chronischen Unbestimmtheiten der Realisierung von Bauvorh
aben gerade im suburbanen Raum (ungeplante Nebenfolgen: Verkehr, Urbanitätsdefizite, Flächenwachstum, planungskulturelle Renitenzen). Deshalb spricht vieles dafür, eher auf Verfahren zu setzen, die baukulturelle Lernprozesse initiieren, die mit Überraschungen, Stilkrisen, Umsteuerungen, Rückkopplungen rechnen – und die gelernt haben, ein (möglichst) intelligentes Wissensmanagement zu praktizieren.
Ins Zentrum der Baukulturdebatte in Suburbia rücken also individuelle und institutionelle Lernprozesse, die zum einen Wissen um Kulturformen des Bauens und deren Kontexte generieren, zugleich aber auch quasi-ästhetische Interessendurchmärsche („Prinzip Baumarkt") oder ganz normale Sklerotisierungs- und Fossilisierungstendenzen bei den baukulturell einschlägigen Akteurs- und Institutionenarrangements rechtzeitig wahrnehmen und aufbrechen können.
Wichtig ist stets, mit den lokalen Befähigungen und baukulturellen „legacies" vor Ort zu starten und diese reflexiv auf Distanz zu bringen. Von hier aus lassen sich baukulturelle Aktivitäten leichter in Richtung auf translokale Problem- und Optionsräume in Suburbia expandieren. Ziel muss es jeweils sein, sowohl die baukulturell relevanten Innovationspotenziale (auch hier besteht Aushandlungsbedarf!) zu steigern als auch nach Möglichkeit nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Leitende Absicht bei alledem muss sein, dass der suburbane Raum und seine wie immer defizitären baukulturellen Ausdrucksgestalten - „die Syntax von Suburbia" - endlich zum öffentlichen und politikfähigen Thema werden.
Für die Steuerungs- und Stadtpolitik-Seite bedeutet das: Es müssen einfallsreiche, an lokale und regionale Kontexte adaptierte Formen der Governance weiterentwickelt und erprobt werden. Eine mutige Lokalpolitik [6] mit Fühlungsvorteilen in die sozialen Milieus hinein ist daher auch auf dem Feld der Baukultur von kaum zu überschätzender Bedeutung. Wird Baukultur ohne Berücksichtigung ihrer Milieu-Kontexte oktroyiert, droht ein Szenario, wie es sich im Rahmen unserer Milieu- und Strukturanalysen in engeren Verflechtungsräumen häufiger zeigt: Die Fallhöhe zwischen symbolischer und faktischer Baukultur-Politik einerseits sowie den konkreten Sorgen und manifesten wirtschaftlichen Problemlagen der lokalen Milieus andererseits wird sehr groß. Häufig wird sie so groß, dass in diesen leeren politisch-gesellschaftlichen Raum, populistische Politikangebote hineinstoßen - mit unterkomplexen Entwicklungskonzepten sowie knallharten Interessendurchmärschen. Gerade das können lernorientierte Baukultur-Ansätze für Suburbia verhindern helfen.

 


Anmerkungen:

[1] Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Hrsg.); Kähler, Gert (Bearb.): Baukultur in Deutschland. Ausgangslage und Empfehlungen. Statusbericht. Berlin 2001, S.24; auch: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.): Baukultur in Deutschland. Statusbericht Langfassung. 2 Bde. Bonn 2002. = Berichte Bd. 11
 

[2] Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Hrsg.); Rietdorf, Werner; et al. (Bearb.): Läuft die Platte leer? Möglichkeiten und Grenzen von Strategien zur Leerstandsbekämpfung in Großsiedlungen. - Berlin 2001
 

[3] Sieverts, Thomas Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg. 1999, Sieverts, Thomas 50 Jahre Stadtbau  
 

[4] Vgl. nochmals Sieverts, T.: 50 Jahre Stadtbau; a. a. 0., S. 182 ff; siehe auch die faszinierenden, radikal ansetzenden Arbeiten von Dietmar Leyk: Persistenz und Wandel städtebaulicher Strukturen aus stadtmorphologischer Sicht. In: Zukunft - Wohngebiet: Entwicklungslinien für städtische Teilräume. Hrsg.: Deilmann, Clemens. - Berlin 2001, S. 137 ff., dort den Zentralbegriff der „Paraform" zur Analyse dieser neuen hybriden Raumstrukturen
 

[5] Vgl. etwa Danielzyk, Rainer; Priebs, Axel: Die deutschen Stadtregionen als Politik- und Handlungsebene. Ber. z. dt. Landeskunde 75 (2001) H.2/3, S. 343-352 (S. 351)
 

[6] Siehe Keim, Dieter (Hrsg.): Regenerierung schrumpfender Städte - zur Umbaudebatte in Ostdeutschland. In: REGIO transfer 1. Beiträge zur anwendungsbezogenen Stadt- und Regionalforschung. Hrsg.: Ins­titut für Regionalentwicklung und Strukturplanung. - Erkner 2001; Matthiesen, Ulf: Die Stadt im Umbau. In: Stadtumbau und Revitalisierung. Hrsg.: IREGIA. - Chemnitz 2002, S. 45-61
 


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8. Jg., Heft 2 (März 2004)