Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Bruno Flierl
Berlin
  Zur Neuaneignung verlorener Orte der Stadt durch gebaute Symbole

 

    Immer wieder in der Geschichte sind Orte der Stadt verloren gegangen, immer wieder stellte ihre Neuaneignung eine große Herausforderung dar. Die aktuellsten und zugleich spektakulärsten Beispiele dafür sind zweifellos die Neuaneignung des Ortes Ground Zero in New York Manhattan und – für uns Deutsche jedenfalls – die des Ortes Mitte Spreeinsel in Berlin. Deren Verlust ist nicht durch moralischen oder technischen Verschleiß ihrer baulichen Substanz entstanden, sondern durch politisch gezielte Zerstörung: in New York durch die Zerstörung der Twin Towers des World Trade Centers bei einem Terroranschlag islamistischer Terroristen am 11. September 2001, in Berlin durch zweimalige Zerstörung, zum einen des Berliner Schlosses bei einem amerikanischen Luftangriff kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie 1950/51 beim Abriss der Schlossruine durch die DDR, zum anderen des Palastes der Republik, der von der DDR 1973/76 an der Stelle des ehemaligen Schlosses errichtet worden war und nun – nach jahrelanger Schließung und Totsanierung – Anfang 2005 von der Bundesrepublik abgerissen werden soll. Beide Orte also sind vakant und müssen neu angeeignet werden.

Wie das geschieht, soll mittels einer vergleichenden Analyse dargestellt werden. Das macht schon deshalb Sinn, weil es an beiden Orten um dominant symbolisch geprägte Bedeutungsinszenierungen zur Überwindung gestörter nationaler und gesellschaftlicher Identität geht.


Zur Neuaneignung des Ortes Ground Zero in New York Manhattan
 


Abbildung 1
Ground Zero




Abbildung 2
Ground Zero
oben: Lageplan vor dem 11.09.2001
unten: Entwurf Libeskind
 

  Als Sieger aus einem zweistufigen internationalen Wettbewerb zur Neubebauung am Ground Zero 2002/03 ging Daniel Libeskind hervor[1]. Sein Ziel war es, ein baulich-räumliches Ensemble zu schaffen, das sich in Analogie zum nebenan gelegenen Ensemble des World Financial Centers – aber stärker im Ausdruck als dieses – im dichten Hochhauscluster von Downtown Manhattan als etwas durchaus Eigenständiges behauptet, nicht konfrontativ, sondern integrativ (Abbildung 1). Den räumlichen Fokus des Ensembles bilden die Fußabdrücke – foot steps – der ehemaligen Twin Towers des World Trade Centers. Sie bleiben von Bebauung frei – als Leerraum, als „Void“. Im nordwestlichen Raumeck der ehemaligen Türme, dort wo sich einst die Plattform öffentlicher Begegnungen und Veranstaltungen, die „Plaza“, befand, soll nun der „Platz des 11. September“ entstehen, mit einem Museum zur Erinnerung an die Ereignisse dieses Tages, dessen Gebäude zum Teil den foot step des Nordturms überbrücken. Diesen öffentlichen Stadtraum im urbanen Kontext des Straßenrasters von Downtown westlich des Broadways bestimmt der Architekt zum Zentrum des gesamten Ensembles (Abbildung 2). Um ihn herum ordnet er im Halbkreis fünf Hochhäuser an, rechteckige Stelen, deren obere Dachabschlüsse schräg nach unten auf die verloren gegangenen Twin Towers zeigen. Von diesem inneren Raumzentrum her eröffnet sich auf völlig neue Weise der Blick nach Westen auf das Ensemble des World Financial Centers, das sich seinerseits zum Hudson hin öffnet. Zugleich verdecken die neuen Türme des Ground Zero Areals vorteilhaft den Blick auf die regellos nebeneinander und nacheinander als Solitäre entstandenen Hochhaustürme östlich von ihnen.

Die im Halbkreis angeordneten neuen Türme – allesamt als Bürohochhäuser disponiert – bilden der Höhe nach eine treppenförmig ansteigende Spirale. Sie beginnt südlich des Süd-Turms der ehemaligen Twin Towers, mit der Höhe der höchsten umliegenden Türme, nämlich 225 m hoch, und endet nördlich des Nord-Turms etwa 100 m höher. Genau dort ist dieser höchste Bürohausturm mit einem steil und spitz aufragenden gläsernen Turm als der neuen, alles überragenden Vertikaldominante des Ground Zero Areals kombiniert. Mit 541 m Höhe soll sie nicht nur das höchste Gebäude von New York, sondern der ganzen Welt sein. Der obere gläserne Teil dieses gebauten Pfeils in den Himmel soll frei von kommerzieller Nutzung durch Büros bleiben und mit öffentlich zugänglichen „hängenden Gärten“ ausgestattet werden, nicht zuletzt aber auch den verloren gegangenen Blick auf die Skyline von New York besser als je zuvor gewährleisten. Das neue Hochhausensemble wird auf diese Weise insgesamt zum neuen zentralen Akzent in der Skyline von Downtown Manhattan.

Dass Libeskind mit seinem Projekt im Wettbewerb zum Ground Zero Areal schließlich den Zuschlag erhielt, lagt in erster Linie daran, dass er die Ehrung der Opfer mit der Vision der Überlebenden ausdrucksstark vereint und nicht vordergründig auf eine spektakuläre architektonische Power Demonstration der USA gesetzt hat, wie sie anderen Projekten eigen ist. Um dies angemessen würdigen und zugleich den Wettbewerb insgesamt richtig beurteilen zu können, ist es angebracht, sich die Situation der USA am 11. September 2001 zu vergegenwärtigen, baulich und politisch.

Der terroristische Anschlag auf das World Trade Center war etwas Unvorstellbares und Unvorhergesehenes. Dabei ging es um mehr als um einen Angriff auf Hochhäuser, es ging um einen Angriff auf die Identität der USA als Weltmacht. Da war ja nicht nur ein Loch in den Leib der Stadt gerissen, sondern ein Loch in das Selbstverständnis der Amerikaner.


Abbildung 3
Skyline des Financial Districts



Abbildung 4
Skyline des Financial Districts

  Das Loch in der Stadt allein ist schon schlimm genug. Ein Vergleich der Skyline von Downtown Manhattan vor dem 11. September und danach macht den Verlust deutlich (Abbildungen 3 und 4). Bei aller funktionellen und ästhetischen Kritik, die in den zurückliegenden Jahrzehnten gelegentlich an den Zwillingstürmen geübt worden war – vor allem wegen ihrer geometrischen Emotionslosigkeit, gegen die es 1971 und 1976 sogar Projekte zur semantischen Aufbesserung der Fassaden mittels applizierten Hochhausbildern des Empire State Buildings und des Chrysler Buildings gab[2] – so blieb doch eines stets unbestritten: die Türme des World Trade Centers fassten den mehr oder weniger planlos entstandenen Hochhauscluster des Financial Districts nach oben hin zu einer städtebaulichen Gestalt zusammen. Jetzt fehlt ihm diese vereinigende Gestalt. Seine Signifikanz ging ihm verloren.

Die Lehren aus dem eingetretenen Desaster waren nicht gerade ermutigend – weder politisch-militärisch noch städtebaulich-architektonisch. Politisch-militärisch wurde der Terrorakt von Anfang an als Krieg gegen die USA interpretiert und mit Krieg beantwortet – in Afghanistan und im Irak, ohne die tatsächlichen Angreifer auf die Türme des World Trade Centers gefunden und bestraft zu haben. Im Unterschied dazu war die städtebaulich-architektonische Interpretation des Terroraktes zunächst gespalten. Viele sahen Hochhäuser auch künftig als potenzielle Ziele von terroristischen Aktionen. Das führte zu einer allgemeinen Verunsicherung hinsichtlich des künftigen Hochausbaus und bei manchen zu der Frage, ob es nicht ratsam sei, nun das Ende der Hochhausentwicklung überhaupt einzuläuten. Dabei ging es den Terroristen ja gar nicht um einen Krieg gegen Hochhäuser, sondern um einen Krieg gegen gebaute Symbole amerikanischer Weltherrschaft. Schließlich richtete sich der Terrorangriff am 11. September 2001 nicht nur gegen das World Trade Center als Symbol der Wirtschaftsmacht USA, sondern gleichzeitig gegen das Pentagon – bekanntlich ein kompakter Flachbau – als gebautes Symbol der Militärmacht USA und – geplant, aber nicht gelungen – gegen das Weiße Haus, das bauliche Symbol der politischen Führungsmacht USA in der Welt – und gegen weitere Ziele, wie kürzlich erst zu erfahren war.
 








Abbildung 5
Skyline des Financial Districts mit den vorgeschlagenen Projekten für Ground Zero
 

  Die meisten reagierten anders auf den nine eleven day. Sie wollten mit neuen Hochhäusern am Ground Zero möglichst schnell eine imposante Antwort geben. Dabei wurden sie von der – durch Politiker und Medien kräftig angeheizten – öffentlichen Meinung unterstützt, den Bürgern der USA und der Welt, vor allem allen Feinden der USA, zu zeigen, „wer wir sind!“, am besten mit noch höheren Hochhäusern, als sie am Unglücksort zuvor standen. Dies zu tun, schien umso mehr an der Zeit zu sein, als die USA seit 1998, nämlich mit den 452 m hohen Petronas Twin Towers in Kuala Lumpur, die führende Position im Wettlauf um das höchste Hochhaus der Welt eingebüßt hatten, den sie bis dahin mit den 1972 errichteten Twin Towers des World Trade Centers, 412 und 417 m hoch, und dem zwei Jahre später fertig gestellten Sears Tower in Chicago, 442 m hoch, innegehabt hatten. Darüber hinaus konnte ein im Jahr 2000 vorgesehenes Projekt, in Chicago den höchsten Turm der Welt zu bauen, den 7 South Dearborn Street Tower, 468 m hoch, nicht realisiert werden[3]. Also schien es jetzt – nach diesem 11. September – geradezu zwingend notwendig geworden zu sein, am Ground Zero in New York wieder an die Spitze im weltweiten Hochhaus-Wettlauf zu gelangen. Und keiner der zum Wettbewerb geladenen Stararchitekten aus aller Welt scheute sich, diese Erwartung nicht zu erfüllen. Ja, alle ergriffen beglückt die Gelegenheit, nun endlich einmal ungehemmt zu demonstrieren, was sie so ‚drauf hatten’, nämlich superhohe Baustrukturen über dem Leben der Stadt zu errichten. Die zum Schluss des Wettbewerbs in die engere Auswahl gelangten Projekte der New Yorker Gruppe Think, von Sir Norman Foster wie auch von Richard Meyer und Peter Eisenman stellten diese Haltung architektonisch am deutlichsten zur Schau[4] (Abbildung 5). Sie offenbarten, dass der ganze Wettbewerb vornehmlich ein wohl bedachtes Mittel der psychologischen Stärkung des geknickten amerikanischen Selbstvertrauens und damit also auch ein Mittel der psychologischen Vorbereitung der angekündigten Kriege gewesen zu sein schien. Dabei war allen Kritikern von Anfang an mehr oder weniger klar, dass solche gigantomanen Hochhausprojekte ganz gewiss aus ökonomischen Gründen nicht realisiert und nach einem gewonnenen Krieg auch psychologisch nicht mehr gebraucht würden. Und tatsächlich näherte sich nach den militärischen Siegen in Afghanistan und Irak die Entscheidung im Umgang mit dem Ground Zero Areal einer realistischen Betrachtungsweise. Larry Silverstein, der neue Pächter des ehemals der Port Authority of New York gehörenden Areals des World Trade Centers, ist in erster Linie an vermarktbaren Bürohochhäusern um 250 m Höhe interessiert. Andererseits drängt die Öffentlichkeit, repräsentiert durch Michael Bloomberg, Bürgermeister der Stadt New York, auf einen architektonisch würdig gestalteten Ort der Erinnerung an den 11. September 2001. Im Sinne eines Kompromisses aus diesen beiden Anforderungen erhielt das sowohl pragmatisch als auch symbolisch orientierte Projekt von Daniel Libeskind letztendlich den Zuschlag. Er erhielt ihn aber auch, weil er nicht wie viele seiner Konkurrenten die Türme des World Trade Centers in analogen architektonischen Gestalten verewigen wollte. Auch er zollte dem gewünschten Höhendrang Tribut, aber er bot weit mehr: ein städtebaulich-architektonisches Ensemble, räumlich fokussiert auf den Ort der Ereignisse des Unglückstages am 11. September und in neuer baulicher Gestalt, maßvoll und ausgewogen. Darüber hinaus aber bot er etwas, das andere Entwürfe so nicht hatten: eine außerarchitektonische Dimension der Bedeutungsvermittlung durch Bilder und Worte.
 



Abbildung 6
Projekt von Daniel Liebeskind

  Die ideelle Überhöhung des architektonischen Projekts durch außerarchitektonische Bild-Assoziationen und Wort-Bezeichnungen zum Zwecke gesteigerter Bedeutungsvermittlung gehört zum Charakteristikum der Architektur von Daniel Libeskind generell, kommt aber nirgends so signifikant zum Vorschein wie in seinem Projekt zum Gound Zero (Abbildung 6).

Der überschlanke, nach oben hin gläsern gefasste spitze Turm wird vom Architekten selbst als Bild-Analogie zur Gestalt der Freiheitsstatue, der wichtigsten Ikone der USA, interpretiert, wenn auch eine solche Ähnlichkeit nur aus einer bestimmten Blickrichtung auf dieses Denkmal und selbst dann auch nur mit gutem Willen feststellbar ist, was Libeskind mit einer entsprechenden Fotografie zu belegen versucht. Gleichviel: Entscheidend ist, dass er diese Bild-Assoziation der Freiheitsstatue zur Aufwertung des Turmes benutzt und noch dadurch ergänzt und steigert, dass er dem Turm den Begriff und die Wort-Bezeichnung „Freedom Tower“ – Freiheitsturm – verleiht. Schließlich soll der Turm als höchster in der Welt nicht einfach Macht darstellen, sondern Freiheit als das immer wieder beschworene Wesen US-amerikanischer Demokratie, die es machtvoll zu verteidigen gilt gegen die Feinde der USA, vor allem natürlich gegen die aktuelle Gefahr, die von den Terroristen und – weiter gefasst - von allem Bösen in der Welt droht. Wer wollte sich mit einem solchen Symbol nicht identifizieren! Zumal wenn noch zusätzlich gewusst wird, was der Architekt, redegewandt wie er ist, seinen Zuhörern – denn sehen können sie es nicht – bewusst macht, nämlich dass der Turm 1.776 Fuß hoch sein und damit das Jahr 1776 symbolisieren soll, das Jahr also, in dem in Philadelphia die Declaration of Independence – die Unabhängigkeitserklärung – verabschiedet wurde: das Basis- Dokument der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. So wird der Freedom Tower zum neuen Symbol der USA schlechthin hochstilisiert: codiert durch Bild, Namen und Zahl. Das ist in der Tat eine brillante außerarchitektonische Bedeutungsbeschwörung, die ihre Wirkung auf gläubige Gemüter nicht verfehlen wird, weil sie einen geradezu schicksalhaften Atem der Geschichte – und natürlich die von Gott gesegnete Politik der gegenwärtigen USA-Regierung – zu vermitteln scheint. Kommt noch hinzu, dass in einem „Park of Heroes“ am Fuß dieses Freedom Towers der Feuerwehrleute gedacht wird, die bei der Bergung von Opfern an diesem nine eleven day ums Leben kamen. Dieser Ort liegt wie der Platz des 11. Septembers in einem Lichtkegel, der jährlich am Unglückstag zwischen 8:46 Uhr, dem Einschlag des ersten Flugzeugs, und 10:28 Uhr, als der zweite Turm einstürzte, das Sonnenlicht ohne Verschattung gezielt einfallen lässt. Auch das gehört zur Inszenierung des Ganzen.

Daniel Libeskind hat sich mit diesem Projekt für das Ground Zero Areal selbst übertroffen. Seine früheren Projekte erscheinen wie bescheidene Ansätze, Architektur grenzüberschreitend ins Außerarchitektonische zu steigern und ihr so mehr Bedeutung zu verleihen, als sie selbst vermitteln kann – so nicht zuletzt auch in Berlin. Im Unterschied zu seinen Berliner Projekten gelang es Daniel Libeskind mit seinem New Yorker Projekt jedoch, die Sprache der Architektur mit der außerarchitektonischen Sprache der Bilder und Worte weitgehend zu vereinen, vor allem deshalb, weil ihm hier nicht nur ein Gebäude, sondern ein ganzes städtebauliches Ensemble für seine Botschaft zur Verfügung stand – gebildet aus einem zentralen räumlichen Ort für das Gedenken an den 11. September und einer Gruppe von Hochhäusern im Halbkreis um diese Mitte.

Die Einheit des Architektonischen und Außerarchitektonischen wird signifikant vor allem in der aufsteigenden Spirale der konzentrisch angeordneten Hochhäuser, die im höchsten Turm ihr Ziel hat. Die Spirale ist ein der Architektur durchaus eigenes Sprachelement, solange die Bewegung, die sie zeigt, auch als begehbarer Weg noch oben – bzw. nach unten – praktisch funktioniert wie bei der Wendeltreppe. Die im Ground Zero Projekt vorgeführte Spirale ist aber kein praktischer Weg, sondern – ähnlich wie bei Tatlins Turm der III. Internationale – ein symbolisches Zeichen des Aufsteigens generell und speziell hier bis hinauf zum höchsten Turm des gesamten Ensembles. Indem nun dieser Turm durch eine außerarchitektonische Bildanalogie mit der Freiheitsstatue und noch dazu durch einen außerarchitektonischen Bezeichnungsakt zum Freedom Tower bestimmt wird – was, wie schon gesagt, gewusst werden muss – wird die Spirale der Hochhäuser zum Symbol des Aufsteigens aus den Ruinen des 11. September zum Sieg der Freiheit durch Macht und also zum Symbol der Macht der USA als dem Hort der Freiheit. Für den Betrachter realisiert sich das am eindrucksvollsten im Zentrum der gesamten Anlage: am Platz des 11. September als dem zentralen Ort der Erinnerung und zugleich als Ort lebendigen Lebens mitten in der Stadt. Und eben diese Qualität hatte kein anderer Entwurf aufzuweisen.

Daniel Libeskind wuchs mit seinem Projekt für den Ground Zero über sich selbst hinaus, aber auch im wortreichen Kampf für die Durchsetzung seines Projekts, das er in die Vorstellungswelt seiner Zuhörer geradezu „hinein“ zu reden verstand. So bestand er gegen andere und wurde zum Sieger im Wettbewerb gekürt. Trotzdem muss auch er nun erleben, was viele seiner Zunft schon erlebten mussten: nicht der Architekt baut, auch nicht der Wettbewerbssieger, sondern der Bauherr.
 


Abbildung 7
Projekt von David Child

 

Bauherr am Ground Zero in New York ist Larry Silverstein. Ihm gehört der Baugrund, und er bestimmt, was darauf gebaut wird. Freilich ist er an die Entscheidung der Jury des Wettbewerbs gebunden, aber er kann sie natürlich modifizieren. Er nahm das Projekt, aber er gab dem Architekten nicht die Leitung für die Umsetzung seines Projekts. Die übergab er an David Child von SOM, seinem persönlichen Lieblingsarchitekten, der sich auch am Wettbewerb beteiligt, aber keinen Preis gewonnen hatte. Die Begründung dafür lautete plausibel: Libeskind hätte noch nie Hochhäuser gebaut. Folglich müsse einer her, der das könne. Was dabei herauskam, war zunächst ein veränderter Freedom Tower, noch immer in Gestaltanalogie zur Freiheitsstaue erklärt und weiterhin 1.776 Fuß hoch, aber bis auf 335 m Höhe mit vermarktbaren Büroräumen angefüllt und darüber mit einem Windkraftwerk zur Haus eigenen Versorgung mit Strom ausgestattet (Abbildung 7)[5]. Die niedrigeren Bürotürme – zunächst in ihrer Gestalt noch bewahrt – sollen von international bekannten Stararchitekten projektiert werden, die dann gewiss ihre eigenen architektonischen Zeichen setzen werden. Libeskind bleibt das Projekt für das Museum. Dass er das könne, hätte er ja bewiesen. Leicht wird ihm nicht einmal diese Aufgabe gemacht, seitdem nach einem Wettbewerb Anfang dieses Jahres andere Architekten die Gestaltung für den Freiraum um die foot steps der ehemaligen Twin Towers übernommen haben. Wohin dieser Prozess der Realisierung eines öffentlich anerkannten Gesamtkonzepts einer „Architektur der Botschaften“ zugunsten einer „Architektur des Marketings“ Stück für Stück noch führen wird, bleibt abzuwarten, zumal das Finanzierungskonzept, das jetzt noch auf brüchigem Boden steht, erst noch unter Dach und Fach gebracht werden muss.

Eines ist schon jetzt klar: Das höchste Gebäude der Welt wird der Freedom Tower nicht sein, wenn wahr wird, was Ende vergangenen Jahres bekannt wurde, dass nämlich die Vereinigten Arabischen Emirate als Konkurrent im Hochhaus-Kampf auf den Plan getreten sind: mit dem Projekt für einen 560 m hohen Turm, den so genannten Burj Dubai Tower[6]. Das Duell der Giganten auf dem Feld der Ökonomie und der Symbolik geht weiter – weltweit.

Widersprüche zwischen Ökonomie und Symbolik bestimmen das Bauen auch an

anderen Orten der Welt – nicht zuletzt in Berlin.


Zur Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel in Berlin
 


Abbildung 8
Das Berliner Schloss vor seiner Zerstörung  1945/1950,
Palast der Republik 1976
 

  Im Unterschied zu New York ging es in Berlin bei der Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel, an dem das Schloss einst stand, sowohl 1950 als auch heute um die praktische und symbolische Neuinszenierung gesellschaftlicher Bedeutungen nach stattgefundenen Gesellschaftsumbrüchen (Abbildung 8). Nicht nur der Untergang Nazi-Deutschlands 1945, sondern vor allem auch die Gründung der DDR im Oktober 1949 – analog zur zuvor gegründeten BRD ein Produkt der nach dem Krieg entstandenen Teilung Deutschlands in Ost und West – hatte das Areal Mitte Spreeinsel zum verlorenen Ort vergangener deutscher Geschichte und zum Ort notwendiger Neuaneignung für eine andere Zukunft werden lassen. Seit dem Ende der DDR 1990 steht nun das neu vereinte Deutschland vor der Aufgabe, diesen Ort auf eine gesellschaftlich sinnvolle Weise für sich neu anzueignen. In beiden Fällen ging es und geht es – völlig anders als in New York – nicht in erster Linie um neue städtebauliche und architektonische Lösungen, sondern um eine neue Gesellschaftsinszenierung mittels Städtebau und Architektur. Das macht den eminent politischen Aspekt dieser Aufgabe deutlich und erklärt auch den wesentlich politisch geführten Streit darüber.


Abbildung 9
Projekt von Richard Paulick
Regierungshochhaus
am Marx-Engels-Platz 1951

  Die DDR begann die gesellschaftliche Neuinszenierung am traditionellen Ort früherer Herrschaft – Mitte Spreeinsel – mit dem Abriss des vom Krieg hinterlassenen schwer zerstörten Schlosses und mit der Anlage eines großen Zentralen Platzes für Demonstrationen und Kundgebungen, der am 1. Mai 1950 den Namen Marx-Engels-Platz erhielt. Östlich der Spree sollte ein so genanntes Zentrales Gebäude errichtet werden, das anfangs als eine Art Volkshaus, aber schon bald als ein Regierungshochhaus konzipiert wurde (Abbildung 9). Nichts davon ist je realisiert worden: zwanzig Jahre lang aus mangelnder Ökonomie, später aus gewachsener Einsicht in die Unangebrachtheit einer solchen Machtdemonstration des Staates. Stattdessen wurde 1969 der ohnehin notwendig gewordene Fernsehturm mitten im Stadtzentrum errichtet – so zu sagen als Ersatzdominante. 1973 bis 1976 entstand dann der Palast der Republik als Zentrales Gebäude der Gesellschaft: ein mixtum compositum aus Kulturhaus und Volkskammer. Die Negation der Negation des verloren gegangenen Schlosses war schließlich kein neuer Herrschaftsbau, sondern ein öffentlicher und offen zugänglicher Bau – halb Volkspalast, halb Staatspalast[7].
 


Abbildung 10
Historische Altstadt,
Luftaufnahme um 1920



Abb. 11
Paradeblick unter den Linden in Richtung Schloss



Abbildung 12
Blick vom Rathausturm über die Altstadt hinweg



Abbildung 13
Blick auf den Fernsehturm und den Palast der Republik
 

  Der mit der Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel durch die DDR – wohl gemerkt im Trümmerfeld der Flächenbombardements im Zweiten Weltkriegs – geschaffene neue stadträumliche Kontext hat zu einer gravierenden Veränderung der Stadtstruktur und Stadtgestalt im Bereich der historischen Altstadt von Berlin zwischen Spree und Alexanderplatz geführt: mit Verlust und Gewinn (Abbildung 10). Zum Verlust zählt nicht nur das Schloss, sondern – abgesehen von Bauten wie der Marienkirche und dem Roten Rathaus – fast die gesamte alte Bausubstanz. Zum Gewinn zählt die Herausbildung eines räumlichen Zentrumsbandes zwischen dem Forum Fridericianum und dem Alexanderplatz mit seinen in ihn einmündenden Stadtradialen, vor allem der Karl-Marx-Allee. In diesem neuen stadträumlichen Gefüge ist der Ort Mitte Spreeinsel nicht wie früher durch das Schloss als Point de vue nur monopolar, sondern wie jetzt durch den Palast der Republik bipolar mit der Stadt visuell aktiv verbunden. Jeder künftige Umgang mit dem Ort Mitte Spreeinsel ist daher mit diesen historisch eingetretenen baulichen und stadträumlichen Veränderungen konfrontiert[8] (Abbildungen 11, 12, 13).

Die Idee, das verlorene Berliner Schloss samt seinem verlorenen Ort Mitte Spreeinsel wieder neu entstehen zu lassen, kam erst vierzig Jahre nach 1950 , nämlich 1990, wieder auf, nachdem die DDR als Staat zu existieren aufgehört hatte und ein Zugriff auf den Ort zu diesem Zweck überhaupt erst praktisch möglich geworden war. Dass dies den Abriss des Palastes der Republik bedeuten würde, wurde und wird von den Schlossbefürwortern wie für selbstverständlich gehalten. Den Palast wegen seiner Asbestbelastung abzureißen, war von Anfang an immer nur ein vorgeschobenes Argument. Es ging um mehr. Joachim Fest sagte das als erster bereits 1990 ganz deutlich. Er plädierte für die Wiederherstellung des Schlosses als Symbol für das Scheitern der DDR, wie diese seinerzeit den Abriss des Schlosses als Symbol für den Sieg ihrer Herrschaftsziele begriffen hatte[9]. Ein solcher Aufruf zur historischen Korrektur im Sinne von Wiedergutmachung blieb nicht ohne Folgen. Seitdem jedenfalls enthalten die Überlegungen zum Schloss – wie wissenschaftlich, kulturvoll und ästhetisch sie auch immer zu hören sind – letzten Endes den von Cato her entlehnten und variierten Satz: „Ceterum censeo palatinum esse delendam!“ (im übrigen bin ich der Ansicht: der Palast ist abzureißen!)[10]. Die Ausführung dieser Absicht erwies sich jedoch bislang als nicht so einfach.
 


Abbildung 14
Schlossrestitution mit Spiegel

  Es verdient festgehalten zu werden, dass der erste, der konkrete Überlegungen zur „Restitution von Stadtraum und Schloss“ vorstellte – nämlich 1991 Goerd Peschken – 1950 einer der schärfsten Kritiker des Schlossabrisses, die Wiedergewinnung des alten Barockbaus von Schlüter nicht an die Bedingung eines Abrisses des DDR-Palastes knüpfte. Vielmehr wollte er mit einer Fusion beider Gebäude ein Zeichen setzen, dass hier an diesem Ort historische Brüche und Widersprüche deutscher Geschichte baulichen Ausdruck gefunden haben[11] (Abbildung 14). In diesem Geiste kritischer Geschichtsauffassung wollte er die Fassade des Schlosses als elektronische Bildwand errichtet wissen – mit wechselnden Bildern des unzerstörten und des zerstörten Zustandes des Gebäudes – und den Palast aus der traditionellen Hauptblickrichtung von Unter den Linden her mit einem großen Spiegel wegblenden.

Dieses Konzept, zu dem Peschken in Zusammenarbeit mit dem Architekten Martin Augustin gelangt war, übernahm Wilhelm von Boddien 1993, indem er es seiner postmodernen Verfremdungsästhetik beraubte und auf historistische Weise zum reinen Kulissenbau vor dem Palast der Republik banalisierte – in der Absicht, die Wertigkeit des verlorenen barocken Schlosses und die Minderwertigkeit des modernen Palastgebäudes zu demonstrieren[12]. Der dahinter stehende Gedanke eines notwendigen Abrisses des Palastes wurde zusätzlich noch dadurch untermauert, dass von Boddien die Wiedererrichtung des Schlüterhofes zur conditio sine qua non postulierte. In der Tat ist eine Fusion von Schloss und Palast wegen ihrer großen Innenräume ohne Verlust des einen oder des anderen nicht möglich. Wer den bedeutenden Schlüterhof will, und eben um den ging es ja von Boddien, der durfte den bedeutendsten Teil des Palastes nicht bewahren, der musste auf den Palast am besten insgesamt verzichten. Angesichts solcher Anforderungen hatte das 1992 von Heinz Graffunder, dem Architekten des Palastes, vorgestellte Gegenprojekt zu Peschken keine Chance, das auf eine Montage des Palastes der Republik mit dem Großen Saal und des westlichen Teils des Schlosses mit einem dorthin verlagerten Schlüterhof abzielte[13]. Eine Dislozierung des – nota bene: gar nicht mehr existierenden – Schlüterhofs wurde jedoch kategorisch abgelehnt. Einzig akzeptabel schien der Schlüterhof am alten Standort zu sein – und rings um ihn das Schloss.

In einem Punkt fand der von Wilhelm von Boddien errichtete Schlosskulissenbau ungeteilte Zustimmung, bei Freunden wie Gegnern einer Schlosskopie: er demonstrierte überzeugend, wie wichtig das Schloss oder ein adäquater Baukörper an dieser Stelle für einen maßvollen stadträumlichen Zusammenhang des Ortes Mitte Spreeinsel mit den historischen Bauensembles am Eingang zur Straße Unter den Linden und am Lustgarten tatsächlich ist. Jedem, der es noch nicht bemerkt hatte, wurde klar, dass in erster Linie nicht der Palast der Republik, sondern der öde leere Marx-Engels-Platz beseitigt werden müsste. Wer jedoch wie Wolf Rüdiger Eisentraut, Mitautor des DDR-Palastes im Kollektiv Graffunder, den leeren Raum des Marx-Engels-Platzes mit einem neuen Bauwerk zusätzlich zum Palast besetzen wollte, der wurde abgewiesen, weil mit dem Erhalt des Palastes der gewünschte Wiederaufbau des Schlüterhofes nicht möglich gewesen wäre[14].

Die breite Zustimmung, die der Schlosskulissenbau in der Öffentlichkeit – vor allem über die Medien – fand, nicht zuletzt auch bei der Bundesregierung unter Helmut Kohl und beim Berliner Senat unter seinem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, führte schließlich 1994 dazu, dem Ort Mitte Spreeinsel den Namen Schlossplatz zu verleihen, obwohl der historische Schlossplatz nur der Stadtplatz vor den südlichen Portalen I und II des Schlosses war und der jetzt Schlossplatz getaufte Ort zuvor Marx-Engels-Platz hieß. Nichts desto weniger spielte solche Politik-Semantik keine geringe Rolle bei der prospektiven Vorabaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel für die beabsichtigte Rekonstruktion des Schlosses, nämlich als Platz für das Schloss. Für naive Gemüter mit dem Wissen heutiger Touristen haben solche historischen Details freilich kaum noch einen Wert. Allzu willig folgen sie der – wenn auch vorwiegend nur geschickt eingeredeten – Sehnsucht nach historischer Identität und Schönheit. Was die Identität betrifft, so zitiert Wilhelm von Boddien in seinem Berliner Extrablatt seit Jahren konstant die von Wolf Jobst Siedler 1993 ausgegebene Parole: „Das Schloss lag nicht in Berlin, Berlin war das Schloss“ [15]. Woraus folgen soll, dass Berlin erst wieder Berlin sein kann, wenn es das Schloss wieder hat. Was die Schönheit betrifft, so lancierten Wilhelm von Boddien und seine Freunde einen regelrechten Schlüterkult, um das Schloss von seiner historischen Funktion als trotzige Zitadelle gegen die Stadt und ihre Bürger von dereinst zu befreien und den Zeitgenossen von heute als Baukunstwerk höchsten Ranges an sich nahe zu bringen. Das Schloss der preußischen Könige und deutschen Kaiser wird seitdem nicht mehr unter dem Aspekt von Macht und Politik, sondern so gut wie ausschließlich unter dem der Ästhetik und der Berlin-Identität diskutiert.

Bei so viel Schloss-Euphorie und immer wieder neuen Schlossentwürfen, die das Architektenpaar Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte für Wilhelm von Boddien anfertigten, wundert es allerdings einigermaßen, dass grundlegende Fragen jeglichen Bauens bis heute nicht beantwortet sind, nämlich: wer soll und will überhaupt das Schloss praktisch nutzen, wer baut es und wer finanziert es eigentlich? Vorschläge dazu gab es in den zurück liegenden Jahren genug, keiner war jedoch realisierbar[16].

Zuerst – unter Bundeskanzler Helmut Kohl – trat 1992/93 der Staat als möglicher Bauherr auf den Plan: das Schloss sollte als staatliches Konferenzzentrum mit Hotel errichtet werden. Diese Idee ließ sich jedoch aus ökonomischen Gründen nicht verwirklichen. Unter Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde 1996 ein so genanntes Interessenbekundungsverfahren mit privaten Investoren durchgeführt. Das Ergebnis war niederschmetternd. Ein neuer Bau auf dem Schlossplatz – gleich ob als Schloss oder nicht – hätte sich nur „gerechnet“, wenn der Ort weitgehend privatkapitalistisch für luxuriöse Nutzungen vermarktet und damit der breiten Öffentlichkeit entzogen worden wäre. Das aber konnte sich die bundesdeutsche Gesellschaft im Vergleich zur DDR nicht leisten, die an diesem Ort im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Grenzen immerhin eine breite Öffentlichkeit und offene Zugänglichkeit geschaffen hatte – täglich von 9 bis 23 Uhr. Schließlich tauchte am Ende der 90er Jahre – wie eine fata morgana – die Idee auf, mit öffentlichen Geldern der Dahlemer Museen außereuropäischer Kunst, der Zentralen Landesbibliothek Berlin und der Humboldt-Universität mit ihren musealen Wissenschaftssammlungen, allesamt Institutionen, die von sich aus – nämlich wegen zu beengter Raumverhältnisse – auf den Schlossplatz drängten, das gewünschte Schloss zu bauen. Eine eigens zur Prüfung dieser Idee Anfang 2001 eingesetzte „Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin“ legte im April 2002 das Ergebnis ihrer mehrheitlich gebilligten Arbeit vor:
 




Abbildung 15
oben: das alte Berliner Schloss
unten: Vorschlag der Experten-kommission "Historische Mitte Berlin" für das neue Schlossgebäude

 

Am alten Ort des verlorenen Schlosses soll vor allem aus städtebaulichen Gründen ein neues Gebäude in den Abmessungen des alten Schlosses entstehen – mit den ehemaligen barocken Fassaden der drei Außenseiten und des Schlüterhofes (Abbildung 15). Die Kuppel über dem Hauptportal III soll nicht wieder errichtet werden, weil sie als klassizistische Zutat Stühlers zum Barockschloss Schlüters wegzulassen sei. Die aus dem Mittelalter und der Renaissance stammende Ostfassade und der nördliche Apothekenflügel des ehemaligen Schlosses sollen ebenfalls nicht reproduziert werden. Was stattdessen anzustreben sei, wurde offen gelassen. Das Innere des – Humboldt-Forum genannten – Schlossgebäudes soll für die vorgesehenen Museums- und Bibliotheksfunktionen wie auch für Funktionen öffentlicher kultureller Kommunikation neu gestaltet werden: mit einem überbauten vorderen Schlosshof und einem gläsern überdachten Schlüterhof, wofür ein Wettbewerb auszuschreiben ist[17]. Was da als Schlossgebäude empfohlen wird, ist ein puristisches Barockschloss à la Schlüter, allerdings nur von außen, ein Schloss, wie es so nie war – ein Wunschschloss als Verschnitt[18].

Um allen diesen Empfehlungen der Expertenkommission an die Bundesregierung und den Berliner Senat politisch Nachdruck zu verleihen, mischte sich der Deutsche Bundestag aktiv ein, indem er auf der Grundlage eines gemeinsamen Antrags aller Parteien – außer der PDS – am 4. Juli 2002 mit beeindruckender Mehrheit seine Zustimmung dazu gab und zugleich auf die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur Prüfung der funktionellen und finanziellen Voraussetzungen für die geforderte Schlossrekonstruktion drängte[19]. Das Ergebnis dieser Arbeitsgruppe lag erst ein Jahr später vor, Ende Juni 2003. Es machte nüchtern klar, dass angesichts der gegenwärtigen und noch längere Zeit anhaltenden Wirtschaftslage der Bundesrepublik die angestrebte Schlossrekonstruktion weder von der vorgesehenen Nutzung noch von der in public private partnership konzipierten Finanzierung her „darstellbar“ – also nicht machbar – wäre, es sei denn, allein private Investoren würden ein Vier-Sterne-Hotel in der äußeren Gestalt eines Schlosses bauen. Das hieß im Klartext: die bisher vorgesehenen Nutzer und die durch sie erhoffte Mit-Finanzierung gibt es nicht mehr. Die Leiterin der Arbeitsgruppe, Kulturstaatsministerin Christina Weiss, hatte die Stirn zu entscheiden, dass Deutschland dann eben warten müsse, bis die wirtschaftlichen Voraussetzungen zur Realisierung einer finanzierbaren öffentlichen Nutzung des gewünschten Schlossgebäudes herangewachsen seien – und wenn das eine Generation dauert. Also: Moratorium[20]. Die Antwort des Bundestages darauf war der Beschluss von Anfang November, dann wenigstens möglichst schnell den Palast der Republik abzureißen, damit dieser unansehnlich gewordene Schandfleck in der Mitte der Stadt endlich verschwinde. An seiner Stelle soll dann nach der Vorstellung des früheren Senators für Stadtentwicklung von Berlin eine Rasenfläche angelegt werden[21]. Bislang ist jedoch die Finanzierung eines schnellen Palast-Abrisses Anfang 2005 noch nicht gesichert. Zudem bröckelt auch die Überzeugung, ob denn eine Beseitigung des Palastes sachlich und politisch überhaupt zu rechtfertigen ist, solange ein baureifes Anschlussprojekt noch nicht vorliegt. In der Zeit bis dahin könne der Palast der Republik wie Lofts in aller Welt auf attraktive Weise kulturell-kommunikativ „zwischen-genutzt“ werden, wie die neue Bezeichnung für temporäre Bespielung solcher Brachen in der Stadt lautet. Wie das geht, zeigt die gegenwärtige Ausstellung der Terrakotta-Armee des Ersten Chinesischen Kaisers im Palast. Wie solche Zwischennutzung auch geht, bewies zum Erstaunen vieler erst vor wenigen Tagen der BDI, der Bundesverband Deutscher Industrie, der am 15. Juni seine Jahrestagung 2004 im Palast durchführte – mit provisorischer Ausstattung und wenig Kosten, aber zur höchsten Zufriedenheit aller Teilnehmer mit diesem Event in einer solchen „location“, ganz besonders solcher hochrangigen Gäste der Politik, die – allesamt bekannt als Freunde des Schlosses – nun als Freunde der deutschen Industrie geladen waren: Gerhard Schröder, Guido Westerwelle und Angela Merkel[22]. Und wie der Palast weiterhin zwischenzeitlich genutzt werden kann, werden künstlerische Aktivitäten zeigen, die zunächst einmal von August bis Oktober im Palastgebäude stattfinden werden[23].

Wie es danach weitergeht, ist noch nicht exakt bekannt. Um den Abriss des DDR-Palastes nicht noch länger hinauszuschieben, wiederholte die Bundestagsfraktion der CDU/CSU kürzlich noch einmal ihre schon bekannte Forderung, den Palast unverzüglich abzureißen und auf dem Sockel des alten Nationaldenkmals ein Einheits- und Freiheitsdenkmal zu errichten – ein Denkmal also für die Freiheit von der DDR[24]. Berlin stünde dann New York symbolisch nicht nach: hier ein Freiheitsdenkmal, dort ein Freiheitsturm. Das bindet.


Fazit – ein Vergleich

Entgegen allen hochgesteckten Erwartungen ist die Neuaneignung des Ortes Spreeinsel in Berlin bislang nicht einmal konzeptionell vollbracht, während sie am Ort Ground Zero in New York kurz vor Baubeginn steht. Ein Vergleich der Vorgänge an beiden Orten macht ihre Differenz deutlich. Dazu sieben Bemerkungen:

Erstens: In New York geht es am Ground Zero von der Zielstellung her um einen Aufbau in der Einheit des Praktischen und des Symbolischen, in Berlin am Ort Mitte Spreeinsel geht es dominant um einen Wechsel der Symbole ohne dringenden praktischen Bedarf. Die praktische Funktion für ein unabhängig von ihr avisiertes Bauwerk als architektonisches Bild-Symbol – nämlich für das gebaute Bild vom Berliner Schloss – muss erst noch gefunden werden.

Zweitens: Was in New York mit außerarchitektonischen Mitteln an Bedeutung inszeniert wird, das wird in Berlin auf triviale Weise durch die Kopie historischer Architektur angestrebt, die schon selbst als der gesuchte Bedeutungswert behauptet wird. Während in New York ein verheißungsvolles Bild der Zukunft vermittelt werden soll, das absichtsvoll kein 1:1 reproduziertes Bild, aber auch kein analoges Bild der verlorenen Twin Towers des World Trade Centers sein soll, geht es in Berlin geradezu um eine Bildbeschwörung der Vergangenheit, und zwar der Vorvergangenheit, noch dazu auf Kosten der unmittelbaren Vergangenheit, die – wenn auch nur als ruinierter Rest – noch anwesend ist.

Drittens: Im Unterschied zu New York, wo für den Ort Ground Zero Bauprojekte und Architekten, Bauherren und Mittel zum Bauen gegeben sind, gibt es in Berlin für den Ort Mitte Spreeinsel zwar eine öffentlich weitgehend gebilligte und vom Bundestag mit großer Mehrheit sogar demokratische legitimierte Architektur-Bild-Wunsch-Vorstellung, aber keinen Bauherrn mit Bauprogramm, mit Nutzungsprogramm und Finanzierungskonzept und deshalb auch keine Architekten, lediglich Interessenten, deren PR-Manager Wilhelm von Boddien und deren oberster politischer Repräsentant Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist. Die Regierung hält sich zurück, weil die materiellen Voraussetzungen zur Realisierung des Schlossbau-Wunsches fehlen.

Viertens: Während den Amerikanern generell und speziell beim Projekt Ground Zero in New York Selbstvertrauen in ihre Kraft zu bescheinigen ist, die in übersteigerter Form oft bis zur Arroganz geht, ist den Deutschen heutzutage generell und speziell hinsichtlich ihres Umgangs mit dem Ort Mitte Spreeinsel eher ein geknicktes Selbstbewusstsein gegenüber der eigenen Geschichte, aber auch Unsicherheit angesichts ungelöster Probleme der deutschen Vereinigung nachzusagen. Bei mangelnder Sicherheit in der Gegenwart und fehlender Vision für die Zukunft wird dann die Flucht in die Bilder einer scheinbar stimmigen Vergangenheit zur Quelle neuer Gewissheit. Zwei unterschiedliche Arten des gegenwärtig herrschenden Zeitgeistes – in den USA und in Old Germany.

Fünftens: Die Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel in Berlin ist vor allem deshalb schwieriger als die des Ortes Ground Zero in New York, weil es sich hier um die Neuaneignung eines durch zweimaligen Gesellschaftswechsel verloren gegangenen Ortes handelt. Das hätte eine tiefer greifende kritische Auseinandersetzung mit zurück liegender deutscher Geschichte verlangt, als das in New York überhaupt notwendig war. Das aber ist nicht geschehen.

So berechtigt es ist davon auszugehen, dass der Palast der Republik als Symbolbau der DDR nicht auch zum Symbolbau im vereinten Deutschland werden kann, so unberechtigt ist es anzunehmen, dass ein durch Rückbau in die Vergangenheit vor der DDR wieder gewonnenes Berliner Schloss ein akzeptables Symbol aller Deutschen in der heutigen Bundesrepublik sein kann und nicht mit dem Makel behaftet sein wird, letzten Endes nur das Symbol einer auf die Vergangenheit gegründeten, nicht aber auf die Zukunft orientierten deutschen Vereinigung zu sein.

Sechstens: Ein Wiederaufbau des Schlosses heute hätte dann einen historischen Sinn, wenn dadurch nicht nur ein Ort der Erinnerung an die Vorvergangenheit, sondern ein Ort der Zukunft geschaffen würde, ein Ort lebendiger Geschichte, ein Ort, an dem Geschichte tätig „aufgehoben“ wird, indem durch Menschen von heute Vergangenheit aufgearbeitet, Gegenwart diskutiert und Zukunft anvisiert würde.

Eine solche kreative und uns Deutsche vereinigende Funktion als Sinnstiftung für eine Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel ist nie ernsthaft erwogen worden. Es ging in erster Linie immer nur um das Schloss als Bild am alten Ort der Stadt und erst in zweiter Linie darum, was hinter der Fassade eigentlich praktisch vor sich gehen und von daher Bedeutung haben soll.

Siebentens: Die entscheidende Frage ist, was uns Deutschen dieser Ort wert ist und was wir uns an ihm wert sein wollen – im Prozess der noch zu vollendenden deutschen Vereinigung wie auch im gerade erst beginnenden Prozess der Europäisierung und Globalisierung. Ohne Antwort auf diese Frage gibt es keine Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel in Berlin. Da ist Denken in die Zukunft verlangt – kein bloßer selbst genügsamer Genuss an Bildern der Vergangenheit.


 


Bild-Legende:
 

Abbildung 1

Ground Zero, New York Manhattan. Lageplan. Links: die vier Türme des World Financial Centers und die Twin Towers des World Trade Centers. Rechts: die foot steps und die neuen vier Türme nach dem Projekt von Daniel Libeskind.

Abbildung 2

Ground Zero. Projekt Daniel Libeskind in der Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin 2003.

Abbildung 3

Skyline des Financial Districts von Manhattan mit den Twin Towers des World Trade Centers, vom Hudson River her.

Abbildung 4

Skyline des Financial Districts von Manhattan nach dem 11. September 2001

Abbildung 5

Skyline des Financial Districts von Manhattan mit den vorgeschlagenen Projekten für Ground Zero 2003, links oben: Gruppe Think, rechts oben: Norman Foster, links unten: Richard Meyer und Peter Eisenman, rechts unten: Daniel Libeskind.

Abbildung 6

Projekt von Daniel Libeskind mit seinen symbolischen Intentionen

Abbildung 7

Projekt von David Child mit dem Freedom Tower in Analogie zur Freiheitsstatue

Abbildung 8

Zwei historische Etappen am Ort Mitte Spreeinsel in Berlin: das Berliner Schloss vor seiner Zerstörung 1945/1950, der Palast der Republik nach seiner Errichtung 1976

Abbildung 9

Projekt von Richard Paulick für ein Zentrales Gebäude als Regierungshochhaus am Marx-Engels-Platz 1951

Abbildung 10

Historische Altstadt, Luftaufnahme um 1920

Abbildung 11

Paradeblick Unter den Linden in Richtung Schloss. Gemälde von Eduard Gaertner 1853

Abbildung 12

Blick vom Rathausturm über die Altstadt hinweg in Richtung Schloss 1904

Abbildung 13

Blick auf den Fernsehturm und den Palast der Republik vom Alexanderplatz her, Luftaufnahme 1991

Abbildung 14

Schlossrestitution mit Spiegel vor dem Palast der Republik. Projekt Goerd Peschken/Frank Augustin 1991

Abbildung 15

Oben: das alte Berliner Schloss.
Unten: der Vorschlag der Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“ für das neue Schlossgebäude, 2002


Bild-Nachweis:

1, 5, 6, 15 unten: Zeichnungen B. Flierl
2, 3, 4: Fotos B. Flierl
7: Financial Times Deutschland, Freitag, 6. Februar 2004, S. 29
8 oben: Landesarchiv Berlin; unten: Landesdenkmalamt Berlin
9: Bauwelt 1991, H. 12, S. 612
10, 15 oben: Landesbildstelle Berlin
11: Staatliche Museen zu Berlin
12: Foto Max Missmann 1904. Stiftung Stadtmuseum Berlin
13: Archiv B. Flierl
14: Peschken/Augustin, Zur Restitution von Stadtraum und Schloss, Berlin 1991


 


Literaturhinweise:

Die Berliner Schlossdebatte – Pro und Contra. Hg. Von Wilhelm von Boddien/Helmut Engel. Berlin 2000

Ein Palast und seine Republik. Ort – Architektur – Programm. Hg. Thomas Beutelschmidt/Julia M. Novak. Berlin 2001

Fest, Joachim: Plädoyer für den Wiederaufbau des Stadtschlosses. In: Berlin morgen. Ideen für das Herz einer Großstadt. Hg. Magnago Lampugnani und Michael Mönninger. Deutsches Architektur-Museum. Stuttgart 1991, S. 76-79

Flierl, Bruno: Der zentrale Ort in Berlin. Zur räumlichen Inszenierung sozialistischer Zentralität. In: Kunstdokumentation SBZ/DDR 1949 bis 1990. Hg: Günter Feist, Eckhart Gillen und Beatrice Vierneisel. Berlin 1996, S. 320-357; dto. in: Flierl Bruno. Gebaute DDR. Über Stadtplaner, Architekten und die Macht. Kritische Reflexionen 1990-1997. Berlin 1998, S. 121-171.

Flierl, Bruno: Hundert Jahre Hochhäuser. Hochhaus und Stadt im 20. Jahrhundert. Berlin 2000

Flierl, Bruno: Sinnsuche in der historischen Mitte. Zur funktionellen und stadträumlichen Neuaneignung des „Schlossplatzes“ in Berlin. Frankfurter Rundschau, 14. April 2001, S. 19

Flierl, Bruno: Zur Nutzungskonzeption für den Schlossplatz. In: Der Schlossplatz in Berlin. Bilanz einer Debatte. Hg Hannes Swoboda. Berlin 2002, S. 31-39

Flierl, Bruno: Das alte Berliner Schloss in der neuen Hauptstadt Deutschlands. Realität und Metapher aufgehobener Geschichte? In: Die Alte Stadt. Vierteljahreszeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie, Denkmalpflege und Stadtentwicklung. Stuttgart 2003, H. 4, S.349-370

Flierl, Bruno: Wunderbare Einigkeit. Palast der Republik: Bundestag stimmte gestern für Abriss. In: Neues Deutschland, 14. November 2003, S. 9

Historische Mitte Berlin. Schlossplatz. Ideen und Entwürfe 1991 – 2001. Hg Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin. Berlin 2001

Internationale Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“. Abschlussbericht, Berlin 2002

Peschken, Goerd/Augustin, Frank: Zur Restitution von Stadtraum und Schloss. Berlin 1991


 

Anmerkungen:

[1] Gegenstand der Analyse ist das Wettbewerbsprojekt 2003 von Daniel Libeskind, wie es im selben Jahr im Jüdischen Museum Berlin zu sehen war.
 

[2] Vgl. Flierl 2000, S. 71
 
[3] Vgl. ebenda, S.29, 39.
 
[4] Vgl. Berliner Zeitung, 19. Dezember 2002; dto. B.Z., 20. Dezember 2002; dto. Financial Times Deutschland, 6. Februar 2003
 
[5] Vgl. Financial Times Deutschland, 6. Februar 2004
 
[6] Vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. Januar 2004
 
[7] Vgl. Flierl, 1996, S. 320 ff.
 
[8] Vgl. Flierl, 2001, S. 19
 
[9] Vgl. Fest, 1991, S. 79
 
[10] Cato hatte bei seinen Reden im römischen Senat während der Punischen Kriege immer wieder die Zerstörung Carthagos gefordert, mit den Worten: „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“.
 
[11] Vgl. Peschken/Augustin, 1991
 
[12] Vgl. Die Berliner Schlossdebatte, 2000, S. 13, 45, 108, 145.
 
[13] Vgl. Historische Mitte Berlin – Schlossplatz, 2001, S. 34f.
 
[14] Vgl. ebenda, S. 36f.
 
[15] Vgl. Berliner Extrablatt, Juni 2004, S. 17.
 
[16] Vgl. Flierl 2002, S. 31f.
 
[17] Vgl. Internationale Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“, Abschlussbericht, 2002
 
[18] Vgl. Flierl, 2003(1), S, 367
 
[19] Vgl. Berliner Zeitung und andere Zeitungen, 5. Juli 2002
 
[20] Vgl. Berliner Zeitung und andere Zeitungen, 1. Juli und 1. Oktober 2003
 
[21] Vgl. Berliner Zeitung und andere Zeitungen, 6. und 14. November; vgl. auch Kommentar zu diesem Beschluss: Flierl, 2003(2)
 
[22] Vgl. Berliner Zeitung und andere Zeitungen, 16. Juni 2004
 
[23] Vgl. Pressekonferenz „Palastzwischennutzung“ am 21. Juni 2004
 
[24] Vgl. Berliner Zeitung und andere Zeitungen, 19. Juni 2004
 
 

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9. Jg., Heft 1
November 2004